Der Frankfurter Advent
„Nicht von der Stelle, Hermann! Ich will doch hören, ob Du mir in’s Gesicht noch einmal das sagen wirst! Bleib’ da, ich befehle es Dir! In dem Rock da habe ich Dir wieder zu befehlen!“
Der junge Mann, welcher bereits die Hand auf die Thürklinke gelegt hatte, wandte sich um und blieb stehen. Sein Gesicht war von der Röthe des Unwillens gefärbt, der auch aus seinen großen, blauen Augen leuchtete.
„Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt, Onkel,“ sagte er. „Meine Ansichten werde ich nie verleugnen.“
„Deine Ansichten? Landgräflich-hessische Ansichten sind es!“ rief der Onkel. „Eingebläut, andressirt! Ihr hättet schon davon curirt werden können, als euer Blut verschachert wurde zum Kriege in Amerika und ihr ein freies Volk mit all’ eurer gerühmten Tapferkeit nicht wieder in die alte Knechtschaft werfen konntet – und jetzt werdet ihr noch mehr Schimpf und Schande davon tragen! Deine Ansichten! Tritt her, sag’s mir noch einmal, daß ich ein Bastard Deutschlands bin!“
„Onkel!“ entgegnete der junge Mann, indem er die Hand wie zur Abwehr dieser Beschuldigung erhob.
„Ja, ja!“ rief der Onkel heftig, „wenn Du mich auch nicht ausdrücklich genannt hast! Jeder Deutsche, der mit den Ideen der Franzosen übereinstimmt, ist ein Bastard seines Vaterlandes, war’s nicht so?“
„Auch das habe ich nicht gesagt, Onkel,“ versetzte der Neffe, mit einem raschen Schritte näher tretend. „Nicht von den Ideen habe ich gesprochen, welche schön und erhaben in Worten klingen, die Thaten sind es, die ein deutsches Gefühl empören müssen: Mord und Gräuel im Innern, Auflösung aller Zucht und Ordnung, und gegen Deutschland freche Gewalt, Einbruch in deutsches Reichsgebiet, wo das Reich doch Frieden mit der neuen Republik hat. Damit können Sie nicht einverstanden sein, Onkel, und darum trifft Sie mein Wort nicht!“
Der Onkel richtete seine starke und stattliche Gestalt, welche er gewöhnlich etwas gebückt trug, zu ihrer vollen Länge auf und maß den Neffen mit einem zürnenden Blick. „Ich kann mit einem landgräflich-hessischen Lieutenant nicht um Dinge streiten, die über seinen Horizont hinausliegen,“ sagte er. „Sturm und Gewitter richten Verwüstungen an, aber sie bringen Segen. Die Gräuel in Frankreich sind ein furchtbarer Rückschlag für andere, welche das Volk erlitten hat, der Einbruch in deutsches Reichsgebiet ist herausgefordert worden durch Feindseligkeiten der Kurfürsten und Bischöfe am Rhein mitten im Frieden. Wo Gerechtigkeit und Freiheit herrscht, wie bei uns in Frankfurt, hat Niemand etwas zu fürchten. Weshalb bist Du denn eigentlich verkleidet nach Frankfurt gekommen? Spioniren? Die reiche Stadt als revolutionär verdächtig machen, damit Seine Majestät von Preußen und Dein Durchlauchtigster Seelenverkäufer ihr eine kleine Brandschatzung auferlegen können?“
„Einen Spion suchen Sie drüben bei der Tante!“ rief Hermann entrüstet. „Meinen Herrn aber bitte ich nicht zu verunglimpfen, sonst vergißt der Soldat seine Herkunft.“
„Bursche, das sagst Du mir!“ schrie der Alte, die Hand erhebend. Hermann wich nicht zurück, aber sein Auge sprühte Flammen und sein Gesicht wurde todtenblaß – welche Veränderung plötzlich in allen seinen Zügen! Er glich sich selbst nicht mehr, es war plötzlich ein ganz anderes Antlitz geworden, bleich wie der Tod, furchtbar, aber schön – die blauen Augen schwarze Nacht.
Auf den Oheim machte diese Verwandlung einen entnervenden Eindruck, sein gehobener Arm sank herab, der alte Mann starrte auf den Jüngling, als sehe er eine Geistererscheinung vor sich, er wandte sich ab und griff nach der nächsten Stuhllehne, denn ihm wankten die Kniee.
„Ich habe Sie nicht beleidigen wollen, Onkel,“ sprach Hermann, der sich gewaltsam faßte, mit bebender Stimme. „Verzeihen Sie mir und lassen Sie uns in Frieden scheiden. Sie haben meinen Wünschen nachgegeben, als ich den Kaufmannsstand, für den Sie mich bestimmt hatten, mit dem hessischen Kriegsdienst vertauschte; daß ich als ehrlicher Soldat die Proclamation, mit welcher uns die Franzosen zum Treubruch verleiten wollten, daß ich, was sie an deutschem Land gethan, nicht gut heißen kann, werden Sie einsehen. Ich kam nach Frankfurt, um von Ihnen und der Tante Abschied zu nehmen, ehe ich mit den Depottruppen zum Corps abmarschire; in bürgerlicher Kleidung kam ich, um hier kein Aufsehen durch meine Uniform zu erregen und den französischen Agenten, deren es auch hier giebt, keinen Grund zu neuen gehässigen Anklagen zu liefern, als leiste meine Vaterstadt den gegen Frankreich alliirten Armeen Vorschub. Geben Sie mir Ihre Hand, Onkel, zum Zeichen, daß Sie mir nicht mehr böse sind.“
Der Oheim aber verweigerte ihm dies Zeichen. Er wandte sich noch mehr ab, um ihn gar nicht anzusehen, und sagte in einem Tone, der nicht die gewohnte Festigkeit hatte: „Böse bin ich nicht. Es kann nicht anders sein, wie einmal Alles gekommen ist. Geh’ Deinen Weg, Hermann, Ihr werdet den Weltlauf mit allen euren Bajonneten nicht ändern. Sage der Tante Lebewohl und wenn Du Menschen bei ihr findest, die Dich nicht kennen, [322] so demaskire Dich ihnen nicht. In jetzigen Zeiten muß man vorsichtig sein. Lebe wohl.“
Er winkte gebieterisch und Hermann verließ mit einem letzten Scheideworte das Zimmer. Ein langer Gang führte in dem alterthümlichen Hause nach der Visitenstube der Tante; sie hatte, wie er kurz vorher im Heraufsteigen von der Treppe bemerkt hatte, den Gast wieder empfangen, der ihm von der ersten Bekanntschaft an verhaßt gewesen war, vielleicht traf er ihn noch dort und in der Stimmung, welche ihn eben beherrschte, wäre ihm das ganz recht gewesen. Wenn der aalglatte Elsasser auch kein Spion war, wie Hermann gegen den Onkel geäußert hatte, so blieb er doch ein Feind der Sache, für welche der hessische Officier jetzt in den Kampf ging. Er hatte bisher immer vermieden, ihm darüber Rede zu stehen, diesmal beim Abschiede wollte er den Herrn Stamm dazu zwingen. An der Treppe wurde Hermann dieser grimmigen Laune aber durch den Anblick seiner lieblichen Cousine entrissen, welche eben einem armen Handwerksburschen eine Gabe verabreichte. Sie bemerkte den Vetter erst nicht, denn sie fragte den Wandergesellen, der ein offenes, ehrliches Gesicht hatte, nach seinen Umständen, dieser jedoch blickte erstaunt auf und rief: „Ei, Herr Lieutenant, wie kommen Sie da her? Haben Sie den bunten Rock an den Nagel gehängt?“
Hermann erkannte den breitschultrigen starken Burschen auf den ersten Blick, er hatte in der frühern Garnisonstadt Hermann’s bei seinem Wirth als Schlossergesell gearbeitet. „Auf der Wanderschaft, Sperber?“ entgegnete er und zu seiner Cousine sich wendend, erklärte er ihr seine Bekanntschaft mit dem Gesellen, während er seinen Geldbeutel hervorzog, um ihm gleichfalls eine Gabe zu verabreichen.
„Ich suche hier Arbeit, Herr Lieutenant, habe aber noch keinen Meister und muß mir schon unterdessen ein Stück Brod auf Gotteslohn erbitten,“ sagte Sperber. „Sind Sie auch außer Brod, gerade jetzt, wo der Betteltanz erst recht losgehen wird?“
„Nein, braver Kerl, ich habe nur einstweilen die Uniform zu Hause gelassen, stehe noch immer beim Regiment Erbprinz und habe nur vor’m Ausmarsch zu unserm Corps im Felde Urlaub genommen.“
Er sah sich um, durch eine Bewegung seiner Cousine aufmerksam gemacht, und blickte gerade in das lächelnde Gesicht mit den scharfen, schwarzen Augen, das ihm stets Widerwillen eingeflößt hatte. Der Elsasser, der, auf das Recht einer frühern Bekanntschaft mit dem Hausherrn fußend, jetzt fast ein täglicher Gast hier war, hatte sich mit seinem unhörbaren Katerschritt der Gruppe an der obersten Treppenstufe genaht und mußte Hermann’s Erklärung gehört haben. Die Warnung des Onkels, sich gegen fremde Leute nicht zu demaskiren, war also eitel gewesen; Hermann hätte sie vielleicht auch ohnedem nicht befolgt, da er viel zu offen und thatkräftig war, zu verleugnen, was er sich zur Ehre rechnete. Die bürgerliche Kleidung hatte er für seinen Besuch in Frankfurt und auf den ausdrücklichen Wunsch des Generals von Cochenhausen angelegt, der ihm Urlaub gegeben hatte.
Der Elsasser zog den Hut von dem wohlfrisirten und gepuderten Haar, und grüßte Hermann freundlich lächelnd mit einer kurzen, energischen Kopfneigung, daß ihm der altmodige Haarbeutel, den er noch trug, vom Nacken aufbäumte, und schoß dem Handwerksburschen, der die Treppe hinabging, einen scharfen Blick nach. Dann fragte er das junge Mädchen süß und verbindlich, ob er wohl den Herrn Papa noch zu Hause finde, und ging, als ihm das bejaht wurde, mit einer neuen graciösen Hutschwenkung gegen die beiden jungen Leute den Corridor entlang. Auf dem ersten Absatz der Treppe hatte sich der Schlossergesell nochmals umgedreht. „Herr Lieutenant!“ rief er mit unterdrückter Stimme herauf, indem er mit dem Daumen ein Zeichen machte, das auf den abgehenden Elsasser zu deuten schien.
Hermann eilte sogleich zu dem Burschen hinunter.
„Mit dem nehmen Sie sich in Acht,“ raunte ihm Sperber zu, „den hab’ ich kürzlich vor Mainz beim Custinus gesehen.“
„Custinus? Was meinen Sie?“
„Nun, Sie werden doch wissen, wer der Custinus ist, der französische General?“
„Custine!“ rief Hermann. „Bei dem haben Sie diesen Herrn gesehen? Wie kamen Sie dorthin?“
„Nicht aus freien Stücken, Herr Lieutenant. Die Schwolschehs hatten mich aufgegriffen auf der Landstraße, in Mainz war keine Arbeit mehr, ich wollte weiter wandern. Bei einem Haar wär’ ich gehängt worden, einen Futterstrick hatten sie schon losgewickelt, aber da kam der General dazu mit einer ganzen Schmiere von Reitern, und der da“ – er ließ wieder den Daumen nach Oben steigen – „der war auch dabei, sah aber nicht so polirt aus, wie heut’, der nahm mich vor, weil er Deutsch konnte, und fragte mich aus, wie’s in Mainz stände. Ich hab’ ihm aber die Hucke vollgelogen. Der General ließ mich dann laufen.“
Hermann wechselte mit seiner Cousine, welche ebenfalls ein paar Stufen herabgekommen war, einen Blick. Dann fragte er: „Und woher wissen Sie den Namen des Generals?“
„Den hat er mir selber sagen lassen, der spitznasige Herr da mußte mir sein Kauderwälsch in ehrliches Deutsch verdolmetschen. Nehmen Sie sich in Acht mit ihm, der verkauft Sie. Nun Adjes! Viel Dank!“
„Was sagst Du dazu, Dorothee?“ fragte Hermann, als er mit seiner Cousine in entgegengesetzter Richtung, als der Elsasser, den langen Gang verfolgte.
Dorothea hob die schönen braunen Augen zu ihm auf und zögerte mit der Antwort. „Es kann ein Mißverständniß sein,“ erwiderte sie. „Der Mensch kann sich geirrt haben, und wenn das nicht, so hat es für uns wohl nichts zu bedeuten. Herr Stamm ist bekannt mit Papa, was sollte er für gefährliche Absichten haben?“
„Liebe Dorothee, das ist Deine ehrliche Meinung nicht, sagte Hermann, „willst Du Dich gegen mich verstellen?“ Er reichte ihr die Hand, in welche sie die ihrige legte; Beide gingen eine Weile stumm neben einander her. Ein schönes Paar, das auch eine gewisse Familienähnlichkeit zeigte, obschon Hermann hoch und männlich gewachsen, Dorothea aber zart und sehr viel kleiner war. Sein Haar, glatt zurückgekämmt und am Nacken straff zusammengebunden unter einer breiten schwarzen Schleife, die den weitern Verbleib des untergeknöpften Soldatenzopfes verbarg, zeigte unter dem leichten Puder ein schönes Blond; das ihrige, in vielen kleinen Locken um den Kopf aufgebauscht und von einem himmelblauen Bande gehalten, schimmerte in lichtem Braun; seine Augen waren blau und strahlten in diesem Moment von inniger Liebe, Dorothea’s Augen hätte man der Farbe nach mit denen des Rehs vergleichen können, wenn sie nicht gar so lebhaft und leuchtend gewesen wären. Ein Schöngeist von der Zeil, der sich Goethe’scher Beachtung rühmte, hatte vor Kurzem den geistreichen Ausspruch gethan: „Wenn Dorothea Hartinger zu einem Frauenkaffee gebeten sei, ersparten ihre Augen der Wirthin ein halbes Pfund Lichte.“ Größe, Haar und Augen ausgenommen, hatte Dorothea mit ihrem Vetter, obwohl die Verwandtschaft eine ziemlich entfernte war, eine überraschende Aehnlichkeit, dieselbe hohe Stirn über den fein und regelmäßig gezeichneten Augenbrauen, dasselbe griechische Profil, den gleichen Schnitt des Mundes und Kinnes. Wer sie zum ersten Mal sah, konnte sie wohl für Geschwister halten. „Meine Dorothea,“ brach Hermann kurz vor der Thür der Mutter das Schweigen, „ich gehe nun hinweg und wer weiß, wann wir uns wiedersehen …“
„Gott wird Dich schützen!“ antwortete sie muthig.
„Wirst Du auch zuweilen an mich denken?“ Ein rascher Blick voll sanften Vorwurfs war ihre Antwort. „Wirst Du mich immer lieb haben?“ fuhr er fort, indem er den Arm um sie schlang und sie an seine Brust zog. „Wirst Du mir treu bleiben, es mag geschehen, was da wolle?“
Sie machte sich los und sagte: „Ich bleibe Deine treue Cousine.“
Ein fester Schritt nahte sich. Es war die alte Dienerin des Hauses, welche schon bei Dorothea’s Großmutter gedient hatte und ihres Vaters Amme gewesen war. Noch jetzt, nahe den Achtzigern, trat sie so fest auf, daß es sich kaum mit ihrem Stande vertrug. Der Vater hatte sie aber sehr verwöhnt.
„Nun, junger Herr, noch nicht im Sattel?“ rief sie. „Die Mama wird sich wundern, Mamsell Dorchen!“ Es war eine der vielen Wunderlichkeiten der alten Frau, daß sie schon, so lange das junge Paar denken konnte, schon als Beide noch Kinder waren, ihre natürliche Zuneigung nicht gern gesehen, sondern möglichst gestört und verhetzt hatte.
„Ich muß mich noch der Frau Tante empfehlen, Amalie,“ sagte Hermann. „Mein Pferd steht gesattelt.“
„Machen Sie, daß Sie fortkommen! Sonst werden Sie noch [323] von den Franzosen erwischt. Nehmen Sie der Madam hier die Mainzer Zeitung mit, ich habe sie eben geholt. Und nennen Sie mich nicht so vornehm Amalie – Male heiß’ ich und dabei bleibt’s. Sind Sie beim Papa gewesen, Mamsell Dorchen?“
„Der Papa hat Besuch,“ erwiderte Dorothea, reichte dem Vetter noch einmal mit einem Lebewohl, das allerdings von der Gegenwart der alten Frau kälter klang, als selbst diese erwarten konnte, die Hand und ging an der Thür der Mutter vorüber nach ihrem eigenen kleinen Zimmer, das weiter zurück lag.
„Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Lieutenant Ortenburg, Sie werden’s der alten Male, die es gut mit Ihnen meint, schon nicht übel nehmen.“ Der gewöhnlich harte Ton der alten Frau klang in diesem Augenblicke wirklich wohlwollend, man hätte ihn in seiner Art zärtlich nennen können. „Lassen Sie sich die Liebesgedanken auf Dorchen vergehen. Ja, ja! Sie denken wohl, ich bin blind? Wenn die Mama mit ihrer Brille nichts sieht, ich sehe Alles! Aus Ihnen und der Dorche kann nichts werden und wenn Ihre Altvordern seit Erschaffung der Welt zum alten Limburg oder zum Frauenstein gehört hätten, wie Sie vielleicht glauben. Das ändert nichts. Und selbst wenn die Mama ‚Ja‘ sagte, der Papa würde beim ‚Nein‘ bleiben und obendrein seinen Fluch drauf setzen, wenn Sie etwa nach seinem Tode noch Lust zu der Heirath verspürten. Reiten Sie also in Gottes Namen fort und am Besten, wenn Sie gar nicht wiederkommen!“
Die letzten Worte sprach sie wieder mit der vollen Härte, die man an ihr gewohnt war, und wenn sich Hermann, der sein Geheimniß mit Zorn und Scham von ihr errathen und in dieser Weise behandelt sah, noch Mühe geben wollte, den Grund der trostlosen Aussicht, welche sie ihm so bestimmt eröffnete, von ihr zu erfahren, so stand sie ihm nicht einen Moment Rede, sondern ließ ihn mit der Mainzer Zeitung, die sie ihm für die Tante gegeben hatte, stehen.
Als der Elsasser, wie Hermann Ortenburg den eifrigen Besucher des Hauses statt mit seinem Namen beharrlich nannte, in das Zimmer des Hausherrn trat, fand er denselben auf seinem krummbeinigen Lehnstuhl vor dem Schreibschranke so in Geschäften vertieft, daß er ihm bis auf wenige Schritte unbemerkt nahen konnte. Er hatte natürlich, wie es sich schickte, angeklopft und auf das Herein! gewartet, da es aber ausgeblieben war, hatte er vermeint, es überhört zu haben, und war bescheidentlich eingetreten. Gern wäre er bis an den Schrank gekommen und hätte dem Senator und Handelsherrn über die Schulter geblickt, um zu entdecken, ob es gemeine Stadtangelegenheiten, oder eigene waren, die ihn so ganz in Anspruch nahmen, aber er hielt es doch für passend, sich durch ein decretes Räuspern anzukündigen. Das that ihm aber gleich wieder leid, denn der alte Herr fuhr bei dem ersten Laute zusammen, wie ein auf unrechten Wegen ertappter Mensch, warf schnell Einiges an Papieren und was es sonst sein mochte, in ein Fach und schloß dasselbe erst hastig zu, ehe er sich überzeugte, wer da sei.
„Ah, Herr Stamm!“ sagte er aufstehend.
