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Der Doppelgänger (Levin Schücking)

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Textdaten
Autor: Levin Schücking
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Titel: Der Doppelgänger
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 45–52, S. 749–752, 765–768, 781–784, 797–800, 813–816, 829–832, 845–848, 861-864 und Jahrgang 1876, Heft 2–4, S. 38–40, 50–54, 73–75
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[749]
Der Doppelgänger.
Erzählung von Levin Schücking.
1.

„Ihr habt Euch doch durch all die böse Zeit Eure wunderschönen Eichen gerettet, Meyer Jochmaring; es ist eine Pracht, wie weit sie mit den alten Aesten ausgreifen, bis über den Wasserspiegel hinaus.“

Diese Worte sprach eine schlanke und zierlich gewachsene, einfach gekleidete junge Dame, deren Züge eine auffallende aristokratische Schönheit zeigten, zu einem reckenhaften alten Bauern, der in einer grauen Zwillichjacke und dunkeln manchesternen Kniehosen mit Zinnschnallen neben ihr auf einer Bank unter den gerühmten Eichen saß.

Sie hatte Recht; diese Eichen waren von merkwürdiger, malerischer Schönheit; sie standen auf dem Baumanger hinter einem sehr langen strohgedeckten Bauernhause, das ganz pittoresk auf einer Art breiten Halbinsel lag. Ein schmaler Fluß umgab nämlich das Gehöft mit seinen fünf oder sechs verschiedenen Gebäulichkeiten und trat ziemlich dicht an die Rückseite des Wohnhauses heran.

„Mein Vater,“ fuhr die Dame fort, „gäbe viel darum, wenn er eine solche Baumgruppe in seinem Parke hätte.“

Der Bauer sah mit einem zufriedenen Blicke zu dem dichtbelaubten Geäste auf und sagte dann lächelnd: „Es ist wahr, die Bäume sind schön. Und was Euer Vater in seinem Parke hat, das sind auch schöne Bäume; aber es ist meist um des schnellen Wachsens willen gepflanzt und ist kein solches Eichenholz. Und was Eure Wälder angeht, nun ja, damit kann sich Unsereins nicht messen; ich hab’ mir sagen lassen, daß vierzig- bis fünfzigtausend Morgen Wald zum Fürstenthume gehören, aber solche Eichen sind jetzt auch da nicht mehr zu finden. Waren schon da, waren viele da, zu Eueres Großvaters Zeiten; seitdem aber …“

„Seitdem,“ sagte mit einem Seufzer das junge Mädchen, „hat der Sturm der Zeit sie mit fortgenommen.“

Der Bauer nickte. „An diese da,“ fuhr er dann fort, „kommt mir der Sturm der Zeit nicht. Nur wenn ein Meyer stirbt auf dem Jochmaringhofe, dann geht eine von ihnen mit ihm zu Grabe, dann wird eine von ihnen gefällt, daß er in seinem eigenen Holze weggetragen werden kann; wenn eine Axt wider Eichenholz klingt auf dem Hofe des Meyer’s von Jochmaring, dann ist’s ein Zeichen, daß der Meyer todt ist.“

„Ich weiß es,“ sagte die Dame. „Ihr haltet die alten Bräuche in Ehren. Und ein alter Brauch ist’s auch, denke ich, daß der Meyer Jochmaring zu seinem Fürsten steht und ihm hilft, wo er vermag, und so wieder der Fürst dem Meyer; Ihr wäret damals von den Franzosen nicht losgekommen, als Euer Sohn sich vor der Conscription verborgen hatte; wäre der Fürst nicht selbst hingereist, um den General Dusaillant zu bewegen, daß sie Euch losließen.“

„Ja,“ sagte der Bauer, „der Fürst ist selber darum hingereist und hat’s gutzumachen gewußt. – Ich habe ihm die Reisekosten ersetzt,“ setzte er dann hinzu.

Ueber die Züge der Dame legte sich ein Ausdruck von Unwillen; sie mochte Undank, vielleicht auch einen Ton von Sarkasmus heraushören aus dieser Antwort. Doch sprach sie nicht aus, was sie leicht erröthen machte; sie fuhr nur fort:

„Er hat das wohl schwerlich verlangt, denn der alte Brauch ist, daß Einer zum Andern steht, ohne darüber abzurechnen.“

„Und Ihr beginnt doch zu rechnen,“ sagte der Bauer mit verschmitztem Lächeln.

„Ich wollte es Euch nicht vorrechnen, sondern nur daran erinnern, weil ich mich gern erinnere, und es nichts Geringes ist, solch uralter Zusammenhang der Dinge und der Menschen. Sind doch nun schon tausend Jahre vergangen, seitdem die Enkel Wittekind’s auf der Stelle sitzen, auf der wir noch heute wohnen und die wir seitdem als unser Erbgut inne gehabt haben, und ebenso lange ist’s her, daß die Enkel Dessen, der mit Wittekind als seinem Gefolgsherrn in die Schlacht zog, auf diesem Hofe sitzen und daß Beider Blut getreulich zusammengehalten hat.“

„Das ist an Dem, Prinzeß, das ist wahr,“ sagte der Bauer kopfnickend; dann aber die Brauen zusammenziehend, setzte er hinzu: „Aber Ihr Leute vom Schlosse da drüben erinnert Euch immer dessen am lebhaftesten, wenn Meyer Jochmaring den Beutel aufthun soll. Nehmt’s nicht ungütig, Durchlaucht!“

„Ihr seid boshaft,“ versetzte die Durchlaucht leicht erblassend und die Lippen beißend; „glaubt Ihr, der Gang zu Euch sei mir leicht geworden? Ihr solltet mir ihn nicht erschweren!“

Eine Pause folgte. Der Bauer räusperte sich, zog eine kurze Pfeife aus der Seitentasche, und dann wie in Gedanken, daß er sie doch in Gegenwart der Durchlaucht wohl nicht anzünden dürfe, steckte er sie rasch wieder ein und sagte: „Für Euren Bruder, den Prinzen Adolf, also?“

„Für ihn, wie ich Euch sagte, da die Franzosen ihn trotz der Militärfreiheit, die ihm als einem deutschen Fürstensohne gebührt, zum Dienste zwingen, zu ihrer Garde d’Honneur, wie sie es nennen, worin sie die Söhne der angesehensten Leute im Lande aufnehmen, damit, wie sie sagen, ihr Kaiser eine [750] Ehrengarde habe; in der That aber, um sich ihrer als Geiseln für die Treue und Ruhe des Landes zu bemächtigen.

„Ja, ich weiß,“ versetzte der Bauer, „sie lassen sie eintreten; sie ziehen sie dann nach Frankreich hinüber und dort …“

„Müssen sie auf eigene Kosten leben, ihre Equipirung, ihre kostbaren Uniformen sich selbst anschaffen.“

„Es mag Geld, viel Geld kosten,“ sagte der Meyer, „und doch gäb’ ich’s, weiß Gott der Herr, mit Freuden für meinen Anerben hin, wüßt’ ich ihn als Garde d’Honneur sicher in Frankreich. Unsereinem nehmen sie die Söhne ohne so viel Umstände fort und schicken sie nach Spanien oder schleppen sie nach Rußland in den Tod und elendiglichen Untergang, daß es einen Stein erbarmen könnte.“

„Es ist wahr,“ versetzte die Prinzessin, „der armen Menschen Schicksal ist fürchterlich, aber Ihr könnt doch noch von Glück sagen, Jochmaring, daß Euer Anerbe nicht hat nach Rußland ziehen müssen, sondern nur nach Spanien.“

„Nur nach Spanien!“ echoete der Meyer mit bitterer Betonung. „Nun ja, die meisten von dem jungen Volke aus dieser Gegend haben nach Spanien müssen. Aber wie viel werden zurückkommen?“

„Euer Anerbe wird zurückkommen, Meyer – vertraut auf Gott!“ sagte die Prinzessin fast zärtlich, indem sie die Hand auf des alten Mannes Schulter legte. „Ihr habt ja Nachrichten von ihm, denk’ ich.“

„Die hab’ ich,“ sagte der Bauer. „Nachrichten durch Einen, der zurückgekommen ist.“

„Und dann,“ fuhr die junge Dame fort, „berichten ja auch die Zeitungen, daß der Kaiser die Truppen aus Spanien sammt und sonders herbeikommen läßt, um sie hier in Deutschland im Kriege zu gebrauchen.“

„Damit sie hier wider ihre eigenen Landsleute fechten.“

„Das müßt Ihr dann Gott anheimstellen,“ entgegnete die Prinzessin, „es hat Niemand eine Ahnung, was aus dem ganzen Kriege wird, und ob es den Alliirten nicht bald gelingt, uns wieder zu freien Menschen zu machen.“

Der Bauer seufzte. „Ja, das sagt Ihr wohl so, Prinzeß,“ sagte er. „Zu freien Menschen! Es kommt nur darauf an, wie die Freiheit aussehen wird. Des Einen Freiheit ist nicht des Andern Freiheit. Für Euch im Schlosse, da ist die Freiheit, daß Euer Vater wieder der regierende Herr ist wie vormals und seine Soldaten hält wie vormals, wenn’s auch nur ein gar kleiner Trupp ist, und daß all’ die Räthe und Schreiber von vormals wieder oben aufkommen, und die alten Heberegister und Bücher wieder gelten, worin die Hand- und die Spanndienste und die Wart- und Lehngelder geschrieben stehen, was jeder Meyer und jeder Kotten leisten muß – Jahr aus, Jahr ein. Das ist Eure Freiheit. Die ist nun schon lange zu End’, und jetzt hat der Franzose Freiheit im Lande, daß er uns die Söhne nehmen darf zu seinen Kriegen und den letzten Groschen aus den Taschen zu seinen Steuern. Wenn die Alliirten das abstellen können, so will ich Gott danken, aber zuerst frag’ ich, ob denn nun einmal die Freiheit an die Bauern kommen soll – und obwohl ich denke, daß es Zeit wär’, so hab’ ich doch kein Zutrauen darauf. Und so lange – seht, Prinzessin Durchlaucht, es war eine schöne und friedliche Zeit, als Euer Vater noch unser Herr war in unserem eigenen Lande für uns, das seine eigenen Manieren und Bräuche hatte, seine eigenen Bauerntage und Holzgedinge und die Schmalgänge und die Markengerichte, und wenn Euer Großvater und Euer Vater seine Jagden hielt mit fremden fürstlichen Herrschaften und das junge Volk aus den Bauernschaften aufgeboten war zum Treiben und wir am schönen Herbstmorgen lustig durch die Wälder hallohten, mit den Halbmonden und Hifthörnern der fürstlichen Jäger in die Wette – sicherlich, das war Alles recht schön und lustig dazumal, und weil der Mensch es nicht besser kannte, ließ er sich’s gefallen, aber das nehmt mir nicht übel, wenn jetzt die alte Plackerei und Schinderei von Neuem beginnen sollten – lieber möchte ich, daß die Axt klänge an einen dieser alten Eichenstämme da.“

Nachdem der Meyer von Jochmaring diesen energischen Protest gegen die Glückseligkeiten der guten alten Zeit gesprochen, stand er auf.

