Der König der europäischen Sturmwinde
Von Friedrich Hofmann.
Der Lloyddampfer schaukelte uns, von Venedig kommend, zwischen Grado und Pirano auf der Adria, die von einer absterbenden Maretta, wie die italienischen Schiffsleute das nördliche Nachzittern südlicher Stürme des adriatischen Meeres nennen, zu schönen langgestreckten Wogen gehoben wurde.
„Hier ist ein reizender Punkt der Erde,“ wandte der Capitain sich an die heitere Gruppe von deutschen Reisenden, die wir am Compaßhäuschen bildeten. „So oft ich auch diese Tour mache, diese Einfahrt in den Golf von Triest hat in den langen Jahren meines Dienstes für meine Augen nichts von ihrem Zauber verloren. Wie prachtvoll der Riesenkranz der cadorischen, carnischen und julischen Alpen in weiten Bogen am fernen Horizonte sich vor uns ausspannt! Sehen Sie diese zackigen, faustigen, festungsartig emportrotzenden weißschimmernden Felskolosse, und doch stehen bei uns Seeleuten zwei nähere Berge höher in Achtung: der Monte Spaccato (gespaltener Berg, von seiner Form so genannt), weil er zunächst über Triest liegt, und der Nanos des Karst, der als Thron und zugleich als Signalthurm der Bora gilt.“
„Bora?“ fragten mehrere Stimmen.
„Ja,“ fuhr der Capitain fort, „dieser Nord- oder vielmehr Nordost-Sturmwind steht bei den Fischern des Golfs und den Schiffsleuten von Istrien und Dalmatien in so hohem Respect, wie bei den Fuhrleuten, die besonders zur Winterzeit über den Karst fahren müssen. Soweit das Haupt des Nanos sichtbar ist – und man sieht ihn noch vom Marcusthurm in Venedig aus, – geht in seinem ganzen südlichen Bereiche kein Schiffer in See, kein Fischer auf den Fang, kein Fuhrmann auf die Reise, ohne erst nach ihm geschaut zu haben, denn wenn er seine schimmernde Wolkenkrone trägt, so verkündigt er damit, daß er gerüstet ist, seine wilden Wetter über Land und Meer zu schleudern. Als ob der große Birnbaumer Urwald, vor dem er als südlichster höchster Wächter steht, in seinem noch unerforschten Innern die Stürme für ihn bereite, so brausen sie hinter ihm hervor und fegen über den Boden hin mit geradezu unbeschreiblicher Gewalt.“
„Es scheint,“ fiel ein Herr aus Laibach ein, „als ob von den Naturwundern Illyriens die Adelsberger Grotten und der Cirknitzer See draußen im Reich bekannter wären, als unser eisiger Samum. Mit Sand überschüttet er freilich keine Karawanen, denn längst hat er aus der Hochebene der Karst jedes Bischen Erde hinweggefegt, das nicht hinter Schutzmauern oder in den Dollinen[1] geborgen ist. Soweit die Bora ihn bestreicht, ist der Boden nichts als eine Masse auf das Säuberlichste abgeriebener Kalksteinbröckchen. So lange noch kein Schnee auf dem Gebirge liegt, kündigt die Bora sich meilenweit durch die massenhaften Staubwolken an, die sie aufwühlt und vor sich hertreibt. Aber erst im Winter beginnt ihre volle furchtbare Herrschaft, da fordert sie oft viele, viele Menschenleben.“
„Im Sommer,“ ergänzte der Capitain, „ist sie, den wahrhaften Staubregen, den sie von Optschina her über uns ergießt, abgerechnet, mehr wohlthätig, als schädlich. Wir verdanken ihr den ziemlich guten Gesundheitsstand von Triest, weil sie die schädlichen Ausdünstungen aus der Stadt vertreibt und der stets siegreiche Gegner des Sirocco ist, der alles Leben erschlafft und manche Gesundheit untergräbt. Die erfrischende Kraft der Bora zeigt sich auch im besseren Appetit der Menschen, die während ihrer Oberherrschaft im Reich der Lüfte kräftigere Nahrung vertragen und denen dann auch Austern und Ihre starken deutschen Weine und Biere nicht schaden, die außerdem Niemandem zu empfehlen sind, der in Triest gesund bleiben will.“
„Das wird aber wohl das einzige Lob sein, das die Bora verdient,“ warf der Laibacher dazwischen.
