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Der Fall Wenkley

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Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Der Fall Wenkley
Untertitel:
aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 11, S. 199–203
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Erscheinungsdatum: 1912
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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(Nachdruck verboten.)

Der Fall Wenkley. – Sir Edward Horace Wenkley, dritter Sohn des Lords Horace Wenkley, war schon von Jugend an ein rechter Taugenichts. Außerordentlich begabt, ging er eines schönen Tages durch und tauchte als Kriegskorrespondent eines Londoner Blattes in Indien wieder auf. Die Artikel, die Edward Wenkley für diese Zeitung über den damals in Nordindien wütenden Aufstand schrieb, zeichneten sich weniger durch Wahrheitsliebe als vielmehr durch glänzenden Stil und eine wilde, farbenprächtige Phantasie aus. Jedenfalls wurde sein Name durch diese Schilderungen weit und breit bekannt, und als er ein Jahr später nach England zurückkehrte, nahmen ihm die Redaktionen mit Freuden seine zumeist in Indien spielenden Novellen und Erzählungen ab.

Zu des jungen Schriftstellers Unglück fiel ihm bald darauf ein Erbteil von zwanzigtausend Pfund zu. Edward Wenkley hatte nichts Eiligeres zu tun, als nach Monte Carlo zu fahren und seine gesamte Erbschaft – zu verspielen. Dann tauchte er wieder in London auf, schrieb hin und wieder eine kleine Novelle, die ihm stets recht anständig bezahlt wurde, lebte aber in der Hauptsache von dem Gelde fremder Leute, die er mit Meisterschaft anzupumpen wußte. Nach Ablauf eines Jahres waren seine Schulden derart angewachsen, daß verschiedene seiner Gläubiger ihn bereits wegen Betruges anzeigen wollten. In dieser Notlage wandte er sich an seinen ältesten Bruder, der mit dem Lordtitel auch das ungeheure Vermögen der Wenkleys geerbt hatte. Die Brüder, schon seit Jahren entfremdet, kamen durch diese dringend notwendige Schuldenregulierung vollständig auseinander. Lord Wenkley bezahlte [200] zwar alles, sagte sich aber im übrigen für alle Zeiten von dem jüngsten, mißratenen Sproß seines Geschlechtes los.

Den jungen Edward brachte diese förmliche Ausstoßung aus seiner Familie doch für einige Zeit zur Vernunft. Er arbeitete fleißig, mied den Spieltisch und lebte recht bescheiden und in einer seinen Einnahmen angemessenen Weise. Leider war aber sein Hang zu leichtsinnigen Geldausgaben größer als seine Energie. Bald geriet er wieder auf die schiefe Bahn, und da sich stets Leute finden, die dem Träger eines alten Namens gegen hohe Zinsen Geld zu leihen bereit sind, steckte er nach einiger Zeit abermals bis über beide Ohren in Schulden. Aber diesmal blieb der ältere Bruder allen Bitten gegenüber völlig taub. Edward Wenkley verschwand deshalb aus London und ließ eine Schar trauernder Gläubiger zurück.

Ein halbes Jahr lang hörte man nicht das geringste von ihm. Dann erhielt Lord Wenkley im Mai 1889 ein Telegramm aus Palermo, in dem der dortige englische Konsul ihm mitteilte, daß Sir Edward Wenkley bei einem Ausfluge in die Berge von Alcamo von sizilianischen Briganten entführt worden sei, und zugleich anfragte, ob der Lord das für seinen jüngeren Bruder geforderte Lösegeld von fünftausend Pfund Sterling bezahlen wolle.

Lord Wenkley fragte zunächst seinerseits an, was sein Bruder denn in Sizilien getrieben habe und wie es mit den näheren Umständen von dessen Gefangennahme stände. Die briefliche Auskunft des Konsuls lautete dahin, daß Sir Edward bereits mehrere Monate das unweit von Palermo gelegene Gut des italienischen Fürsten Giarnova verwaltet und sich in der englischen Kolonie Palermos infolge seiner liebenswürdigen Bescheidenheit die größten Sympathien errungen habe. Bei einer Geschäftsreise nach Alcamo, die er in Begleitung eines Unterbeamten des Konsulats antrat, der in Alcamo ebenfalls dienstlich zu tun hatte, sei er dann von drei Banditen überfallen und in die Berge verschleppt worden. Den Konsulatsbeamten hätten die Briganten unbehelligt laufen lassen und ihm ein Schreiben mitgegeben, worin sie das angegebene Lösegeld verlangten, das bis zum 1. Juli bezahlt sein müsse. Andernfalls [201] würde man Sir Edward lebend nicht wiedersehen. Und diese Drohung, fügte der Konsul seinem Briefe hinzu, dürfte prompt ausgeführt werden.

Lord Wenkley zögerte jedoch trotzdem noch, das Geld für seinen Bruder zu opfern, und ließ beinahe zwei Wochen verstreichen, ehe er den Konsul in seinem Antwortschreiben bat, womöglich durch Verhandlungen mit den Briganten eine Herabsetzung des Lösegeldes zu erreichen.