„Jetzt will ich gehen und Euch das Geld holen,“ sagte er. „Dreihundert Thaler. Es ist all mein Erspartes, was die böse Zeit mir übrig gelassen hat, und Ihr sollt es haben. Prinzeß, weil Ihr Euch nicht umsonst an Meyer Jochmaring gewandt haben sollt.“

„Ich danke Euch, Meyer,“ versicherte die Prinzessin, „der Jäger soll Euch morgen einen Schuldschein bringen.“

„Dessen bedarf’s zwischen dem Fürsten und Meyer Jochmaring nicht,“ versetzte der Bauer und ging in’s Haus.

Bald nachher kam er, aus der Seitenthür des langen Hauses schreitend, zurück und trug einen leinenen Beutel in der Hand. Eine ältliche Person in der Tracht einer herrschaftlichen Dienerin kam mit ihm aus dem Hause und blieb unfern von der Prinzessin stehen, als der Bauer dieser seinen kleinen Schatz überreichte. Sie nahm ihn und reichte dem Meyer die Hand.

„Ich danke Euch, Meyer Jochmaring, von Herzen.“

„Nicht zu danken, Durchlaucht! Gebt es Eurem Mädchen zu tragen, denn es ist schwer.“

Das Mädchen nahm den Beutel, legte ihn zum bequemeren Tragen auf ihren Arm, und die Prinzessin trat nun mit ihrer Dienerin den Heimweg an.

Es war natürlich, daß sie sich auf diesem Heimwege in keiner mittheilsamen Stimmung befand, das junge Mädchen, das einen für ihre Lebensstellung so demüthigenden Gang hatte machen müssen. Auf ihrer schönen kindlich vorgewölbten Stirn lag ein sorglicher Ausdruck, ein bitterer Zug um den kleinen Mund mit den feingeschweiften rosigen Lippen. Das Elend des Vaterlandes und die in dieser schweren Zeit so oft eintretenden, vor den Augen der Welt sorglich gehüteten Verlegenheiten des Vaterhauses mußten schwer auf ihrem jungen Herzen liegen, und es mochte ein schlechter Trost für sie sein, sich zu sagen, daß solcher Perioden in der Geschichte ihres Hauses mehr als eine gewesen. Daß es in den guten alten Zeiten in den meisten kleinen Fürstenhäusern, auf den jetzt so stolzen und stattlich mit breiten Thürmen sich erhebenden Edelhöfen der ersten Geschlechter nicht besser ausgesehen, daß sie sammt und sonders durch die Jahrhunderte im eigentlichen Sinne des Wortes sich durchgeschlagen mit Noth und Kummer, im Hader um Pfennige mit den Hörigen, im Drucke der Verpflichtungen gegen Juden und Christen, das wußte sie ja nicht einmal. Was sie wußte, war, daß sie um des sorgenerfüllten Vaters, um des bedrängten Bruders willen den sauern Gang gemacht – und mit diesem Gedanken wappnete sich ihr kleiner Stolz, verband sie die Wunde, aus der ihr fürstliches Selbstbewußtsein blutete.

Sie ging mit ihrem Mädchen, nachdem sie den mit einem Hürdenzaune umgebenen Hof verlassen, einem Fußpfade nach, der sie bald in den kühlen Schatten eines Laubholzwaldes brachte, in welchen die Sonne ihre wechselnden und mit den leise vom Winde bewegten Blättern spielenden Lichter warf.

Es war merkwürdig still im Walde; denn die Jahreszeit, in welcher das laute Gezwitscher der Vögel den Forst belebt, war vorüber, und daß der Herbst nahte, bewiesen die gelben Blätter und die Schalen der Buchnüsse, die, von den Eichhörnchen ausgekerbt, auf dem Pfade lagen. Rechts und links an den Brombeerstauden hingen die reifen, glänzend schwarzen Früchte und dunkelrothe Dolden an den Wasserholderbüschen. Die Prinzessin aber sah wenig auf die Scenerie, die sie umgab; sie eilte elastischen Schrittes dahin, zuweilen nur ein Wort mit ihrer Begleiterin wechselnd, die, den Zipfel ihres schwarzen Umschlagetuches zur Verhüllung über ihre Bürde gebreitet, auf dem Fußpfade ihr folgte.

Plötzlich, bei einer Wendung des Weges, blieb sie stehen.

„Marianne,“ sagte sie erschrocken, „kennst Du den Mann?“

Sie blickte vorwärts auf eine männliche Gestalt, die sich über das etwa hundert Schritte vor ihr befindliche Drehkreuz lehnte, welches hier die Grenze andeutete, wo der Busch des Meyers Jochmaring endete und die fürstlichen Waldungen begannen.

„Wie sollt’ ich ihn kennen – es ist ein Fremder,“ versetzte ebenso erschrocken das Kammermädchen der Prinzessin.

„Mein Gott, was thun? … Wir sind mit unserm Gelde ganz unbeschützt und allein –“

„Was kann er von unserm Gelde wissen?“ sagte Marianne, den Zipfel ihres Tuches tiefer über ihre Last ziehend.

„Freilich – und ich zittere doch an allen Gliedern. Aber es ist dumm von mir. Was kann uns bei hellem Tage geschehen!?“

[751]

Die junge Dame schritt, Muth fassend, weiter; Marianne ein wenig dichter hinterdrein. Der Fremde stand, als ob er sie mit scharfem Auge fixirte und ihr Herankommen abwartete. Es war eine hochgewachsene Gestalt mit gebräunten Zügen und einem damals von Civilisten noch nicht getragenen Schnurrbarte, seine Tracht aber war die bürgerliche eines Mannes von Stand, von einer gewissen Sorgfalt zeigend und modischen Schnittes, was am meisten dazu diente, der Prinzessin Sorge um diese plötzliche Begegnung zu entfernen. So kam sie bis dicht an das Drehkreuz. Der Fremde richtete sich aus der gebückten Stellung, worin er sich darauf gestützt hatte, auf, und ihr ein paar Schritte entgegentretend, sagte er, indem er die junge Dame eigenthümlich fixirend beobachtete, in einem Tone, der etwas Brüskes hatte:

„Geht der Weg nach Stockheim hier oder dort hinaus?“

Sei es, daß es in dem Klange des Organs, oder daß es in einem Tone der Anrede lag, wie die Durchlaucht ihn von Denen, welche sie umgaben, nicht gewohnt war – sie erschrak von Neuem heftig dabei und fühlte ihren Muth auf eine arge Probe gestellt. Der Weg nach Stockheim war derselbe, den sie zu wandern hatte. Antwortete sie das dem Fremden, so hatte sie den unbekannten Menschen zum Begleiter. Dabei war es schwer, ihm die Bürde zu verbergen, unter der Marianne einherschritt. In diesem öden stillen Walde, worin man auch keiner Menschenseele sonst noch zu begegnen hoffen durfte! Die Prinzessin warf ihrer Begleiterin einen Blick der Angst zu. Warum sprach diese einfältige Marianne nicht, warum hatte sie nicht die Geistesgegenwart, rasch zu antworten: „Der Weg nach Stockheim ist der, den wir gekommen sind. Folgen Sie ihm nur geradeaus!“?

Aber nein, Marianne sah nur ganz erschrocken stumm darein und überließ es ihrer Prinzessin, die Antwort zu geben. Diese versetzte mit einem Stoßseufzer und einem scharfen Blicke in des Mannes Gesicht:

„Der Weg nach Stockheim ist dieser, den wir gehen.“

Sie konnte nicht anders. Als Prinzessin durfte sie nicht lügen. Sie hätte es auch gar nicht gekonnt, wenn sie gewollt hätte.

Zum Glücke gab ein Blick in die Züge des Fremden ihr eine gewisse Beruhigung darüber, daß er doch wohl, wenn er auch mitten im Walde vor ihnen auftauchte, nicht unmittelbar sich mit einem räuberischen Angriffe auf ihren kostbaren Transport trug. Er war etwa dreißig Jahre alt, wenigstens so gebräunt und von Wind und Wetter mitgenommen, daß man ihn dafür halten mußte; seine Züge waren männlich und edel geschnitten, die Schläfen stark eingedrückt, was dem Gesichte ein sehr langgezogenes Oval gab, und aus seinen blauen Augen, unter den breiten, fast immer halbgeschlossenen Lidern her, blickte ein scharfer, kluger Geist. Es schaute etwas Forschendes, Verschlossenes und sehr Selbstbewußtes aus diesem Kopfe, dessen Studium fesseln mußte, wenn er auch nicht verhieß, daß der Charakter dieses Mannes anziehen müsse – eher mußte ein junges Mädchen, wie unsere Prinzessin, die Empfindung haben, der melancholische und weltverachtende Zug, der auf seiner Lippe lag, sei etwas, das man fürchten müsse, weil es am Wehthun Freude zu haben schien.

Das Alles sah die Prinzessin freilich nicht auf den ersten forschenden Blick, den sie in seine Züge geworfen; sie beobachtete es, während er jetzt neben ihr blieb, mit ihr sprach und dabei so merkwürdige Dinge sagte, daß sie nicht anders konnte, als zuweilen mit einem Seitenblicke nach der Miene aufzuschauen, die er dabei machte.

„Sie müssen sich also, da wir denselben Weg haben, schon meine Begleitung gefallen lassen,“ hatte er ihr geantwortet.

Da sie geschwiegen, hatte er, neben ihr fortschreitend, gefragt:

„Diese Wälder sind schön. Wer gehört ihnen?“

Sie blickte zu ihm auf.

„Ich verstehe Sie nicht.“

„Ich meine, wer der unglückliche Glückliche ist, den diese weiten Forsten als Besitzer festhalten und sich mit ihrem Schutze gegen Holzdiebe und Wilderer zu plagen zwingen?“

„Ah, so meinen Sie es!“ antwortete lächelnd die Prinzessin.

„Nun ja, so meine ich es. Der Mensch gehört viel mehr den Dingen als die Dinge dem Menschen. Finden Sie es nicht lächerlich, wenn irgend eine schwächliche gebrechliche Menschengestalt durch den Wald oder über die Flur schreitet und glaubt, das Alles gehöre ihr? Just als ob die Raupe, die über ein Eichenblatt kriecht, spräche: dieser Baum ist mein. Die Araber haben ein Sprüchwort: Wenn der Hahn kräht, glaubt er, die Sonne ginge seinetwegen auf. Die Wälder, die Fluren, die Güter, das Alles steht noch nach tausend Jahren so, wenn der Mensch, der um seiner Nahrung willen an sie gefesselt und gekettet war, wie die Raupe an ihr Eichenblatt, längst da ist, wo Raupe und Blatt sind.“

„Was thut das,“ antwortete die Prinzessin jetzt, „der Mensch bleibt doch Herr über sein Eigenthum, wenn er auch sterben muß; nach ihm kommt der Sohn, die Familie – –“