Der Elsasser verrieth durch keine Miene, daß ihm das Betragen des Senators aufgefallen war. „Ich bitte um Verzeihung, Herr Hartinger,“ sprach er, indem er sich würdevoll verneigte, „ich habe angeklopft und glaube auch Ihre Erlaubniß zum Eintritt gehört zu haben.“
„Zu jeder Zeit, auch ohne Anklopfen, willkommen!“ versicherte Hartinger. „Setzen Sie sich. Kommen Sie auf das Kanapee. Haben Sie mit meiner Frau gesprochen?“
„Noch nicht, Verehrungswürdigster,“ erwiderte Stamm. „Ich will denn doch erst versichert sein, daß die Hauptperson kein Veto einlegt. Auch werde ich durch dringende Geschäfte auf einige Zeit von Frankfurt abgerufen, denke aber in kurzer Zeit wieder hier zu sein und dann meiner Werbung einigen Nachdruck geben zu können. Ich bitte Sie, bis dahin, wie Sie mir versprochen haben, Ihrer Mademoiselle Tochter nichts davon zu sagen. Darf ich darauf rechnen?“
„Was Johann Jakob Hartinger versprochen hat, das hält er auch! Ich bin vom alten deutschen Schlage, Herr Stamm.“ Er sagte das mit einer Betonung, die wohl ihren Grund in dem Vorwurfe hatte, den er in dem Gespräche mit seinem Neffen gefunden zu haben glaubte.
„Auch ich, werther Herr Senator!“ versetzte Stamm. „Wir Elsasser sind Deutsche und werden es bleiben, wenn wir auch nicht mehr zum Reiche gehören, sondern einem mächtigern Staate seit hundert Jahren einverleibt sind. Mächtiger, lieber Herr, sehen Sie nicht unwirsch dazu! Wenn auch kleiner, als Deutschland, und nicht so volkreich, aber doch mächtiger, weil eins und untheilbar. Ich nehme keinen Anstand, es für uns ein Glück zu nennen, daß wir Frankreich einverleibt sind, besonders jetzt, wo wir der vollen Freiheit genießen, welche unsern deutschen Brüdern diesseits des Rheines fehlt.“
„Uns nicht!“ entgegnete der Senator ruhig und stolz. „Mag es in den Ländern der Reichsfürsten und in andern reichsunmittelbaren Gebieten beschaffen sein, wie es will, hier in Frankfurt haben wir Freiheit, nicht Pöbelfreiheit, aber eine vernünftige gesetzliche Freiheit, bei der sich Hoch und Niedrig wohl befinden kann.“
Stamm lächelte fein. „Ich habe mich davon überzeugt,“ sagte er. „Man weiß das auch in Paris, wo man die Völker, auf welche Frankreichs welthistorische Mission hinweist, scharf im Auge behält. Frankfurt, die Reichsstadt, die nicht blos frei heißt, sondern frei ist vom Fürstendruck, wie im Innern vom Druck bevorzugter Kasten, steht hochgeachtet in den Augen der großen Nation, und wie sich die Verhältnisse auch gestalten mögen, Frankfurt hat nur Freundschaft von Frankreich zu erwarten.“
Hartinger sah ihn befriedigt an. „Haben Sie Nachrichten aus Mainz?“ fragte er.
„Die besten!“ antwortete Stamm. „Mainz wird capituliren.“
„Die starke Reichsfestung?“ lachte Hartinger. „Damit hat’s gute Wege! Das nennen Sie aber die besten Nachrichten? Freilich, Sie als französischer Unterthan!“
„Pardon! Französischer Bürger, wenn ich bitten darf! Unterthanen giebt es in Frankreich nicht mehr. Selbst der siegreiche Feldherr, welcher bald seinen Einzug in die starke Reichsfestung Mainz halten wird, nennt sich erst Bürger und dann General. – Sie, verehrtester Herr Hartinger, als Bürger einer freien Stadt, die keines Fürsten Unterthanin ist, begreifen das stolze Gefühl, welches uns aus gleichem Grunde die Brust schwellt. Ich sollte meinen, daß auch Ihnen die Nachricht, daß dem langen und schmachvollen Unwesen der Priesterherrschaft am Rhein ein Ende gemacht werden soll, keine unerfreuliche sein könnte. Bedenken Sie doch! Von Basel bis da, wo unsere siegreichen dreifarbigen Fahnen am Niederrhein wehen, längs des ganzen Stroms, welche jammervolle Zerstückelung in zahllose kleine Gebiete! Haben Sie vielleicht eine Homann’sche Karte zur Hand? Wär’s nicht ein Segen, wenn dieser erbärmliche Zustand aufhörte und Alles zu einem großen, starken Ganzen vereinigt würde?“
„Gewiß!“ sagte der Reichsstädter. „Aber für Deutschland das Ganze, nicht für Frankreich.“
„Ah! Wer verdächtigt Ihnen die große Nation, daß sie Eroberungen machen will?“ entgegnete Stamm. „Die Zeiten Ludwig’s des Vierzehnten sind auf ewig vorüber. Wie das französische Volk seine Freiheit errungen und siegreich gegen die Tyrannen des Auslandes vertheidigt hat, so will sie auch den freien Völkern die Freiheit bringen, nicht sie unterjochen. Eine Nation, welche zuerst allen Völkern das Beispiel gegeben hat, ihre Rechte zurückzufordern, bietet allen andern, welche unglücklich genug sind, ihre Häupter unter das entehrende Joch des Despotismus zu beugen, Verbrüderung an!“
Wer Herrn Stamm vor einer Viertelstunde gesehen hatte, wie süß und galant er gegen das junge Mädchen seiner geheimen Huldigung war und wie er sich auch gegen den Vetter geschmeidig benahm, der würde ihn im Gespräch mit dem Senator Hartinger für einen ganz andern Menschen gehalten haben, so ernst und würdig von Anfang hatte er sich geäußert, so begeistert flammte er jetzt auf. Seine Worte blieben nicht ohne Eindruck.
„Ich bin von der Reinheit der Absichten überzeugt, welche die Repräsentanten des französischen Volks beseelen,“ sagte Hartinger, indem er Stamm die Hand drückte. „Wenn der große Gedanke, den Sie andeuteten, sich verwirklichen ließe, das vielgetheilte Westdeutschland zu einem starken Ganzen zu vereinigen, ich würde es einen Segen für das Reich nennen. Aber die praktische Ausführung! Mit Waffengewalt ließe sich wohl, wenn Kaiser und Reich, wie leider schon oft, keinen Schutz gewähren, das Land besetzen, aber wird dann ein Vertrag, ein Friede zu Stande kommen, [324] in welchem alle die geistlichen und weltlichen Fürsten, die Prälaten, Aebte und Aebtissinnen, die Grafen und Herren und die Reichsritterschaft der beiden rheinischen Kreise sich ihrer Selbstständigkeit und ihrer Rechte begäben? Und unter welcher Firma soll denn dies neue Ganze gebucht werden, im deutschen Reichscomptoir?“
„Lieber Herr Hartinger,“ erwiderte Stamm fein lächelnd wie zuvor, „die praktische Ausführung können Sie getrost der französischen Nation überlassen, diese wird schon eine passende Firma für das neue Großhaus finden. Sie haben übrigens unter den Sociis desselben einen vergessen, ich meine die Reichsstädte.“ Sein lauernder Blick ruhte bei diesem ausgestreckten Fühlhorn prüfend auf dem Frankfurter Rathsherrn, mochte aber keine günstige Entdeckung gemacht haben, denn das Fühlhorn wurde wie vor einem harten Gegenstande gleich wieder eingezogen. „Die Städte nämlich,“ fuhr der Elsasser schnell fort, „würden in der neuen Ordnung der Dinge natürlich die erste Stelle haben, da sie schon die Freiheit besitzen, welche den Fürstengebieten erst gebracht werden soll. Sie würden ungehemmt durch diese kleinen Herren einen nie geahnten Aufschwung nehmen, und wenn alle jene Despoten sammt den Reichsgrafen und der Reichsritterschaft von ihren Rechten sprächen, die Menschenrechte sind älter; Frankreich, das sie zuerst wieder proclamirt hat, wird sie in ganz Europa durchzusetzen wissen und besonders seinen deutschen Nachbarn, die sich in einen Bund, oder noch besser, zu einer freien Republik geeinigt, ihm anschlössen, ein mächtiger Protector sein. Ich gebe zu,“ sprach er nach einer kleinen Pause, welche dem deutschen Reichsstädter Zeit lassen sollte, das Wort ‚Protector‘ zu verdauen, feurig weiter, „ich gebe zu, daß sich dem erhabenen Werke der Einigung Hindernisse entgegen setzen werden, selbst im Schooße freier Gemeinwesen, wie hier bei Ihnen. Wir wissen sehr gut, daß der Rath von Frankfurt, wie loyal er auch gegen seine Mitbürger verfährt, doch den großen Ideen, welche Sie, mein edler, väterlicher Freund, so schön verstanden haben, nicht recht zugänglich ist, aber wir kennen auch diejenigen Männer, auf denen alle Hoffnungen der Zukunft ruhen, und daß diese in der neuen Ordnung der Dinge zur Leitung derselben in die höchsten Stellen berufen werden, davon können Sie überzeugt sein!“ Eine tiefe, fast ehrfurchtsvolle Verbeugung, welche er dem Senator machte, ließ keinen Zweifel über den Sinn seiner Worte zu.
Hartinger zog unwillkürlich seine Westenschöße und Manschetten zurecht. „In unserm Rathe,“ sprach er, die Verbeugung mit einem Lächeln geschmeichelten Selbstbewußtseins erwidernd, „herrschen allerdings noch viele veraltete Ansichten, doch ist er vom redlichsten Willen beseelt. Demokratisch im edlen Sinne ist unsere Verfassung, und ich wünschte der ganzen Gotteswelt eine Freiheit, wie die unserige, gemildert und gesichert durch weise Gesetze. Wir bedürfen nur der Handhabung derselben im Geiste der neuen Zeit und ihrer Principien.“
„Und was geschehen kann,“ erwiderte Stamm rasch, „diesen Principien hier und über die Ringmauern dieser Stadt hinaus im deutschen Volke Eingang zu verschaffen, das thut Johann Jakob Hartinger, der nicht umsonst die Vornamen des großen Apostels Rousseau führt. Alle hohen Seelen in Deutschland begreifen jene Ideen, und das Beispiel, das ein Mann von solcher Berühmtheit, wie Georg Forster in Mainz, giebt, wird Tausende dafür gewinnen! Auf Wiedersehen denn binnen Kurzem!“
„Auf Wiedersehen!“ sagte Hartinger, indem er seinem Gaste die gebotene Hand schüttelte. „Nur noch eine Frage: meine Frau ahnt also gar nicht …?“
„Das kann ich nicht behaupten,“ entgegnete Stamm, „Frauen sehen scharf, am schärfsten Mütter. Aber entdeckt habe ich mich noch nicht.“
„Ihr Besuch hatte also den Schein einer bloßen Artigkeit. Denn über Politik werden Sie nicht mit einer Frau gesprochen haben. War Doris zugegen?“
„Leider nein,“ erwiderte der Elsasser, und nach einem kurzen Stocken, als kämpfe er mit sich selbst, sprach er mit einem besorgten Blick auf den Rathsherrn: „Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen eine Bemerkung mitzutheilen, welche ich gemacht habe. Auf dem Corridor an der Treppe, als ich von Ihrer Frau Liebsten zu Ihnen mich begab, fand ich Mademoiselle Doris nebst ihrem Herrn Cousin im Gespräch mit einem Menschen, den ich zu kennen glaube – wenn mich mein Gedächtniß nicht täuscht, so treibt er das ehrlose Handwerk eines Spions im Solde der wider uns verschworenen Despoten.“
„Was sollte ein Spion in meinem Hause suchen?“ fragte Hartinger sichtlich beunruhigt.
Stamm sah ihn scharf an. „Seien wir ganz aufrichtig gegen einander,“ sagte er ernst. „An Ihrer guten Gesinnung kann ich nicht zweifeln, Sie sind den Ideen, welche die Bewegung in Frankreich zur Klarheit gebracht hat, völlig ergeben, um so mehr beklage ich es, daß Ihnen in Ihrer Familie deshalb Verlegenheiten bereitet werden.“
„Wie meinen Sie das?“ fragte Hartinger mit steigender Unbehaglichkeit.
„Es sollte mir wahrhaft leid thun, wenn die allgemeinen Beschwerden, welche auch gegen die Stadt Frankfurt nicht ganz ohne Grund im Nationalconvent zu Paris erhoben worden sind, sich speciell gegen einige Bürger richten sollten, ja gegen Männer von tadelloser Gesinnung. Sie wissen, daß auch Frankfurt beschuldigt wird, den Emigranten Vorschub geleistet zu haben, den Preußen und Oesterreichern alle möglichen Vortheile zukommen zu lassen – nun, verehrtester Herr, ich will mich ohne Umschweife aussprechen. Ihr Cousin ist hessischer Officier und jetzt in Verkleidung bei Ihnen. Ziehen Sie sich die Consequenzen dieser Thatsachen selbst, wenn das verlautet.“
[337] Dem Rathsherrn zuckte es über das Gesicht, doch regte sich auch der reichsstädtische Stolz in ihm und er sagte mit unruhiger Stimme zwar, aber mit festem Blick: „Rechenschaft zu geben habe ich, als Bürger einer freien, deutschen Stadt, dem französischen Convent zwar nicht von meinem Thun und Lassen, aber Ihnen, dem Freunde, will ich schon erklären, daß allerdings mein Neffe als Officier in hessischen Diensten steht, in welche er vor Jahren mit meiner Bewilligung eingetreten ist. Seitdem haben sich freilich die Verhältnisse geändert und ich würde ihn lieber nicht in den Reihen der Feinde Frankreichs sehen, da er aber mündig und Herr seiner Handlungen ist, kann ich nichts dagegen thun. Eine Verkleidung bitte ich die bürgerliche Tracht nicht zu nennen, in welcher er nur aus dem Grunde nach Frankfurt gekommen ist, um durch seine hessische Uniform nirgend Aergerniß zu geben.“
„Ich danke Ihnen, daß Sie mich mit dieser völlig beruhigenden Erklärung beehrt haben,“ erwiderte der Elsasser warm. „Wenn es nöthig sein sollte, werde ich zu Ihren Gunsten davon Gebrauch machen, doch können Sie von meiner Discretion überzeugt sein. Verdenken Sie es mir aber nicht, wenn der Umstand mich in Bestürzung setzte, daß ich Ihren Herrn Neveu, Officier im Dienste des Landgrafen von Hessen, unsers unversöhnlichsten Feindes, in bürgerlicher Kleidung auf Ihrer Treppe mit einem notorischen Spion, den ich allein vor einem schimpflichen Tode gerettet habe, in angelegentlichem Gespräch überraschte und daß der Spion bei meiner Annäherung die Flucht ergriff.“
„Doris war dabei?“ rief Hartinger. „Da werde ich doch eine scharfe Nachfrage halten!“
„Thun Sie das nicht!“ bat Stamm. „Es liegt viel daran, daß der Elende nicht ahnt, von mir erkannt zu sein, wir müssen ihn sicher machen. Warnen Sie nur Ihren Neveu, daß er Ihr Haus nicht compromittirt.“
„Mein Neffe hat Frankfurt in diesem Augenblicke schon verlassen,“ entgegnete der Rathsherr. „Er hat Marschordre erhalten, sein Regiment gehörte bis jetzt zur Reserve, welche in der Landgrafschaft zurückgeblieben war, nun aber soll ein Theil derselben nachrücken. Hermann kam deshalb mit kurzem Urlaube hierher, um Abschied von uns zu nehmen, ehe er in’s Feld ging.“
„Mainz zu Hülfe, nicht wahr?“ fragte Stamm. „Ist die Reserve stark?“
„Das weiß ich nicht, mein Neffe hat davon nicht gesprochen. Nach den Generalen zu urtheilen, die er gelegentlich nannte, Loßberg, Donop, Cochenhausen, muß sie stark genug sein.“
„Ach, lieber Herr, mit Generalstiteln sind die kleinen Potentaten Deutschlands freigebig,“ versetzte Stamm lächelnd. „Die Eminenz-Durchlaucht zu Mainz hatte bei dreitausend Mann zwölf, sage zwölf Generale, auf zweihundert und fünfzig Mann einen! Sein Gardecapitän über fünfzig Grenadiere hat sogar den Rang eines Feldmarschall-Lieutenants! Marschirt die hessische Reserve auf Mainz?“
„Soviel ich weiß, ist es nur Ersatz für das Corps im Felde, das, glaube ich, noch im Luxemburgischen sich aufhält.“
„Jede Hülfe würde auch zu spät kommen,“ sagte der Elsasser. „Mainz hat in diesem Augenblicke schon capitulirt.“
„Sie sagen das mit solcher Bestimmtheit!“ rief Hartinger. „Es wäre ja eine Schande, wie die von Straßburg.“
„Ei, mein theurer Herr, Straßburg hat seiner Zeit wohl daran gethan,“ versetzte Stamm; „fragen Sie nach dort, ob nicht jeder Straßburger stolz darauf ist, zu Frankreich zu gehören. Fragen Sie in den kleinsten ehemaligen Reichsstädten im Elsaß nach, ob sich eine einzige danach sehnt, wieder zu Deutschland zu kommen, ob sie nicht glücklich sind, das Phantom ihrer Reichsfreiheit gegen die sehr reellen französischen Municipalitätsrechte vertauscht zu haben. Ich halte mich aber zu lange auf. Leben Sie wohl, und Verschwiegenheit, sowohl was meine Liebe zu Ihrer himmlischen Mademoiselle Tochter betrifft, als auch die Entrevue des preußischen Spions mit dem hessischen Officier, Ihrem Neveu.“
Er küßte bei der Erwähnung seiner Liebe die Fingerspitzen seiner beringten Hand und nahm einen raschen Abschied. Dem zurückbleibenden Rathsherrn blieb es überlassen, die Nutzanwendung jener erwähnten Analogien von Straßburg und den ehemaligen Reichsstädten im Elsaß auf die Gegenwart zu machen. Er ging im Zimmer gedankenvoll auf und ab, wurde aber bald in seinen Meditationen durch den Eintritt seiner Frau gestört. Eine stattliche Erscheinung, die Frau Senatorin, in der Figur und Haltung wohl passend zu dem Gemahl und noch blühend für ihr Alter, ohne Schminke. Sie war zum Ausgehen gerüstet und hatte daher auf ihrem hochtoupirten Haar, das hinten in einen schwer herabhängenden, der heutigen Mode sehr ähnlichen Chignon gebunden war, einen gestärkten Zeugaufsatz, der einer in zwei aufrechtstehende dicke Streifen geknifften Tafelserviette glich und von einem bunten Bande, vorn mit einer kurzen, hinten mit einer langflatternden Schleife, gehalten wurde. Ein weitausgeschnittenes Miederjäckchen mit engen Aermeln, hinten mit Schößchen, vorn von der Taille bis zum Ausschnitt mit einem Besatz in Form [338] eines quergetheilten Schildes spitz zulaufend, der übervolle Busen durch ein um den Rand des Ausschnitts lose hängendes Tuch eingefaßt, von der Taille herabwallend das faltige Kleid von schwerem Stoff, nicht mehr aufgebauscht durch den unlängst verbannten Reifrock, der in unsern Tagen um so schreckenerregender zurückgekehrt ist, in halber Kniehöhe das Kleid mit prächtigen in Schleifen aufgenommenen Festons besetzt – lachen unsere Leserinnen über die Modedame von 1792? Diese, wenn sie nur leiblichen Augen noch einmal in einen Salon von 1866 blicken könnte, würde gewiß auch ihre Heiterkeit an den heutigen Moden haben, und gar erst, wie wird eine Zukunftsdame von 1966 über die eleganteste Tonangeberin von heute lachen!
„Hier ist doch noch ein Blatt durchgewischt,“ sagte Frau Hartinger, indem sie eine Zeitung auf den Tisch legte.
