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Der Karneval der Riviera und sein Ausgang

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Textdaten
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Autor: Anton von Perfall
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Titel: Der Karneval der Riviera und sein Ausgang
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 208–209, 211–214
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[208]

Blick auf Nizza.
Originalzeichnung von H. Nestel.

[209]

Mentone vom Kap Martin aus gesehen.
Originalzeichnung von H. Nestel.

[211]

Strand bei Nervi. 

Der Karneval der Riviera und sein Ausgang.

Von Anton Freiherrn v. Perfall.
Genua, 26. Februar 1887.     

Nachdem der grimme Winter des Jahres 1887 auf einige Wochen selbst über die ewig blühende Riviera sein dürres Scepter geschwungen, lachte in der Faschingswoche die Sonne so freundlich, so frühlingsmächtig über der ligurischen Küste, als habe sie den mürrischen Gesellen nur auf kurze Zeit zum Karneval eingeladen, theils um dem verwöhnten Völkchen wieder etwas Neues zu bieten, theils um ihre eigenen Reize wieder begehrlicher zu machen. Es galt ja, heute das heitere Fest zu feiern ihres geliebten sanftumstrahlten Kindes, des blühenden Nizza.

Wie ein Zauberwort tönt’s von Marseille bis Genua, ja bis ins blasirte, freudenmatte Paris: „Carnaval de Nice!“ und Zug auf Zug bringt neue Gäste. Arm und reich: das Fischermädchen vom Strande, die stolze unnabbare Lady, der Gesunde und der Kranke, Alles läßt sich in diesen Strudel ziehen. Und heute um zwei Uhr wird ja die lieblichste der Schlachten, „la bataille des fleurs“, die Blumenschlacht, geschlagen; wer möchte da fehlen, sich nicht auch in diesen duftigen Geschoßregen stürzen? Und die von Kampfeslust erhitzten Gesichtchen, die feurigen Blicke!

Es war denn auch ein Bienenschwarm, der sich brausend über die Ponts des Anges, die Rue des Anglais herabwälzte.

Voilà des bouquets, voilà des bouquets!“ tönte es an allen Ecken und Enden; Körbe, Wagen voll wurden zum Verkaufe ausgeboten. Betäubender Blumenduft lag jetzt schon über der ganzen Stadt. Die Tribünen für die Zuschauer füllten sich mit elegantem Publicum; Diener trugen Waschkörbe voll Bouquette aller Größen und stellten sie vor ihre Herrschaften. Alles rüstete sich zum Kampfe. An Munition fehlte es nicht. Selbst die Noth drängte sich heute aus ihren Winkeln in diesen allgemeinen Duft und Glanz und schmückte ihre Lumpen wie zum Hohne mit Veilchen. Auf den Balkonen, an den Fenstern der stolzen Paläste, den glänzenden Hotels der Rue des Anglais, der Place Massena drängte sich die elegante Welt in kostbarer Toilette, ebenfalls mit Munition reichlich versehen.

Ein buntes Gewirr greller Farben: die Trikolore an allen Ecken und Enden, bunte Dominos, Harlekins, Pierrots, die excentrischsten Toiletten, die je übermüthige Phantasie ersonnen, dazwischen die grellrothen Mützen der Küstenbewohner, die schreienden Uniformen des französischen Militärs, darüber azurner Himmel, daneben tiefblaues Meer, in das die mächtigen Palmenwedel der Rue des Anglais mit ihrem kräftigen Grün hineinragten, Freude, Lebenslust, Frühling allüberall!

Endlich ertönt die Musik, die Köpfe recken sich, Alles ist bereit – „voilà des bouquets!“ schüren die Verkäufer die Kampfeslust. Weit unten in der Rue des Anglais erhebt sich goldig erglänzender Staub; helles Getöse, dunkle Punkte schwirren massenweise durch die Luft. Die Schlacht hat begonnen – noch ist es nur Tirailleurfeuer; die Massen haben sich noch nicht begegnet.