„Allerdings,“ fuhr der Capitain fort, „denn außerdem haben wir nicht blos in Triest, sondern hauptsächlich zur See viel von ihr zu leiden. An den dalmatischen Küsten und besonders im Quarnero (dem Fahrwasser zwischen den Inseln südlich von Istrien und von Fiume) zerschmettert sie jährlich manches Schiff, besonders gehen der armen kleinen Trabacoli, unserer eigentlichen Küstenhandelsschiffe, die beladen oft kaum einen Fuß Bord haben, jährlich viele zu Grunde. Das Gefährlichste, die eigentlich vernichtende Kraft der Bora, besteht in ihrer stoßweisen Wirkung. Wie der Vulcan seine Lavagarbe plötzlich hinauswirft und dann ebenso plötzlich wieder ruht, um Kraft zu sammeln, gleichsam wieder frisch zu laden für die nächste Explosion, so ist’s auch der Anprall, der Stoß, mit dem die Bora, wenn sie hinterm Nanos hervorbricht, so vernichtend wirkt; sie steht nach solchem Stoß für Augenblicke plötzlich still, ehe der zweite und dritte und so fort erfolgt, bis sie endlich auf dem Boden des Karst dahintobt, von der steilen Höhe herniederfährt, die Kronen aller Bäume bricht, die stärksten Stämme entwurzelt, durch die Straßen von Triest rast, oft ganze Dächerreihen abhebt und endlich das Meer zerpeitscht, daß es einer Riesenschüssel voll Seifenschaum gleicht.“
„Herr Capitain,“ rief da eine norddeutsche Stimme aus, „Sie machen mir angst und bange. Jetzt stehen wir schon im Spätherbst und ich kann erst in sechs Wochen von Triest weiter reisen und muß nach Laibach; da komme ich ja gerade in die schlimmste Zeit dieser schauderhaften Bora.“
„Das ist sehr wahrscheinlich,“ erwiderte richig der Capitain. „Indeß ist für Postreisende stets Vorsorge getroffen. Sobald die Borawolke des Nanos sich zeigt, begleiten jeden Postwagen zehn bis zwölf Männer mit Stangen und Stricken, und sobald die Gefahr naht, werden von der einen Hälfte der Mannschaft auf der Sturmseite die Stricke oben am Wagen befestigt und angezogen, während die andere Hälfte die Stangen ebenfalls oben am Wagen einstemmt – so geht es Schritt vor Schritt dem Orcan entgegen und in ihm vorwärts. Es geschieht freilich oft genug, daß dennoch selbst der schwerste Postwagen umgeworfen wird, aber doch selten gerade an einer so bösen Stelle, daß Wagen, Pferde und Menschen in die Abgründe stürzen.“
„Heiliger Himmel, das sind schöne Aussichten!“ rief unser Norddeutscher. Der Laibacher, dem es lange schon auf der Zunge gebräunt, ergriff nun das Wort. „Mit Vorsicht,“ sagte er, „ist auch diesen Gefahren zu entgehen, man muß nur nicht auf seinem Kopf beharren, wenn die Bewohner der Orte an der Straße, die von der Bora bestrichen wird, von der Weiterreise abmahnen.