„Um in demselben Banne zu liegen. Die Wälder werden – Sie haben nur keine Auskunft darüber gegeben – dem Fürsten von Idar gehören; können Sie leugnen, daß er ein armer Mann ist, der durch seinen Besitz an sein winziges Städtlein, an seine unwohnliche alte Väterburg mit schauerlich kalten zugigen Corridoren und ungemüthlichen weiten, schlechtbeleuchteten Gemächern, mit breiten, ungesunden Wasserflächen als Gräben umher, gefesselt ist, und daß tausend Bande mit viel Verdruß und wenig Genuß ihn an diesen Besitz fesseln, dem er gehört und der ihn nicht fortläßt? Versetzen Sie sich in die Seele eines solchen beneideten Eigenthümers! Denken Sie, wie er an dunklen Regentagen in einer der tiefen, durch die plumpen alten Burgmauern gebrochenen Fensterbrüstungen steht und den bleiernen Himmel anstarrt, die melancholischen Windesstimmen um seine Thürme blasen hört! Meinen Sie, solch ein Mensch hätte nicht auch ein Gemüth? Nicht eine Sehnsucht nach lichten, schönen, sonnigen Fernen? Aber seine Burg, seine Wälder, seine Wiesen, seine Torfmoore, seine Schäfereien, seine räucherigen Pachthöfe haben ihn und lassen ihn nicht los. Und neben ihm, in den anderen Fensterbrüstungen sitzen blassen Antlitzes mit von langer Weile abgespannten Zügen, blauen Streifen unter den matten Augen seine drei oder vier unverheiratheten Töchter, die trägen Hände über unnützen Stickereien oder Häkeleien in ihrem Schooße gefaltet. Auch sie blicken zu dem bleiernen Himmel, dessen Wolken ihnen die Ferne umhüllen, wie ihres Lebens Hoffnungslosigkeit ihnen ihre Zukunft grau verhüllt, empor; auch sie horchen auf das melancholische Wehgeheul des Windes – glauben Sie, in diesen armen Mädchen pulsirte nicht auch der Lebens- und Glücksdrang, die Sehnsucht nach Glanz und Liebe, nach einem freien Sein unter freien Menschenseelen? Glauben Sie, diese armen gefangenen Wesen möchten nicht auch gern so lustig, muthwillig und lebensfroh aus den Augen blicken, wie in diesem Augenblicke Sie mit Ihren glänzenden Augensternen thun, mein werthes Fräulein?“

Die Prinzessin hatte anfangs, leicht erbleichend, sich sehr versucht gefühlt, über diese Reden des wunderlichen Philosophen an ihrer Seite empört zu werden; dann hatte es sie zu ergötzen begonnen, und jetzt, bei dieser direct persönlichen Wendung seiner Predigt brach sie in ein lautes fröhliches Gelächter aus.

„Nun,“ sagte er, „Sie lachen über diese armen Wesen, die in ihrem alten Schlosse festsitzen, weil sie ihm gehören, weil das Eigenthum sie zwischen seinen eisernen Stangen festgeklammert hält. Sie sollten nur einmal solch eine unglückliche, weder der Welt noch sich selber nützende Prinzessinnenexistenz führen – nur einmal ein Jahr lang.“

Die Prinzessin lachte abermals laut auf und wandte sich dann mit einem höchst verschmitzten Blicke und den Finger auf den Mund legend zu ihrer Begleiterin um.

Marianne sah sehr bestürzt aus und lächelte jetzt doch auch.

„Wo haben Sie solche Prinzessinnenexistenzen studirt, wenn man fragen darf?“ sagte die junge Dame dann.

„Ich bin schon durch manche Hütte und manches Fürstenhaus hindurchgegangen,“ versetzte der Fremde sehr ernst.

„Und,“ fiel die Prinzessin ein, „haben Sie beim Durchgang durch eines dieser Fürstenhäuser sich nie versucht gefühlt, eine dieser sehnsüchtig schmachtenden Seelen aus ihrer Gefangenschaft zu befreien und in die Freiheit mit hinauszunehmen?“

„Nein,“ sagte der Fremde schmerzlich lächelnd, „denn ich selbst bin nicht frei.“

„Nicht frei, verlobt?“ fuhr die Prinzessin fort, die mit diesem seltsamen Menschen nun vollends schon im Tone des neckenden Spottes glaubte reden zu können.

„Verlobt? Nein. Aber mein Herz ist gefangen; es liegt im Zauberbanne eines einzigen Blickes, der mir einst wurde [752] und mir nun mit Flammenschrift tief in die Seele geschrieben steht, der mich, und lebte ich eine Ewigkeit, nicht mehr verlassen wird.“

„Ah, das lautet ja über alle Maßen romantisch,“ rief die Prinzessin aus, „ein einziger Blick, der die Macht hatte, Sie auf ewig zu binden – welche Magie eines Blickes! Und wer war die Zauberin, welche Ihnen einen solchen Blick zuwarf?“

„Die Zauberin war eine arme spanische Nonne, in einer Kutte von rauher brauner Wolle, und sie warf mir den Blick zu, hülfeflehend und von Todesangst erfüllt, als in ihr brennendes Kloster, aus dem sie sich flüchten wollte, einer meiner Cameraden sie zurückschleuderte; sie warf ihn mir zu, von den Flammen ergriffen, nicht mehr zu retten, denn zwischen ihr und mir schoß eine lohende Balken- und Sparrenmasse nieder.“

„Ah,“ rief die Prinzessin stehen bleibend aus. „Ist das Wahrheit, was Sie da erzählen?!“

„Es ist die Wahrheit, Fräulein. Ich wüßte nicht, weshalb ich Ihnen, die ich nicht kenne und vielleicht nie wiedersehe, Lügen erzählen sollte.“

„Und das arme Geschöpf verbrannte?“

„Es verbrannte wie ein halbes Dutzend ihrer Schwestern. Ich konnte nichts mehr zu ihrer Rettung thun. Das Einzige, was ich thun konnte, war, mein Pistol zu nehmen und meinen Cameraden, der so cannibalisch gehandelt hatte, die Hirnschale zu zerschmettern.“

„Mein Gott, mein Gott!“ rief die Prinzessin ganz außer sich aus. „Aber,“ sagte sie dann sich fassend, „ich bin sehr thöricht, daß ich mich so darüber entsetze. Wenn dies Alles wahr wäre, würden Sie es nicht so der ersten besten wildfremden Person, die Ihnen hier im Walde begegnet, erzählen.“

Der Fremde schritt eine Weile schweigend und ohne zu antworten neben ihr. Es war, als ob er schon an ganz andere Dinge dächte; plötzlich sagte er:

„Glauben Sie nicht, daß, wenn man lange in großer Einsamkeit gelebt und Alles hat schweigend in sich verschließen müssen, man einmal sich vom Drange der Gesprächigkeit fortgerissen fühlen und Dinge, die man besser verschweigt, erzählen kann, einem Menschengesichte gegenüber, von dem man sympathisch berührt wird?“

Er heftete dabei einen eigenthümlichen, gedankenvollen und schwermüthigen Blick auf die Züge der Prinzessin.

„Wenn Sie meine Geschichte nicht glauben,“ fuhr er dann nach einer Weile fort, „nun wohl, dann desto besser! Denken Sie, ich hätte Ihnen etwas vorgeplaudert, um Sie auf diesem Wege zu unterhalten! – Ist das die Margarethenlinde? Ich will nicht ganz bis Stockheim, sondern nur bis zur Margarethenlinde.“

„Noch nicht,“ versetzte die Prinzessin, „sie steht eine Strecke weiter unten. Also Sie wollten mich nur unterhalten? Wähnen Sie etwa, daß Sie dazu besonders angenehme Gegenstände gewählt?“

Er sah sie fragend an.

„Bin ich Ihnen unangenehm damit geworden?“ fragte er.

„Mußten Sie das nicht mit solchen Schreckgeschichten?“

„Wenn ich sie erleben mußte, können Sie sie auch anhören.“

„Wenn ich nun aber nächstens wieder bleich und mit von Langweile abgespannten Zügen die melancholischen Windesstimmen um unsere alten Schloßthürme blasen höre – wenn ich dann noch im Geiste den herzzerreißenden Schrei der in die Flammen geschleuderten Nonne aus dem Wehklagen des Sturmes heraushören, mir ihren Blick des Entsetzens vorstellen, mir ihre von grausiger Angst erfüllten Augen ausmalen muß …“

„Ah – Sie? In Ihren Schloßthürmen? Sind Sie denn …“

„Da ist Ihre Margarethenlinde. Was wollen Sie dort? Haben Sie da ein Rendezvous? – Es soll dort auf der Lichtung einst eine Hexe verbrannt worden sein. Wissen Sie, daß Sie mit Ihren Feuergeschichten auf seltsame Combinationen bringen? Leben Sie wohl! –“

„Aber“ – sagte er rasch, als sie sich zum Weitergehen von ihm wenden wollte – „ich bitte Sie, wer sind Sie?“

„Eine der unglücklichen verzauberten Prinzessinnen, von denen Sie mit so gerührter und wehmüthiger Theilnahme gesprochen haben. Ich bin die Prinzessin Elisabeth von Idar.“

„Unmöglich – Sie?“ rief er aus, doch mit einem so ruhigen Ton und so wenig überraschter Miene, daß, wenn Prinzessin Elisabeth von Idar sich diesen Moment als Strafe vorbehalten hatte, sie sich um den Genuß, ihn grenzenlos zerknirscht und bestürzt zu sehen, vollständig betrogen sah.

„Wahrhaftig,“ fuhr er fort, „so wäre es thöricht von mir, Sie um Verzeihung bitten zu wollen, Durchlaucht. Was ich gesagt habe, paßt so wenig auf Ihre strahlende, blühende Jugend und den frischen Lebensmuth, der Ihnen aus den Augen flammt, daß ich kein Wort darüber verlieren darf. Sie die Prinzessin Elisabeth! Ich habe von Ihnen gehört. Sie sind das Juwel Ihres Hauses, der gute Genius darin, die Egeria des Fürsten, der Liebling Aller, sogar des Meyers Jochmaring; in der That, der Meyer Jochmaring, dessen kühles und weise abwägendes Gemüth das Schlimmste, was einem Menschen begegnen kann, darin erblickt, wenn er irgend etwas auf Erden überschätzt – dieser eingefleischte Realist von Bauer schwärmt für Sie. Er schwärmt so für Sie, daß er mir eine wahre Sehnsucht erweckt hat, Sie einmal wenn auch nur ganz von fern zu erblicken. Und nun finde ich Sie hier – hier, wo man doch sonst nur Märchenprinzessinnen zu finden erwarten darf, tief im einsamsten Walde, und die Zeit, in welcher ich an Ihrer Seite schreiten durfte, habe ich damit zugebracht …“

Die Prinzessin unterbrach diese mit einer merkwürdigen Ruhe und Sicherheit gemachten Complimente.

„Woher kennen Sie denn den Meyer Jochmaring so genau – wer sind Sie?“ sagte sie mit einem Tone, durch dessen Strenge doch nun die Andeutung klang, daß er im Begriff sei, ihr fürstliches Bewußtsein zu verletzen.

„Wer ich bin? Ich bin, der ich bin. So heißt es in der Bibel. Genügt Ihnen das? Nein? Sie wollen den Namen wissen, der mich hat, dem ich gehöre, wie Meyer Jochmaring seinen alten Eichen? Wohl, ich will Ihnen meine Karte geben, weil ich Ihnen damit sehr viel geben kann …“

„Sehr viel? Ist der Name so berühmt oder so vornehmen Klanges?“ fiel sie spöttisch ein.

„Nein, nichts davon. Aber ich gebe Ihnen mit dieser Karte einen großen Beweis meines unbedingten Vertrauens.“

Er hatte sein Taschenbuch hervorgezogen und überreichte jetzt der Prinzessin die daraus genommene Karte.

„Das zu können,“ fuhr er fort, „freut mich. Es darf diese Karte Niemand sehen – Niemand hier meinen Namen wissen. Es brächte mein Leben in Gefahr.“

„Ah – wie wäre das möglich?“

„Daß ich Ihnen dies gesagt habe, Durchlaucht, genügt, nicht wahr?“ entgegnete er ernst.

