Der Mann am Spiegel
Plötzlich fängt sich dein Blick im Spiegel
und bleibt hängen.
Du siehst:
Die nackt rasierten Wangen
den sanft geschwungenen Mund, die glatte Oberlippe,
die Krawatte sitzt – nein, doch nicht:
zupf!
Jetzt bist du untadlig.
tief bejaht dich dein Blick.
Wohlgefällig ruhst du auf dir,
siehst die seidigen Ränder der Ohrbrezeln,
unmerklich richtest du dich auf –
und fühlst das gesunde Mark deines Lebens.
Übrigens haben die Fliegen auf dem Spiegelglas gesessen,
oder ein chemischer Vorgang hat das Quecksilber bepickelt:
kleine blinde Pupillen sitzen darauf …
An der rechten Schläfe
- aber nur, wenn man schärfer hinsieht -
stehn ein paar kleine Runzeln,
Schützengräben der Haut –
doch da, an dieser Stelle, werden sie einst stehen.
Dann bist du ein alter Mann;
dann sagen die Leute: „Der alte Kaspar –“;
dann wird ein Mädchen leise ausgelacht, der du etwas zuflüsterst –
Alter Mann.
Wie ihr euch anseht:
der Glasmann und du!
Nie
ohne Beigeschmack von Ironie.
Du kannst dich gar nicht im Spiegel sehn.
Tat twam asi –?
Glatt ist dein Gesicht, sauber gewaschen und frottiert,
Dein Gesicht, den Schuttplatz deiner Gefühle, hast du zusammengelogen,
zusammengelacht,
geküßt, geschwiegen, gelitten, geseufzt: zusammengelebt –
sieh, unterhalb des linken Auges bist du leicht fleckig.
Was in den letzten Jahren alles gewesen ist,
nichts davon ist dir anzusehen.
Alles ist dir anzusehen.
Fakire sollen sich manchmal allein hypnotisieren.
verfällt man in Trance …
du siehst den Spiegelmann an,
der sieht, wie du siehst –
du siehst, wie er sieht, wie du …
So, mit dem aufgestützten Arm, ergäbe das eine gute Photographie für die illustrierten Blätter:
ernst blickt der Dichter den Abonnenten an,
Ehrfurcht erheischend und einen zerstreuten Blick lang auch zugebilligt; unnahbar, sehr sicher,
wie aus gefrorenem Schmalz gehauen – ein fertiges Ding.
in der Mitte deiner Augen angebracht sind,
funkt das Leben.
Eigentlich sind wir ganz schön, wie –?
Du betrachtest dich, wie sich die Männer in den Friseurläden betrachten,
„Es ist, Gott sei Dank, alles da, und wir sind repräsentative Erscheinungen –!“
Mit einem langen Blick sehen sie sich im Spiegel an:
Kontrollversammlung der Kompanie, vorgenommen durch den Feldwebel Auge –
nicht losreißen können sie sich,
und gehen neu gestärkt auf die Straße,
durchaus bereit zum Kampf mit den andern, denen man nicht die Haare geschnitten hat.
Aber auf einmal
ist die glatte Sicherheit deines gebügelten Rockes dahin;
Angst sitzt in den dunkeln Vertiefungen deiner Nase,
mit der du die Luft einschaufelst;
das Blech am Kamin erzittert leise,
du hörst mit den Augen –
Sprich!
Prophezeie, wie es weiter werden wird!
Ob ich gepflegt sterbe, im Bett: umgeben von einem ernsten Professor, einer weißen Krankenschwester und süßlich riechenden Flaschen;
oder ob ich auf kalter Chaussee verrecke, ganz allein –
ob ich mich zerhuste oder sacht im Sessel zurücksinke …
In das Weiße der Augen steigt langsam Not auf –
welch ein Mitleid hast du mit dir!
Du betest dich hassend an.
Prophezeie:
Erfolg - Ansehen – Vergessenheit – Geldmangel – Demütigung; es gleiten die wohlgenährten Kameraden vorbei und klopfen dir ermunternd auf die Schulter, in leiser Schadenfreude.
Flocke. Geküßter Mund. Belebte Kopfkugel.
Mit mobilisierten Muskeln seht ihr euch beide an.
Tief unten knistert die Angst.
„Sie haben“, so sagt der Spiegelmann zu dem andern Mann,
„da ein Haar auf Ihrem Rockkragen!
Sehn Sie? es glänzt im Schein der abendlichen Lampe -
Sorgsam entfernt ihr das Haar.
Ich gehe vom Spiegel fort.
Der andre auch –
Es ist kein Gespräch gewesen.
mit dem Spiegelblick –
ohne den andern im Spiegel.
Allein.