Gegen die Bora gilt kein Trotz, das hat erst neulich wieder ein schweres Unglück bewiesen. In Planina kam eine Schwadron Husaren an, die nach Verona bestimmt war und die sogleich nach Adelsberg weiter reiten wollte. Der kaiserliche Weginspector machte dem Rittmeister pflichtschuldig die Meldung, daß seit zwei Tagen sehr starke Bora sei. Der Ort stand voll Fuhrwerk, das sich nicht weiter getraute, und Nachricht war gekommen von vielen verunglückten Geschirren und Menschen, – denn Sie müssen wissen, daß der ungeheure Verkehr auf der Straße von Wien und Laibach nach Triest und Italien durch die Bora oft wochenlang unterbrochen ist. – Bei dem Herrn Rittmeister half jedoch alles Abreden nicht. Komme Jemand einem Husaren mit Gefahr! Sie ritten, trotzdem der Weginspector flehentlich bat, so viel Menschenleben und kaiserliches Gut zu schonen, nun erst recht – und von den braven Husaren ritten die meisten in den Tod.“
„Entsetzlich!“ riefen wir Alle, und „Ja, so ist’s!“ bestätigte der Capitain.
„Die Bora,“ fuhr der Laibacher fort, „lauerte wie ein Raubthier auf ihre Beute. Und es ist eine der schlimmsten Stellen, die zwischen Planina und Adelsberg, weil die Straße links meist an tiefen Abgründen hinführt. Dort brach der Sturm über die Schwadron herein – schon der erste Stoß schleuderte Alle von den Rossen und Viele in die Tiefe. Nur Wenige, die Geistesgegenwart genug hatten, sich nach dem Sturz hinter ihre Pferde auf den Boden zu legen, oder die beim Sturz glücklich so zu liegen kamen, daß die schwere Pferdelast sie schützte und sie selbst gleichsam einen Hemmkeil bildeten, der auch dem Pferde einen festern Halt gegen die Stöße der Bora gab, – nur diese Wenigen wurden gerettet. Und das ist nur ein Beispiel, das eben Aufsehen gemacht hat, weil es kaiserliches Militär und gerade Husaren betroffen, die Jedermann besonders lieb hat. Wie viele Fuhrmannswagen werden jährlich umgeworfen und zertrümmert; wie viele Fuhrleute unter den Schneelawinen begraben, die der Sturm vom Boden ordentlich aufwirbelt und über Alles hinwälzt; wie viele [169] verirrte Handwerksbursche fallen in die überschneiten Dollinen. So ist’s gar nicht möglich, das Unheil, das die Bora alle Jahre anrichtet, zu Buch zu bringen.“
„Sie hatten Recht,“ nahm der Capitain wieder das Wort, „die Bora mit einem springenden Raubthier zu vergleichen. Das Springen ist ihr auch bequem genug gemacht. Der Birnbaumer Wald, auf dessen kaltem, wildem Rücken der Volksglaube die Bora entstehen läßt, erreicht durchschnittlich eine Höhe von zweitausend Fuß; der Nanos, an dessen Wänden der Sturm anprallt, ist über viertausend Fuß hoch; fünfhundert Fuß tiefer, als der Birnbaumer Wald, streckt die Karsthochebene sich in einer Länge von zehn und einer Breite von drei bis vier Meilen aus, und zwölf- bis fünfzehnhundert Fuß unter den Karsthöhen liegt Triest und das Meer. Das sind die Riesenstufen, auf welchen das wüthende Raubthier Satz um Satz herniederstürmt mit wachsender Wucht, bis es im Gischt der Adria verlobt und verendet. – Würden wohl die classischen Schriftsteller der alten Griechen und Römer über diese Naturerscheinung, die sich ihren Schiffen doch bemerklich genug gemacht haben müßte, geschwiegen haben, wenn sie damals schon ihre heutige Macht entfaltet hätte?“
„Sicherlich nicht,“ antwortete der Gefragte; „aber wie möchte diese ausfällige Erscheinung zu erklären sein?“