„Es genügt,“ versetzte sie, flüchtig dem voll und groß auf ihr ruhenden Auge begegnend – „ich werde Sie sicherlich nicht verrathen, wenn es so ist – und nun Adieu! – leben Sie wohl!“

Mit einer leichten Verneigung des Kopfes, mit einem Lächeln, das ausdrücken konnte, wie diese ganze Begegnung ihr trotz seiner letzten merkwürdig tragischen Versicherung doch mehr einen scherzhaften als ernsten Eindruck hinterlasse, nahm sie Abschied von ihm und schritt davon.

[765] Der Fremde begab sich langsamen Schrittes unter die mächtige alte Linde, die ihm als Margarethenlinde bezeichnet worden war, und nahm hier auf der unter dem breitschattigen Geäst angebrachten Steinbank Platz. –

„Gottlob!“ sagte, als sie aus seiner Gehörweite waren, die Kammerzofe, „Gottlob, daß wir ihn endlich los sind, den unheimlichen Menschen! Ich wagte nicht, meinen schweren Sack vom linken Arme auf den rechten zu nehmen, und nun ist mir der linke wie völlig zerbrochen.“

„Es war der wunderlichste Mensch, der mir je vorgekommen ist,“ versetzte die Prinzessin; „just, als ob er durch den Blick seiner armen spanischen Nonne noch immer aus allen Geleisen geworfen wäre.“

„Ach, glauben Sie mir, Durchlaucht,“ fiel Marianne ein, „gewiß erlog er die Geschichte, um sich damit interessant zu machen. Man kann Jemand gar nicht in ein brennendes Gebäude schleudern, weil man selbst nicht so nahe an die Gluth herantreten und es bei ihr aushalten kann.“

„Laß’ uns jetzt sehen, wie er heißt!“ fiel die Prinzessin ein, die Karte, welche er ihr gegeben und die sie zu sich gesteckt hatte, hervorziehend. Sie las die Worte: „Ulrich Gerhard von Uffeln.“

„Ah,“ rief sie stehen bleibend aus, „Marianne, ich bitte Dich, das wird immer seltsamer.“

„Was haben Sie, Durchlaucht? Was ist?“

„Mein Gott, ich darf ja die Karte Niemand sehen lassen, darf Dir’s nicht sagen. Aber das darf ich Dir sagen: Dieser Mensch ist ein Doppelgänger.“

„Ein Doppelgänger?“

„So ist es, wirklich und wahrhaftig.“

„Ich glaube weit eher,“ versetzte Marianne, „er ist ein Schwindler. Ich will auch wetten, daß er Sie ganz gut kannte. Darum brachte er das Gespräch geflissentlich auf das hochfürstliche Haus, nur um sich auch damit interessant zu machen.“

Prinzessin Elisabeth schüttelte den Kopf. Sie schüttelte höchst nachdrücklich den Kopf. Sie wußte in der That nicht, was denken. Die Erscheinung dieses Mannes, der ihr nun einmal gar nicht den Eindruck eines Schwindlers gemacht, hatte ihr ein Räthsel aufgegeben, zu dem sie absolut keinen Schlüssel fand. Sie ging schweigend weiter. Sprechen durfte sie ja auch über ihn nicht weiter – das hatte sie ihm gelobt. Darum verbot sie Marianne, die immer wieder von ihm beginnen wollte, endlich ganz streng, weiter zu fragen, zu reden von diesem – Doppelgänger. Und so kamen die beiden Frauen an das Ende des Waldes. Durch ein verfallenes kleines Gitterthor traten sie in den Park des fürstlichen Schlosses; dann gelangten sie um einen großen Weiher herum zu dem alten, halb noch burgartigen Schlosse, an dessen Gartenseite hier ein Rest alter Umwallung zur Terrasse umgeschaffen war, auf der Orangenbäume und Oleander standen; dazwischen prangte ein reicher Blumenschmuck. Prinzessin Elisabeth eilte durch eine offen stehende Fensterthür in’s Innere, um zu ihrem Vater zu gelangen und ihm sofort den günstigen Erfolg ihrer Wanderung zu Meyer Jochmaring mitzutheilen.




2.

Eine halbe Stunde weit von dem Städtchen mit der Schloßburg des Fürsten von Idar, etwa zwanzig Minuten rechts ab vom Jochmaringshofe, lag ein alter Edelhof, ein malerisches Bauwerk. Den Eingang zu demselben bildete ein über eine Zugbrücke zugängliches gewölbtes Thor; links und rechts schlossen sich niedrige Stallgebäude daran, an die sich wieder kleine, dicke Thürme reiheten. Da all diese Gebäudetheile einsprangen und deshalb das Thor etwas wie der Scheitel eines stumpfen Winkels war, dienten sie als eine Art ritterlichen Schildes für das dahinter stehende Hauptgebäude. Und dieser Schild war auf’s Malerischste von uraltem, üppig wucherndem Epheu überzogen, dem der breite schlammige Graben zu seinen Füßen die reichste Nahrung bot. Bis hoch zu den Dächern hinan war auch der Hauptbau von diesem Epheu umrankt, dieser wunderlich construirte Hauptbau, der eigentlich nur aus drei schmalen viereckigen Thürmen zu bestehen schien, die, wenige Fuß weit voneinander in die Höhe gebaut, durch zwei zurückspringende Zwischenwände miteinander verbunden waren. Dadurch waren denn zwischen je zwei der Thürme die reizendsten Eckchen entstanden, nach je drei Seiten durch Mauern und nach vorn durch das Epheugerank geschützt. Die darin aufgestellten Tische und Gartenstühle zeigten, daß die Familie des Eigenthümers sie zu benutzen wußte. Auf der Rückseite des Gebäudes, wo es sich mit hohen von Essen und Wetterfahnen überragten Giebeln abschloß, erweiterte sich der Burggraben zu einem runden Weiher, und um das Alles drängte sich schützend und schattend ein prächtiger uralter Laubwald.

Schloß Wilstorp hieß unsere malerische Waldburg, die im [766] Innern nun freilich, wenn auch viel kleiner, doch um nichts wohnlicher und komfortabler eingerichtet war, wie nach der Schilderung des wunderlichen Fremden im vorigen Capitel der alte Fürstensitz zu Idar es sein mußte. Und auch sonst boten die Verhältnisse der beiden Häuser manche Vergleichspunkte dar, was in einer Zeit, wo der Krieg und der fremde Eroberer Deutschland ruinirten und aussaugten und namentlich den Grundeigner zum unglücklichsten aller Sterblichen machten, allerdings sehr begreiflich war. Das Besondere und Auffallende war nur, daß der Edelhof von Wilstorp, so nahe der Fürstenburg von Idar, nicht längst wie ein Habichtsnest von dem Adler zerstört worden war, den der Fürst, wie alle sich zu dem Blute Widukind’s rechnenden Geschlechter, im Wappen führte. Duldeten doch sonst die kleinen Fürstlichkeiten in ihren Ländlein keine Rittersitze mehr, seitdem sie der darauf wohnenden Vasallen nicht mehr zu ihren Fehdehelfern bedurften. Seitdem, seit langen Jahren schon, hatten sie auf jegliche Weise den Kindern und Enkeln des Mohren, der seine Schuldigkeit gethan, angedeutet, daß sie gehen könnten, suchten ihre Güter zu ihren Domänen zu schlagen, und beuteten ihr Jagdgebiet, ohne Concurrenz solcher Junkerschaft, lieber für sich allein aus. Schloß Wilstorp aber war ein alter Ansitz, der in früheren Zeiten nicht ein Burgmannshof des Fürsten gewesen und der auch nicht beim Thurm von Idar zu Lehn ging und deshalb nicht als verfallenes Lehn hatte aus der Welt geschafft werden können. Auch durch Kauf konnte der Uebelstand nicht beseitigt werden, da die Familie, welche auf dem Schlosse saß, durch Fideicommiß und andere Feudalbande daran gefesselt war. Sie gehörte nämlich dem Schloß Wilstorp, wie der wunderliche Fremde es ausdrückte, und wurde von ihm nicht losgelassen.

Nicht losgelassen! Das hatte in der letzten Zeit nun sehr schwer auf der Familie gelastet, die oben in dem schönen Waldschlosse wohnte. Aus einer nicht weit entfernten Stadt, wo Herr von Mansdorf die Verwaltung einer geistlichen Stiftung geführt hatte, waren sie gekommen, diese Leute, der gutmüthige, wohlhäbig aussehende Herr, der keinen Tropfen bösen Blutes in sich hatte, er müßte ihm denn durch die Giftmischerei der Weinhändler aus den vielen Flaschen gekommen sein, die er den Tag über zum Zeitvertreib zu leeren pflegte, die hohe, magere, störrische Dame mit ihrer gebieterischen Adlernase und die zwei jungen Damen, von denen die ältere von großer Schönheit und des Vaters Liebling und größte Lebensfreude war und die jüngere, magere, scharf dreinschauende, mit ihrem Fürwitz den Lauf des täglichen Lebens und die Haushaltsvorgänge auf Wilstorp weit mehr als es den Dienstboten bequem war, controllirte. Sie waren als die Erben eines entfernten Verwandten, eines alten Junggesellen, in den Besitz der romantischen Ritterburg gekommen, aber diese Burg war auch etwas wie die Höhle des Löwen geworden, aus der keine Fußstapfen zurückführen. Es war das eine drückende Lage, unter der Frau von Mansdorf moralisch am meisten litt, weil sie sah, daß ihr Gatte in dieser beschäftigungslosen Einsamkeit nach und nach unrettbar dem Trunke verfallen würde, und ihre Tochter Adelheid physisch, weil sie hier ihre blühende Gesundheit einbüßte. Sie litt nämlich an einer Brustaffection, die, wie der Arzt erklärte, nur durch einen Aufenthalt im Süden geheilt werden könne. Wie aber die Dinge lagen, war an einen Aufenthalt im Süden, an einen Ortswechsel auf längere Zeit nicht zu denken.

Die Familie Mansdorf war nämlich nicht die einzige Eigenthümerin von Wilstorp; es gab einen dem letzten Besitzer ganz ebenso nahen Verwandten in der Welt und dieser war mit den Mansdorfs „zu gesammter Hand“ belehnt. Die letzteren hatten deshalb nirgends unbeschränkte Dispositionsbefugnisse, wo sie nicht den mitbelehnten Agnaten herbeibrachten und seine Einwilligung aussprechen ließen, und so war ein Flüssigmachen von Geldern, um eine längere Reise zu machen, um nur in einer größeren Stadt in Deutschland zu leben, für sie eine Unmöglichkeit. Es bedurfte dazu des unglückseligen Agnaten, und dieser war verschollen, war durch keine Mittel, keine Erkundigungen, keine Aufrufe in den Zeitungen zu entdecken gewesen; vielleicht war er längst todt und begraben. Aber wenn das der Fall, so streckte er auf höchst dämonische Weise aus seinem unbekannten Grabe eine gespenstische Faust heraus, die sich auf jedes Rechtsgeschäft legte, welches Herr von Mansdorf irgend hätte vornehmen können.