„Die Mainzer? Nun, wie steht’s?“ rief der Rathsherr. „Wehren sie sich tapfer?“
„Das habe ich nicht gelesen,“ erwiderte sie, „was gehen mich die Händel an! Ich lese nur die andern Geschichten. Die Zeitung läuft Dir nicht fort,“ sagte sie, als er danach griff. „Ich wollte mit Dir noch ein vernünftiges Wort reden. Die Male sagt mir, daß Hermann tutti weg in Dorche ist –“
Der Vater erschrak sichtlich, doch faßte er sich schnell und sagte: „Kinderei! Daß sie einander lieb haben, ist ganz in der Ordnung, so nahe Blutsverwandte.“ Er hustete anhaltend, dann sagte er: „Wenn das Dein vernünftiges Wort ist, mag ich kein unvernünftiges von Dir hören. Tutti weg von Frankfurt ist Hermann jetzt, vielleicht auf immer, der arme Junge! … Der Male werde ich den schwatzhaften Mund stopfen. Wo gehst Du hin, so geputzt?“
„Zur Frau Bürgermeisterin Schweitzer! A propos, weißt Du, was sie mir neulich gesagt hat? Wenn Mainz verloren geht, bist Du schuld daran.“
„Ich?“ rief Hartinger mit dem höchsten Erstaunen und brach in ein schallendes Gelächter aus.
„Du lachst immer über mich,“ erwiderte die Frau Senatorin empfindlich, „diesmal aber werden die Leute mit Fingern auf Dich zeigen, und lachen, aber in’s Fäustchen, wird sich der Franzos. Hast Du etwa Kanonen nach Mainz geschickt? Rund abgeschlagen hast Du sie.“
„Gutes Trautche, Kanonen?“ rief Hartinger, stärker lachend. „Habe ich Kanonen in meinen Speichern? Oder braucht die Reichsfestung, deren Arsenale mit Festungsgeschütz aller Art gespickt sind, etwa Kanonen? Du hast die Frau Bürgermeisterin offenbar falsch verstanden. Es sind nicht Kanonen, sondern nur Kanoniere gewesen, um welche die Stadt Frankfurt angegangen worden ist, drüben fehlte es an Bedienungsmannschaft für das zahlreiche schwere Geschütz. Wenn ich auf dem Römer mein Votum dahin abgegeben habe, daß es für Frankfurt besser sei, den Antrag abzulehnen, und der Rath zu derselben Ueberzeugung gekommen ist, so kann ich mir das nur zum Verdienst anrechnen. Wer einmal neutral ist, muß sich auch gewissenhaft neutral halten, sonst hat er es sich selbst zuzuschreiben, wenn er feindlich behandelt wird, wie Worms, Speier und jetzt Mainz.“
„Warum nennen sie denn auf der Gasse den französischen General, der doch Custine heißt, Custinus?“ fragte die Gattin, nach ihrer Weise abspringend von einem Gegenstande, der Nachdenken forderte.
„Custinus? Ich habe das noch nicht gehört,“ erwiderte Hartinger, „irgend ein Schulmeisterwitz vielleicht? Custos, der Hüter, das paßt aber nicht. Wo hast Du das gehört?“
„Von Dorche; ein Handwerksbursch, dem sie ein paar Kreuzer geschenkt, hat ihn so genannt; den armen Schlucker haben die Franzosen hängen wollen –“
„Ha!“ rief der Rathsherr aufmerksam werdend. „Als Spion, nicht wahr?“
„Als Spion, ja. Der Custinus hat ihn aber begnadigt.“
„Unser Freund Stamm war bei Dir,“ sagte Hartinger, welcher sich daran erinnerte, was ihm der Elsasser zur Pflicht gemacht. „Wie gefällt er Dir bei näherer Bekanntschaft? Was hältst Du von ihm?“
„Er ist ein Kraftgenie,“ antwortete sie, mit dem Bewußtsein eines schönen Ausspruchs.
Ganz erstaunt blickte der Rathsherr sie an. Sie mußte sich mit einer fremden Feder geschmückt haben. „Was verstehst Du darunter?“ fragte er.
„Nun, Du wirst doch wissen, was ein Kraftgenie ist,“ entgegnete sie. „Kraft – das versteht sich doch von selber. Ist denn Stamm wirklich mainzischer Officier?“
„Wer sagt das?“ fuhr Hartinger auf.
„Die Günderode wollte es wissen, sie hat ihn in Mainz in der weißen Uniform gesehen und sich gewundert, daß er ihr hier als Stutzer begegnet ist. Wie sein Name genannt wurde, wollten ihn noch mehrere kennen, und ließen kein gutes Haar an ihm. Er hat noch keinen Bart und soll schon seine Eltern durch seine liederlichen Streiche unter die Erde gebracht haben. Ich wollte mir natürlich nicht den Mund seinetwegen verbrennen.“
„Du hast doch heut von diesen Verleumdungen nichts gegen ihn geäußert?“ fragte Hartinger heftig.
„Nicht ein Wort. Ich habe ihn nur gefragt, ob er nicht mainzischer Officier wäre und ob er so viel lustige Streiche begangen hätte, wie hier von ihm erzählt würden –“
Der Rathsherr schlug die Hände zusammen. „Was sagte er darauf?“ rief er ganz außer sich.
„Nichts. Es machte ihm Spaß; mainzischer Officier wäre er nicht, sagte er, das müßte ein anderer Stamm sein, lustige Streiche habe er als Student in Straßburg wohl gemacht; dann wollte er wissen, wer ihm die Ehre erzeige, von ihm zu sprechen, und ließ nicht locker, bis er’s mir abgeschwatzt hatte. Denn schwatzen kann er, wie ein Pariser.“
„Liebe Gertrud,“ sagte Hartinger, „Du verstehst diese Kunst auch und wirst uns noch die größten Ungelegenheiten dadurch zuziehen. Herr Stamm ist wohl in eurem Bleumourantkränzchen ein Kraftgenie genannt worden? Diese Bezeichnung, laß Dir sagen, paßt auf diesen hochbegabten, geistreichen jungen Mann in keiner Weise, denn sie gilt für einen Menschen, der durch auffallendes Wesen etwas aus sich machen will, ohne dazu befähigt zu sein. Wenn es Dir möglich ist, Trautche,“ setzte er bittend hinzu, „so sprich bei Deiner heutigen Visite gar nicht von ihm, überhaupt von nichts, das unser Haus betrifft, besonders nicht von Hermann’s Anwesenheit.“
„O, das wissen sie schon! Warum sollte ich davon nicht reden?“ erwiderte die Gattin, sich zum Gehen anschickend. „Die Schweitzer sagte mir viel zu Hermann’s Lobe und die Frau Syndicus Seeger äußerte, es wäre hübsch von ihm gewesen, wenn er noch ein paar Tausend Cameraden mitgebracht hätte: Frankfurt würde sie vielleicht bald. brauchen können. Adieu, mon cher. Ueberlege Dir’s, was nur die Male gesagt hat; die Alte schilt und sagt, daraus könne nichts werden, ich sehe das aber gar nicht ein und wüßte nicht, wem ich Dorche lieber gäbe.“
Ohne die Erwiderung auf dies offene Geständniß abzuwarten, verließ sie ihren Gemahl, der in mächtiger Aufregung in seinen Sessel sank und den Kopf, zu welchem das Blut heiß aufgestiegen war, in beide Hände stützte. Da wurde er durch einen Rathsboten aus seinen quälenden Gedanken aufgestört. Der Bote brachte ihm ein Circular, durch welches der Rath zu einer außerordentlichen Sitzung nach dem Römer beschieden wurde.
Am frühen Morgen des folgenden Tages entstand in Frankfurt eine unruhige Bewegung auf den Straßen, die sich immer mehr mit Menschen füllten. Das Volk drängte sich besonders nach dem Platze, welcher der Römerberg heißt; hier steht das Rathhaus, der sogenannte Römer, in welchem sich über den Gewölben der alterthümlichen Vorderfront der Kaisersaal und das Conferenzzimmer zur Kaiserwahl befindet, während die modern gebaute Rückseite eine Reihe von Zimmern für Stadtämter, für die Ständesitzungen des oberrheinischen Kreises, die Kreisdictatur und andere enthielt. Kopf an Kopf stand das Volk vor dem Römer, in welchem der Rath schon seit Tagesanbruch versammelt war, um die Maßregeln, die gestern nur für einen immerhin möglichen Fall erwogen worden waren, heute nach vollendeter Thatsache zu beschließen.
Mainz war in den Händen der Franzosen! Das Bollwerk Deutschlands am Rhein, die starke Festung, armirt mit einhundert dreiundneunzig Geschützen vom schwersten Kaliber, hatte sich einer schwachen französischen Armee von fünfzehntausend Mann, die gar [339] kein Belagerungsgeschütz, nur Bataillonskanonen (Dreipfünder) und zwei Batterien reitender Artillerie mit sich führte, in schmachvoller Capitulation ergeben. Man hat über Verrath geschrieen und dessen mehr als einen Namen beschuldigt, in Wahrheit aber war nur Feigheit und Dummheit, wie so oft, die Ursache der Schande, vorzüglich aber die Erbärmlichkeit aller Wehrverhältnisse nicht blos im Kurfürstenthum Mainz, sondern im ganzen deutschen Rheinland. Noch jetzt ist die am meisten bedrohte Grenze, wo eine starke, einheitliche Kriegsmacht am nöthigsten wäre, durch die Zersplitterung Deutschlands am wenigsten geschützt; alle Bundesfestungen werden das nicht ändern und „Germania auf der Wacht“ hat einen sehr gefährdeten Posten. Vom Rhein her bis in das Herz von Deutschland hinein ist die Kleinstaaterei, von Napoleon wohlweislich geschont und benutzt, nach seinem Sturze neu befestigt worden und die Franzosen wissen wohl, wo sie ihren Keil anzusetzen haben, um Deutschlands Eiche zu spalten. Vor der Auflösung des deutschen Reichs war es allerdings noch viel schlimmer, denn es gab mehrere Hundert reichsunmittelbarer Gebiete, von denen über zweihundert stimmberechtigt auf dem deutschen Reichstage waren; wir erwähnen nur, daß Deutschland 1792 neun Kurfürsten, dreiunddreißig geistliche und einundsechszig weltliche Reichsfürsten, fünfunddreißig stimmberechtigte Reichsprälaten (Aebte, Pröpste und Aebtissinnen), an einhundert reichsfreie Grafen und Herren, zweiundfünfzig freie Städte, eine zahlreiche unmittelbare Reichsritterschaft, in drei Ritterkreise getheilt, selbst freie Stifter, gauerbschaftliche (d. h. gemeinschaftlich besessene) Orte, ja Reichsdörfer und reichsunmittelbare Bauerhöfe besaß.
Nun denke man sich ein Bundesheer durch vereinbarte Reichsmatrikel auf die einzelnen Reichsstände vertheilt, und man wird sich einen Begriff von der Wehrhaftigkeit des deutschen Reichs machen, als Custine auf nichtige Beschuldigungen hin die Neutralität desselben durch frechen Einbruch verhöhnte! Auf diese Neutralität und noch mehr auf den Schutz der österreichischen und preußischen Armeen und ihrer Verbündeten bauend, hatte man aber auch am Rhein alle Wehranstalten versäumt. Der alte deutsche Wehrstand, der einst neben sich keinen andern geduldet und alle Kriege und Fehden geschlagen hatte, wir meinen den Adel – was war aus ihm unter dem Einflusse der Vielherrschaft, der Frivolität und Verweichlichung, besonders in den geistlichen Landen, geworden? Hat er am Rhein das Schwert gezogen für das Vaterland? Doch wir wollen ihn allein nicht anklagen, sondern die unheilvollen Zustände Deutschlands. So war es dem französischen General nicht schwer geworden, als die Heere Oesterreichs und Preußens den verhängnißvollen Rückzug aus der Champagne antraten, den ersten glücklichen Angriff auf Deutschland zu machen. „Mit einem raschen Handstreich,“ sagt einer unserer Meister historischer Darstellung, Häusser, „war die Revolution auf die wundeste Stelle des alten Reichs gefallen, warf die hülflose Ohnmacht geistlicher und weltlicher Kleinstaaterei ohne Mühe über den Haufen und feierte gerade an der Stelle ihre demokratischen Triumphe, wo drei Monate vorher sich die Fürsten und der Emigrantenadel zur Heerfahrt gegen die Revolution versammelt hatten.“
In Mainz! Noch hatte die Nachricht und mit ihr der Schrecken sich erst über die Nachbarschaft verbreiten können, und Frankfurt schien zunächst von einem Besuche der Franzosen bedroht.
Während im Sitzungssaale des Römers der Magistrat berieth, was bei einem solchen Besuche, dem man keinen Widerstand entgegensetzen könne, zu thun sei, um die Rechte der Stadt und die Wohlfahrt der Bürger zu wahren, ging es unten auf dem Platze ziemlich unruhig zu. Sympathien hatten die Franzosen hier nur sehr vereinzelt gewonnen, einen stärkern Gegensatz konnte man nicht finden, als Frankfurt und Mainz, und der Grund lag für jeden Einsichtigen sehr nahe. Unter dem geistlichen Regiment Erschlaffung der höhern Stände, Druck auf den Bürgern und Bauern lastend, daher keine Thatkraft gegen die Gefahr von außen und ein fruchtbarer Boden für die Verheißungen, welche von Frankreich herüber getragen wurden; in der freien Stadt dagegen, wo man „leidlich zufrieden“ mit seiner Verfassung war, ein Bürgersinn, welcher wohl eines nationalen Aufschwungs fähig war. Doch hörte man nicht die Prahlereien, welche vor Kurzem in Mainz und Koblenz Uebermuth und Siegeszuversicht ausgesprochen hatten, und wenn auch aufgeregte Worte genug, doch immer nur Aeußerungen entschlossener Nothwehr gegen ungerechte Gewalt. Am lautesten waren die Gesellen, die waren aber meist fremd eingewandert und hatten nichts zu verlieren, wie ein Schlossermeister dem handfesten Burschen, den er gestern erst in seine Werkstatt aufgenommen hatte, nachdrücklich vorhielt.
„Nun, Meister,“ antwortete der dreiste Gesell, „wenn Ihr Euch von den Franschen das Fell über die Ohren ziehen laßt, werdet Ihr bald auch nicht mehr zu verlieren haben, als Unsereins. Der Custinus hat nicht viel übrig, nach Frankfurt zu schicken, und wenn Ihr die Thore sperrt und ein paar Schuß thut, ziehen sie ab.“
Der Meister verwies ihm die aufwiegelnde Rede, welche mit Beifall von den Umstehenden aufgenommen wurde, und eine beruhigende Mittheilung, welche eben der Rath dem Volke laut verkünden ließ, kam ihm zu Hülfe. Frankfurt hatte sich jeder Feindseligkeit gegen die französische Nation gewissenhaft enthalten, folglich von ihr auch nichts zu befürchten, die Bürgerschaft wurde ermahnt, sich nicht durch grundlose Besorgnisse zu unbedachten Aeußerungen oder Schritten hinreißen zu lassen. Ein Theil des Volkes verlief sich darauf, doch kehrte die Ruhe im Laufe des Tages nicht zurück.
Am folgenden Morgen hörte man aber ein Laufen auf den Straßen. „Sie sind da!“ klang es ängstlich von unten herauf, wenn ein Fenster sich öffnete und nach der Ursache der Bewegung gefragt wurde. Alles strömte nach dem Bockenheimer Thor, auf den Wall. Da konnte man die ungebetenen Gäste bereits sehen. Reitertrupps streiften daher, in der Ferne blitzten im Schein der Morgensonne Bajonnete. Die Franzosen!
Am 21. October hatte Mainz capitulirt und gleich nach Abschluß der Capitulation Custine zwei Colonnen nach Frankfurt entsendet, Oberst Houchard mit fünfhundert Mann über Höchst, General Neuwinger mit eintausend fünfhundert Mann über Oppenheim. Mit Tagesanbruch sollten sie vor den Thoren der Stadt sein. Diese waren freilich versperrt und die Brücken aufgezogen, aber konnte ihnen der Einlaß ernstlich verweigert werden? Der Rath that dazu, was an ihm war. Noch hatte sich nur Houchard’s Colonne genähert, ein Parlamentär forderte die Erlaubniß, in Frankfurt nach versteckten französischen Emigranten zu suchen. Diese Erlaubniß wurde nach einigen Unterhandlungen gewährt – war man sich doch bewußt, den Emigranten keine Zuflucht, noch weniger Schutz gewährt zu haben!
Ein paar französische Officiere wurden denn eingelassen, sie mußten gut bedient gewesen sein, denn sie wandten sich gleich an die rechten Orte und fanden wirklich drei unglückliche Aristokraten ihrer Nation, welche sie gefangen mit sich fortführten. Unterdessen hatte draußen die Infanterie, lauter Nationalgarden, die Gewehre zusammengesetzt und sich zum Bivouak eingerichtet. Die Thore waren noch immer verschlossen, die Unterhandlungen auf dem Römer wurden weiter gepflogen. Viele Frankfurter, da Alles so friedlich verlief, wandelte die Lust an, sich die Nationalgarden, die ganz gemüthlich schienen, in der Nähe zu betrachten. Bald gingen ein paar starkbesetzte Kähne, die man nicht aus den Thoren lassen konnte, den Main hinab und brachten die Neugierigen unterhalb der Stadt an das Land, wo sie harmlos sich dem Lager nähern und sich unter die Franzosen mischen konnten, um sie zu fragen, was sie eigentlich in Frankfurt wollten. Das wußten diese selbst nicht, wenigstens die nicht, welche man fragen durfte.
Ihr Oberanführer, der Oberst Houchard, der mit einigen Officieren bei der Bockenheimer Warte auf und abging, hätte es den Wißbegierigen wohl sagen können, aber der sah so grimmig aus, daß man sich vor ihm fürchten mußte. Ein paar Hiebwunden, welche schlecht geheilt sein mußten, hatten sein Gesicht gräulich entstellt. Der eine Mundwinkel zog sich bis auf die halbe Backe hinauf, das andere Augenlid war tief hinabgeschlitzt. Vom Thor her kamen jetzt – es war Mittag geworden – einige beladene Wagen, welche mit lautem Geschrei begrüßt wurden: der Rath von Frankfurt schickte den Franzosen Lebensmittel und Holz. Jetzt wurde gekocht und gesotten, einige Frankfurter nahmen an dem „ländlichen Mahle“, wie sie es nannten, Theil und amüsirten sich prächtig, die Meisten aber kehrten in die Stadt zurück, wo die Ausfallspforte am Thor wenigstens für Fußgänger geöffnet war. Alles hatte die Ueberzeugung, daß die Franzosen morgen weiter marschiren würden. Gegen drei Uhr rückte aber General Neuwinger mit seiner stärkern Colonne gegen das Sachsenhäuser Thor und forderte sogleich Einlaß. Die Menschen, welche noch immer alle Straßen füllten, strömten jetzt in dieser Richtung ab.
[340] „Bist auch wieder da, Sperber? Möchtest auf sie stoßen, Du Raubvogel?“
„Mit Verlaub, Meister, wenn sich der hochedle Rath auf nix einließ –“
„Stille! Da kommt ein Wagen mit Herren vom Rath!“ Das Volk grüßte sie und schrie ihnen Allerlei zu, was sie nicht verstanden. Sie dankten ernst und fuhren durch das Thor, die Brücke wurde herabgelassen. „Wenn der dabei ist,“ brummte der Schlossermeister, so werden wir wohl bald Einquartierung haben.“
Es galt seinem Nachbar aus der Allerheiligengasse, dem Senator Hartinger, den er mit auf dem Wagen der Rathsdeputation gesehen hatte. Die Gesinnung des Mannes, der ein reicher Kaufmann und Bürger von Frankfurt, Besitzer eines Hauses auf der Zeil und zweier anderer und Mitglied des Raths war, schien also in der Stadt kein Geheimniß zu sein.