„Sehr einfach,“ erwiderte der Capitain. „Wir verdanken die Bora vielleicht schon den späteren Römern, aber hauptsächlich den Venetianern. Der Karst war offenbar in alter Zeit so gut bewaldet, wie die Gebirge, die hinter ihm liegen. Die Venetianer bedurften aber Holz, und viel Holz, zu ihren massenhaften Schiffs- und sonstigen großen Bauten. Dieses holten sie am liebsten da, von wo sie am nächsten zur See kommen konnten, und das war das gebirgige Hinterland von Triest, das sie fünf bis zehn Meilen weit von der Küste ausbeuteten. Wie für die Lawinen, ist auch für die Stürme der Wald die sicherste Mauer; diese Wäldermauer hat die Habgier der Venetianer niedergerissen und dem Sturme freie Bahn gemacht – und nun haben die Nachkommen zu büßen, was die Vorfahren hier sündigen ließen. Dieselbe Wälderverwüstung, dieselbe Verödung der Abhänge und Hochebenen des Gebirgs, dieselben offenen Bahnen für Stürme, Lawinen oder Gletscher finden wir am ganzen Südabhang der Alpen. Holz war Unkraut, man hat das Unkraut ausgerodet und damit viele goldene Saat in den Thälern vernichtet. Sehen Sie jetzt die Flora des Karst und seiner Abhänge. Unter dem Hauche der Bora verdorrt aller Pflanzenwuchs, selbst wo ihre Wirkung etwas gebrochen ist, verkrüppeln die Bäume und haben nur auf der Südseite wenige belaubte Zweige. Es ist ein Anblick zum Erbarmen.“
„Und doch wagt es die Cultur, trotz der Bora dem Boden treffliche Früchte zu entlocken, ja, der Bora selbst Trotz zu bieten.“ Mit diesen Worten trat ein deutscher Kaufmann aus Triest in unsern Kreis. „Sie haben in Ihrer Unterhaltung mehrmals von den Dollinen gesprochen. Diese trichterförmigen Vertiefungen, die eine Haupteigenthümlichkeit des Karstbodens sind, dienen als die ersten Anhaltspunkte zur Wiederbefruchtung desselben. Sie kommen sehr zahlreich vor und sind bald klein, nur wenige Fuß im Durchmesser haltend, bald aber auch so groß, daß ihre Kessel, oft bis zu sechszig Fuß Tiefe, kleine Thäler bilden. Offenbar sind es Erdstürze, veranlaßt durch die unterirdischen Gewässer, welche in der Tiefe Höhlen auswuschen, deren Wände und Decke endlich zu schwach wurden, um die Oberfläche zu tragen, und zusammenbrachen. Viele dieser Trichter stehen noch durch Spalten und Löcher mit tiefer liegenden Höhlen in Verbindung, wie sich aus Nachgrabungen ergeben hat! Zuerst sammelt sich nun auf dem Boden dieser Versenkungen eine Schicht Dammerde an, die aus dem verwitterten Gestein und den Pflanzenresten sich bildet, welche das von oben in den Trichter einfließende Wasser mit sich hinabführt. Hier beginnt nun der fleißige Mensch wieder die ersten Anpflanzungen, bis der Boden sich mehrt oder fruchtbare Erde mit viel Mühe und Kosten herbeigeschafft wird, um auch die Wände des Trichters oder des Thälchens fruchtbar zu machen. In den kleinsten Dollinen stehen wenigstens einige Obstbäume, in den größeren wird schon Getreide, Gemüse und Wein gebaut, ja, den köstlichsten Wein ganz Illyriens, den Champagner von Prosecco, kocht die Sonne in einer solchen Dolline, die der über sie hinbrausenden Bora lacht. Man ist schon einen Schritt weiter gegangen, indem man Trichter, die nicht tief genug sind, um von der Bora unbehelligt zu bleiben, durch Steinmauern gegen sie schützt. In jüngster Zeit ist sogar der Plan zur großartigen Inangriffnahme der Bepflanzung des Karsts aufgetaucht; doch weiß ich, da ich soeben erst von einer größeren Reise heimkehre, nicht, wie weit man damit gediehen ist.“