Der Wagenzug nähert sich den ersten Tribünen. Jetzt ist die Luft von Blumengarben erfüllt, blau, weiß, gelb, roth schwirren Tausende der duftigen Geschosse von den Tribünen, aus den Fenstern berab, aus dem das Trottoir füllenden Publikum, und energisch wird das Feuer aus den Wagen erwiedert.

An manchen Stellen ist das Bombardement so arg, daß die besiegten Insassen des Wagens, erstickend, erblindend unter den von allen Seiten sie überschüttenden Blüthen, um Gnade bitten und einen Parlamentär mit einem Bouquett auf die Tribünen schicken.

Die Wagen fahren um die Place Massena in die Rue des Anglais und vertheilen sich dann in den Straßen. Unterdeß sinkt der Abend herab über Stadt und Meer, ein kühler Frühlingsabend. In den Kaffeehäusern sammelt es sich wie Staare im Schilfe; hier und da fliegt noch ein Bouquett in den Schoß einer Schönen, einzelne Karossen, angefüllt mit jungem Volke, das den Spaß nicht genug bekommen kann, fahren noch in den Straßen umher. Ihre Insassen bieten den Vorübergehenden Bouquette und Sträuße an, die mit einem leichten Scherz entgegen genommen und gleich darauf wieder verfeuert werden.

Es ist Nacht, von allen Seiten ertönt Tanzmusik und Festeslärm. Das Nachtfest im Palmengarten des Opernhauses ist heute das [212] Rendez-vous der ersten Gesellschaft, in die sich in karnevalistischer Freiheit die ganze Demimonde Nizzas, das heißt zu dieser Jahreszeit die Demimonde von Paris, zu mischen pflegt. – Neben der vornehmen Weltdame in unnachahmlich geschmackvoller Toilette die Pariser Cocotte in ihrer auffälligen Tracht – neben dem Glücksritter und Abenteurer die ersten Namen Europas. Doch das sollte ja heute nur ein Vorspiel sein zu der morgigen großen Redoute, dem großen Bacchanal von Nizza.

 Partie aus San Remo.
Straße in San Remo. 

Ein herrlicher Morgen und Nizza siegestrunken – Nike! Die Narrheit ist schon wach in allen Straßen und wirbelt in tausend Gestalten, in tausend Farben durch einander. Fuhrwerke aller Art, mit farbigen Teppichen und Guirlanden behangen, durcheilen die Stadt, sich für die Schlacht anbietend. Säcke voll der Confetti, kleiner Kalkkügelchen, werden feilgeboten, dazu leichte Drahtmasken zum Schutze des Gesichtes. Herren und Damen, Alles ist vermummt in dicht schließende Dominos, oder in Ermangelung eines solchen kehrt man seinen Ueberzieher um, trägt ihn dicht zugeknöpft mit dem Futter nach außen, drückt den Hut tief in das von der Maske geschützte Gesicht und erwartet nun getrost jeden Angriff. Ganz Nizza ist so gerüstet, hoch und niedrig; heute gilt nichts – nicht Rang, nicht Alter, nicht Armuth, nicht Reichthum; über Alle schwingt Prinz Karneval sein Narrenscepter. Um zwei Uhr beginnt der Zug. Die Waffe ist heute eine andere, weniger liebenswürdige, daher auch die Armirung der Truppen eine dem angemessene. Den Zug eröffnet eine Schar Reiter in geschmackvollem Phantasiekostüm aus weißer Seide; ihre unbedeckten Gesichter verlangen Schonung, nur hier und da wird eine Hand voll gegen sie geschleudert; auch hinterlassen die „Bonbons“ auf ihrer weißen Kleidung keine Spuren – das reizt die Menge nicht.

Große Brückenwagen mit Burgen und Tempeln, mit Zelten und phantastischen Dekorationen in allen Farben nahen sich in endlosem Zuge; ihre Insassen, Herren und Damen in reichen, der Farbe und Art der Wagen angemessenen Trachten, überschütten die Fußgänger mit den prasselnden Confetti und werden ihrerseits von den Fenstern und Balkons arg mitgenommen; auch unter der Menge selbst pflanzt sich das Bombardement fort; die Kunst besteht darin, dem Gegner die volle Ladung in die Maske zu geben.