Draußen empfing General Neuwinger an der Spitze seiner Truppen die Deputation des Magistrats. Er hatte hineinmelden lassen, daß er ein Schreiben vom General en Chef an den Rath der Stadt Frankfurt zu übergeben habe. Die Deputation war nun abgeschickt, dasselbe in Empfang zu nehmen. Er aber erklärte, daß seine Ordre dahin laute, das Schreiben des Generals Custine persönlich auf dem Rathhause in die Hände des ersten Bürgermeisters zu überreichen. Unschlüssig blickten die Rathsherren einander an.
„En avant – marche!“ commandirte Neuwinger mit lauter Stimme. Das Linienbataillon an der Spitze seiner Colonne trat an, die Tambours schlugen. Rasch bestiegen die Deputirten wieder ihren Wagen, noch war so viel Zeit für den Kutscher, umzulenken, um in schnellem Lauf die Brücke zu gewinnen, welche unter einem Beifallsgeschrei vom Walle hinter dem Wagen wieder aufgezogen wurde.
Der französische General rückte mit seinen Truppen an und sah mit Zorn, daß ihm die Brücke vor der Nase aufgezogen war. „Halt!“ dröhnte wiederum sein Commando, von den Regiments- und Bataillonscommandanten wiederholt, die Tambours schwiegen. „Kanonen vor!“
Jedes Bataillon führte damals noch zwei kleine Feldstücke bei sich, die mit Kartätschenfeuer sein Gefecht vorbereiten sollten, von nennenswerther Wirkung weiß die Kriegsgeschichte nichts zu berichten. Es rasselten einige solche Kanönchen vor, von ihren blauröckigen Artilleristen im Lauf gefolgt. Als sie die Spitze der Masse, die in ihren weißen Uniformen noch ganz bourbonisch aussah, erreicht hatten, fuhren sie auf, protzten ab und wurden geladen. Ein neues Geschrei von dem Walle, diesmal aber nicht des Beifalls, sondern der Wuth, begrüßte das Manöver.
„Collegen, hört Ihr das? Wollt Ihr den Tiger der Volkswuth entfesseln, Mord und Plünderung in unsere Mauern ziehen?“ sprach eine Stimme auf dem Wagen der Deputation, welcher innerhalb des Thores Halt gemacht, um über das weitere Benehmen der Franzosen Bericht abstatten zu können. „Ich sage mich von aller Verantwortlichkeit los. Laßt mich aussteigen!“
Der Schlossermeister aus der Allerheiligengasse hatte schon Recht. Johann Jakob Hartinger hatte aber auch Recht: Mord und Plünderung, wenn auch nicht heute, so doch nach kurzer Frist, wären jedem Versuche zum Widerstande, wenn dieser scheiterte, unfehlbar gefolgt.
Die Brücke rasselte denn nieder, die Thorpforten standen weit geöffnet: mit klingendem Spiel hielten die Franzosen ihren Einzug in die freie deutsche Reichsstadt Frankfurt. Wohl legte der Rath feierlichen Protest ein unter Berufung auf die Neutralität des deutschen Reichs; was aber Proteste helfen, davon haben unsere Zeitgenossen in den Tagen der Gegenwart vielfach Gelegenheit gehabt, sich zu überzeugen. General Neuwinger zuckte die Achseln zu dem Protest des Frankfurter Magistrats. Auf dem Roßmarkt marschirten seine Truppen auf, während auch das Bockenheimer Thor für Houchard’s Colonne geöffnet wurde. Er selbst begab sich mit starker Escorte von Chasseurs à Cheval nach dem Römer, um dem versammelten Rath Custine’s Schreiben auszuhändigen. Auf den Stellplätzen wurden, bis das Einquartieren angeordnet war, die Gewehre in Pyramiden gesetzt, die Mannschaft durfte austreten; stark waren die Bande der Disciplin auch in der Linie längst nicht mehr, in der Nationalgarde noch gar nicht vorhanden: bald ertönte aus den nächsten Wirthshäusern das donnernde „ça ira“. Die Marseillaise war damals noch nicht gedichtet. Vor dem Römer duldete die französische Escorte des Generals keinen Zusammenlauf der Einwohner; diese, wie gespannt sie auch waren, die Botschaft Custine’s an den Rath zu vernehmen, mußten sich doch gedulden. „Es ist ein Durchmarsch nach dem Hanauischen!“ damit beruhigten sich die meisten Bürger.
[353] Spät kehrte endlich der Senator Hartinger heim; er trat in die Stube seiner Frau, wo schon die Lichter brannten, und Dorothea sah auf den ersten Blick, daß er blaß und niedergeschlagen war.
„Sie bringen eine unglückliche Nachricht, Vater!“ rief das Mädchen aufspringend.
Der Vater ließ sich auf einen Stuhl nieder, es schien ihm sehr schwer auf dem Herzen zu liegen.
„Ein Fallissement?“ fragte die Mutter besorgt.
„Ja! Eine Firma, auf die ich mein ganzes Vermögen gesetzt hätte, hat mir fallirt … erschrick nicht, Gertrud! Ich spreche nur bildlich. Kein Handelshaus – sondern … aber das begreifst Du nicht. Herr Custine, oder besser gesagt, der Bürger Custine hat uns eine Contribution auferlegt!“
„Weshalb denn?“ rief Dorothea mit aufblitzenden Augen. „Unter welchem Vorwande? Haben wir nicht Frieden mit Frankreich?“
„Den haben wir und haben ihn ehrlich gehalten!“ seufzte Hartinger. „Er schreibt aber, daß wir den Aristokraten, welche Frankreich verrathen, Vorschub geleistet und dadurch die Nation berechtigt haben, uns feindlich zu behandeln.“
„Das ist eine Lüge!“ warf Dorothea ein.
„Ich kann nicht glauben, daß diese falsche Beschuldigung wissentlich ausgesprochen ist,“ fuhr der Vater fort. „Er muß falsch berichtet sein! Was haben wir mit dem Kriege der französischen Nation zu schaffen? Wenn ein einziges Mitglied des Raths um die unglücklichen Emigranten, die hier versteckt gefunden worden sind, nur ein Wort gewußt hat, will ich nicht gesund vor Euch sitzen. Weiter schreibt Custine: Der König von Preußen und der römische Kaiser hätten viel Gelder in dieser Stadt, die Nation habe ihren Feinden Rache geschworen, und er fordere in ihrem Namen zur Vergütung des ihr zugefügten Schadens eine Contribution –“
„Eine Brandschatzung vielmehr!“ rief die Tochter.
„Wie viel soll es sein?“ fragte Frau Hartinger, welche durch die Nachricht doch aus der Seelenruhe aufgestört worden war, die sie auch beim Einmarsch der Franzosen bewahrt hatte.
„Zwei Millionen Gulden – binnen vierundzwanzig Stunden zu erlegen!“
Sie faltete sprachlos die Hände. „Und wären es nur zweihundert Gulden,“ rief Dorothea, „sie haben kein Recht dazu, kein anderes Recht, als das einer Räuberhorde. Was habt Ihr beschlossen?“
Der Rathsherr mußte sehr bedrückt sein, daß er sich herbeiließ, den Seinigen Mittheilungen zu machen, welche er ihnen sonst immer als für sein Amt ungeeignet vorenthielt. „Der Bürger der französischen Republik, Victor Neuwinger,“ sagte er mit Bitterkeit, „dahier commandirender General der französischen Armee, einer Armee von tausend Mann vielleicht, hat uns beauftragt, allsogleich unter Trommelschlag folgende Proclamation bekannt machen und aller Orten anheften zu lassen.“ Er zog das Schriftstück aus der Tasche und las es vor, oft durch Ausbrüche des Unwillens von seiner Tochter unterbrochen, während die Frau mit zitternd gefalteten Händen stumm zuhörte. Die Schrift besagte, daß die zur Strafe auferlegte Contribution nicht von den Bürgern und Einwohnern der freien Stadt und Republik Frankfurt am Main, noch weniger von den bürgerlichen Stadtcollegien und den nicht zu dem Hause Frauenstein und Limburg gehörigen bürgerlichen Magistratspersonen, sondern einzig und allein von den adeligen Patricierfamilien und den in der Stadt und deren Gebiet gelegenen fürstlichen oder herrschaftlichen Gütern und Besitzungen geleistet werden solle; jede andere Repartition werde er cassiren und nöthigenfalls Gewalt brauchen, um die Contribution in der ausgesprochenen Weise einzutreiben.
„Das trifft uns also auch?“ rief Frau Hartinger, die mit Anstrengung aller Seelenkräfte die Proclamation zu begreifen gestrebt hatte. „Frauenstein, nicht wahr? Nicht blos Limburg?“
In Frankfurt bestanden zwei adelige Geschlechtshäuser: zum alten Limburg und zum Frauenstein. Zu jenem gehörten die Patricier, welche, obgleich in der Bürgerschaft begriffen, dennoch fast durchgängig von uraltem Adel waren, ihre Ahnenregister hielten, nur in adelige Häuser heiratheten und, von ihren Einkünften lebend, keine Handlung trieben. Die zweite Gesellschaft, welche zum adeligen Geschlechtshause Frauenstein oder Braunfels gehörte, war nicht so streng geschlossen und die Familie Hartinger schon seit Jahrhunderten in dieselbe aufgenommen.
„Für das Wohl der Stadt, für das deutsche Vaterland dreifach so viele Millionen und nur vom Adel, mit Freuden gewiß!“ rief Dorothea. „Den Räubern keinen Kreuzer freiwillig! Was wird geschehen, Vater?“
„In der Stadt herrscht die größte Aufregung. Merkwürdig, daß gerade die gemeinen Leute, die Armen und Besitzlosen, die doch von der neuen Ordnung der Dinge in Frankreich eine Verbesserung ihrer Lage zu hoffen haben, am erbittertsten gegen die Franzosen sind, wie man uns berichtet hat. Ein Aufstand könnte [354] das schrecklichste Unglück über die Stadt bringen; der Rath hat also eine beruhigende Ansprache an die Bürgerschaft erlassen, daß von der geforderten Contribution noch nichts gegeben, sondern die Sache durch den Weg der fleißigsten und unablässigen Unterhandlungen zur glücklichen Hebung des zum Grunde liegenden Mißverständnisses geführt werden soll.“
„Und hoffen Sie Erfolg von diesen Unterhandlungen, Vater?“ fragte Dorothea.
„Ich hoffe es, mein Kind, ich selbst werde das Meinige dazu thun,“ erwiderte Hartinger, die Niedergeschlagenheit bezwingend, die ihn aus mehr als einer Ursache überfallen hatte. „Eine Deputation soll an Custine abgeschickt werden; auch ich bin dazu gewählt und nur nach Hause gekommen, um mich zu der Reise einzurichten. Der Rath ist noch beisammen.“
„Sie werden Euch in Mainz festhalten,“ sagte Frau Hartinger erschrocken.
„Das fürchte nicht. Custine ist falsch berichtet; wenn er von Männern, die er zum Theil dem Namen und der Gesinnung nach schon kennt, die Wahrheit erfährt, so wird er die übereilte Forderung gern zurücknehmen.“
„Wen soll er in Frankfurt kennen?“ rief die Tochter und sah den Vater prüfend an. „Durch wen?“
Der Vater vermied ihren Blick; er stand auf und sagte: „Wessen Horizont nicht durch die Ringmauern seines Wohnorts und alte Vorurtheile beschränkt ist, der wird auch außerhalb genannt. Willst Du mir beim Einpacken helfen, Trautche?“
„Und wenn es bei der Contribution bleibt,“ fragte Frau Gertrud besorgt, „wieviel wird auf uns kommen? Wer vertheilt das? Es wäre doch wohl gut, wenn die einheimischen Frankfurter dabei geschont würden; da sind ja genug fürstliche Paläste und Höfe, das Compostel und der Frohnhof, die dem Kurfürsten von Mainz gehören, der trierische, der cölnische, der hessen-darmstädtische Hof und was den Solms und den Schönborns gehört, die müßten Alles hergeben, denn auf die Fürsten ist es doch abgesehen, nicht auf uns Bürger. Was hast Du dabei noch zu lächeln, Dorche? Zum Lachen ist es wahrhaftig nicht, wenn wir zu Bettlern werden!“
Dorothea durfte ihren Gedanken nicht aussprechen. Ihre Mutter, welche sonst auf ihre patricische Abkunft so stolz war, rechnete sich auf einmal zu den Bürgern. „Es wird so schlimm nicht werden,“ sagte sie. „Wenn der Vater Recht hat …“
Daran zweifelte sie freilich selbst, und als der Vater, nachdem er seine Anstalten zur Abreise getroffen hatte, wieder nach dem Römer ging, wo der Rath sich gleichsam in Permanenz erklärt hatte, fragte sie ihn, ob er vielleicht wisse, wo jetzt die Preußen und Hessen ständen, „oder die Oesterreicher?“ setzte sie schnell hinzu, als sie bemerkte, daß bei der Erwähnung der Hessen ein unmuthiger Schatten über das Gesicht des Vaters flog.
„Ich weiß nichts und mag davon nichts wissen,“ erwiderte er. „Es wäre kein Wunder, wenn man mich persönlich des Einverständnisses mit dem Feinde verdächtigte, da sich der Junge in mein Haus gewagt hat.“
„Mit dem Feinde, sagen Sie?“ entgegnete Dorothea lebhaft. „Sind die deutschen Krieger unsere Feinde? Traurig genug, daß nicht schon bei dem ersten Schritt der Franzosen über die deutsche Grenze das Reich diesen den Krieg erklärt hat, daß nicht am ganzen Rhein die Sturmglocken ertönt sind. Deutschlands Feinde, unsere Feinde sind die Franzosen.“ Sie war hoch erglüht vor innerer Bewegung und ihr Auge funkelte. Die Mutter erschrak vor ihr.
„Du bist ein deutsches Mädchen,“ sagte der Vater, indem er sein Kind nun doch mit Wohlgefallen betrachtete. Es war eben der Zwiespalt in ihm, welcher sich schon beim Abschiede von seinem Neffen geäußert hatte. Die Wagschale neigte sich aber bald wieder auf die andere Seite, denn er setzte hinzu: „Hüte Dich jedoch vor dieser Exaltation, die Dich zu weit führt. Eine sicilianische Vesper kannst Du doch in Frankfurt nicht wünschen?“ Er küßte sie auf die Stirn. „Deutschlands Feinde sind die Franzosen nicht,“ fuhr er fort, „wenigstens nicht des deutschen Volks, dem sie Frieden verkündigt haben. Krieg den Palästen, Friede den Hütten! Auch den Palästen nur, so weit in ihnen volksverderbliche Elemente wohnen!“
Dorothea antwortete nichts darauf und der Vater entfernte sich. Die Mutter war in große Unruhe gerathen und kam immer wieder auf die Contribution und den wahrscheinlichen Antheil zurück, welcher bei der unerhörten Maßregel, die ganze Last den Vornehmen aufzubürden, auf ihren Mann fallen wurde. Wie beschämt hätte sie sich fühlen müssen, wenn sie gewußt hätte, daß Neuwinger’s Manifest bis zum ärmsten Handwerker hinab mit Verachtung aufgenommen worden war, daß in dem starken Gemeinsinne, welcher Frankfurts Bürgerschaft belebte, Keiner ein Vorrecht vor dem Andern haben und auch der Aermste zu der Brandschatzung sein Scherflein beitragen wollte, als eine Ehrensache!
„Was meinte denn der Vater mit der Vesper in Frankfurt, wovon er sprach?“ fragte Frau Hartinger.
„Auf der Insel Sicilien wurden einmal die Franzosen, die als Feinde dort hausten, zu einer bestimmten Stunde vom Volke angegriffen und getödtet; es war zur Vesperstunde, darum nannte man jene furchtbare Begebenheit die sicilianische Vesper.“
„Gott bewahre uns in Gnaden!“ sagte die Mutter. „Als ob wir über unsere Einquartierung herfallen wollten.“
Daran dachte wohl kein Mensch. Die Stimmung hatte sich beruhigt, man hoffte das Beste von der Deputation, welche nach Mainz abgegangen war, und vertrug sich einstweilen mit der Einquartierung ganz leidlich. General Neuwinger hatte nur gethan, was ihm befohlen war; er selbst war ein würdiger alter Krieger, dessen Gesicht im Gegensatz zu Houchard’s zerfetzten Zügen Vertrauen einflößte, auch hielt er gute Mannszucht. Die Nationalgarden forderten, näher betrachtet, eher die Lustigkeit, die im Frankfurter Blute liegt, als die Furcht heraus. Sie waren zum großen Theil noch gar nicht uniformirt, sondern trugen ihre eigenen, durch den Feldzug schon ziemlich zerlumpten Kleider, namentlich Hosen; der bereits landläufige Ausdruck der Sansculotten (Ohnehosen) paßte annähernd auf viele der ehrbaren Elsasser Spießbürger, welche jetzt in der blauen Nationaluniform mit rothen Klappen, im dreieckigen Hut mit tellergroßer dreifarbiger Kokarde und kleinem rothen Stutz, durch ihre mangelhafte Unterbekleidung dem zarten Geschlecht in Frankfurt Aergerniß oder Belustigung gaben. Sie bramarbasirten übrigens in den Wirthshäusern und auf den Straßen gewaltig, spielten, wie ein Zeitgenoß seinem Freunde schrieb, mit Königskronen und zogen auf Wache mit auf die Bajonnete gespießtem Fleisch und Brod. Die Linientruppen hatten ein ganz anderes Ansehen, durchaus soldatisch, obgleich auch in jener freien französischen Weise, welche gegen die steife deutsche Dressur abstach. Die Infanterie trug noch die weiße Uniform, welche natürlich nicht gleich durch neubeschaffte blaue ersetzt werden konnte, so daß noch 1806 unter Napoleon einzelne Regimenter in weißen Röcken erschienen. Nach den Regimentern waren die Umschläge der Röcke von verschiedener Farbe: noch waren die alten Regimenter, meist nach den Provinzen benannt, ungetrennt; erst im folgenden Jahre, 1793, wurden ihre Bataillone auseinandergerissen und je ein Linienbataillon mit zwei Nationalbataillonen zu einer „Halbbrigade“ verbunden, welche Verschmelzung Anfangs viel gegenseitigen Widerwillen fand und erst im Feuer der Schlachten vollständig gelang. Am meisten gefiel den Frankfurtern die Cavalerie, obgleich sie ihnen die Allee, ihre Hauptpromenade, zum Lagerplatz genommen hatte.
Es trug nicht wenig zu der angenehmen Stimmung, besonders der bedrohten Classen bei, daß im Laufe des Tages, noch ehe die Deputation von Mainz zurück war, der einstimmig gefaßte Beschluß des Magistrats bekannt wurde. Kein Bürger solle einen Pfennig seines Eigenthums verlieren; das Stadtärarium zahle das Blutgeld, falls es nicht erlassen werde, allein und verlange bei seiner jetzigen Armuth die Summe von den reichsten Einwohnern nur als ein verzinsliches Darlehen. „Heil dem Volke, das solche Führer hat!“ schrieb der erwähnte Zeitgenoß gerührt an seinen Freund, welchem er täglich Nachrichten versprochen hatte.
Trotz der Entfernung von fünf Meilen kehrte die Deputation von Mainz zurück, ehe sie erwartet worden. Als der Ratsherr Hartinger seine Treppe hinaufstieg, sah ihm von oben das steinalte Gesicht seiner Amme entgegen und ihm fiel der Volksaberglaube ein, daß die Begegnung einer alten Frau als erste beim Ausgang oder bei der Heimkehr Unglück bedeute.