Meine beiden Zöglinge, frische Jungen von vierzehn und sechszehn Jahren, hatten der aufregenden Unterhaltung mit leuchtenden Augen gelauscht. Ich sah ihnen an, wie sie sich heimlich auf so einen Borasturm freuten. Und sie sollten ihn genießen, zu ihrer und meiner unauslöschlichen Erinnerung. Eine erste Probe derselben stand uns aber bereits bevor, während wir uns eben dem Anschauen der neuen vor unseren Augen auftauchenden Herrlichkeit hingaben. Triest, die amphitheatralisch an ihren Höhen aufsteigende, mit dem burgartigen Castell gekrönte Stadt, hob sich vor uns aus dem Meere. Selbst die tiefen Golfe von Monfalcone zur Linken und Capodistria zur Rechten vermochten uns nicht mehr zu fesseln, die Stadt allein zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Da – wir hatten bereits den Leuchtthurm zu unserer Rechten und erkannten den Molo San Carlo, auf welchem stets zahlreiche Gruppen der Ankunft des Dampfers harren – da rief plötzlich der Capitain: „Wir haben den Teufel an die Wand gemalt, und da ist er! Herren und Damen, die Kopfbedeckung fest halten! Es kommt Bora! Sehen Sie die Staubwolke auf Optschina!“ Die Matrosen riefen „Bora! Bora!“ und beeilten sich, das Leinwanddach des ersten Decks einzuziehen. Die meisten Frauen flüchteten in die Kajüten. Wir waren dem Molo so nahe, daß wir die einzelnen Gestalten unterscheiden konnten. Plötzlich ungeheure Bewegung und Flucht – ein förmlicher Regen von Hüten und Mützen und selbst Damenhüten flog dort in’s Meer. Ehe wir zur Landungsstelle kamen, war der Platz von Zuschauern ziemlich geräumt, – die handfesten Facchini, die Triestiner Dienstmänner oder Eckensteher, waren dagegen um so zahlreicher herbeigeeilt, um für ihre Dienstleistung heute eine doppelte Ernte zu halten.
Auch wir hatten den ersten Gruß der Bora deutlich genug empfangen; doch tröstete der Capitain, daß sie noch schwach sei. Um so mehr eilte Alles, an’s Land und unter Dach und Fach zu kommen. Eine halbe Stunde später saß ich mit meinen Zöglingen in der Corona serrata (Gasthof zur eisernen Krone), wo unser Aufenthalt auf anderthalb Monat sich ausdehnte. – Wir fanden nun Gelegenheit, so ziemlich Alles zu erproben, was der Triestiner Bora auf dem Lloyddampfer Uebles nachgesagt worden war. Wir erlebten sie vom schwächsten bis zum äußersten Grade, wo ihr Wüthen den Verkehr in denjenigen Straßen der Stadt, die ihr in ihrer ganzen Länge besonders ausgesetzt sind, förmlich schloß, wo Geschirr und Menschen, die diese Straße passiren wollten, niedergeworfen und auf dem glatten Boden fortgerissen und gerollt wurden, wo selbst die Seile, die man in solchen Straßen an den Trottoirs hin befestigt, nur von den stärksten Männern zum Vorwärtskommen benutzt werden konnten, wo, wenn die Bora Tage lang wüthete, kein Segelschiff in den Hafen kam, sondern ganze Flotten sich hinter Pirano sammelten, um, wenn endlich Ruhe eintrat, zu sechszig, ja hundert Segeln zugleich den Einzug auf der Rhede zu halten, ja, wo wir des Nachts bei fest geschlossenen und verstopften Fenstern und Fensterläden und selbst unter doppelten und dreifachen Decken im Bette froren, so Alles durchdringend ist der fürchterliche Eishauch der Bora. Wir sollten sie aber in ihrer ganzen Machtfülle bewundern lernen, als wir endlich die Heimreise über den Karst antreten mußten.