Wie hatte man sich gequält mit dem Nachforschen nach diesem Manne, der nicht anders als Ulrich Gerhard von Uffeln hieß! In wie vielen Blättern der damals freilich sehr gering entwickelten Journalistik war nicht Ulrich Gerhard von Uffeln gesucht worden! Wie viele Abende hindurch hatte Herr von Mansdorf mit einem Notar aus Idar, der zugleich als Justitiar die Patrimoniatsgerichtsbarkeit des Hauses Wilstorp verwaltete, allein darüber gesprochen, wie man es zu einer Todeserklärung des besagten Ulrich Gerhard von Uffeln bringen könne, der sicherlich – man wußte ja, daß er in Kriegsdienste gegangen – irgendwo in fremder Erde modere und nur hier in dem alten Edelhofe noch wie ein Gespenst lebendig sei, das die Lebenden in Verzweiflung bringe! Wie oft hatte man berathen, ob man sich nicht die gerichtliche Bevollmächtigung verschaffen könne, frei zu handeln und gültig zu disponiren, wenn man eine Bürgschaft bestelle, daß man den nicht zu Fassenden, nicht zu Erreichenden, wenn er wirklich einst aus dem Nebel seiner geheimnißumkleideten Existenz auftauchen sollte, entschädigen wolle für alles während seiner Abwesenheit ohne ihn Vorgenommene und Geschehene! Auch das war unausführbar. Man hatte nicht die Mittel, solche Bürgschaft zu stellen. Man war ohnehin schon nur mit Schwierigkeit ohne solche Bürgschaft für die abwesenden Mitbelehnten vom Gerichte in den Besitz eingelassen worden.

So standen die Dinge auf Wilstorp, und zu dem Drucke, den hier der Name Ulrich Gerhard von Uffeln auf das Herz jedes Einzelnen legte, war noch der allgemeine Druck der Spannung um die immer näher herantretende Entscheidung auf dem großen Kriegstheater getreten, denn man war im Spätsommer des Jahres 1813, und obwohl man kaum sich rückhaltslos der Hoffnung hinzugeben wagte, daß es den alliirten Mächten gelingen werde, die eiserne Herrschaft des die Welt maltraitirenden Soldatenkaisers zu sprengen und ihn aus Deutschland wenigstens hinauszuschlagen, hatten doch die Nachrichten von der Schlacht bei Großbeeren und an der Katzbach die Möglichkeit, daß es gelingen könne, gezeigt. Es war endlich etwas von einer Erregung und Gährung in das seine politischen Schicksale sonst so apathisch und lammesfromm hinnehmende Land gekommen – ja, man munkelte etwas von Vorbereitungen, die im Stillen getroffen würden, den Alliirten, wenn ihre Heere herankämen, thätliche Unterstützung zu leisten, und dunkle Gerüchte gingen um von geheimen Verbindungen, die thätig seien, Waffen zu den Depôtplätzen zusammenzubringen; das Wort „Tugendbund“ war aufgetaucht und hatte destomehr Eindruck gemacht, je weniger man wußte, welche Vorstellung man damit verbinden solle.

Eines Abends nun hatte Herr von Mansdorf in einem der hübschen Winkel unter dem Epheudache vor seiner Ritterburg gesessen, mit seinem breiten Rücken fast die ganze Breite der Mauer zwischen den vorspringenden zwei Thürmen ausfüllend; um ihn her befanden sich seine Getreuen; zunächst vor ihm stand auf dem alten Eichenholztische der schöne, alterthümliche und weitbauchige Krug, seines stillen, ländlichen Daseins Lieblingsgefährte; auf der Bank zur Rechten saßen die gestrenge Hausfrau und die älteste Tochter, links ihnen gegenüber Herr Plümer, der Notar und Justitiar, und neben ihm Herr Runkelstein, der fürstliche Oberförster, der eine halbe Stunde von Wilstorp seinen Amtssitz in einem alten Jagdhause hatte. Die Hausfrau strickte an einer wollenen Socke; das Fräulein beugte das zarte, leisgeröthete Oval ihres gutmüthigen Gesichts über ein Zeitungsblatt, aus dem sie eine Nachricht vorgelesen – natürlich berichteten die unter strenger Censur stehenden Blätter nur von französischen Siegen – und die Herren dampften aus irdenen Pfeifen einen ganz abscheulich riechenden Tabak, wie ihn eben die unter dem Gebote der Continentalsperre stehende Menschheit zu rauchen gelernt hatte, um dabei zu vergessen, daß sie statt des Kaffees Cichorienwasser trinken und dieses statt mit Zucker mit Honig versüßen mußte.

„Was soll man nun davon halten?“ sagte der Hausherr, nachdem eine lange Pause erfolgt war, in der jeder der Anwesenden die eben gelesene Zeitungsnachricht in seinem Herzen überdacht zu haben schien. „Was soll man davon halten? Sie schreiben immer nur von ihren Siegen, und doch hat der Rentmeister [767] mir gesagt, daß Preußen durch Idar marschiren würden, ein Bataillon nach dem andern, und daß dies noch geschehen würde, ehe das Jahr zu Ende.“

„Sollte mich freuen,“ fiel der Justitiar, ein kleiner gelber Herr, mit skeptischem Lächeln ein, „sollte mich freuen, obzwar dem Herrn Rentmeister mit seinen Vorgeschichten doch nicht allerwegen zu trauen ist.“

„Herr Justitiar, nicht zu trauen?“ sagte jetzt die Hausfrau. „Bitte, sagen Sie das nicht. Der Rentmeister hat uns wunderliche Dinge vorausgesagt, und sie sind bis auf’s Haar eingetroffen, meist bis auf’s Haar!“

„Nehmen Sie’s nicht ungnädig, gnädige Frau – aber viele sind doch nicht eingetroffen.“

„Viele? Daß ich nicht wüßte,“ entgegnete die gnädige Frau. „Und was verschlägt das? Wenn er etwas sieht – und nachher trifft es nicht ein – ich denke nicht, daß es dann seine Schuld ist. Wir stehen Alle in Gottes Hand, und wenn er einen Leichenzug sieht oder eine Feuersbrunst, und sie ereignen sich später nicht in der Wirklichkeit, so beweist das nicht, daß andere Ereignisse, die er sieht, auch nicht eintreten werden. Und das thun doch die meisten, wie’s der Herr Justitiar wissen müssen.“

„Freilich, freilich,“ sagte der Herr Justitiar ein wenig spöttisch und eine Wolke Dampfes ausstoßend, „obzwar mich diese Ansicht der Sache zu dem Glauben bringen könnte, daß das Sehen von Vorgeschichten ein leichteres Ding ist, als wofür es gemeiniglich gehalten wird.“

„Ah, Plümer, Sie sind ein schlechter Christ,“ versetzte die gestrenge Rittersfrau.

„Ich wollte,“ rief jetzt Herr von Mansdorf, seine wuchtige Faust schwer auf den Tisch legend, aus, „der Rentmeister säh’ einmal als Vorgeschichte diesen vermaledeiten Ulrich Gerhard von Uffeln in diese alten Thürme einziehen.“

„Ist das nicht eben auch ein Beweis für die Sache?“ entgegnete Frau von Mansdorf. „Er sieht ihn nicht – und deshalb kommt er auch nicht.“

„Was denken Sie über die Sache, Fräulein?“ wandte sich jetzt der Oberförster an sein Gegenüber.

„Ich?“ versetzte das Burgfräulein mit einem schlauen Lächeln zu dem Oberförster aufschauend. „Ich weiß nicht, welche unheimliche und schreckhafte Dinge der Rentmeister voraussieht, aber wohl, daß ich etwas Schreckhaftes und Unheimliches sehe, wenn er plötzlich vor mir steht, die lange dürre Gestalt mit den hohen Brauen und glänzenden Augen; man meint, man sähe Kirchenfenster, in die der Mond scheint.“

Der Oberförster lächelte; dann, nachdem er sich geräuspert, fuhr er nachdenksam fort: „Möchte ihn wohl einmal ein wenig auf die Probe stellen, den Herrn Fäustelmann.“

„Auf die Probe stellen? Und wie könnten Sie das, Oberförster?“ fiel die Rittersfrau ein, die nun einmal die gläubigste Anhängerin der Visionsgabe ihres Rentmeisters war.

„Ist mir neulich etwas Wunderliches begegnet,“ entgegnete mit einer die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer spannenden Langsamkeit der Oberförster. „Etwas, auf das ich mir keinen Vers machen kann. Gar keinen Vers! Und etwas recht Grausiges war es. Hab’ auch Fäustelmann gesagt, er solle mit mir gehen, ob wir’s Beide zusammen sehen könnten, und er solle, mir’s dann auslegen. Aber ich bringe ihn nicht hin; er nimmt den Schein an, als glaube er, ich wolle ihn zum Besten halten. …“

„Ich glaube schon, daß er nicht mit Ihnen geht,“ fiel hier die Hausfrau ein, „wissen Sie denn nicht, daß solch eine Gabe ohnehin schwer genug auf den Leuten lastet, und daß Sie von ihnen nicht verlangen dürfen, sie sollen so unheimliche Dinge, die ihnen genug das Leben verbittern, auch noch freiwillig aufsuchen?“

„Aber so erzählen Sie Ihre Geschichte doch, Oberförster!“ rief hier ungeduldig Herr von Mansdorf aus.

„Hoffentlich keine Jagdgeschichte,“ sagte der Justitiar.

„Nein, keine Jagdgeschichte,“ erwiderte der Oberförster, „durchaus nicht. Hören Sie nur! Vor einigen Abenden komm’ ich – es mochte eine Stunde vor Mitternacht sein – aus Idar zurück, hatte am Nachmittage Geschäfte bei Seiner Durchlaucht, dem Fürsten, gehabt, und den Abend war ich in die Casinogesellschaft gegangen und hatte da mit den Herren von den Zeitläufen discurirt und dann mich aufgemacht, wieder in meine Försterei zu kommen. Geh’ also heim und bin ganz allein – auch ohne meine Hündin, die ich daheimgelassen hatte, weil sie Junge geworfen hat. Komm’ an dem alten Kropp, dem verfallenen Burgmannshofe, vorüber, der nicht weit vom Wege ab in den versumpften Niederungen steht – Sie kennen ja das alte verruinirte Castell. Wie ich nun bis dicht heran bin, sehe ich ein Leuchten, einen Lichtglanz auf dem Wassergraben vor dem Gebäude liegen; ich bleibe stehen und frage mich: ‚Wo kann denn da das Licht herkommen? Vom Monde doch nicht – der war nicht aufgegangen; aus den Fenstern nicht, denn die sind ja immer mit alten Holzklappen verschlossen. Wo kann der Lichtschein herkommen?‘ Die Sache dünkt mir curios, und um ihr auf den Grund, zu kommen, geh’ ich rechts ab, auf die alte Spelunke zu, und wie ich näher und näher dem Wassergraben komme, seh’ ich, daß der Lichtschein, der auf dem leise vom Nachtwinde bewegten Gewässer schwimmt, aus zweien der Fenster im untern Stockwerke kommen muß, und zwar so, daß die alten Holzklappen vor den Fenstern unten einen Spielraum lassen, durch den der Schein schräg nach unten hinausfällt. Es sind also, sag’ ich mir, Menschen in dem verlassenen Gebäude – aber wie kommen sie dahin, da es verschlossen und verrammelt ist, und was haben sie da zu thun? ‚Möcht’ das doch wissen‘ sag’ ich mir und stapfe über Schutt und durch wildes Riedgras und Nesseln, was da auf dem alten Damme wächst, der anstatt der früheren Steinbrücke durch das Wasser führt, an das Gebäude heran; als ich an die Fenster komme, bin ich nicht hoch genug, hineinzuschauen, sehe mich also nach einem Steine oder dergleichen um und finde auch richtig einen Holtzklotz in der Nähe, den ich an die Mauer lege …“

„Steigen hinauf“ – fiel hier ungeduldig der Justitiar ein – „und sehen, daß der Lichtschein nichts ist, als das Glühen von dem alten verfaulten Holze der Fensterbänke …“

„Nun, lassen Sie ihn doch weiter erzählen und stören ihn nicht!“ fuhr in strafendem Tone die gestrenge Rittersfrau den Justitiar an.