„Wie kommst Du so spät noch hierher?“ fragte er sie. Die Amme wohnte nicht bei ihm in dem schönen Hause auf der Zeil, sondern in dem andern, das er auf der Allerheiligengasse besaß.
[355] „Die Frau wollte mit mir reden – Sie wissen schon!“antwortete die Alte.
Er wußte allerdings, was sie meinte, und nahm sie mit sich in sein Zimmer. Da der Corridor von der Treppe schon sich theilte, links nach des Hausherrn, rechts nach der Frauen Bezirk, so hörten Letztere noch nichts von der Rückkehr, auf welche sie gespannt warteten, ohne sie jetzt schon zu hoffen.
„Nun?“ fragte Hartinger, als er mit der Alten in sein Zimmer getreten war und diese ihm den „Matin“ von der Schulter nahm.
„Sie wollte wissen, was Sie gegen die Heirath hätten, die sie sich in den Kopf gesetzt hat.“
„Und was hast Du ihr gesagt?“ fragte Hartinger unmuthig.
„Daß Sie Ihre Tochter doch nicht zwingen würden und daß Mamsell Dorche sich nichts aus ihm mache.“
„Weißt Du das?“ rief der Vater hoch erfreut.
„Sie mag gern mit ihm plaudern und lachen, aber weiter nichts –“
„Er aber!“ sagte der Vater.
Die alte Frau zuckte die Achseln. „Vaters Blut! Was er nicht soll!“ murmelte sie.
Hartinger schwieg eine Weile. „Es ist mir nur lieb, daß es so steht! Wenn Du Deiner Sache gewiß bist nämlich … Weißt Du,“ fuhr er plötzlich auf, „daß er seiner Mutter schrecklich ähnlich sehen kann? Ich hab’s neulich zum ersten Male bemerkt, als er – heftig wurde. Da sah er aus, als sei er ihr aus den Augen geschnitten, und ich mußte mir gleich ihr Bild ansehen!“
„Das hätten Sie schon längst in’s Feuer werfen sollen!“ murrte die Alte.
„Ist Doris bei meiner Frau? Sie war doch nicht dabei, als Du Rede stehen solltest?“
„Sie kam und ich ging. Aber drüben warten sie mit Schmerzen!“ Der Rathsherr entließ die alte Frau, welche sich auf den Heimweg machte, während er zu den Seinigen hinüberging. Ueber den eigenen Angelegenheiten hatte er momentan die öffentlichen vergessen, deren Rückwirkung auf jene sich noch gar nicht übersehen ließ.
„Schon zurück?“ sagte Frau Hartinger verwundert, und Dorothea glaubte in seinem Gesicht Gutes zu lesen.
„Wir sind unfreundlich empfangen und kurz abgefertigt worden,“ berichtete er jedoch. „Eine halbe Million hat er der Stadt erlassen, mehr war von ihm nicht zu erlangen, und ohne mich zu rühmen, kann ich sagen, daß Frankfurt mir diesen Erlaß hauptsächlich zu danken hat. Ich aber bin dafür wieder einem Freunde verpflichtet, der Custine’s Vertrauen besitzt und gewiß bei dessen Unkenntniß deutscher Verhältnisse vom besten Einfluß sein wird.“
„Stamm, nicht wahr?“ entgegnete Dorothea statt der sich noch verwundernden Mutter. „Heißt er Daniel Stamm?“
„Ja wohl. Kennst Du seinen Vornamen schon?“ fragte der Vater, angenehm berührt, indem er an die Behauptung der Amme über das Herz seines Kindes dachte und gleich Hoffnungen für seinen Lieblingsplan daran knüpfte.
„Ganz Frankfurt kennt diesen Vornamen und wird ihn so leicht nicht wieder vergessen!“ erwiderte Dorothea. „Er prangt als Bürge für den richtigen Wortlaut unter Custine’s neuestem Manifest!“
Hartinger kannte dies noch nicht; es war, während die Rathsdeputation in Mainz unterhandelte, zu Frankfurt öffentlich angeschlagen worden. Custine mißbilligte darin die allgemeine Beisteuer der von ihm verhängten Contribution, durch welche er nur die Begünstiger von Verräthern an den unverjährbaren Rechten der Völker habe strafen wollen, er beschuldigte den Magistrat der Ungerechtigkeit und Erpressung und wiederholte den Befehl, der in Neuwinger’s Proclamation ausgesprochen war. Als Dorothea den Kern des Manifestes ihrem Vater mitgetheilt hatte, sah ihn die Gattin trostlos an: „Es bleibt also dabei!“ stöhnte sie. „Denn eine halbe Million, Was will das sagen!“
Hartinger schien aber guten Muthes. „Kinder, lernt abwarten!“ sagte er. „Mit der Zeit wird sich Alles finden. Deine Sorgen, Trautche, werden zerstreut werden und Du, mein deutsches Mädchen, wirst besser über Manches denken lernen. Stamm’s Name unter dem Manifest verbürgt nur die Uebereinstimmung mit dem Original, nicht Stamm’s Uebereinstimmung mit dem Inhalt. Stamm ist ein Deutscher.“
„Ein Straßburger!“ versetzte Dorothea. „Straßburg gehört zu Frankreich. In hundert Jahren kann sich das Nationalgefühl wohl verlieren. Ich schelte Stamm nicht, aber Schande über die Abtrünnigen von heute!“
Der Vater wurde roth, und er wußte doch, daß seine Tochter ihn nicht dazu rechnete, sonst würde sie das nicht gegen ihn ausgesprochen haben. „Ja, in Mainz hört man Trauriges,“ sagte er. „Es ist schon die Rede davon, daß sie ganz französisch werden wollen, in Speier und Worms sollen schon statt der Bürgermeister Maires eingesetzt sein. Wir müssen darum jeden Schein einer feindseligen Gesinnung meiden und Alles wird gut werden. Eine zweite Deputation soll an Custine abgehen, ich habe die Ehre, dabei zu sein, abgelehnt, da ich mit Sicherheit weiß, daß sie leeres Stroh dreschen wird. Wegen unsers Antheils kannst Du ganz ruhig sein, Gertrud. Warte nur Alles ruhig ab.“
Ganz Frankfurt blieb nichts Anderes übrig, als abzuwarten. Eine Million war in der vom Rath beschlossenen Weise bei dem Reichthum der ersten Häuser leicht zusammenzubringen und mußte abgeliefert werden. Die halbe Million wurde aber nur unter der Bedingung erlassen, daß der Rath dem französischen Feldherrn das schwere Geschütz nebst Munition, welches in den Zeughäusern von Frankfurt vorhanden war, zur bessern Vertheidigung von Mainz ausliefere! Das Schreiben an die „Räthe des Volkes“ hielt diesen zugleich ein verstärktes Sündenregister gegen die französische Nation vor. Zu der ersten Anschuldigung kam noch die, falsche Assignate verfertigt und in Umlauf gesetzt, sowie den Druck einer verleumderischen Zeitung, welche den Geist der Deutschen gegen die französische Constitution aufgebracht, genehmigt zu haben. An einen bloßen Durchmarsch konnte kein Frankfurter mehr glauben; Houchard rückte zwar mit seiner Colonne in der Nacht zum 26. October aus, um weiter zu brandschatzen, aber General Neuwinger hatte sich für längeres Bleiben im „rothen Hause“ auf der Zeil einquartiert. Jene Brandschatzung begleitete, wie eine teuflische Ironie, ein überall verstreuter Aufruf „an die gedrückte Menschheit in Deutschland“! Wahrlich, die ohnmächtigen Regierungen auf dem rechten Rheinufer konnten sich, wie einer unserer ersten und freisinnigsten Geschichtsschreiber sagt, „bei Custine bedanken, daß er es übernahm, das Volk von revolutionären Anwandlungen zu heilen. Der Eindruck der Räuberei in Frankfurt war zu allgemein, als daß die pomphaften Proclamationen von Verbrüderung und Freiheit, von Abschüttelung der Despotie und Rückgabe der unveräußerlichen Menschenrechte sonderlich hätten verfangen können.“
Auch in Frankfurt predigten die Nationalgardisten auf offener Straße Freiheit und Menschenrechte. Nach den Proben, welche die Frankfurter schon von der französischen Großmuth gesehen, war es aber schwierig, sie zu bekehren. Mitten in einer solchen Predigt, welche ein zerlumpter Bürgersoldat aus Dachstein im elsasser Deutsch auf dem Platze Liebfrauenberg hielt, wo das adelige Haus Frauenstein, das Absteigequartier der Kaiser, stand, wirbelte auf einmal der Generalmarsch von der Hauptwache am Heumarkt durch alle Straßen. Der Dachsteiner brach in seinem Sermon, dem nur fremde Bauern und an der Ecke der Judengasse einige zusammengedrängte Hebräer gelauscht hatten, bei dem wohlbekannten Signal ab. „Das sind die Hessen, die Kaiserlichen!“ schrie das Volk, welches immer glaubt, was es wünscht.
„Es iesch der Feind, ‘s wird lätsch geh’!“ murrte der fortreitende Elsasser. „Aux armes!“
Es war der Feind, aber nur der Feind Frankfurts und der deutschen Rheinlande. Während die Franzosen mit Sack und Pack nach dem Alarmplatze auf dem Roßmarkt eilten, die Bataillone sich formirten und die Cavalerie auf der Allee schleunig sattelte, hielt General Custine mit frischen Truppen durch das Bockenheimer Thor seinen Einzug. Der Heumarkt hatte sich mit Menschen gefüllt, welche den Eroberer der Rheinstädte sehen wollten, den neuen Josua, vor welchem die Mauern eines zweiten Jericho gleichsam zusammengestürzt waren. Unangenehm war seine Erscheinung nicht, obgleich ein wildgewachsener Schnurrbart den ehrbaren Bürgern, welche nur an Husaren und Grenadieren, nicht aber an anderen Soldaten, am wenigsten an Officieren, einen Schnurrbart gewöhnt waren, sehr auffiel. Custine saß gut zu Pferde, er hatte den Hut mit den dreifarbigen Federn tief in die Stirn gedrückt und seine lebhaften Augen blitzten mit dem Ausdrucke der Schlauheit nach allen Seiten. Vor der Hauptwache war der Platz von Menschen frei gehalten; hier parirte Custine sein Pferd, sprach ein paar Worte zu einem Mann im rothen, bürgerlichen Rocke, der in seinem Gefolge [356] von zehn bis zwölf Officieren ritt, und wandte sich dann an das Volk, um die übermüthige Frage zu thun, welche ihm zu Mainz ein lebhaftes Hoch eingebracht hatte: „Habt Ihr den Kaiser Franz gesehen?“
Franz der Zweite war im vergangenen Sommer, am 14. Juli, dem Jahrestage des Bastillesturmes in Paris, zum römischen Kaiser in Frankfurt gekrönt worden, und einige Stimmen aus dem Volke antworteten auf die wunderliche Frage des französischen Generals natürlich: „Ja!“
„Nun, Ihr werdet keinen römischen Kaiser mehr hier sehen!“ rief Custine stolz und, ohne es zu ahnen, prophetisch, denn Franz der Zweite war der letzte deutsche Kaiser. Aber kein Vivat, kein Jubel antwortete ihm, wie in Mainz – die Frankfurter blieben stumm, Viele zuckten die Achseln und kehrten sich ab. Wenn Mirabeau’s bekanntes Wort in der Nationalversammlung: „Das Schweigen der Völker ist die Belehrung der Könige!“ eine Wahrheit enthält, so konnte General Custine, als er durch das schweigende Volk ritt, gründlich belehrt werden, daß hier die Saat auf harten Boden gefallen sei. Es stimmte ihn nicht günstiger für Frankfurt. Er führte nun seine Regimenter, zwei Linien- und zwei Nationalgardenregimenter, in die Stadt, deren neue Garnison sie bilden sollten, während die bisherige zu weitern Razzias, wie man heute sagen würde, in das Hessische, namentlich zur Wegnahme der einträglichen Nauheimer Saline, bestimmt war. Der Obergeneral ritt dann nach dem Römer, wo sich unterdessen der Rath versammelt hatte. Hier fand er zu seinem Erstaunen eine ganz andere Haltung, als er bis jetzt gewohnt war: seiner Willkür preisgegeben, behauptete der Magistrat den Muth und die Festigkeit, ihn durch wiederholte Vorstellungen um Rücknahme der Contribution zu bitten und seine letzte Forderung, das Geschütz betreffend, abzulehnen. Daß es sich mit der Pflicht der freien Stadt gegen Kaiser und Reich nicht vertrug, ihre Vierundzwanzigpfünder den Franzosen zur Vertheidigung der eroberten Reichsfestung Mainz zu leihen, mußte Custine, wenn er es auch nicht zugab, selbst einsehen; um so mehr erbitterte ihn der Widerstand. Er kündigte dem Rathe an, daß er sein Hauptquartier nach Frankfurt verlegt habe und seinen Befehlen in jeder Hinsicht Nachdruck geben werde. Als er ziemlich brüsk den Römer verlassen hatte, um, im rothen Hause, wo General Neuwinger gewohnt, sein Quartier zu nehmen, blieb der Rath noch zusammen und beschloß, eine Deputation nach Paris an den französischen Nationalconvent zu senden, um dort die Gerechtigkeit zu erlangen, welche der General der Republik versagte.
In der Stadt herrschte Bestürzung unter den Wohlhabenden, eine dumpfe Gährung in den ärmeren Classen. Mit steigender Angst warteten die Familien der Rathsherren auf deren Heimkehr, und jedes Trommel- oder Hornsignal, mit denen die Franzosen bis auf diesen Tag für die kleinste Dienstverrichtung lärmen, erregte Besorgniß vor Gewaltmaßregeln. Es war bekannt geworden, daß der Rath dem „Custinus“ die schweren Geschütze rund abgeschlagen, und hatte den freudigsten Beifall in allen Schichten der Bevölkerung gefunden, die Frage war nur, wie man die drei Zeughäuser vertheidigen solle. „Man muß nicht abwarten, bis man geprügelt wird, Meister!“ sagte der Hanauer Geselle, als dieser Zweifel in der Werkstatt geäußert wurde. „Wer zuerst ausschlägt, hat einen voraus.“
„Zum Feierabend geht Ihr mir heute nicht aus, hörst Du, Sperber? Du gar nicht!“ befahl der Meister.
Sperber ließ es aber doch darauf ankommen, und wie er vor die Hausthür trat, sah er aus dem Nachbarhause, das dem reichen Hartinger von der Zeil gehörte, die alte Frau kommen, welche hier die Schlüssel führte. Er hatte sie schon kennen gelernt und grüßte sie. „So spät noch? Einen französischen Liebsten suchen?“ neckte er sie.
„Will Er mir einen Gefallen thun?“ entgegnete sie. „Ich muß zu meiner Herrschaft – es hat ein Unglück gegeben, sie wissen’s noch nicht, mein Herr hat eben zu mir geschickt aus dem rothen Hause, ich soll’s ihnen glimpflich beibringen. Will Er mir einen Brief auf der Post bestellen, den ich geschrieben habe?“
[369] Sperber erbot sich, den ihm von der Frau Weidel übergebenen Brief auf der Post zu bestellen. Es war schon zu finster, die Aufschrift zu lesen; als er aber an das lichthelle Fenster der Thurn und Taxisschen Expedition trat, sah er doch, wie schlecht gekritzelt der Name auch war, daß die Alte an den Lieutenant Ortenburg geschrieben hatte – nach Marburg. „Ach, wenn doch das ganze hessische Corps, das noch weit überm Rhein stand, und die Preußen in Marburg wären, um dem Custinus hier den Garaus zu machen!“ dachte Sperber.
Die Amme, wie Frau Amalie Weidel trotz ihrer achtzig Jahre noch im Hartinger’schen Hause genannt wurde, war unterdessen hier angelangt und erregte, da sie nach ihrer Manier ohne Weiteres bei der Frau Senatorin eintrat, durch ihre Erscheinung am Spätabend gleich die Besorgniß, daß sie eine schlimme Nachricht bringe.
„Freilich!“ sagte sie, ohne sich an die ihr gewordene Weisung zu schonender Mittheilung zu kehren. „Der Herr sitzt fest im rothen Hause; er und noch vier Rathsherrn sind arretirt, auch zwei Juden, die reichsten, sind hingeschleppt worden, wie ich unterwegs noch gehört habe.“
Ein lauter Schrei der Frau Hartinger hatte ihre Meldung schon unterbrochen. „Im rothen Hause, sagst Du?“ rief Dorothea in höchster Aufregung. „Aus welchem Grunde sind sie verhaftet worden?“
„Es heißt, weil sie Feinde bei sich aufgenommen haben – Andere meinen, es sei wegen der Brandschatzung –“
„Also bekannt ist es schon und wir erfahren es zuletzt?“ sagte Dorothea, „Mutter, ich werde zur Frau Syndicus gehen, einer von den Leuten kann mich begleiten, dort höre ich gewiß die Wahrheit.“
Die Mutter war trostlos. „Sie werden ihn nach Frankreich schleppen, sie werden uns zu Bettlern machen! Und Du willst mich jetzt verlassen?“
Dorothea sprach ihr zu, aber sie ließ sich nicht abhalten; ihr Gefühl brach nicht in Jammern und Klagen aus, es war das Gefühl eines starken Zornes. Einer von den Comptoirdienern begleitete sie mit der Laterne auf dem kurzen Wege und leuchtete an der Hausthür einem Menschen in’s Gesicht, der an die Mauer gelehnt stand. „Was will Er hier? Auf wen wartet Er?“ fuhr er ihn an.
„Auf Ihn nicht!“ klang die derbe Antwort. „Ach, sind Sie’s, Mamsellchen? Ich wollte die gute Frau Weidel nach Haus bringen; auf den Gassen ist’s nicht geheuer für eine alte Frau.“
Dorothea erkannte den Gesellen, welchem sie vor einiger Zeit eine Gabe verabreicht hatte. Sperber’s Gesicht war nicht so leicht zu vergessen, sie würde sich seiner aber doch nicht erinnert haben, wenn er nicht zuletzt noch das Gespräch mit ihrem Vetter gehabt hätte. „Frau Weidel wird bei meiner Mutter bleiben,“ sagte sie freundlich.
„Und Sie wollen wohl zum Herrn Vater?“ entgegnete Sperber. „Ach, da kommen Sie nicht hinein! Da stehen Schildwachen.“
„Wißt Ihr auch schon, was geschehen ist?“ fragte Dorothea.
„Es wird noch besser kommen! Der Custinus ist gut bedient, er weiß den Hammer auf die rechte Stelle zu schlagen. Als ich bei ihm, im rothen Rock wie einen Scharfrichtersknecht, den tollen Böhmer sah, da wußt’ ich schon genug.“
Von Dr. Böhmer, dem ehemaligen Gymnasialdirector aus Wiesbaden, dem Sohne eines würdigen Professors in Göttingen, war schon in den befreundeten Häusern, welche Dorothea mit ihrer Mutter besuchte, die Rede gewesen; sie wußte, daß Böhmer sich unbedingt den neuen Freiheitsaposteln angeschlossen hatte. Mit seinem und vielen andern Namen aus Mainz war auch Stamm mehrfach erwähnt worden; war Stamm, der sich einen Freund ihres Hauses nannte, nicht bei Custine, und wenn er auf diesen, wie ihr Vater meinte, einen großen Einfluß hatte, konnte er nicht verhindern, was geschehen war? Mit diesem Gedanken beschäftigte sich Dorothea, nachdem sie sich von dem Gesellen, der nun seine eigenen Wege ging, getrennt hatte.