Ich will gleich zur Sache selbst schreiten, wie sehr es mich auch verlocken möchte, von unserm Norddeutschen, der wieder unser Reisegefährte wurde, und von dem alten armen Türken, der nach Wien zum Kaiser wollte und mit dem Turban auf dem geschornen Schädel und mit Pantoffeln an den Füßen, in diese wilde Gegend gerieth, sowie von den Leiden auf der Gebirgsreise auch ohne Bora zu erzählen; nur das muß ich vorausschicken, daß, natürlich vor der Eröffnung der Karsteisenbahn in bedeutend stärkerem Grade als jetzt, das viele Fuhrmannsgeschirr den Winterverkehr auf der Straße zwischen Triest und Laibach außerordentlich beschwerlich, oft gefährlich machte. Mehr als in Triest selbst gewinnt man einen Begriff von der Wichtigkeit dieses Hauptseehandelsplatzes der österreichischen Monarchie beim Anblick der oft unabsehbaren Wagenreihen, welche, mit Waaren beladen, landein, oder auch mit Baustämmen befrachtet, seewärts fahren. Die Wagen [170] sind niedrig, hauptsächlich des Holztransports wegen; im Winter sind jedem einzelnen oft zwölf und mehr Paare Ochsen vorgespannt. In jedem Orte an der Bandstraße wohnen Fuhrherren, die insgesammt über zehntausend Fuhrknechte in Sold traben sollen. Nun denke man sich im Winter, wo für den Verkehr eine Bahn durch den Schnee gegraben werden muß, die dann oft zwischen haushohen Schneemauern hinführt, eine Begegnung mit solch einer Wagenreihe! Oft ist das Umwenden und Umkehren ebenso unmöglich, wie das Ausweichen. Dann ist kein anderer Ausweg, als daß die Zugthiere und Menschen einzeln seitwärts an eine der Schneemauern sich fest an-, ja fast hineindrücken, während der Schlitten der Reisenden so hoch gehalten wird, daß das wilde Heer vorüberdrängen, treiben und schlagen und stoßen und fluchen und prügeln kann. Ist die Straße selbst dazu zu eng, so bleibt nichts übrig, als in eine Schneewand eine Nische für den Zug der Reisenden auszugraben, wozu Alles Hand anlegen muß.
In einer solchen Nische staken wir mit unserm Schlitten auf dem jenseitigen Abhang des Berges, über welchen die Straße von Präwald (fast am Fuße des Nanes!) nach Adelsberg führt. Schweißtriefend von der Arbeit und todtmüde kauerten wir da, und immer wollte des Fuhrwerks kein Ende werden, als plötzlich der Zug stockte und vom Berge her der Angstschrei: „Bora! Bora!“ erscholl. Die Thiere brüllten, sie kennen die Gefahr, und mit einem Male wurde es Nacht über uns, um uns – einen langen, bangen Augenblick – eine Schneelawine hatte sich über uns hingewälzt, und nun folgte der zerriebene Flugschnee wie ein rasselnder Regen und jagte über uns hin. Dann begann ein Drängen von rückwärts an uns vorüber – etwa zwanzig Fuhrknechte waren es, die keuchend vorbeistürmten – und wir ihnen nach, Gepäck und Schlitten und Thiere im Stiche lassend, drängten wir uns zwischen den Geschirren und den Schneemauern fort – es waren nur noch wenige, aber noch viel weniger Augenblicke hätten dazu gehört, uns ein Grab der Lebendigen zu bereiten. Die Bora schleuderte uns in der Hohlgüsse der Schneemauern wie Schneebällen vorwärts, so daß wir kaum auffußten, und doch mit dem klirrenden Schnee uns die Nacken peitschend – die Sinne wollten mir vergehen, als ich plötzlich niederstürzte – und dies blos, weil die Bora plötzlich mich nicht mehr trug, sondern über unsern Häuptern weiter wüthete. Als ich die Augen wieder gebrauchen konnte, das Bewußtsein der erlebten jüngsten paar Augenblicke mir klar wurde, suchte mein erster Gedanke, der erste Strahl des Blicks nach meinen Zöglingen. Vor mir lagen allerlei Gestalten durcheinander – der arme Türke war der Erste, den ich sah, und da, neben ihm krochen meine Jungen hervor, der eine im Gesicht blutend, der andere hinkend, aber sonst gesund und gerettet Beide. Gerettet waren übrigens Alle, die nicht verweht waren. Die Bora hatte uns in Adelsberg selbst abgeworfen, und Hülfe kam nun von allen Seiten, und auch wir fanden ein Fleckchen im überfüllten Wirthshause.