Inzwischen war die Entführungsgeschichte mit allen Einzelheiten in die englischen Zeitungen gelangt. Findige Reporter hatten auch herausbekommen, daß der millionenschwere Lord nicht allzuviel Neigung verspürte, den Jüngsten seines Geschlechts aus den Händen der Räuber loszukaufen. Ein Sturm der Entrüstung erhob sich, als diese Handlungsweise des Lords in bissigen Artikeln in den meisten Blättern als eines Engländers unwürdig gebrandmarkt wurde. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung gab Lord Wenkley nunmehr schleunigst nach und ließ dem Konsul telegraphisch die verlangte Summe übermitteln.

Zwei Tage später traf jedoch eine neue Depesche des Konsuls ein. Die Briganten hätten, gereizt durch die Verzögerung der Auszahlung des Lösegeldes, ihre Forderung auf achttausend Pfund erhöht. Er bäte um schnellste Überweisung des Restes, da durch eine weitere Hinausschiebung die schwerste Lebensgefahr für den Gefangenen entstehen könne.

Lord Wenkley mußte in den sauren Apfel beißen. Es half ihm nichts. Am 28. Juni 1889 traf Sir Edward, nachdem die Banditen sich die ganze Summe durch einen Vermittler unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln hatten aushändigen lassen, wohlbehalten in Palermo wieder ein, und die englische Kolonie feierte seine Befreiung durch ein Fest, an dem sogar die meisten Offiziere des gerade vor Palermo liegenden englischen Mittelmeergeschwaders teilnahmen.

Acht Tage nach dem großartigen Fest brachte die gelesenste Zeitung von Palermo einen Artikel, der ungeheures Aufsehen erregte. Auf der Redaktion des genannten Blattes hatte sich in einer Verkleidung der damals weit und breit berüchtigte [202] sizilianische Brigant Andreas Bonio eingefunden und den Chefredakteur zu sprechen gewünscht. Diesem erklärte er, er habe durch sorgfältige Ermittlungen festgestellt, daß die ganze Entführungsgeschichte des Sir Edward Wenkley nichts anderes als eine sehr geschickt inszenierte Mystifikation sei. Er habe, als die ersten Nachrichten über diesen angeblichen neuesten Banditenstreich durch die Blätter gingen, herausbekommen wollen, von welchen Konkurrenten ihm dieser fette Bissen weggeschnappt worden sei. Aber all seine Nachfragen unter seinen „Kollegen“ hätten keinerlei Ergebnis gehabt. Niemand kannte die Namen der drei Briganten, mit denen diese ihre an den englischen Konsul gerichteten Briefe unterzeichneten. Schließlich sei er daher auf die Vermutung gekommen, daß hier irgend ein grober Schwindel vorliegen müsse, und infolge seiner weitverzweigten Verbindungen habe er in Erfahrung gebracht, daß Sir Edward Wenkley den ganzen Entführungsplan selbst entworfen und mit Hilfe dreier jugendlichen Arbeiter des von ihm verwalteten Gutes ausgeführt habe. Diese von Wenkley bestochenen Leute hätten, als Banditen kostümiert, den Überfall auf die beiden Herren an vorher genau verabredeter Stelle unternommen. Der angeblich entführte Engländer sei dann während der acht Wochen seiner vorgetäuschten Gefangenschaft in einer einsam gelegenen Hütte im Gebirge verborgen gewesen und habe dort herrlich und in Freuden gelebt, wie leicht aus den dort vorgefundenen leeren Konservenbüchsen, Champagnerflaschen und ähnlichem zu erkennen sei. Zum Beweise für die Wahrheit seiner Angaben nannte Andreas Bonio die Namen der drei Helfershelfer Wenkleys, verließ darauf das Redaktionsgebäude und ebenso unangefochten die Stadt, trotzdem für seine Ergreifung eine Belohnung von tausend Lire von der Regierung ausgesetzt war[1].

Als die Zeitung mit dem sensationellen Artikel erschienen war, machten sich einige von Sir Edwards Bekannten sofort auf den Weg, um dem so schwer Angegriffenen, der sich bereits wieder auf das fürstliche Gut begeben hatte, die betreffende [203] Nummer zu überbringen und ihn zu einem energischen Vorgehen gegen die Verbreiterin dieser verleumderischen Verdächtigungen, jene Zeitung, zu veranlassen. Aber man traf Sir Edward nicht mehr an. Er sei bereits vor zwei Tagen abgereist, erklärte der Rendant des Gutes achselzuckend. Wohin er sich gewandt habe, wisse man nicht.

Erst im Jahre 1900 kam eine Nachricht über den Verschollenen. Er hatte sich in Südafrika mit dem „Lösegeld“ ein großes Gut gekauft und war dort als reicher Mann gestorben.

W. K.



  1. Bonio wurde am 2. September 1892 in Messina wegen verschiedener Morde hingerichtet.