Bei Frau Seeger, der Gattin des hochgeachteten Syndicus, erhielt sie vollen Aufschluß. Custine hatte fünf der angesehensten Männer aus dem Rath und zwei reiche Juden als Geiseln für die Zahlung der Contribution festnehmen lassen. Gegen die steigenden Gewaltmaßregeln war nichts zu thun, als ungebeugt auf seinem Rechte zu verharren. Der Syndicus Seeger und der Kaufmann Engelbach sollten noch in der Nacht mit Courierpferden nach Paris abreisen. Unterdessen mußte die Zahlung beginnen, wenn nicht die angedrohte Plünderung der herrschaftlichen Höfe und der Patricierhäuser stattfinden sollte. Das schwere Geschütz war aber auf wiederholte Forderung standhaft verweigert worden. Custine hatte die Zeughäuser bis jetzt wohl nur deshalb noch nicht erbrechen lassen, weil er keinen Angriff auf Mainz befürchtete und darum die Kanonen dort nicht brauchte. Welcher Geist in der ganzen Einwohnerschaft lebte, bewies die Thatsache, daß die Sachsenhäuser, welche er bei einem Besuch ihres Stadttheils persönlich um einen Baum, um diesen als Freiheitsbaum aufzurichten, gebeten hatte, ihm denselben rund abschlugen. „Die Frankfurter sind [370] ein widerspenstiges, hartnäckiges Volk!“. hatte er darauf zu Dr. Böhmer, seinem Begleiter, gesagt und diese Aeußerung war bekannt geworden. Die Frankfurter waren stolz darauf.
Dorothea kehrte mit ihren Nachrichten zu der bekümmerten Mutter zurück, bei welcher sie noch die Amme traf, die ihr aus der Mainzer Zeitung heute die politischen Artikel vorlesen mußte, welche sie sonst nicht kümmerten. Wie hatte sich dies ihr sonst so liebe, gemüthliche Blatt, in welchem sie mit Vergnügen von all’ den Lustbarkeiten am Hofe des Kurfürsten, von Frau von Coudenhove und den galanten Herren und Damen gelesen hatte, in der letzten Zeit verändert! Forster’s und Wedekind’s Angriffe auf den schlechten Geist, der in Frankfurt sich der von Frankreich ausstrahlenden Lichtmasse verschließe, hatten sie heute so verstimmt, daß sie beschloß, die Mainzer nicht mehr zu halten und sich mit der hiesigen zu begnügen, in welche jetzt freilich auch Custine seine Proclamationen und Erlasse rücken ließ. Ueber die Gefangenschaft des Gatten beruhigte sie sich einigermaßen, als sie von ihrer Tochter hörte, was der Grund sei. Von Wegschleppen oder gar Todtschießen war nicht die Rede; sie hatte sich schon geängstigt, daß man ihm die Beherbergung seines eigenen Neffen zum Verbrechen machen könne. Die Amme schien über Hermann mit der Mutter gesprochen zu haben, denn diese sagte auf einmal: „Weißt Du, daß Contreordre für den Nachschub gekommen ist? Hermann ist nicht auf dem Marsch nach dem Luxemburgischen, sondern steht in Marburg, weil sie fürchten, daß die Franzosen von hier aus in Hessen einfallen werden.“
Auf die Frage der Tochter, woher sie das wisse, blickte Frau Hartinger auf die Amme, und diese sagte kurz: „Ich hab’s gehört.“ Ortenburg hatte aber selbst an sie geschrieben; er mußte von ihr Aufklärung über die räthselhaften Worte haben, die sie ihm, gegen den sie doch sonst so zärtlich war, beim Abschied bitterböse gesagt hatte. Ihre Antwort war heute durch Sperber auf die Post getragen worden.
„Wir können also ruhiger schlafen,“ sagte die Mutter. „Morgen wollen wir sehen, ob wir den Vater sprechen oder ihm wenigstens Essen schicken können. Gute Nacht, Dorche! Guter Rath kommt über Nacht.“
Den Geiseln, welche Custine in Verwahrsam genommen hatte, war die Verbindung mit ihren Familien und auch mit ihren Mitbürgern keineswegs abgeschnitten; im Gegentheil hoffte der General durch sie auf diese zu wirken oder, wie man heute sagt, einen Druck auf sie zu üben. Darum ließ er sie über ihr Schicksal in Ungewißheit: das Damoklesschwert hing über ihrem Haupte. Der widerspenstigen Stadt wollte er seine Gegenwart nicht lange mehr schenken, sondern sein Hauptquartier nach Mainz zurückverlegen, einstweilen konnte er ihr aber noch das Schauspiel eines Triumphzuges vorführen. Die Saline von Nauheim war wirklich von Houchard genommen worden; mit vierzehnfacher Uebermacht hatte er das schwache hessische Detachement, das von Hanau zum Schutz hierher geschickt war, nach der tapfersten Vertheidigung endlich überwältigt, als es die letzte seiner Patronen verschossen hatte. Die Gefangenen ließ Custine nun im Triumph unter Cavalerieescorte zu Frankfurt durch die Hauptstraßen führen, es machte aber auf die Einwohner nicht den gehofften Eindruck. Sie empfingen die deutschen Krieger, welche vor Unmuth über diese Behandlung knirschten, mit lebhaftem Enthusiasmus und thaten Alles, um ihnen und ihren zahlreichen Verwundeten ihr Schicksal zu erleichtern.
Dagegen machte der tapfere Widerstand des kleinen Häufleins Eindruck auf Custine, denselben, wie vor Zeiten der der Schweizer bei St. Jacob an der Birs auf das große Heer der Armagnacs. Wie diese, davon imponirt, den Angriff auf die Schweiz aufgaben, so Custine den seinigen auf Hanau. Um so wüthender fiel die Proclamation gegen den Tyrannen und Tiger von Hessen aus, um so abgeschmackter der Schluß derselben, in welchem er den hessischen Soldaten – fünfzehn Kreuzer täglichen Sold, wenn sie zu ihm übertreten wollten, fünfundvierzig Gulden Pension für einfache Desertion, das Bürgerrecht, brüderliche Liebe und Freiheit bot! Der Erfolg, war nur allgemeine Entrüstung im hessischen Volke, das theilweise zu den Waffen griff. Reellen Gewinn gab jedoch die Nauheimer Beute an Salz, fünfhunderttausend Thaler werth, die nach Mainz geschleppt wurde, und Houchard’s fortgesetzte Brandschatzung der reichsten Klöster und Besitzungen in der Gegend.
Fand denn das Beispiel des braven Hessenvolks gar keine Nachahmung? Ließ sich ein Landstrich von wenigstens acht Millionen einer treuen und wehrhaften Bevölkerung durch achtzehntausend Franzosen in Angst und Schrecken setzen, so daß keine Hand sich gegen sie aufhob? Wer trug die Schuld der Schmach und fand sich gleichgültig mit der Schande ab? Hören wir darüber einen Rheinländer, welcher jene jammervolle Zeit mit erlebt. hat! Von den kleinen Herren, die sich vom Breisgau bis nach Westphalen in die deutschen Rheinlande theilten, fühlte sich keiner mehr in seiner Residenz sicher. Alle zogen rückwärts und ließen Land und Leute im Stich, am schnellsten diejenigen, welche einst am lautesten gedroht und getrotzt. Der Bischof von Speier suchte im Odenwalde eine Zuflucht, der Kurfürst von Trier bei dem von Köln Schutz; in Coblenz wurden um fabelhafte Summen Schiffe gemiethet, alle Cavaliere, die meisten Geistlichen, kurfürstliche Räthe mit Frauen und Kindern, sehr viele Bürger und Handwerker, die meisten Mönche und Nonnen, sogar der Gardeoberst von Landenberg mit Officieren und Gemeinen – Alles floh rheinabwärts! In Bonn und Köln packte man aber auch bereits zur Flucht nach Westphalen und Holland ein. Die Fürstin von Neuwied empfahl sich der Milde Custine’s. Der panische Schrecken verbreitete sich vom Rheinlande weiter bis in das Herz von Deutschland. Baden und Würtemberg, auch mehrere Reichsstädte betheuerten ihre Neutralität, die Bischöfe von Bamberg und Würzburg, das Reichskammergericht erbaten sich Schutzbriefe von Custine; aus Cassel flüchtete die landgräfliche Familie, während der Landgraf an der Spitze seiner Truppen noch jenseit des Rheins im Felde stand; ja die Gesandten auf dem Reichstage zu Regensburg mietheten bereits Schiffe zur Flucht auf der Donau, wenn die ersten Franzosen sich bei Nürnberg zeigen würden.
Von jenen kleinen Herren und freien Gemeinwesen ist die Mehrzahl, absonderlich die geistlichen Fürsten, in der Napoleonischen Zeit ihrer Selbstständigkeit beraubt und bei der Umgestaltung Deutschlands 1815 nicht wieder restaurirt worden. Man würde jedoch ungerecht sein, wollte man ihnen die ganze Schuld jener unerhörten Schmach aufbürden; es war das Elend der politischen Verfassung des deutschen Reichs, welches sich darin kund gab. Wären Custine’s Thaten so kühn und gewaltig gewesen, wie seine Proclamationen, hatte er nur mäßige Colonnen von Mainz gegen Coblenz und über Frankfurt landeinwärts rücken lassen, so würde er der ganzen westlichen Kleinstaaterei mit einem Schlage ein Ende gemacht und aus dem ganzen Rheinlande vorläufig eine Tochterrepublik Frankreichs geschaffen haben. Die Stände des Kurfürstenthums Trier, verlassen von ihrem geistlichen Herrn, schickten ihm in ihrer Rathlosigkeit bereits eine Gesandtschaft, um wegen einer Brandschatzung, noch ehe er trierischen Boden betreten hatte, gütlich mit ihm zu contrahiren, ihm die preußischen Magazine in Coblenz und, wenn er darauf bestünde, auch den Ehrenbreitstein zu überlassen! Diese Gesandtschaft empfing Custine noch in Frankfurt, und es machte auf die wackern Bürger einen ebenso beschämenden, wie niederbeugenden Eindruck. Auf Hülfe war nicht mehr zu rechnen. Die Kaiserlichen in Belgien, die Preußen und Hessen auf dem Rückzuge noch jenseit Coblenz mochten wohl schon geschlagen und zersprengt sein.
Trüb gestimmt durch solche Gedanken, bekümmert um ihren Vater saß Dorothea Hartinger allein. Die Mutter war ausgegangen, um sich bei Freundinnen Rath und Trost zu holen. Es war allerdings gestattet worden, die im rothen Hause verwahrten Geiseln mit allem Nöthigen zu versehen, aber eine Freilassung, bevor der letzte Kreuzer der Contribution entrichtet war, stand nicht in Aussicht; es hieß sogar, daß sie nach Mainz transportirt werden sollten. Dorothea bangte darum, da erschreckte ein leises Klopfen an der Thür das sonst so herzhafte Mädchen; kaum daß sie antworten konnte. Die Thür wurde bescheiden geöffnet – ein französischer Officier trat herein. Sie stand bestürzt auf. Welches neue Unheil sollte ihr dieser Bote verkünden? Er nahte sich ihr rasch. „Verzeihung, Mademoiselle, dem wahren Freunde.“
Bei dem Tone dieser Stimme blickte sie erstaunt auf; nun erst erkannte sie, wer der Officier war.
„Ich war fern von hier,“ fuhr dieser fort, „ich konnte nicht ahnen, was sich hier begeben würde! Sie staunen, mich in französischer Uniform zu erblicken?“
[371] „Nachdem Sie deutsche getragen, Herr Stamm,“ entgegnete Dorothea, welche durch seinen Anblick ihre volle Geisteskraft wieder gewonnen hatte.
„Deutsche?“ wiederholte Stamm lächelnd. „Giebt es eine deutsche Uniform? Wenn ich durch Verhältnisse in den Rock des Kurfürsten von Mainz gekommen war, so hatte ich ihn schon vor der Katastrophe ausgezogen und, theure Mademoiselle, ich bin ein Straßburger, meiner Familie nach ein Elsasser, also französischer Bürger! Meine Pflicht war beim Ausbruche des Krieges, dem Vaterlande meinen Degen zu weihen. Gegen Niemand würde ich mich in dieser Weise rechtfertigen, als gegen Sie … Doch nicht deshalb kam ich her, sondern Ihres Herrn Vaters wegen. Ich habe Alles gehört und werde meinen ganzen Einfluß aufbieten, Ihren Herrn Vater zu retten. Sie erschrecken vor dem Worte? Ja, ich kann es Ihnen nicht verschweigen, Sie haben ein starkes Herz! Ihr Vater ist angeklagt, mit den Feinden Frankreichs conspirirt zu haben, ich warnte ihn umsonst …“
„Eine ehrlose Verleumdung!“ rief Dorothea.
„Gewiß! Wenigstens glaube ich es … Aber die Folgen sind bedrohlich und eine Rechtfertigung würde kaum möglich sein. Sorgen Sie aber nicht, theure Doris. Sie haben einen treuen Freund, der für Sie sein Leben opfern würde. Ich bin Custine’s Adjutant, ich werde auf Gefahr meines Kopfes handeln, auch wenn ich von Ihrer Seite keinen Dank zu hoffen hätte.“
„Wie können Sie daran zweifeln!“ sagte Dorothea, von seinen Worten schwer geängstigt.
„Darf ich hoffen?“ rief er entzückt und küßte ihre Hand. „Ah, Madame!“ sagte er, nach der Thür sich wendend, zu der eben eintretenden Frau Hartinger, welche vor der Gruppe wie versteinert stand. „Sie kommen zur guten Stunde. Ich darf keine Zeit verlieren, wenn ich das Schrecklichste verhindern will. Mademoiselle wird Ihnen Alles erklären!“
Er empfahl sich, und die Mutter hörte von Dorothea, was Stamm ihr entdeckt. Sie hatte bei keiner ihrer Freundinnen viel Trost gefunden und gerieth jetzt bei der Mittheilung ihrer Tochter in völlige Verzweiflung. „Sie werden ihn erschießen! Sie werden sein ganzes Vermögen confisciren!“ jammerte sie. „Dein Hermann hat dies ganze Unglück über uns gebracht!“
Vergebens suchte Dorothea sie zu beruhigen, den Vorwurf von dem Vetter abzuwenden und die Hoffnung in ihr zu wecken, daß Stamm, der für den Vater eine solche Freundschaft gezeigt, die ungerechte Verfolgung hindern werde, da er Custine’s Adjutant sei. Die Mutter, deren ohnehin schwache Geisteskräfte jetzt ganz gebrochen waren, hörte kaum auf sie und rang nur die Hände. Es waren traurige Stunden, welche Dorothea mit ihr verlebte, besonders als ein Billet, das sie an den Vater geschrieben hatte, dort nicht abgegeben werden durfte. Diese Verschärfung, wenn sie sich nicht auf alle Sieben erstreckte, die als Geiseln im rothen Hause gehalten wurden, bestätigte Stamm’s Nachricht nur zu sehr. Eine traurige Nacht für die Beiden, welche um den Gefangenen zagten!
Stamm kam folgenden Tages sehr früh. Sein ernstes Gesicht verrieth, daß er selbst die Hoffnung nicht theilte, welche er aussprach. Der General hatte eine Beschleunigung der Angelegenheit versprochen; weiter durfte er sich nicht auslassen, doch stehe die Sache immer noch so schlimm nicht, wie sie vielleicht fürchteten.
„Seien Sie überzeugt,“ setzte er mit einem feurigen Blick auf Dorothea hinzu, „daß mich die Guillotine, die mich dabei selbst bedroht, nicht schrecken wird, die Hoffnungen, die in mir erweckt worden sind, durch meine Thaten zur Erfüllung zu bringen. Nur wenn mir die Rettung des Vaters gelingt, verdiene ich den schönen Preis!“
Die Mutter sah ihn mit ganz verwunderten Blicken an und Dorothea erröthete heiß. In ihrem Herzen regte sich ein Gefühl des Unwillens, durfte sie ihm aber Worte geben? Sie gerieth mit ihrer eigenen Natur in Widerspruch, daß sie die unbegreifliche Täuschung, in welche sich Stamm wiegte, nur einen Augenblick bestehen ließ; aber durfte sie ihn jetzt kränken, wo er vielleicht das Schicksal ihres Vaters in seiner Hand hatte? Dennoch würde sie den richtigen Ausweg aus ihren Zweifeln gefunden haben, wenn ihr Stamm Zeit dazu gelassen hätte; auch diesmal hielt er sich nur ganz kurze Zeit auf. Die Verlegenheit der Mutter, wie der Tochter schonend, ging er für jetzt nicht weiter, sondern sprach wieder von der Großmuth seines Feldherrn, welche sich auch in diesem Falle bewähren werde. Von Custine’s Großmuth wußte man in Frankfurt zu erzählen!
„Dorche,“ sagte die Mutter, als er sich entfernt hatte, „Du böses Kind! Hast mir Alles verschwiegen?“
„Was meinst Du?“ entgegnete Dorothea, deren Stolz sich sträubte, die Mutter zu verstehen.
„Nun, wenn Du freilich den Hermann nicht magst, so trifft sich’s glücklich, daß gerade der Freund unsers Hauses, der unser Glück machen kann –“
„O, kränken Sie mich nicht!“ unterbrach Dorothea heftig bewegt ihre Mutter. „Ob Stamm ein edler und wahrer Freund ist, wird sich zeigen; wie er zu dem Wahne kommt … Gott ist mein Zeuge, daß ich unschuldig daran bin!“
„Aber wenn’s doch so steht, er ist ein hübscher Mann, und angesehen auch, von guter, patricischer Familie aus Straßburg –“
„Ein Feind unsers deutschen Vaterlandes!“ rief Dorothea.
Dafür hatte Frau Hartinger keine Begriffe. „Er kann aber für uns Alles thun. Und wenn Du doch den Hermann …“
„O Mutter, Sie quälen mich!“ sagte Dorothea bittend. „Wenn Stamm wirklich edel ist, wird er für seine hülfreiche That den Preis nicht fordern, den ich ihm nicht gewähren kann. Muß ich denn,“ setzte sie mit gehobener Stimme hinzu, „wenn ich für meinen Cousin nur ein verwandtschaftliches Gefühl habe, durchaus diesem Franzosen zum Opfer gebracht werden?“
„Aber Dein Vater? Willst Du Nein sagen, wenn sie ihn zur Guillotine schleppen, wie Stamm gemeint?“
Die Mutter hatte diesmal doch den empfindlichsten Nerv getroffen; Dorothea senkte das Haupt und verstummte. Sie ließ keinen Blick in ihr Herz thun und die Mutter glaubte, sie überzeugt zu haben. Als nun Stamm sich weder an diesem, noch dem nächsten Tage im Hartinger’schen Hause zeigte und ein neuer Versuch, von dem Vater selbst Mittheilungen zu erlangen, scheiterte; als die Nachforschung, welche bei den Bürgermeistern angestellt wurde, bei der nöthigen Zurückhaltung zu nichts führte: da verdüsterten sich alle Aussichten auf eine glückliche Lösung. Dorothea hatte ihrer Mutter begreiflich gemacht, wie gefährlich es sei, von der Anschuldigung des Vaters irgend etwas verlauten zu lassen, da Niemand davon zu wissen schien, aber darum blieben sie auch in der tödtlichsten Ungewißheit. Entscheiden mußte sich aber Alles in kürzester Frist. Der Bürgermeister Mühl hatte gesagt, daß die erste Million der Brandschatzung fast abgeliefert sei und die Geiseln sodann auf freien Fuß gestellt werden sollten. Zitternd erwarteten Frau Hartinger und ihre Tochter, ob auch der Vater dabei ihnen zurückgegeben würde.