Aber welcher Jammer brach nun los, als die Menschen erst wieder zu Besinnung gekommen waren! Mehr als dreißig Geschirre staken zwischen den Schneemauern, wie viel Reisende noch hinter uns sich eingewühlt haben mochten, wußte Niemand. Der halbe Ort machte sich auf den Weg, um die Rettung zu versuchen. In der Wirthsstube wurde es trotzdem nicht leerer, denn auch von der anderen Seite dieser Schreckensstraße, von Planina her kamen Flüchtige und Boten des Unglücks. Geschirre waren in den Abgrund geschleudert, Handwerksbursche von einer Schneewehe verschüttet – und der Einzige, der sich gerettet hatte, stand an der Thür und konnte vor Erregtheit und Erschöpfung nur stoßweise die Erzählung des Jammers vollenden; er hatte einen Bruder unter den Verwehten.
Indeß kamen die Leute zurück, die den vielen Fuhrgeschirren zu Hülfe geeilt waren. Alle Mühe war vergebens. Die Bora ließ keinen Menschen zu der Stätte, wo sie ihr großes Grab vollendete. Haushoch hatte sie die Grabhügel über der Straße aufgeworfen. Händeringend liefen Frauen und Kinder umher – aber Hülfe war unmöglich. Die Nacht war rabenschwarz hereingebrochen. Trotzdem keine Laterne, keine Fackel in dem Sturm zu benutzen war, eilten doch viele der Männer der anderen Seite des Unglücks zu. Der Handwerksbursch führte sie. Sie kamen jedoch noch früher zurück, als vom ersten Versuch. Die Bora spottete der aufopferndsten Anstrengung des Menschen, ja sie begann die Straßen im Orte selbst zu verwehen, so daß wir bald auch von jeder Nachricht von außen abgesperrt waren.
Es war eine fürchterliche Nacht, an Schlaf natürlich nicht zu denken, auch wenn wir Betten hätten bekommen können. Der Vorrath des Gasthauses war längst besetzt – und doch schlief Niemand, die Kälte rüttelte Alles munter. Dabei war nicht einmal ein Einheizen möglich; der Sturm ließ keine Flamme aufkommen, und unsere Mäntel und Burnusse lagen bei unserm übrigen Hab und Gut begraben. Nur unser Türke hatte Nichts verloren, die Pantoffeln unter den Armen und einen Zipfel des Turbans in der Faust war er dahingeweht worden. Aber trotz all seiner Habe fror er doch mehr als Alle. Erst weit nach Mitternacht ließ der Sturm ein wenig nach, so daß uns wenigstens eine kräftige Ofenwärme erquicken konnte, und da fiel auch manches Auge in Schlummer.
Sobald der Morgen graute, begann das Rettungswerk von Neuem. Die Straße in Adelsberg selbst war bald gangbar. Auch ich eilte mit hinaus und überließ meine Zöglinge an der Seite des Türken ihrem gesunden Schlaf. – Welch ein Anblick! Die Gegend war nicht mehr zu erkennen. Wo die Straße sich hinzog, ragte ein Schneehügel auf, unheimlich von der Morgensonne geröthet. Aber die Luft war ruhig geworden, und so gingen denn Hunderte von Händen mit Schaufeln und Karren an die Arbeit. – Ich eilte auch nach der andern Seite der Verwüstung hin, zur Straße, die nach Planina führt. Sie war weniger verweht. Es war Hoffnung, daß sie bald wieder fahrbar würde, zumal man diese Arbeit von jedem Orte am Wege aus in Angriff nimmt.