Der Muthwille, die tolle Laune wächst ins Unendliche, Masken umschwärmen die Wagen. Das Menschengewoge, das Spiel der Farben im grellen Sonnenschein mitten in dieser lieblichen Landschaft spottet jeder Beschreibung.

Mit ihrer ganzen Majestät umgürtet, sank die Sonne in das dunkelnde Meer, langsam, erhaben, und ihre letzten Strahlen küßten das liebe ausgelassene Kind. „Gute Nacht, treib’s nicht zu toll – auf Wiedersehen!“ Immer tiefer sank der feurige Ball – noch ein rothes Pünktchen, wie die Flamme des Leuchtthurms. Auf Wiedersehen! Sie ahnte wohl selbst nicht, die Gute, Segenspendende, wie das werden sollte, das Wiedersehen!

Die eigentliche Schlacht ist zu Ende, und man erblickt die Kehrseite des Karnevals. Korybantenscharen durchziehen die Straßen beim betäubenden Klange von Pfeifen, Trommeln und anderen Instrumenten. Die heitere Lust, das rosenbekränzte, liebliche Kind ist verschwunden; die Sitte ist gewichen; wüste Leidenschaft schwingt jetzt das flammende Scepter.

Em unsagbares Sehnen erfaßt mich, diesem Hexenkessel zu entrinnen, der einen so brodelnden, schmutzigen Gischt aufwirft.

Aber wohin? Heute Abend sollte ja erst dem Feste die Krone aufgesetzt werden. Ich konnte nicht mehr; der Kopf schmerzte. Ich drängte [213] mich zur Bahn; um neun Uhr ging der Zug nach San Remo, meinem Aufenthaltsorte. Ich athmete auf in dem leeren Wartesaal; das Personal sah mich erstaunt an; heute Abend nach San Remo – aus Nizza? Unglaublich! Ich war natürlich allein im Koupé; mir war Einsamkeit so süß. Fort ging’s den Strand entlang in der herrlichen sternenvollen Nacht, an Monte Carlo vorbei, dessen Marmorpaläste aus dem Dunkel der Oliven und Palmen hervorleuchteten. Ueberall Stille – Nizza hat heute Alles verschlungen. Stille herrscht auch in Mentone, wo das Meer einen Doppelbusen bildet, Stille herrscht jetzt auf dem weiten Strande, auf welchem sonst ein buntes Treiben fluthet, in welchem die Söhne und Töchter Albions überwiegen. So durcheilen wir diese Küste, welche wie eine kostbare Perlenkette sich von Nizza bis Spezia erstreckt. Die herrlichen Juwele Nizza, Monaco, Monte Carlo, Mentone liegen schon hinter uns; bei Ventimiglia erreichen wir die französische Grenze, und nun beginnt die italienische Riviera ihre Reize zu entfalten: San Remo, Savona, Pegli, das vielbesuchte Nervi und Spezia reihen sich wie kostbare Edelsteine um den strahlenden Krondiamanten Genua.

Ausgabe von Briefen im Freien. 
 Die ersten Augenblicke nach dem Erdbeben.

San Remo! Ich stieg aus; da war’s lebendiger; die Fluth des Karnevals warf auch hierher ihre Wogen, wenn auch nicht so stürmisch wie in Nizza. Masken riefen mir verbrauchte Späße zu. Tanzmusik, Guitarrenklänge ertönten aus allen Lokalen. Es waren ja nur noch wenige Stunden, dann – carne vale!

Ich schlief unruhig. Das Geprassel der Confetti, die feurigen Blicke, der Blumenduft verwoben sich im Traume zu unzähligen Bildern – doch schlief ich. Plötzlich erwachte ich. Bin ich noch im Zuge? Ich blicke aufwärts, greife um mich im fahlen Dämmerschein: das ist ein Zimmer, ein Bett, und doch bewegt sich, rasselt, klirrt, schwingt sich Alles, ich selbst, das Bett! Mit einem Sprunge bin ich heraus. Unterirdischer Donner rollt. Das Haus stürzt ein. Ischia – die Namen meiner Lieben zu Hause: das Alles zuckt blitzartig durch mein Gehirn. Ich öffne die Thür und stelle mich unter die Füllung. Vom Plafond fallen schwere Kalkstücke auf das eben verlassene Bett. Seltsam! Ich fange trotz Allem zu – zählen an; zähle bis 84; dann hört die Bewegung auf, und ich wundere mich, daß das Haus noch steht.