In Dorothea’s kindliche Besorgniß mischte sich aber ein starkes Gefühl des Hasses, wie ihn die Unterdrückung erzeugt. Sie konnte den Gedanken nicht loswerden, daß eine muthige Erhebung des Volkes die Stadt und das Land von ihren Drängern befreien müsse. Auf Hülfe von Kaiser und Reich war seit Jahrhunderten an keiner bedrohten Stelle mehr zu rechnen; die Heere, welche einzelne Fürsten in’s Feld gestellt, um dem unglücklichen König von Frankreich, der zu dieser Stunde noch im Gefängniß schmachtete, zu Hülfe zu kommen, hatten keine Lorbeeren gepflückt und waren fern; nur das Volk, das tapfere, deutsche Volk, wenn es sich ermannte, konnte sich selbst befreien. Aber eine sicilianische Vesper, eine Pariser Bluthochzeit in deutschen Landen? Vor diesem Gedanken schauderte das einsam sinnende Mädchen. Nicht heimtückischer Ueberfall und Mord, nur offene Erhebung zum ehrlichen Kampfe wünschte sie, und daß es in Frankfurt dazu kommen könne, wenn die Franzosen sich mit Gewalt des bei der zweiten Forderung rund abgeschlagenen Geschützes bemächtigen wollten, war ihr nach allen Anzeichen unzweifelhaft.
Endlich wurde Stamm bei Frau Hartinger wieder gemeldet, er kam diesmal mit strahlendem Angesicht, und Dorothea mußte der Mutter beipflichten: er war wirklich ein schöner Mann.
„Freuen Sie sich!“ rief er noch auf der Schwelle. „Der Gatte, der Vater wird Ihnen zurückgegeben werden. Die Untersuchung ist niedergeschlagen.“ Dorothea’s Auge traf ihn bei diesem Worte so mächtig, daß er das seinige senken mußte, ihm war, als dränge ihr Blick bis auf den Grund seiner Seele und lasse sich nichts mit arglistigen Künsten verhüllen. Er fuhr aber schnell fort: „Noch heut wird Herr Hartinger mit den übrigen Männern [372] Frankfurts, die zum Unterpfande für gewissenhafte Erfüllung der auferlegten Pflicht dienen mußten, in Freiheit gesetzt werden. Ich werde aber auch ferner wachen, daß diesem Hause – mag die nächste Zeit noch so Furchtbares bringen – kein Leid widerfahre. Es ist ja das theuerste Interesse, welches mich an dasselbe knüpft. Ja, theures Mädchen, lassen Sie mich in diesem glücklichen Augenblicke Ihrer Frau Mutter Alles gestehen und auch um ihre Zustimmung bitten, wie ich schon das Wort Ihres Vaters habe, das mich unendlich beseligt.“
Die Mutter war durch diese plötzliche Eröffnung, besonders was ihren Gatten betraf, ganz aus der Fassung gekommen; was sie erwiderte, war ohne Zusammenhang. Sie sprach von „schmeichelhaft, großer Ehre, Ueberraschung“. Dorothea, in peinlichster Ungeduld, mußte das Wort für sie nehmen; gerade, wenn Stamm ihren Vater vor einem ungerechten und überstürzten Urtheilsspruch gerettet hatte, durfte er nicht getäuscht oder hingehalten werden.
„Herr Stamm,“ begann sie mit bebender Stimme, „wir sind Ihnen zu ewigem Danke verpflichtet, aber ich darf Sie nicht in Ungewißheit lassen, daß die Andeutungen, welche Sie … der Mutter ausgesprochen haben … zürnen Sie mir nicht, wenn ich Ihnen eine Hoffnung nicht bestätigen kann – mich trifft keine Schuld –“
„O geliebtes Mädchen, ich habe Ihr Zartgefühl verletzt, in soldatischer Frankheit Sie überrascht, verzeihen Sie mir! Berathen Sie sich mit dieser edlen Frau, sprechen Sie mit Ihrem Vater. Ich bestrafe mich für meine Unvorsichtigkeit, indem ich mich aus Ihrer himmlischen Nähe verbanne; ich werde mein Schicksal mit Geduld erwarten.“
Er sagte das so rührend, daß Thränen in das Auge der Mutter traten und sie ihm, als er raschen Abschied nahm, allerdings Hoffnungen machte, während Dorothea darüber unwillig wurde.
„Kind, Du böses Mädchen, was thust Du?“ rief die Mutter, von der Thür zurückkommend. „Willst Du ihn zu unserm Feinde machen, wenn der Vater und wir Alle noch in der Gewalt der Franzosen sind?“
„Glauben Sie ihm denn, Mama?“ entgegnete Dorothea, welche mehr und mehr den Gedanken, der ihr bei dem Blick in Stamm’s Augen aufgeblitzt war, zur Klarheit brachte. „Er ist schon so sehr Franzose, daß er uns Deutsche durch das plumpste Stücklein zu bethören wähnt. Warten wir doch ab, was der Vater über die gegen ihn angestellte Untersuchung sagen wird!“ Der Mutter wurde bei dieser neuen Anschauung der Dinge ganz schwindlig; sie konnte sich mit ihrer Tochter wie schon oft bei Meinungsverschiedenheiten, in keinen Ideenkampf einlassen.
Gegen Mittag große Freude! Hartinger kehrte wirklich zu den Seinigen zurück. Die Million war bezahlt, die Geiseln wurden in Freiheit gestellt, der Stadt blieb es überlassen, beim Nationalconvent in Paris wegen der noch rückständigen Summe der Contribution Schritte zu thun. Ueber sein eigenes Schicksal ließ sich Hartinger gegen Frau und Kind nicht aus; er konnte sich über die Behandlung nicht beschweren, von einer Anklage, wie ihm Dorothea sagte, wußte er nichts, verhört war er gar nicht worden, und als Stamm sein Retter genannt wurde, rief er ungeduldig: „Laßt mich damit zufrieden! Ich habe die ganze Wirthschaft satt!“
War er geheilt von seiner Vorliebe, die mit seinen sonstigen Ansichten über die eigene Stellung und deren Vorrechte, welchen er keineswegs zu entsagen gesonnen war, schon in manchen Conflict gerathen sein mußte? Diese Frage, die so nahe lag, hätte sich dem scharfen Verstande seiner Tochter aufdrängen müssen, wenn sie nicht für sich selbst hätte denken und sorgen müssen. Denn die Mutter, obschon sie für den Moment die verdrießliche Stimmung ihres Mannes scheute, kam doch sehr bald auf Stamm zurück, weil sie nach dessen Behauptung als gewiß annehmen mußte, daß sein Antrag bereits die Zusicherung des Vaters hatte. Hartinger war mit ihr allein, als sie ihn ohne Eingang danach fragte. Er fuhr heftig auf: „Das ist gelogen!“ rief er. „Willst Du sie ihm etwa geben? Wie steht es mit Doris?“ Ohne die Antwort abzuwarten, ging er gleich nach Dorothea’s Zimmer, der Frau gebieterisch winkend, daß sie zurückbleiben solle.
„Hast Du hinter meinem Rücken ein Liebesverständniß angeknüpft?“ war seine erste, barsche Frage, als er vor seiner Tochter stand.
„Vater!“ rief sie, und ihr Ton, noch mehr ihr Blick, gab ihm die Antwort, die er forderte.
„Herr Daniel Stamm, französischer Bürger und Adjutant des hohen Bürger-Generals, hat sich auf mich berufen, hat er das?“ fuhr der Vater fort. „Er hat Euch weis gemacht, meinen Kopf der Guillotine entzogen zu haben – eine Puppenkomödie! Mit Redensarten fängt man uns nicht, das habe ich ihm gesagt, wir wollen die Wechsel, die sie auf Freiheit und alle möglichen Erdengüter ausstellen, auch durch die That honorirt sehen!“
Dorothea athmete hoch auf. Aehnliche Worte hatte sie selbst schon an ihren Vater gerichtet, der sie von sich gewiesen hatte, so lange er nicht selbst von den Consequenzen des französischen Treibens betroffen worden war. Die Tochter konnte sich diesem demüthigenden Gedanken nicht verschließen. Wie hatte er sonst auch über Stamm gedacht! Jetzt, da er so verächtlich von ihm sprach, fühlte sie sich fast berufen, ihn wenigstens gegen den Verdacht gemeinster Absichten, deren ihn der Vater zieh, in Schutz zu nehmen.
„O schweig!“ rief Hartinger. „Wenn ich Dich enterbte, würdest Du in seinen Augen auf einmal häßlich sein, wie eine Eule. Du hast ihm also keine Hoffnung gemacht? Liebst ihn nicht, bist vielleicht einem Andern gut?“ Er sagte das mit einem Ausdruck, der wahrhaft besorgt klang, und gleichsam den Lippen abgezwungen, nannte er den Namen seines Neffen, wobei er der Tochter ängstlich in das Gesicht sah.
„Ich kann nicht falsch sein,“ erwiderte Dorothea erröthend, aber mit freiem Blick. „Wie sehr es auch der Wunsch meiner Eltern scheint, ich bin dem Vetter herzlich gut, aber wie ich der Mutter schon erklärt habe …“
Hartinger schloß sie heftig in die Arme. „Mein Wunsch!“ rief er, sie auf die Stirn küssend. „Gott soll mich vor der Sünde bewahren. Nein, Kind, bleibe ihm gut, liebe ihn wie … eine Schwester! Haltet treu zusammen, ihr Beiden, als Freunde euer Leben lang, auch wenn Du einen braven Mann geheirathet haben wirst.“ Er gerieth in eine so tiefe Bewegung, daß ihm die Stimme versagte. Welches Räthsel bei dem sonst so kalten, ruhigen Manne!
[385]
Custine hatte Frankfurt mit seinem Stabe wieder verlassen und Stamm, der zu seinen Adjutanten gehörte, war ihm, nachdem er noch einen Tag mit Urlaub zurückgeblieben, gefolgt. Er hatte mit Hartinger, den er am Morgen nach seiner Freilassung besuchte, ein kurzes Gespräch gehabt und dann das Haus mit dunkelgeröthetem Gesicht verlassen, so daß es den Leuten, welche eben auf der Zeil vorübergingen, auffiel. Er hatte sogar den Hut, ohne es zu merken, verkehrt auf den Kopf geworfen.
„Der hat genug!“ sagte einer der müßigen Gesellen, welche – es war Sonntag – in einem Rudel an der Ecke der nächsten Gasse standen. „Muß ihm brav eingeschenkt worden sein bei dem Herrn Senator!“
Das war auch der Fall gewesen, wenn schon in einem andern Sinne, als Martin Sperber, der Schlossergesell, meinte. Was aber der Rathsherr mit dem Elsasser gesprochen hatte, erfuhren selbst seine Frau und Tochter nicht. „Er wird Dir’s auf’s Conto schreiben!“ seufzte die erstere. „Ach! Wenn doch nur ein Ende abzusehen wäre!“
Dem schien nicht so. Die Franzosen richteten sich darauf ein, Frankfurt wie Mainz dauernd zu behaupten. Magazine wurden angelegt, die wichtigsten Punkte der Gegend durch Verschanzungen gedeckt. Außer der Contribution forderte Custine von dem Reichs-Oberpostamt noch zweimalhunderttausend Gulden, ebensoviel von der Judengasse. Die Frankfurter Bürgerschaft blieb aber unerschrocken und treu. Sie überreichte Custine eine Schrift, welche alle Zünfte und Gewerke, Mann für Mann, mit wenigen Ausnahmen unterschrieben hatten, als Widerlegung seiner Manifeste, die von Bedrückung gesprochen hatten. In dieser Eingabe ließ sich die ganze Verfassung von Frankfurt, kurz und klar dargestellt, mit einem Blick übersehen. Es war gesagt, daß der Rath aus der Mitte der Bürgerschaft gewählt, sogar zum dritten Theile mit Handwerkern besetzt sei; daß der Verwaltung der öffentlichen Cassen Bürger zur Seite ständen und von Zeit zu Zeit der gesammten [386] Bürgerschaft Rechnung abgelegt würde; daß die Abgaben äußerst gering seien und Frankfurt sich bei dieser Verfassung glücklich und zufrieden fühle. Wenn den reichern Mitbürgern das Geld abgenommen werde, so seien die ärmern und der Mittelstand mit bestraft, weil ihr Handel und Gewerbe und ihr Verdienst abnehme. Diese erwarteten daher bei ihrer bisherigen Verfassung unverrückt belassen zu werden.
Es war ein schönes Denkmal patriotischen Bürgersinnes unter der Hand des Fremden, „eine gerechte Züchtigung für Custine’s jacobinische Heuchelei in Worten“. Er antwortete hierauf damit, daß er die Contribution wieder auf zwei Millionen erhöhte. Truppen zogen ein und aus, General van Helden wurde Commandant der Stadt, welche mit ihm übrigens zufrieden sein konnte. Der ersten Deputation, die nach Paris gesandt war, folgte jetzt eine zweite, bestehend aus dem Schöffen von Günderode, den Herren Zordis und Müller. Unterdessen ließ sich aber Custine herbei, der Stadt Frankfurt einen Schutzbrief zu verleihen, der ihr Sicherheit der Personen und des Eigenthums verhieß und außer der schon auferlegten keine weitere Contribution aufzulegen versprach. Es verbreitete sich sogar das angenehme Gerücht, daß die schon gezahlte Million wieder zurückgegeben werden sollte. Von Außen kamen gemischte Nachrichten. Man hörte, daß das Hauptquartier des „Eroberers“ nach Homburg vor der Höhe verlegt sei und daß er starke Verschanzungen bis Höchst aufwerfen lasse. Die Preußen und Hessen, hieß es, seien in Coblenz eingerückt und näherten sich von dort im Lahnthal. Zündend wirkte dann die Kunde von Gefechten, in welchen die deutschen Waffen endlich einmal siegreich gewesen waren. Bei Weilburg hatten die Hessen einen Erfolg errungen, auch Nauheim war wieder genommen worden. Der König von Preußen führte seine Armee vom Niederrhein her gegen den Taunus.
Da wurde in Frankfurt durch die Zeitungen eine seltsame Aufforderung Custine’s bekannt, diesmal nicht an das Volk, sondern an eins jener vielfach angefeindeten gekrönten Häupter gerichtet, allerdings nur in den Zeitungen. Frau Hartinger empfing ihren Mann, welcher von einem Geschäftsgang heimkehrte, mit hochgehobenem Zeitungsblatt: „Lies hier! Die Preußen haben sich mit den Franzosen alliirt! Nun ist Alles aus! Lies nur, lies, mon cher!“
„Chere mich nicht mehr, nenne mich bei meinem ehrlichen Namen Jacob. Der Zeitungsschreiber ist wohl verrückt geworden?“ Er nahm die Zeitung und las mit hochgezogenen Augenbrauen, dann lachte er laut und rief: „Nicht der Zeitungsschreiber ist verrückt, sondern Custinus, wie er auf der Gasse heißt. Du aber, Trautche, kannst weder lesen, noch capiren! Zu einer Allianz macht Custine dem Könige von Preußen nur den verrückten Vorschlag: er soll den Landgrafen mit seinem ganzen hessischen Corps unter die preußische Armee stecken und dann mit Frankreich alliirt sich auf Oesterreich werfen! Auf eine solche Impertinenz kann der König nur mit seinen Kanonen antworten.“
„Wird es hier in der Nähe losgehen?“ fragte sie furchtsam. „Dorche glaubt es.“
Er zog, wie ein entschlossener Mann, seine Westenschöße herab. „Man muß sich auf Alles gefaßt machen, Belagerung, Sturm!“
„Und Plünderung!“ setzte sie jammernd hinzu.
„Auch darauf!“ erwiderte er gelassen. „Ich habe für diesen Fall schon gesorgt. Bei mir sollen sie lange suchen!“
Ende November war’s, die Ereignisse folgten sich nun rasch. Noch unterm 23. hatte Custine in einem Schutzbrief für die Fuhrleute sich pomphaft als ersten commandirenden General der Armeen der französischen Republik am Ober- und Niederrhein, im Centrum Frankreichs und in Deutschland genannt – fünf Tage später sprengten schon preußische braune Husaren gegen das französische Piket vor dem Neuen Thore Frankfurts an und warfen sie bis in die Gärten zurück. Ein preußisches Corps hatte bei der Friedberger Warte Stellung genommen, seine Cavalerie die Bockenheimer Straße besetzt. In der Stadt entstand eine unbeschreibliche Bewegung bei dieser Nachricht, und als gegen Abend ein preußischer Stabsofficier mit einem Trompeter als Parlamentär einritt, wurde er vom Volke mit einem jubelnden Vivat begrüßt. General von Kalkreuth ließ den Commandanten von Frankfurt zur Uebergabe auffordern; dieser meldete sofort nach Mainz, von wo Custine (spät in der Nacht dem preußischen General höhnend antworten ließ: „am andern Morgen werde er ihm selbst die Schlüssel der Stadt bringen.“ Van Helden erhielt den Befehl, sich bis auf den letzten Mann zu vertheidigen und die strengsten Maßregeln gegen die unruhigen Einwohner zu ergreifen. Die Stadt war aber nur durch einen verfallenen Hauptwall und flachen Graben befestigt und die Besatzung zählte kaum zweitausendachthundert Mann mit zwei Dreipfündern, die nur dreißig Schuß hatten! Was soll man zu Custine sagen, der Alles versäumt hatte, um die Beute, welche ihm gleichsam in den Schooß gefallen war, zu behaupten? Verdiente er nicht sein späteres Schicksal, da er den Kopf, welchen ihm im folgenden Jahre die Guillotine abschnitt, schon jetzt verloren hatte? Er kam noch einmal nach Frankfurt, wo ein Versuch der Franzosen, das Zeughaus im Rannehof zu erbrechen, einen Volkstumult erregt hatte, der nur durch die Ermahnungen mehrerer Magistratspersonen und reichen Bürger gestillt worden war. Bei Custine’s Ankunft, der plötzlich mit einer kleinen Escorte einritt, bei der Hauptwache absaß und mit seinem Gefolge nach dem Römer ging, strömte ebenfalls eine große Volksmenge zusammen. Er blieb nur wenige Minuten oben, dann kam er, begleitet von den beiden Bürgermeistern, Mühl und Dr. v. Schweitzer, wieder heraus und schritt den Hut in der Hand durch die Menschen, als wolle er ihnen eine wolkenfreie Stirn zeigen. Viele meinten aber doch, daß man ihm die Unruhe ansehen könne. Ziemlich laut erklärte er den Stadtvorstehern, daß sie wegen einer Belagerung oder Beschießung unbesorgt sein möchten; er werde dem Feinde im freien Felde eine Bataille liefern und ihn zurückschlagen. Beim Gange nach der Hauptwache machte sich der Adjutant, der bei ihm war, an einen der mitgehenden Rathsherren, mit welchem er vorher nur einen kalten Blick und Gruß gewechselt hatte. „Wollen Sie mir wirklich keine Unterredung mit Ihrer Mademoiselle Tochter gestatten?“ fragte er ihn halblaut.
„Meine Tochter hat einen zu festen Charakter, als daß Sie etwas davon erwarten könnten,“ war die Antwort.
„Fester, als manche Wetterfahne!“ versetzte der Adjutant scharf und wandte sich von Hartinger trotzig ab. Da fiel sein Blick auf ein Gesicht, das ihn mit einem frechen Lächeln anstarrte. „Arrêtez cet espion-là!“ rief er den Chasseurs der Escorte zu. Ehe diese den Bezeichneten jedoch greifen konnten, war dieser in der undurchdringlichen Menschenmasse, welche ihn schützend aufnahm, verschwunden.
An der Hauptwache saß Custine wieder auf und ritt nach Höchst zurück, wo er jetzt sein Hauptquartier hatte. Ihm folgten die Bagage- und Munitionswagen, welche noch in Frankfurt waren, nach und General Helden, welchem er noch seinen frühern Befehl wiederholte, blickte bei der Rückkehr in sein Quartier traurig auf seine beiden kleinen Kanonen, die vor demselben aufgefahren waren. Die Garnison bivouakirte auf dem Walle.