Gegen Mittag war die Ausgrabung auf der Präivalder Seite bis zu unserer Schneemauernische vorgerückt. Die Arbeit war außerordentlich schwer. Die Bora hatte ihren Flugschnee so fest zwischen die Geschirre und die Wände eingekeilt, daß man viele Thiere stehend erstickt und erfroren fand. Auch unsere Pferde lehnten wie lebend an der Schneemauer. Wir fuhren unseren Schlitten selbst zum Gasthaus, und da Nachmittags die Nachricht von Planina kam, daß der Weg frei sei, so verließen wir die Stätte des Schreckens und Jammers, dessen Bilder uns auf der Straße noch oft genug entgegenstarrten. Von den verschütteten Handwerksburschen lagen mehrere ausgegrabene an der Straße. Was der Abgrund zur Rechten verschlungen halte, bedeckte der Schnee; nur ein Pferd konnten wir erkennen, dessen Hals ein Fuhrknecht umklammert hielt. Sie hatten treu bis in den Tod zusammengehalten.
In Planina begrüßten wir die Grenze des Reichs der Bora; die ausgestandene Schreckniß blieb nicht zurück, sondern hielt noch auf der Eisenbahn, die wir in Laibach bestiegen, die Erinnerung fest an die Adelsberger Nacht gebannt.
Schon damals sprach man in Laibach gegen uns die Hoffnung aus, durch die Locomotive auch der Bora Herr zu werden. Eines der großartigsten und kühnsten Bauwerke aller Zeiten und aller Länder wurde vollendet: die Karstbahn. In der That schien ihr Sieg über den König aller europäischen Sturmwinde ein vollendeter zu sein, denn außer den Schneewehen hatte man Jahre lang keinen Unfall auf der Bahn zu beklagen. Da bringt die Ostdeutsche Post folgende Nachricht: „Schon seit Sonnabend den 11. Februar) früh herrschte auf der Strecke nächst Laibach eine derartige Bora, daß Telegraphenstangen umgeworfen, Bäume entwurzelt und riesige Schneemassen in die Bahneinschnitte geworfen wurden. Besonders auf dem Karst wüthete das Unwetter am schrecklichsten und gerade zu der Zeit, als der aus Wien gekommene Lastenzug Nr. 133 die Karstböschung passiren wollte. Trotzdem mit voller Kraft gefahren wurde, bewegte sich der Zug nur äußerst langsam vorwärts und hatte das den Zug begleitende Dienstpersonal die größte Vorsicht zu beobachten, um nicht vom Sturme von dem Bahnzuge herabgeschleudert zu werden. In dieser Situation wurde die Station Biavaca gegen sechs Uhr Abends glücklich passirt. Eine kurze Strecke jedoch vor der Station Ober-Lesece bekam der Zug von dem furchtbar wüthenden Sturm einen heftigen Stoß, dem sofort ein zweiter derartiger folgte, daß der Zug aus dem Gleise gebracht wurde, und nun hatte der Sturm vollkommenen Spielraum. Als wären es leichte Wägelchen, wurden zwei Waggons auf den Schienen plötzlich umgeworfen und hierdurch arg beschädigt, während drei andere Waggons, von dem Sturm über die Böschung geschleudert, in der Tiefe gänzlich zertrümmerten. Glücklicherweise [171] ist durch das besonnene Benehmen und die Geistesgegenwart des Zugspersonals kein Menschenleben zu beklagen. Die Strecke, welche durch diesen Unfall unfahrbar wurde, konnte erst nach außerordentlichen Anstrengungen dem Verkehr wiedergegeben werden.“
Es ist sicherlich keine der geringsten Leistungen der Bora gewesen, über Lasten von Hunderten von Centnern Schwere Herr zu werden. Sie herrscht noch in ihrem Reiche, trotz der mächtigsten Erfindung, die der Mensch ihr entgegenstellte. Möge darum der anscheinlich unansehnlicheren, nur leise und Schritt für Schritt gegen sie heranwachsenden Macht der Cultur es gelingen, den Wütherich wieder in die Fesseln des Wäldergürtels zu legen, den die Selbstsucht und Unkenntniß der Menschen zum Verderben der Nachkommen ihm einst abgenommen!
- ↑ Dollinen, trichterförmige Vertiefungen des Karstbodens; vergl. weiter unten.