Dieser klopfte lächelnd seine Pfeife aus, während der Oberförster mit einem ärgerlichen Seitenblicke auf ihn fortfuhr:

„Freilich stieg ich hinauf – was ich aber sah, das war wahrhaftig kein faules Glühholz, Herr Justitiar, das kann ich Sie versichern.“

„Nun, was sahen Sie denn? Heraus damit, Mann!“ sagte, hier Herr von Mansdorf, dem hinter seinem dickbäuchigen Kruge die großen vorliegenden Augen vor Vergnügen über solch eine angenehm spannende und sogar ein wenig in’s Grauliche spielende Geschichte leuchteten.

Der Oberförster aber hatte durchaus keine Eile, vorschnell seinen Haupteffect zu verpuffen und die Karte, womit er die Skepsis des Justitiars abtrumpfen wollte, zu rasch auszuspielen.

„Was ich sah?“ sagte er, und dann räusperte er sich, blickte rundum im Kreise, heftete zuletzt seine Augen mit dem Ausdrucke eines vorzugsweisen Vertrauens auf die Dame vom Hause, die ihren Strickstrumpf hatte fallen lassen, indem ihr Oberkörper sich immer mehr in die Höhe streckte, und setzte mit halblautem dumpfem Tone hinzu: „Särge.“

Fräulein Adelheid fuhr zusammen und schrie leise auf – Herr von Mansdorf[WS 1]zog in wunderlichem Spiele seine Brauen zusammen, und die Hausfrau rief erschrocken:

„Särge?“

„So ist es, gnädige Frau,“ versetzte Oberförster Runkelstein mit einem eigenthümlich sinnigen Tone, aus dem ein ganzes System resignirter Lebensphilosophie sprach.

„Zwei neben einander?“ fragte die Dame.

„Zwei? Nein, ein halbes Dutzend.“

Der Justitiar schüttelte lächelnd den Kopf, während in den Mienen der Uebrigen etwas wie ein Zug von Mißvergnügen erkennbar wurde. Denn obwohl die Sache sich zu einem gründlich angenehmen Grauen auf’s Beste anließ, obwohl auch die Dämmerung leise herangekommen war und in dem versteckten Thurmwinkel tieferen Schatten gebreitet hatte, während aus einem nahen Baumwipfel, über die Dächer der Vorgebäude herüber, ein höchst melancholisches Gekrächze scholl, das nur eine alte und in Dingen solcher Art, wie sie hier eben verhandelt wurden, höchst erfahrene Krähenfrau ausstoßen konnte – obwohl das Alles den tiefen Eindruck, den Runkelstein’s Geschichte machte, nur in befriedigendster Weise unterstützen konnte, war doch offenbar [768] seine Versicherung, er habe gleich ein halbes Dutzend Särge auf einmal gesehen, etwas, was als doch gar zu stark die Wirkung seiner Erzählung ganz bedeutend beeinträchtigte.

Ohne eine Ahnung davon zu haben, verdarb der Oberförster sich seinen Effect noch mehr, indem er hinzusetzte:

„Es mochten auch ihrer acht oder zehn sein, denn die letzten verloren sich hinten im Dunkel des großen, öden Gemachs, das nur in der Mitte von einer auf einem Tische stehenden Lampe erhellt wurde. Sie waren nicht groß, die Särge, nicht wie für Erwachsene, sondern wie für Kinder. Das Gemach war sehr wüst. Ich sah große Theile des Kalkverputzes, die, von der Decke und den Wänden gefallen, auf dem Boden lagen – und von der Lampe angeschienen sah ich …“

Der Oberförster fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und hielt die Augen geschlossen; dann, als er sie wieder aufmachte schüttelte er, als ob er die Vision wieder abschütteln wolle, den Kopf mit dem dichten grauen Haare und sagte: „Es war gräulich.“

Alles schwieg, die Augen voll Spannung auf den Erzählenden geheftet.

Er kämpfte jetzt lange mit dem ausgehenden Feuer im Kopfe seiner irdenen Pfeife. Dann, als er Sieger geworden und eine Unzahl dunkelblauer Rauchwolken herausgezogen und von sich geblasen hatte, sagte er:

„Auf dem Boden, hinten in der Kammer, von der Lampe angeschienen, blickte ein Kopf hervor – ein Mannskopf – mit großen Augen und einem Schnurrbarte; die großen Augen sahen mich starr und fest an, als ob sie durch Wände und Fensterklappen schauen könnten, und als ich diesen Augen mit meinen durch – die schmale Querritze unter den Holzklappen spähenden Blicken begegnete, da hab’ ich nicht länger hinsehen mögen, sondern bin von dem Klotze heruntergestiegen und habe den Heimweg angetreten.“

„Einen Kopf haben Sie gesehen, Runkelstein?“ rief jetzt Herr von Mansdorf aus, „aber wenn man einen Kopf sieht, sieht man doch auch einen Menschen?“

„Ein Mensch war nicht bei dem Kopfe,“ versetzte mit der äußersten ihrer Sache sicheren Bestimmtheit der Oberförster.

„Ah Possen!“ hätte jetzt der Justitiar ausrufen mögen – aber er unterdrückte den Ausruf, um sich nicht eine allseitige unheilbare Ungnade zuzuziehen, und begnügte sich damit, seinen Gefühlen bei dieser unglaublichen Geschichte durch ein Kopfschütteln und spöttisches Lächeln Ausdruck zu geben.

„Ein Mensch war nicht bei dem Kopfe?“ echoete indeß die gestrenge Rittersfrau und dann mit sinnendem Auge den Erzähler fixirend, sagte sie: „Aber was war es denn? Es war doch kein blutiges, abgeschlagenes Haupt?“

„Nein, das war es nicht, gnädige Frau,“ entgegnete der Oberförster, „es stand ganz natürlich auf dem Boden, als ob es aus dem Fußboden gewachsen wäre.“

„Wie ein Schwammpilz,“ bemerkte der Justitiar halblaut.

Eine lange Pause folgte; man gab sich so völlig dem durch diese Thatsachen hervorgerufenen Eindrucke hin, daß, als nun Herr von Mansdorf mit der Faust auf den Tisch schlug, Alles erschrocken in die Höhe fuhr.

„Nun soll mir Einer sagen, dies sei nicht die wunderbarste Vorgeschichte, die noch je dagewesen ist!“ rief Herr von Mansdorf aus, als er sich dem Drange einer so heftigen Bekräftigung seiner Ansicht von der Sache hingab.

„Ja,“ fiel der Oberförster ein, „und deshalb wollt’ ich eben, ich hätte den Rentmeister bei mir gehabt und er hätte Särge und Haupt mit mir gesehen und mir ausgelegt, was beides zu bedeuten habe. Aber er will nun einmal nicht darauf hören; er stellt sich, als glaube er mir nicht.“

„Ja, sehen Sie,“ fiel hier der Justitiar ein, „Sie hätten ihm auch nicht in’s Handwerk pfuschen sollen. Auch, der Spukseher bleibt Mensch und läßt sich nicht gern durch solche Leute, die Abends sehr spät aus einer lustigen Gesellschaft von Idar heimkommen und dabei vom Wege ab in alte Waldcastelle gerathen, Concurrenz machen.“

Der skeptische Justitiar fand keinen Beifall für diese Bemerkung. Keine Silbe wurde laut. Es entstand ein allgemeines Stillstehen des Mittheilungsdranges, da jeder mit seinen Gedanken beschäftigt war und sich fragte, was diese Kindersärge und dieser wunderliche Kopf, an dem kein Mensch war, bedeuten könnten – welches seltsame und tragische Ereigniß geschehen und in Zukunft in Wirklichkeit sich ereignen könne, da der Oberförster es doch offenbar nur als Vision gesehen; denn das, eine „Vorgeschichte“, konnte es in dem alten unbewohnten Hause doch nur gewesen sein.

„Aber da kommt ja,“ hub endlich Herr von Mansdorf die Hand nach dem Henkel seines Kruges ausstreckend, um die Gläser seiner Gäste zu füllen, wieder an, „da kommt ja just der Rentmeister daher – was hat er denn für lange feierliche Schritte zu machen? – ich seh’s ihm an seinem Gange an, daß bei ihm etwas in den Bänken ist.“

In der That, er machte sehr weite und schwer auftretende Schritte, der Rentmeister; es war etwas Entschlossenes, Kampfbereites, womit er daher kam, der, große, ein wenig vornübergebeugte gesunde Mann, die hellen glänzenden Augen in seinem abenteuerlichen Kopf auf’s Unbestimmte und wie in’s Leere gerichtet. So kam er unter dem Einfahrtsthore in Sicht und schritt geraden Weges auf die Gesellschaft zu.

„Er scheint Geschäfte mit Dir zu haben, Leopold,“ sagte die Hausfrau zu ihrem Gemahl, „sonst sollte er uns doch jetzt gleich beichten, was er eigentlich von Runkelstein’s Geschichte denkt und ob er nicht von dem alten Castell, der Kropp, schon mehr solcher Dinge weiß.“

„Fäustelmann, haben Sie Geschäfte mit mir?“ rief ihm Herr von Mansdorf entgegen.

„Ja, Herr von Mansdorf, Geschäfte und etwas sehr Wichtiges.“

Herr Fäustelmann sprach das, indem er in den Thurmwinkel an die offen gebliebene Seite des Tisches trat, mit einer überaus traurigen und dumpfen Modulirung seines immer halbgedämpften Organs, und die Blicke, die er dabei auf seinen Gebieter heftete, hatten einen so traurigen Ausdruck, daß sich alle Anwesenden, noch völlig unter dem Eindrucke der erzählten unheimlichen Geschichte stehend, von einem unwillkürlichen Schrecken vor den unbekannten Dingen ergriffen fühlten, als deren Bote Herr Fäustelmann in diesen harmlosen Menschenkreis geschritten kam, anzusehen wie die Verkörperung des unerbittlichen Verhängnisses.

„Nun, und was giebt es denn?“ sagte Herr von Mansdorf, „was ist denn geschehen?“

Herr Fäustelmann sah schweigend ihn und dann mit seinen wasserblauen Augen die Frau vom Hause an – es war wie wenn er sich frage, ob er in ihrer Gegenwart reden dürfe und ob sie stark genug sie, den Schlag, den er führen müsse, zu ertragen; dann mit seinen Augen wieder die gewöhnliche Richtung in’s Leere und Unbestimmte suchend, sagte er dumpf und hohl und mit einem ganz merkwürdigen Tone von Wehmuth:

„Herr Ulrich Gerhard von Uffeln ist da – er ist angekommen.“

[781] „Großer Gott!“ rief die Hausfrau erblassend aus und fuhr von ihrem Sitze empor.

„Uffeln – da,“ sagte der Hausherr, „lebendig – leibhaftig da? Und das, das sagen Sie mit dieser Leichenbittermiene?“

„Mein Gott, welches Glück!“ stammelte Fräulein Adelheid ganz athemlos vor Bewegung.

„Er ist da,“ versetzte mit einem leisen Kopfnicken Herr Fäustelmann der Rentmeister, in demselben Ton und wie von der Wirkung, die seine Mittheilung hervorgerufen, nicht im geringsten berührt.