Ein paar Tage vergingen, ohne daß etwas Bedeutendes vorfiel. Es war aber die Stille vor dem Gewitter. Der König von Preußen hatte den Sturm auf Frankfurt beschlossen, um noch vor den Winterquartieren das rechte Rheinufer von den Franzosen zu säubern. Dazu wurden die Truppen erst concentrirt und eingetheilt. Die Hessen sollten die Ehre des Vorkampfs haben, weil es hier die Sicherung ihres eigenen Landes galt. Sie waren der Ehre werth. Ein alter preußischer Officier, der spätere General von Valentin, sagt in seinen Erinnerungen: „Mitten im Verfalle der deutschen Truppen waren die Hessen ein stehen gebliebenes Musterbild.“ Der alte Landgraf Wilhelm, der erst seit sieben Jahren zu seinem Hanau auch Hessen-Cassel geerbt hatte, konnte stolz auf seine Truppen sein. Viele gab es darunter, welche, einst schmachvoll nach Amerika verkauft, von dort zwar keine Lorbeeren, aber den Ruhm glänzender Tapferkeit und unschätzbarer Kriegserfahrung mitgebracht hatten. Sie sollten dieselbe bewähren.
In Frankfurt, Angesichts des Feindes, dessen Cavalerie sich auf der Bornheimer Haide mit den französischen Vorposten neckte, waren die Thore nicht einmal geschlossen! Am Bußtage, der auf den 30. November fiel, zogen viele Menschen, besonders wieder die feiernden Handwerksburschen, über die niedergelassenen Brücken, um die preußischen und hessischen Truppen oberhalb der Friedberger Warte zu besuchen; am nächsten Tage wurden diese Besuche fortgesetzt, ohne daß die Franzosen sie hinderten. Auch Martin Sperber ließ sich diese Gelegenheit nicht entgehen, er hatte diesmal wieder einen Auftrag von der alten Nachbarin, der Hausmutter Weidel, und mit der ihm eigenen Dreistigkeit gelang es ihm auch, durch [387] eine gegen die Frankfurter Weingärten vorgehende Abtheilung leichter hessischer Infanterie zu kommen, welche schon nach der neuen Taktik, die sie in Amerika von den „Rebellen“ gelernt, eine aufgelöste Linie gebildet hatte. Man fragte ihn über die Franzosen aus und wies ihn auf seine Frage nach dem Lieutenant Ortenburg, der jetzt beim Jägercorps stand, zurecht. Im Lager fand er ihn aber nicht, Ortenburg war auf Feldwache und der Gesell mußte noch eine weite Wanderung machen, ehe er zu ihm kam. Der Officier erkannte ihn gleich und fragte dringend, ob er aus Frankfurt komme und etwas von seinen Verwandten wisse. Sperber entledigte sich seines Auftrages von der Frau Weidel, die den jungen Herrn grüßen und fragen ließ, ob er ihren Brief erhalten habe. Da verdüsterte sich Ortenburg’s männliches Gesicht und er schien mit der Antwort nicht gleich fertig zu sein: „Den Brief hab’ ich erhalten,“ sprach er dann, „sag’ ihr das – ob sie mir die Wahrheit geschrieben hat, werde ich morgen vielleicht schon erfahren, wenn ich lebend hineinkomme!“ Seine Handbewegung gegen die ferne Stadt ließ keinen Zweifel, was er meinte.
„Morgen schon?“ fragte Sperber eifrig.
„Morgen oder doch bald!“ erwiderte der Officier. „Geht nun mit Gott, ich werde Euch einen Jäger mitgeben, daß sie Euch vorn durchlassen. Es wird Zeit, wenn Ihr noch vor Thoresschluß kommen wollt.“
„Klopfen Sie nur bald bei uns an, Herr Lieutenant; wenn die Franzosen nicht ‚Herein‘ rufen, thun wir’s!“
Zum andern Morgen – am 2. December – war wirklich der Sturm festgesetzt und sollte nach der Disposition, welche der preußische Oberstlieutenant von Rüchel entworfen hatte, in vier hessischen Colonnen, davon eine auf Mainschiffen, ausgeführt werden. In der Nacht, bei hellem Mondschein, marschirten die Truppen nach ihren Sammelplätzen; gegen Morgen fiel ein dichter Nebel ein, unter dessen Schutz der Angriff zum Ueberfall werden konnte. Rüchel ritt selbst auf das Glacis vor der Stadt, um zu horchen, ob drinnen sich Unruhe hören lasse – Alles war still. Aber die preußische Reservecolonne ließ auf sich warten, der Herzog von Braunschweig, der überhaupt mit dem Sturm nicht einverstanden war, wie er schon bei Valmy im September den entscheidenden Angriff gegen den Wunsch des Königs verhindert, hatte jene Colonne angehalten. Rüchel jagte ihr entgegen und fand sie: „Wer hat Halt befohlen?“ schrie er wüthend.
„Der Herzog!“ antwortete man ihm von der Tête.
„Heilige Schock Donnerwetter!“ fluchte Rüchel. „Wo ist denn der große Herzog?“
„Hier!“ klang es ganz in der Nähe aus dem Nebel, es war des Herzogs Stimme.
Rüchel zog den Hut. „Durchlaucht, mir ist der Angriff übertragen, meine Ehre hängt davon ab. Niemand darf in meine Anordnungen eingreifen!“
„Lassen Sie gut sein,“ sprach aus der kaum erkennbaren Reitergruppe eine andere wohlbekannte Stimme, der König. „Ihre Disposition wird Niemand ändern.“
„Die Wege waren schlecht,“ sagte der Herzog, „die Regimenter kreuzten sich; deshalb wurde angehalten, um Alles zu sammeln.“
„Befehlen Eure Majestät also?“ fragte Rüchel und commandirte dann selbst: „Vorwärts, Marsch!“
Unterdessen war aber der Nebel gefallen, viel kostbare Zeit unbenutzt verstrichen, eine Versäumniß, die mit Blut bezahlt werden mußte. Zwar brachten zwei Fuhrleute, welche eben das Neue Thor passirt hatten, die Nachricht, daß das Thor offen stehe und der Wall unbesetzt sei; die zum Sturm auf dasselbe bestimmte vierte hessische Colonne eilte im Laufschritt vor, wurde aber schon vom Wall und Thurm mit einer Salve empfangen, während die Zugbrücke schnell aufgezogen wurde. Die dritte Colonne fand das Allerheiligen- (Hanauer-) Thor ebenfalls gesperrt und so entspann sich an beiden Punkten ein Feuergefecht, in welchem die gedeckt stehenden Franzosen den Hessen empfindliche Verluste beibrachten. Im Innern der Stadt zeigte sich jedoch unverhohlen der feindselige Geist der Bevölkerung, und General Helden, der nichts gethan, die Werke in vertheidigungsfähigen Stand zu setzen, mußte sehen, wie am Thore, wohin er sich begeben, ein tobender Volkshaufen, mit Aexten, Stangen und Knütteln bewaffnet, die Oeffnung des Thores von ihm verlangte. Viele Nationalgardisten hatten schon beim bloßen Angriff der Sturmcolonnen die Flucht ergriffen, die Wache aber ließ sich nicht beirren; die Menge wurde verjagt und Ordonnanzen sprengten zurück, die Reserve, die auf der Zeil zusammengezogen war, herbeizuholen und an jedes der angegriffenen Thore eins von den beiden Geschützen zu bringen.
„Dulden wir das, Brüder?“ schrie aus dem Volkshaufen bei der Constablerwache eine laute Stimme; es war die Sperber’s. Und mit wildem Geschrei stürzte die Menge auf die Kanonen, welche unter Bedeckung einer Compagnie vorgingen, hieb ihre Räder in Stücke und warf auch die Munitionswagen um. In demselben Augenblicke schlugen die ersten preußischen Bomben von der schweren Batterie, welche der dritten Colonne beigegeben war, auf der Zeil ein und bewirkten ein allgemeines Auseinanderstäuben, nicht blos der Frankfurter, sondern auch der Franzosen, welche mit Ausnahme zweier Liniencompagnien in unaufhaltsamer Flucht dem Bockenheimer Thore zustürzten. Sie rissen die dortige Wache sammt der Wallbesatzung mit sich fort, als der Ruf der Bürger erscholl: „Die Hessen sind in der Stadt! Sie geben keinen Pardon!“ Das war allerdings noch verfrüht. Helden dachte aber unter solchen Umständen an Capitulation, und als er am Thore von seinen eigenen Leuten verhindert wurde, Unterhandlungen anzuknüpfen, ritt er resignirt nach seiner Wohnung zurück und verbot sogar einer Abtheilung Linieninfanterie, die sich mit den Waffen einen Weg zum Thore bahnen wollte, ihr Vorhaben.
Das Feuer an beiden Thoren dauerte fort, für die Hessen ziemlich mörderisch, da gelang es ihren Geschützen, gegen halb zehn Uhr die kleine Zugbrücke für Fußgänger am Neuen oder Friedberger Thore herunterzuschießen.
„D’rauf und d’ran jetzt, Brüder!“ schrie wieder dieselbe Stimme von der Zeil, und Sperber’s Meister, der nun auch dabei war, schrie noch lauter „Hurrah!“ dazu. Die handfesten Gesellen warfen sich auf die französische Thorwache, entwaffneten sie, Andere, mit Schmiedehämmern, sprengten die Kette der großen Zugbrücke, daß diese herniederrasselte. „Victoria!“ brüllte es aus hundert Kehlen, und das erste Bataillon hessischer Gardegrenadiere stürmte in das Thor, auf den Wall, wo die Franzosen noch Widerstand leisteten, während das erste Bataillon Garde unter Oberst Benning mit Trommelschlag und Siegesgeschrei in die Stadt, die Friedberger Gasse zur Zeil hinauf, vordrang, Alles vor sich her zurückwerfend und, was sich zur Wehr setzte, niederstoßend. Andere Bataillone folgten. Ein unermeßlicher Jubel empfing die hessische Colonne; aus allen Fenstern wehten weiße Tücher, Damen eilten in ihrer Exaltation auf die Straße und umarmten den ersten Officier oder Gemeinen, den sie vor sich sahen. „Victoria, Victoria!“ überall, aber auch: „Tod dem Custinus! Der Custinus soll sterben!“ Der war nicht hier, aber einer seiner Adjutanten, dessen Milchgesicht man sich wohl gemerkt hatte, wurde abgefaßt, als er eben aus des Rathsherrn Hartinger Hause stürzte und, siehe da, den alten Herrn, von zwei Chasseurs gepackt, mit sich fortschleppen wollte. Hartinger war im Nu befreit und den Adjutanten hätte das Volk in Stücke zerrissen, wenn ihn nicht Einer, der die Menge geführt, geschützt hätte. „Thut ihm nichts,“ schrie er, den Todtblassen mit seinem Leibe deckend, „er hat mir einmal das Leben gerettet!“ Und als die Nächsten verdutzt abließen, brach sich der Beschützer mit dem Gefangenen Bahn zur nächsten Ecke. „Nun mach’, daß Du fortkommst. Du hast mir’s Leben gerettet, das vergißt ein deutsches Herz nicht! Vergiß Du’s auch nicht!“ Es war der Sperber.
Die Zeil entlang donnerte jetzt die Carriere einer geschlossenen Reitermasse. Es war die hessische Cavalerie, welche zur Verfolgung der Flüchtlinge ging. Vier- bis fünfhundert Mann wurden noch eingeholt; Viele warfen sich beim Herannahen der Reiter auf die Kniee und baten um ihr Leben, hatten aber in der Todesangst die Waffen nicht abgelegt. Um bei der Erbitterung der Hessen ein Blutbad zu verhüten, jagte der Oberst von Staal, Commandeur der Garde du corps, voraus und commandirte den Franzosen statt ihres Officiers: „déposez les armes!“ worauf die Gewehre zu Boden klirrten und Alles gefangen wurde, wie in der Stadt schon General Helden mit etwa achthundert Mann. Ein Versuch des Generals Neuwinger, von Bockenheim aus der Besatzung zu Hülfe zu kommen, wurde abgewiesen. Bald nach dem geglückten Sturme hielt der König von Preußen mit dem Herzoge von Braunschweig und einem glänzenden Gefolge unter einem neuerwachenden Jubel des Volkes seinen Einzug. Die alte Reichsstadt war befreit.
Auch aus Hartinger’s Fenstern hatten weiße Tücher geweht, [388] aber vergebens blickten die Bewohner unter den Siegern nach dem Einen aus, den sie mit Sehnsucht erwarteten. Die Jäger hatten am Bockenheimer Thore gekämpft, wie man später erfuhr. Bei dem Tumult, jetzt der Freude, war keine Nachforschung von Erfolg. Der Abend sank, da klopfte es unten stark an die verschlossene Hausthür. „Hermann!“ sagte Hartinger erschreckend; er war von der erlittenen Gefahr, der er nur durch ein Wunder entronnen war, noch sehr schwach.
Aber nicht Hermann stand vor der alten Amme, als diese die Hausthür öffnete, sondern der Schlossergesell Sperber. „Mutter Weidel, er liegt in einem Hause vorm Thor, schändlich in die Brust geschossen,“ sagte der Bursch. „Sie möchten doch zu ihm kommen.“ Die Alte stand wie erstarrt. „Ich bringe Sie hin,“ setzte Sperber hinzu.
Sie brachte erst die Nachricht herauf, ohne Schonung, wie sie gewohnt war. Der Vater wurde leichenblaß und sagte kein Wort, Frau Hartinger brach in laute Klagen aus, Dorothea fragte tief erschüttert nach der Gefahr der Wunde und ob ärztliche Hülfe zur Hand sei. O, daß sie die alte Frau, der nun noch ein Diener mitgegeben wurde, nicht begleiten durfte!
„Wenn er stirbt, er weiß Alles, ich hab’s ihm geschrieben,“ sagte die Amme zu ihrem Herrn. „Wiederkommen thue ich heut nicht, aber der Mappes soll Bescheid bringen, wie’s steht.“
„Was soll Hermann wissen?“ fragte Frau Hartinger, als die Alte sich entfernt hatte.
„Laßt mich, Kinder,“ bat der Vater schwach, indem er die Augen mit der Hand bedeckte. „Heute geht es Schlag auf Schlag!“ Darin hatte er Recht. Erst der Ueberfall Stamm’s, der, von Custine als Berichterstatter hierher geschickt, sich auf eigene Hand an Hartinger rächen wollte; einer Untersuchung bedurfte das französische Verfahren gegen die Feinde der Republik nicht; wenn Hartinger von Custine’s Adjutant angeklagt wurde, war er schuldig und verloren. Dann der Sturm, das Bombardement und nun …
Frau Hartinger gab ihm wohl Zeit, sich zu fassen, als sie aber allein mit ihm war, mußte er beichten. Er war der Alte nicht mehr, seine ganze Energie gebrochen, sonst würde er ihre dringenden Fragen zurückgewiesen haben. Jetzt war es ihm aber wohl selbst eine Erleichterung, und so gestand er ihr, daß Hermann – sein Sohn sei … vor seiner Verheirathung noch … die schöne Tochter der Amme, welche Goethe zum Theater gebracht … und die nachher vor Gram gestorben war …
Die gekränkte Frau brach in heftiges Weinen aus, ihre bisherige Vorliebe für Hermann schien sich in Abneigung zu verwandeln, aber bald siegte ihr gutes Herz und sie weinte nun auch über ihn, am meisten jedoch über sich selbst. Gegen Dorothea unverbrüchlich zu schweigen, wie der gedemüthigte Mann sie bat, versprach sie willig: warum sollte das Kind erfahren, was sie betrüben mußte? Starb Hermann, so war Alles vorbei, genas er, so verstand er nun seine Neigung zu Dorothea in der rechten Weise.
Als es am andern Morgen kaum hell geworden war, mußte der Diener, welcher am Abend einen sehr unbestimmten Bescheid gebracht, wieder hinaus gehen. Diesmal klang sein Bericht tröstlicher; die Kugel war aus der Wunde entfernt, der Doctor gab die beste Hoffnung. So fand sich denn, nachdem die nächsten Tage in der Stadt einigermaßen die Ruhe wieder hergestellt hatten, auch im Hartinger’schen Hause die Ruhe wieder, denn der letzte, ganz entschiedene Ausspruch des Hausarztes, der zu dem Verwundeten geschickt worden war, stellte dessen, baldige gefahrlose Herschaffung zu besserer Pflege und seiner Zeit seine völlige Genesung außer allem Zweifel.
In Frankfurt gerieth jetzt die Bevölkerung in Harnisch über einen Artikel der Mainzer National-Zeitung, betitelt: „Die Frankfurter Adventsfeier. Ein Seitenstück zur Bartholomäusnacht und der sicilianischen Vesper“. Danach hatten die Frankfurter den 2. December, den ersten Adventssonntag, im Einverständniß mit dem Könige von Preußen und Landgrafen von Hessen, zum Mordtage bestimmt und waren heimtückisch über die Franzosen, welche eine sechsfache Uebermacht der Hessen nicht zu besiegen vermocht, hergefallen, um sie meuchlings zu morden. Der Schluß lautete: „Frankfurter! Diesen Advent werdet ihr, trotz eurer feilen Zeitungen, nicht aus den Jahrbüchern eurer Geschichte auslöschen. Buben auf der Straße werden euch anspeien, der Name Frankfurt wird der Welt ein Abscheu sein, derjenige Franzose ist verachtungswerth, der euch ansehen kann, ohne euch zu würgen. Euch und euren Namen zu vertilgen, sei der Schwur, den jeder freie Mann auf dem Altare des Vaterlandes ablegen wird; ich thue ihn freiwillig und ich werde ihn halten. Daniel Stamm, Adjutant des Generals. Donnerstag, den 6. December 1792, im ersten Jahre der deutschen Freiheit.“
Bravo! Der Zorn der verleumdeten Frankfurter verwandelte sich bald in Gelächter. Deutschland verzichtete auf jene Freiheit und der Krieg nahm seinen Fortgang, der anfangs glorreich war, dann aber, nachdem Preußen für sich Frieden geschlossen hatte, zu einem übeln Ausgang führte. Das linke Rheinufer war verloren, Frankfurt aber blieb deutsch und konnte mit Befriedigung auf seinen Advent des Jahres 1792 zurücksehen.
Ortenburg genas langsam. Als für ihn keine Gefahr mehr war, hatte der Vater eine für Beide tief ergreifende Unterredung mit ihm, worauf er sich lange in sein Zimmer verschloß. Ihr Verhältniß blieb der Welt verborgen; die Amme nahm das Geheimniß bald mit sich in das Grab und Dorothea erfuhr nie etwas davon. Sie bemerkte allmählich, daß Hermann anders gegen sie war, herzlich noch immer, aber doch anders und – ein Stein fiel ihr vom Herzen. Ihr Freund blieb er ja immer. Als er genesen war, ging er zu seinem Corps zurück, kämpfte in Flandern bis zum Basler Frieden, dann unter österreichischen, später britischen Fahnen, immer gegen denselben Feind Deutschlands, dessen Sturz er endlich erlebte. Einen eigenen Heerd sich zu gründen, war ihm nicht beschieden. Dorothea aber heirathete einen braven Mann, wenn auch nicht, wie ihre Eltern gewünscht, aus einem der ersten Geschlechter Frankfurts, doch aus gutem, solidem Hause, so daß der Eidam die Firma einst fortführen konnte. Ob der ehrliche Sperber, der nach dem „Frankfurter Advent“ wieder auf die Wanderschaft gegangen, irgendwo Bürger und Meister geworden ist, wissen wir nicht. Daniel Stamm blieb Frankfurt die geschworene Rache schuldig, auch dem den französischen Ideen abtrünnig gewordenen Hartinger, nicht weil er „ein deutsches Herz“ besaß, sondern weil ihm Macht und Gelegenheit fehlten.
Wir wünschen das aufrichtig allen Feinden deutscher Nation!