Madonna! Madonna bellissima! Santa madre!“ tont es in dem finsteren Gange, weiße Gestalten mit zerwühltem Haare stürzen aus den Thüren, einige verhüllen ihre Blöße mit irgend einem bunten Maskenstück von gestern. Viele denken gar nicht daran; ein Herr hält sorgsam die Stiefel in seiner Hand; eine Dame läßt sich nur mit Gewalt abhalten, im Hemde barfuß auf die Straße zu eilen. „Terra mota! Tremblement de terre! – Erdbeben! retten Sie! Hilfe! Meine Kinder! Wird es wiederkommen?“ stöhnt es durch einander.

Neues unterirdisches Getöse ist die Antwort. Das Haus bebt wie von Fiebern geschüttelt. Kalk löst sich von der Decke und fällt, Alles in Staub hüllend, zu Boden; ein stürzender Wandspiegel läßt mit seinem klirrenden polternden Getöse die Verwirrung ins Unendliche wachsen. Alles stürzt die Treppe hinab, die bleichen, angstverzerrten Züge tragen noch die Spuren der durchschwärmten Nacht, ich denke trotz allem an das Bacchanal in Nizza; vielleicht war er dort noch schlimmer, der Aktschluß des „Propheten“!

Alles eilt dem Meere zu. Auf der Promenade bietet sich ein eigenthümliches Schauspiel. Das ganze elegante Publikum der gegenüberliegenden Hôtels d’Angleterre, Royal hat sich hierher geflüchtet. Mütter mit ungeordnetem Haar, nothdürftig bekleidet, ziehen auf der Steinbrüstung ihre nackten, frierenden Kinder an; schwer Kranke werden herbeigeschleppt; überall stehen erregte Gruppen. Aus den Handbewegungen kann man den Inhalt des Gespräches errathen, jeder erzählt, welche Empfindung er gehabt, jeder fürchtet, hofft, macht Pläne. Der Gefahr entfliehen, wohin? Noch waren keine Nachrichten da, wie weit das Erdbeben sich erstreckte. Der Bahnhof, das Telegraphenamt waren belagert; das sonst bis zur Peinlichkeit elegante Publikum machte jetzt ungekämmt, halb angezogen, alle sonst sorgsam geheimgehaltenen Schwächen verrathend, einen trotz des Ernstes der Lage komischen Eindruck. Da kamen die ersten Depeschen: in Nizza, Mentone, Porto Maurizio, Bordighera, Diano Marina noch schlimmer; die ganze Küste bebte. Man war eingeschlossen.

Plötzlich in dem allgemeinen Drängen, grollte es zum vierten Male unter den Füßen; es war, als käme der Donner vom Meere her; wie eine Schar Staare, auf die ein Schuß abgefeuert wurde, stob Alles schreiend auseinander. Man stand auf einem Vulkan; nur Flucht konnte retten, so dachte Alles. Hochbepackte Hôtelwagen rollten herbei, um 10 Uhr mußte der Zug von Nizza nach Genua kommen. Fort um jeden Preis! Der Schalter wurde gestürmt. Der Zug kam lange nicht; endlich um 11 Uhr keuchte er heran, überfüllt von Flüchtigen aus Mentone und Nizza; man drängte sich ohne Billette in die Wagen, das Personal war machtlos; an Gepäck dachte Niemand mehr! Eine Dame in vollstem Negligé klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an eine Thürklinke des schon abgehenden Zuges. Hunderte sahen ihm händeringend, alle Fassung verlierend nach. Der Untergang der ganzen Riviera war schon zur fixen Idee geworden.