„Aber wo ist er denn? Weshalb bringen Sie ihn nicht her?“ rief Herr von Mansdorf in zitternder Aufregung.

„Er ist in meinem Hause,“ versetzte der Rentmeister. „Er kam vor einer Viertelstunde zu mir. Nachdem ich die Legitimationspapiere, die er mir vorlegte, angesehen, forderte ich ihn auf, sich mit mir zu Ihnen zu bemühen. Das lehnte er jedoch ab.“

„Er lehnte es ab? Und weshalb?“ rief die Hausfrau aus, deren anfängliche Blässe in ein helles Roth der Freude übergegangen war.

„Weil er ein sehr bescheidener, fast blöde zu nennender Herr zu sein scheint,“ versetzte der Rentmeister. „Er ist mit dem festen Glauben gekommen, daß sein Erscheinen bei Ihnen einen großen Schrecken hervorrufen müsse.“

„Er? Schrecken?“ rief Herr von Mansdorf. „Wahrhaftig, Fäustelmann, dann haben Sie ihn mit Ihrer Gespensterseherei angesteckt.“

„Schrecken,“ fuhr der Rentmeister, ohne sich zu einem Eingehen auf diese persönliche Bemerkung seines Herrn herabzulassen, fort, „Schrecken, insofern als er doch erschiene, Sie um die Hälfte Ihres Gutes zu bringen, welches Sie nun schon mehrere Jahre allein inne gehabt –“

„Ah bah – haben Sie ihm denn nicht gesagt, Fäustelmann,“ rief Herr von Mansdorf aus, „daß dieses Gut für mich nicht viel Anderes war, als eine verschlossene Geldlade, zu der man den Schlüssel nicht hat, und daß er just der Schlüssel ist, nach dem wir gesucht haben alle diese Jahre hindurch?“

„Freilich habe ich ihm das gesagt – und das hat ihn auch wohl beruhigt. Doch hat er mich inständig gebeten, ihn erst anzukündigen, bevor er selbst erscheine, und so kündige ich ihn denn an.“

„Und ich will nicht Mansdorf heißen, wenn Sie je in Ihrem Leben etwas Besseres und Erfreulicheres angekündigt haben, Fäustelmann,“ sagte der Hausherr, „und jetzt gehen Sie! Eilen Sie, bringen Sie ihn her, diesen schüchternen und blöden Lehnsvetter!“

„Ich will Herrn Ulrich Gerhard von Uffeln herbeiholen,“ entgegnete der Rentmeister, indem er sich wandte und des Weges, den er gekommen, zurückging.

Die Gesellschaft blickte ihm in athemloser Erwartung nach. Frau von Mansdorf faltete ihre Hände zusammen und rief: „Gott segne den Tag, der uns diesen Mann endlich bringt!“

Der Justitiar aber flüsterte betroffen: „Hoffentlich ist dieser Lehnsvetter keine Vorgeschichte des Spuksehers Fäustelmann.“




3.

Darüber konnte der skeptische Justitiar glücklicher Weise sehr bald beruhigt sein. Herr Fäustelmann brachte den Lehnsvetter richtig und leibhaftig herbei, und es war Nichts an ihm, was wie ein Visionsgebilde ausgesehen hätte. Ein Mann von vielleicht dreißig Jahren, oder wenig mehr, mit blondem Haar, ziemlich ausdruckslosem Gesicht und ein wenig unsteten, schüchtern blickenden Augen. Er sei Militär, sagte er, er sei verabschiedeter französischer Officier; aber Soldatisches, Unternehmendes schaute nicht viel aus diesen Augen heraus. Er war verabschiedet, weil er, während er bei der Armee in Spanien gestanden, in einem Gefechte an der Hand verwundet worden. Der Regimentsarzt hatte ihn ungeschickt behandelt; so war seine rechte Hand gelähmt worden; er konnte wohl das Gelenk, aber nicht die Finger bewegen; wenn er etwas damit erfassen wollte, so mußte er mit der linken Hand es hineinlegen und die Finger darum drücken – dann hielten diese ganz fest wie gesunde. Aber dem Willen gehorchten sie nicht. Das war unheimlich – Fräulein Adelheid schauderte, als er diese Operation zum ersten Male vornahm, um es der Gesellschaft zu zeigen, davor wie vor etwas Abstoßendem zurück. Er war sehr jung schon in französische Kriegsdienste getreten, schon kurz nach der Errichtung des Rheinbundes; seine Eltern, die in Freiburg im Breisgau gelebt, wo der Vater die Stelle eines Syndicus des Domcapitels bekleidet, hatte er während des Feldzugs von 1809 verloren, und dann war er mit einem der Rheinbundregimenter nach Spanien geschickt worden und hatte da unglaubliche Strapazen erdulden, Noth und Entbehrungen aller Art durchkämpfen müssen; von diesen Strapazen und diesen Entbehrungen sprach er vorzugsweise, mehr als von den Schlachten, an denen er theilgenommen und den kriegerischen Thaten seines Corps – ein Umstand, der offenbar für seinen friedfertigen Sinn zeugte. [782] Daß er mit anderen, ganz entfernten Verwandten zur gesammten Hand mit einem Gute hier im Lande belehnt sei und daß ihm dies, oder wenigstens ein Stück davon einmal zufallen müsse, das hatte er als junger Mensch oft von seinem Vater vernommen, der aus dieser Gegend stammte. Aber während er Soldat gewesen, hatte er sich wenig darum gekümmert und erst, als er wegen seiner Verwundung entlassen und nur die Wahl zwischen irgend einem ganz kläglich besoldeten Posten in der Verwaltung im Innern Frankreichs, oder der erbärmlichen Pension eines als Invalide verabschiedeten Oberlieutenants gehabt, war er auf den Gedanken gekommen, wegen dieser Sache Schritte zu thun, und hatte sich zunächst an einen alten Freund seines Vaters in Freiburg gewendet, der denn auch richtig ermittelt, daß das fragliche Lehngut längst erledigt und daß man in den Zeitungen nach dem neuen Lehnsträger gesucht. Nun habe er, erzählte er weiter, noch den Zweifel gehabt, ob man sein Recht denn überhaupt noch etwas gelten lassen werde, da er doch gehört, daß die Franzosen, wie überall, auch hier zu Lande das ganze Lehn- und Majoratswesen, wie alle Unfreiheit der Menschen, aufgehoben, aber man habe ihm versichert, es sei das Alles wohl für die Zukunft aufgehoben, aber nicht für die Vergangenheit; wenn er in der Vergangenheit, vor der Einführung der neuen Gesetze, bereits belehnt worden sei und ein Recht erworben habe, so könne ihm dies nicht angetastet worden sein – die Folge der neuen Gesetze sei nur, daß er nicht mehr unter den Einschränkungen und Bedingungen des alten Lehnrechts besitzen werde, sondern als durchaus freier Eigenthümer und Herr. Darum solle er sich nur melden.

„Gewiß, gewiß,“ unterbrach hier der Justitiar die langsam und mit großer Bedächtigkeit vorgebrachte Erzählung des jungen Mannes, „und so hat denn auch Ihr Mitbelehnter, Herr von Mansdorf hier, von Wilstorp Besitz ergriffen; Sie, als der andere zum Erben Berufene, theilen sich mit ihm darein, sodaß Sie zusammen die unbeschränkten Eigenthümer sind; die mit gegenseitigem Einverständnisse, ohne sich weiter um die alte Lehnsbestrickung zu kümmern, thun und lassen können, was Sie wollen. Wenn es Sie zum Beispiele drücken sollte, daß keiner ohne den Miteigenthümer etwas Rechtsgültiges vornehmen kann, so steht nichts im Wege, daß Sie sich in den Besitz theilen, der Eine diese, der Andere jene Hälfte nimmt, der Eine seine Hälfte an den Andern verpachtet, verkauft, wie Sie eben wollen.“

Der Angekommene richtete während dieser Rede des Justitiars seine Augen mit einem so fragenden Blicke auf diesen, daß Herr von Mansdorf darin die Aufforderung sah, seinen Beamten förmlich vorzustellen.

„Herr Plümer, mein – verzeihen Sie, unser Justitiar!“ sagte er.

Ulrich Gerhard von Uffeln verbeugte sich mit würdiger Höflichkeit vor ihm und sagte dann:

„Haben wir denn hier noch die Patrimonialgerichtsbarkeit? Auch das hielt ich für aufgehoben.“

„In der Theorie,“ antwortete lächelnd der Justitiar, „in der Theorie allerdings aufgehoben, aber in der Praxis hat das Aufheben aller früheren Dinge nicht so rasch gehen wollen, und so haben wir hier denn bei den alten Einrichtungen für’s Erste bleiben müssen. Nur muß der alte Plümer sich in die neue Gesetzgebung finden und nach dem Code Recht sprechen.“

Frau von Mansdorf sandte jetzt ihre Tochter, um für den Angekommenen Erfrischungen zu besorgen, und in ihrer freudigen Erregung ging sie gleich nachher selber, um dabei zu helfen. Und was Herrn von Mansdorf angeht, so wurde er seinerseits nicht müde, den Gast zum Trinken aufzufordern und ihm einzuschenken, und dann auf das Wohl des Fremdlings anzustoßen, den er bald unter dem Einflusse hochgesteigerter Lebens- und Gemüthswärme in vertraulichster Weise behandelte und der sich dann schon Scherze über seine Hand gefallen lassen mußte – man wisse doch nun, sagte Herr von Mansdorf, wie man sich eigentlich solch einen „gesammten Hands“-Vetter vorstellen müsse, nämlich mit einer Hand, die nichts zusammenhalten könne; deshalb sei auch nicht zu besorgen, daß der Vetter ihm zu gewaltsam in seine Verwaltung von Haus Wilstorp eingreifen werde, was ihm sehr lieb sei, da sie, dank dem Schlendriane des Herrn Fäustelmann, der Alles beim Alten lassen wollte, kühne Griffe nicht vertrage.

Und dann war Herr von Mansdorf im Begriffe, dem Vetter zu versichern, er sei überhaupt ein vortrefflicher Mensch, den er ganz versucht sei, nicht als Vetter, sondern als seinen wiedergefundenen verlorenen Sohn zu behandeln, wenn seine überströmenden Gefühle in diesem Augenblicke nicht mit einer gewissen Plötzlichkeit in’s Innere seines Busens zurückgestaut worden wären durch einen strafenden Blick der wieder eintretenden gestrengen Hausfrau, und das war recht gut, denn Herr von Mansdorf wäre sonst am Ende noch dazu übergegangen, jetzt gleich in der ersten Stunde mit dem angekommenen Vetter Brüderschaft zu trinken.

