Der Jettabühl
Als noch im Reiche der Germanen
Der Adler Roms sein Nest gebaut,
Als in den Wäldern unsrer Ahnen
Des Christenthumes Morgen graut’,
Der Barde seine Lieder sang,
Da war es, als aus diesen Zweigen
Prophetisch manches Wort erklang.
Noch prangten hier nicht kühn Paläste,
Noch wehte Frieden durch die Aeste,
In deren Schatten Jetta haust.
Von Gottes Geist hinweggerissen
Aus einer Welt voll Wahn und Schein,
Sie hier nur Trost und Frieden ein.
Von der Begeistrung Schwung getragen,
Umrauschet von der Dichtung Weh’n,
War ihr die Zukunft aufgeschlagen,
Von nah und weit, von jedem Orte
Zog man zum Jettahügel hin,
Zu lauschen dort dem Seherworte
Der jungfräulichen Zauberin.[1]
Weit flatterte ihr weiß Gewand,
Die Blicke ruhten auf dem Thale
Und auf dem Busen ihre Hand.
Wie glänzen ihre blauen Augen
Ein höh’res Sein scheint aufzutauchen,
Entzücken strahlet ihr Gesicht.
„Ihr alten Eichen, ihr müßt fallen!“ –
So ruft sie hochbegeistert aus –
Und schlanke Säulen bald ein Haus,
Das, wechselnd in der Zeiten Drange,
Erglänzen wird in stolzer Pracht,
Und dessen Ruhm Jahrhundert lange
„Doch Frühlingsluft weicht Sommersgluthen,
Dem Winter wird der Herbst zum Raub,
Allmächtig ist der Zeiten Fluthen,
Es reift die Frucht, es sinkt das Laub.
Zerstäuben seine Herrlichkeit;
Doch seine Söhne werden schimmern
Im Glanze der Unsterblichkeit!
„Und wenn die rohe Kraft erlegen,
Und fröhlich wird ihr reicher Segen
Durch dieses Thales Gründe wehn.
Erwachen wird ein edles Streben
In jedes guten Menschen Brust,
Und selbst das Sterben wird zur Lust.“ –
So rief sie laut, und Ahnungsschauer
Durchrieselten die Seherin.
Wehmüthig rauscht, in tiefer Trauer,
Sie ging, gebeugt von heilgen Sorgen,
Wohl tiefer in den düstern Wald,
Doch fand sie schon der nächste Morgen
Am Fuß des Hügels todt und kalt.
- ↑ [555] Nach den alten Chroniken und der allgemeinen Volkssage wohnte zur Zeit der Brukterischen Seherin Belleda eine Jungfrau, Namens Jetta, auf dem Hügel, worauf jetzt das Heidelberger Schloß steht [556] und welcher noch der Jettabühl genannt wird. Sie hielt sich in einer uralten Kapelle auf, deren Trümmer noch zur Zeit, als der Pfalzgraf Friederich (um’s Jahr 1544) einen schönen Palast baute, welchen man den „neuen Hof“ nennt, zu sehen waren. Dieses Weib war wegen ihrer Wahrsagekunst weit und breit berühmt, verließ aber nur selten ihre Kapelle, wahrscheinlich um sich ein geheimnißvolleres Ansehen zu geben. Ward sie um Rath gefragt, so gab sie Antwort durch ein kleines Fenster, ohne sich selbst sehen zu lassen. Unter Anderm verkündigte sie in Reimsprüchen: „Es wäre über ihren Hügel beschlossen, daß er in künftigen Zeiten von hochfürstlichen Männern, welche sie mit Namen nannte, sollte bewohnt, bewehrt und geziert, und das Thal unter demselben mit vielem Volk besetzt werden.“
(J. Baader’s „Sagen der Pfalz, des Neckarthals etc.“)