Es war ein freudiger, sonniger Tag, nicht das geringste Anzeichen in der Natur von den gewaltigen Kämpfen in dem Innern der Erde. Das Meer warf mit majestätischem Gleichmuth seine Wellen an den Strand. Mit dem Sonnenlichte zog wieder Fassung ein in die geängstigten Herzen. Aber entsetzliche Post traf ein von allen Seiten. In Bajardo hatte die Kirche Hunderte begraben; Bussana, zwei Stunden entfernt, war nicht mehr. Auch in der Altstadt gab es Todte und Verwundete.

Ein furchtbarer Aschermittwoch war hereingebrochen über die Riviera, ein Carne vale für Hunderte in der vollsten Bedeutung des Wortes.

Nach Bussana! Ich wollte einmal dem Entsetzen, der Teufelei der Natur ins Antlitz schauen. Ein herrlicher Weg führte mich die Küste des Meeres entlang. Die gelben Felsen zur Linken, die wogenzerfressenen Klippen, das blaue, leise sich kräuselnde Meer mit einigen Seglern, die wie weiße Vögel in das milde Blau des Himmels hineinragten – eine idyllische Landschaft – voll Friede! Heuchlerin, Urfeindin Natur, mit der wir ringen von der Geburt bis zum Grab, in uns, außer uns – ich glaube dir nichts mehr, ich fahre ja zu deinen Opfern, Sirene! – Der Weg biegt rechts ab durch Olivenhaine. Bald erblicke ich burgengleich auf bewaldeten Anhöhen zwei Orte, der rechtsliegende ist Bussana; es ist schwer zu erkennen, welches von den Dörfern das verwüstete ist; hier zu Lande gleicht ja jedes Dorf einer Brandstätte, die altersgrauen Mauern, die ein Gebäude zu bilden scheinen, erheben sich malerisch aus dem Graugrün der Oliven; aber Zeichen des Unheils kommen mir schon auf halbem Wege entgegen. Zwei mit allem möglichen Hausrath belastete Esel traben die staubige Straße herab. „Von Bussana?“ frage ich den Treiber. Er nickt stumpf mit dem grauen, verwitterten Kopf. Ich will ihn nicht weiter fragen; das Unglück haßt die Neugierde. Ein altes Mütterchen treibt eine Kuh herab, wohl das Einzige, was ihr geblieben. Jetzt naht ein ganzer Zug. Männer, Frauen, Kinder, voran das leibhaftige Modell zu Kaulbach’s „Dorothea“. Eine hohe kräftige Gestalt, mit anmuthiger Bewegung einen schweren Bündel auf dem Kopf haltend; der braune, fein modellirte Arm hebt sich in tadelloser Linie vom blauen Himmel ab. Bitterer Trotz ruht in dem dunklen Antlitz; mich rührt er mehr als alle Thränen. Stumpfsinnig folgten die Anderen, schwer bepackt, ich hörte keine Klage, keine Bitte. Eine solche Nacht mag wohl Alles ertödten.

Villa Cipollino in Mentone.0 Nach einer Photographie.

Vor dem engen burgartigen Thore des Dorfes lagerten Soldaten, den Eintritt verwehrend, ihre Kameraden drinnen vollzogen das Rettungswerk. Nebenan unter den Oliven das Lager der Bewohner. Mit grellen Lumpen malerisch drapirte Gestalten, Frauen, Männer, nackte Kinder, stehen, hocken umher, stumpfsinnig, apathisch, ermattet von all den Schrecken auf die armseligen Betten und Matratzen hingesunken. Neben dem Wege, an eine zerfallene Mauer gelehnt, liegt eine Frau, ihr Gesicht ist mit einem nassen, blutigen Tuch bedeckt, schwer wogt die Brust; Kinder umringen sie laut jammernd: o madre, madre! Ein junger Officier kniet neben ihr und spricht ihr Trost zu; ich frage ihn nach dem Befinden der Armen.

„Vorbei,“ sagt mir seine Geste. „Und die Todten, die Verwundeten?“ „Hier oben,“ er deutete auf die Osteria oben auf einem Felsen.

„Wie viel?“

[214] „Hundertfünfzig bis jetzt!“

Ein Glöckchen ertönt; ein Priester mit dem Sakrament geht den schmalen Steig aufwärts zur Osteria; ich folge ihm. Unten in der Stube ist der Verbandsplatz. Karbolluft weht entgegen. Aechzen, Stöhnen, laute Gebete; blutgetränkte Verbände um verstümmelte Glieder, schmerzverzerrte Züge überall; zwei Soldaten schleppen eben einen Körper nach oben; da oben ist’s still, und der gehört wohl auch zu den Stillen. Ich werfe nur einen Blick in den Raum; er ist erfüllt von Opfern dieser Nacht: ein mitleidiges Tuch bedeckt das Grauenhafte.

Neben der Osteria steht eine kleine Kapelle; dort knieen sie in dichten Scharen vor dem Bilde der Schmerzensreichen; sie muß sie verstehen mit den Schwertern in der Brust. Von dem Dorfe her schmettern die Trompetensignale der Soldaten.

Bussana ist ein Trümmerhaufen; nur der schlanke weiße Kirchthurm ragt unversehrt empor. Die weißen Häuser sind in der Mitte gespalten; die armseligen Wohnungen liegen offen jedem Blick; dort steht ein zerwühltes Bett, ein Tisch mit Geschirr am Rande des Abgrundes; bunte Bilder hängen noch an den rissigen Wänden. Balken, Mauern, Dächer ragen in wirrem Durcheinander in die Luft; hier und da steigt eine Staubwolke in die Höhe von einer nachstürzenden Mauer. Gestern um diese Zeit flogen die Confetti zu Nizza – erschütternder Kontrast!

Voll von dem Eindruck, voll bitterer Philosophie kehre ich zurück; vielleicht ereilt San Remo heute Nacht dasselbe Schicksal.

Es dunkelte schon, als ich nach San Remo zurückkam; es war unterdeß zum Feldlager geworden. In allen Gärten der Villas und Hôtels, in den öffentlichen Anlagen unter den Palmen waren Baracken und Zelte aufgeschlagen, um die Nacht hier zuzubringen; auf den freien Plätzen brannten Feuer, um die sich Alles drängte. Gepäcksstücke, Koffer, Reisetaschen lagen überall umher. Unten am Meere waren die Fischerboote ans Land gezogen, mit Plaids, Tüchern, Segeln bedeckt, aus denen es transparentartig durchleuchtete. Die verwöhnteste Lady schien heute mit Allem zufrieden zu sein; die Wagen waren schon längst alle in Beschlag genommen. Die Häuser und Hôtels, sonst um diese Zeit hell erleuchtet, lagen dunkel, düster. Ich traf einige Landsleute, und wir beschlossen, wenigstens bis Mitternacht den allgemeinen Jammer, die Beklommenheit beim bayerischen Bier zu vergessen. Es gelang uns auch eine Zeit lang; als aber der Zeiger schon über 12 hinausrückte und sich immer mehr der verhängnißvollen Stunde von gestern näherte, verstummte das Gespräch; wir waren die Letzten im Bade. Auf der Promenade am Ufer des Meeres wollten wir Obdachlosen die Nacht verbringen; im Falle einer Katastrophe war man hier unbedingt am sichersten. Man hätte beim Anblick der Gestalten, die sich hier bewegten, glauben können, der Karneval beginne von Neuem. Damen und Herren in weiße Bettdecken gehüllt, in farbige Teppiche, um sich vor dem kalten Seewind zu schützen; auf den Bänken, im Dunkel unkenntliche Massen, Berge von Tüchern, Pelzen, unter denen sich hier und da durch eine plötzliche Bewegung lebende Wesen verriethen. Ich war nicht so gut ausgerüstet, die Kälte war empfindlich – und dabei der Gedanke, daß unzählige schwer Leidende, die sonst das Zimmer nicht verlassen konnten, eine ganze Nacht derselben ausgesetzt waren! – Ich ging den Molo auf und ab und hatte Muße zu philosophiren beim einförmigen Rauschen des Meeres, dem Sternengeflimmer über mir, dem wankenden Boden unter mir. Man erwartete mit Sicherheit gegen Morgen einen weiteren Stoß, der bei den beschädigten Gebäuden verhängnißvoll werden mußte. Der Gedanke war schon zur Manie geworden; man wartete auf seine Erfüllung; man war fast enttäuscht, daß sie nicht kam.

Gegen 4 Uhr, ich hatte mich eben ermüdet auf eine Bank gesetzt, pochte es gegen meine Sohlen, wie ein ferner Gruß aus räthselhaften Tiefen; ich hatte mich nicht getäuscht; ängstliche Bewegung wurde vernehmbar ringsumher. „Jetzt kommt’s,“ dachte man. Ich sah Leute, die sich an den Bänken festhielten in ängstlicher Einfalt. Es kam aber nicht. Ein kalter Wind wehte von Sonnenaufgang her. Das Firmament erbleichte im Ost und nahm die Farbe der Milchstraße an. Dann legte sich ein dunkelrother Rand über die noch schwarze See; allmählich schien sich derselbe von innen zu erhitzen, zu erglühen; plötzlich schien er ein Feuerbrand, in dem die zitternden Kontouren des Meeres auf- und abwallten. Die Nacht versank im Westen, mit ihr die Qual; Alles athmete auf, erstarrt von der nächtlichen Kälte.

Mein Entschluß stand fest. Der Anblick in Bussana, die durchwachte Nacht, die allgemeine Unruhe, die Besorgniß der Angehörigen zu Hause bei der Nachricht – da war keine Freude mehr zu hoffen an diesen lieblichen Gestaden. Mit dem ersten Zuge fort von dieser gleißnerischen, palmengeschmückten Küste zu meinen theueren, wenn auch schneebedeckten deutschen Tannen! Da steckt doch noch mehr Beständigkeit darinnen. Ich eilte in das Hôtel, betrachtete mit scheuen Blicken die geborstene Wand in meinem Zimmer, packte in Eile meine Sachen – und hinunter auf den Bahnhof. Aber diese Idee hatte ganz San Remo; der Bahnhof war fast zu klein, Alle zu fassen. Der Zug war noch nicht zum Stehen gebracht, und schon drängte Alles an die Koupés. Die Spuren der durchwachten Nacht lagen auf allen Gesichtern; alle Eitelkeit, alle Gefallsucht war vergessen. So unmöglich es schien, der Zug verschlang doch Alles; nur die armen Bewohner von San Remo standen noch niedergeschlagen auf dem Perron und blickten rathlos ihren entschwindenden Hoffnungen nach. La saison est morte! 10000 Fremde verlassen an diesem Tage die Riviera.

Arme Riviera! Vor 14 Tagen fuhr ich entzückt durch die blühende Landschaft und pries die glücklich, die hier geboren werden, und heute gleicht sie einem Lande, das eben ein barbarischer Feind verlassen. An allen Stationen sah man Lager im Freien, düstere Gesichter und hörte noch düsterere Nachrichten. Dieser Aschermittwoch kostet der Riviera mehr als tausend Menschenleben. An manchen Stellen, wie in Porto Maurizio, Noli, hingen geborstene Mauern über die Schienen, daß der Zug nur langsam mit größter Vorsicht vorbeifuhr, um nicht durch die Erschütterung den Einsturz herbeizurufen. Die Tunnels, die Brücken waren unsicher; überall drohte ein Unglück, und Alle athmeten auf, als der Zug in den Bahnhof zu Genua einfuhr. Ich hatte genug des Südens und strebte über die Alpen der Heimath zu. Diese massigen schneebedeckten Berge wirkten jetzt ordentlich beruhigend, nachdem sich Tage lang meine Phantasie in den Feuer- und Lavaschlünden unbekannter Tiefen ergangen. Aber lange noch wird in meiner Erinnerung nachtönen der gewaltige Schlußaccord des Karnevals der Riviera!

Lager am Strande.0 Nach Photographien und Skizzen gezeichnet von A. Lewin.