Herrn von Mansdorf’s erhöhte Stimmung war übrigens sehr verzeihlich; er konnte sich nicht allein Glück dazu wünschen, daß jetzt der Bann von ihm genommen, der auf ihm gelegen bei allem, was er hatte vornehmen wollen, dieser Mann, der sich ihm endlich als der ersehnte Miteigenthümer vorgestellt, zeigte sich auch in allen seinen weiteren Aeußerungen als ein Charakter, mit welchem es sich auf das Angenehmste müßte verhandeln lassen, mit dem Geschäftsbeziehungen pflegen zu müssen durchaus nichts Drückendes und Schwieriges haben konnte. Was sonst noch für Eigenschaften in ihm versteckt liegen konnten, die erst bei näherer Bekanntschaft an den Tag kommen würden – arrogant, rechthaberisch, streitsüchtig war er sicher nicht; er war im Gegentheil ganz offenbar von einer schüchternen Anspruchslosigkeit, wie Herr von Mansdorf sie bei seinem Mitbesitzer nur wünschen und verlangen konnte. Er liebte es mehr, sich belehren zu lassen, als selbst zu sprechen; er zeigte nicht die geringste indiscrete Neugier, über die Verhältnisse seines Eigenthums Auskünfte zu erhalten, die doch für ihn von so großer Wichtigkeit waren; er bewies Frau von Mansdorf und Fräulein Adelheid die zuvorkommendste Aufmerksamkeit – und so wurde denn der ganze kleine Kreis, in welchem er heute so plötzlich aufgetaucht, mit dem befriedigendsten Eindruck von ihm erfüllt. In dem kleinen Thurmwinkel auf Haus Wilstorp war lange kein so heiterer Abend zugebracht, keiner war so tief in die Nacht hinein bei Windlichtern, kalten Speisen, mäßig gutem Graveswein[WS 2], sehr schlechtem Tabak und höchst lebhafter Unterhaltung verlängert worden, als dieser, der den ersehnten Vetter gebracht.

Nur der Rentmeister Fäustelmann hatte an dieser Heiterkeit keinen Theil genommen. Er hatte sich schon früh im Stillen bei Seite gemacht und war gegangen – „um Gespenster zu sehen,“ sagte Herr von Mansdorf in seiner erregten Laune.

Der sympathische Eindruck, den Herr von Uffeln auf Alle gemacht, hatte sich am andern Tage nur verstärkt. Man hatte zuerst einige geschäftliche Dinge abgemacht, wobei der Justitiar und der Rentmeister zugegen waren und Ulrich sich in Alles gefügt und geschickt hatte, wie man es ihm vorgelegt, namentlich wie der Rentmeister es einzurichten gerathen, zu dessen ernstem und abenteuerlichem Kopfe der junge Mann oft hinüberschaute und der ihn mit einer gewissen stillen Scheu zu erfüllen schien. Und dann, nach Tische, hatte man einen weiten Spaziergang durch die Felder und Wälder gemacht, um dem neuen Miteigenthümer die Ausdehnung derselben und die Grenzen bis an welche sein Recht ging, zu zeigen. Ulrich von Uffeln hatte das Alles mit einem erst nach und nach erwachenden lebhafteren Interesse betrachtet und sich dabei durch Fragen nach den Bewirthschaftungsmethoden, nach den Erträgnissen einzelner Gutsbestandtheile zu orientiren gesucht. Herr von Mansdorf hatte ihm dann mit innerlichem Vergnügen höchst ausführliche Auskunft gegeben, mit einem Vergnügen, wie es ein Mann empfindet, dem diese Rolle nicht oft zu Theil wird, sondern der, wie Herr von Mansdorf, verurtheilt ist, zwischen so gescheiten Leuten, wie der skeptische Justitiar und der melancholische Rentmeister, zu leben, von denen er fast immer überstimmt wird, und namentlich einen Rentmeister zu haben, der nicht nur die Dinge dieser Welt besser versteht als er, sondern auch noch über sie weg in die jenseitige zu blicken vermag. Und während so die beiden Lehnsvettern von der Gesammthand sich unterhielten, dachte Fräulein Adelheid, welche neben ihrer Mutter schreitend ihnen folgte, mit Rührung daran, wie dankbar sie doch Alle diesem Ulrich von Uffeln sein müßten, daß er ein so gutmüthiger Mann sei, der alle den schönen, auf sein Kommen gebauten Plänen nicht das Geringste schien in den Weg legen zu wollen, daß sie nun sich für den Winter frei machen könnten und in die Welt, in den [783] schönen Süden reisen würden, wohin ihr Arzt sie senden wolle, der gute, um ihre Gesundheit so sorglich bekümmerte Arzt. Adelheid dachte an die Miene, die dieser Arzt machen würde, wenn er heute Abend herauskäme, nach ihr zu sehen, und sie ihm dann sagen würde, daß der Vetter nun endlich da sei; an die freudige Ueberraschung, die aus allen seinen Zügen leuchten würde, sie nahm sich vor, ihm um die Zeit, wo sie ihn erwartete, ein wenig auf dem Wege nach Idar, wo er wohnte, entgegenzugehen, um ihm desto eher die Freudenbotschaft zu verkünden.

Es muß hier eingeschaltet werden, daß der Arzt, der einzige, den das Städtchen besaß, ein noch sehr junger und auffallend hübscher Mann war.

Die gestrenge Dame, Adelheid’s Mutter, war unterdeß mit anderen Gedanken und Plänen schwerwiegender Art beschäftigt, Gedanken, welche sich ihrer schon in der Nacht bemächtigt, sich jedoch noch in tiefes Schweigen hüllten. Dabei lag ein Ausdruck einer stolzen Rührung in ihren Zügen, wenn sie auf die beiden vor ihr wandelnden Männer blickte, ein Ausdruck, der verrieth, wie wohl es ihrem adeligen Herzen that, daß diese beiden Männer sich um einer so rückhaltslosen und unbegrenzten Ehrlichkeit ohne den geringsten Hintergedanken über ihre beiderseitigen Rechte verständigten, sodaß an jene feindliche Reibung der Interessen, die immer so leicht da zu entstehen pflegt, wo es sich um das Mein und das Dein handelt, hier gar nicht zu denken war.

Auf dem Heimwege, den man etwas rascher schreitend zurücklegte – denn Herr von Mansdorf zeigte sich von der Vorstellung gequält, daß der Lehnsvetter außerordentlich durstig geworden sei und ein brennendes Verlangen nach einem guten kühlen Trunke empfinden müsse – auf dem Heimwege schritten Ulrich von Uffeln und Adelheid neben einander.

„Wie ganz anders,“ sagte Adelheid, „mögen Sie sich dies Alles, unsere ganze Umgebung vorgestellt haben, als Sie es nun finden, Herr von Uffeln, ganz gewiß viel schöner und reicher!“

Ulrich schüttelte den Kopf. „Ob ich es mir schöner vorgestellt habe? O nein. Anders wohl – nun ja – doch um Ihnen die Wahrheit zu sagen, eigentlich habe ich es mir gar nicht vorgestellt. Ein Schloß, einen großen Grundbesitz umher, gütig und mit rührender Freundlichkeit mich aufnehmende Menschen – das Alles mir vorzustellen habe ich gar nicht gewagt. Mein bisheriges Leben war nicht so, daß ich an so etwas als mir beschieden denken konnte. Ich bin immer arm und auf mich selbst angewiesen gewesen im Leben; ich war Soldat und war es ohne Beruf dazu, ohne alle Neigung; ich fühlte mich seit je unglücklich in der schrecklichen Kriegsknechtsjacke, in der ich marschiren mußte und wieder marschiren, und immer marschiren nach Orten und Gegenden, nach denen mich absolut nichts zog; ich mußte mich in dieser Kriegsknechtsjacke als den Todfeind von Menschen betrachten, die todtschlagen zu helfen ich hunderte von Meilen weit hergekommen war, ohne daß diese Menschen mich irgend etwas angingen, ohne daß sie mir je etwas in den Weg gelegt hätten. Und wenn man so denkt und fühlt, Fräulein, so hat man unter den Soldaten, mit denen man leben muß, auch keine Freunde – und ist sehr, sehr allein. Ohne Heimath und Freunde und ohne einen Lebenszweck fühlt man sich als einen willenlosen Spielball des Schicksals und entwöhnt sich des Gedankens an die Möglichkeit, daß man einmal zu eigenem Rechte, zu Eigenthum und Selbstbestimmung gelangen werde. Man ist so herumgestoßen, so daran gewöhnt, nur nach dem Willen Anderer sich zu rühren und zu bewegen – wie kann man da noch an das Glück einer nur von sich selbst abhängenden Existenz glauben und sich in Gedanken die Dinge ausmalen, die eine solche Unabhängigkeit gewähren?“

Adelheid nickte, während ihr Begleiter mit sinnigem Tone so sprach, verständnißinnig und gerührt über das Schicksal einer so freudlosen und verlassenen Jugend, wie sie dieser gute Lehnsvetter gehabt hatte.

„Es ist wahr,“ sagte sie, „aber daß es so ist, hat nun doch wenigstens etwas Gutes. Denn nun sind Sie nicht mit übertriebenen Vorstellungen zu uns gekommen und finden sich durch die Beschränktheit und Anspruchslosigkeit unserer Verhältnisse nicht enttäuscht.“

„O nein, sicherlich nicht,“ rief er lächelnd aus, „ich bin überrascht, beschämt und ganz gedemüthigt bei dem Gedanken, daß ich in einer solchen reizenden kleinen Welt als eine Persönlichkeit betrachtet werde, die hier nun mit zu sagen und zu bestimmen habe, daß ich hier ein gleiches Recht wie Ihr Vater haben soll; es ist das erste Mal in meinem Leben, daß man mich nach meinem Willen fragt, und das macht mich – bis jetzt wenigstens noch – eher verzagt und beschämt als alles Andere. Ich möchte am liebsten Alles lassen, wie es ist, Alles in die Hände Ihres Vaters legen und mich zufrieden erklären, wenn Sie mich als Freund in Ihrem Hause aufnehmen und mich in dem schönen Eckzimmer, in dem ich diese Nacht einquartiert gewesen bin, ruhig bei meinen Musikübungen lassen wollen.“

„Ah, Sie sind musikalisch?“

„Ein wenig. Ich hatte nur während meines Kriegslebens nicht die Zeit, mich auszubilden. Und jetzt hindert mich meine verwundete Hand. Ich blase die Flöte.“

„O, wie fatal dann diese Verwundung ist!“

„Die mich doch zu Ihnen geführt hat – ich segne sie deshalb.“

„Es ist wahr,“ entgegnete Adelheid, die von seiner Gutmüthigkeit und Anspruchlosigkeit ganz gerührt war. „Da Sie nun aber hier sind, müssen Sie sich doch auch ein wenig in Ihre Herrenrechte und Pflichten einstudiren.“

„O ja, gewiß, ich will das ja auch. Stehen Sie mir darin ein wenig bei! Sie sehen, des Beistandes werde ich noch lange bedürfen. Nehmen Sie sich ein klein, klein wenig meiner an! Das würde mich sehr glücklich machen.“

„Ich will Ihnen wenigstens sagen, was ich Ihnen rathen würde,“ entgegnete Adelheid leicht erröthend. „Sehen Sie, mein Vater ist von einer gar zu großen Nachgiebigkeit und zu großem Vertrauen auf alle Menschen – er ist so gut, der Vater. Wenn Sie nun auch noch so vertrauensvoll und mit Allem zufrieden und einverstanden sind, dann entsteht die Gefahr, daß Sie beide mißbraucht und übervortheilt werden …“

„Sicherlich, aber Herr Fäustelmann scheint mir Alles so gründlich zu kennen und seiner Herrschaft so ergeben …“

„Fäustelmann? Nun ja, obwohl ich …“ Fräulein Adelheid dämpfte ein wenig ihre Stimme, „obwohl ich nicht recht weiß, ob meine Eltern recht thun, ihm so unbedingt zu glauben und zu vertrauen. Es ist mir oft – Sie verrathen mich nicht, nicht wahr? – es ist mir oft, als ob aus seinem Spuksehergesichte etwas von einem Schelm blickte; ich will ihm nicht zu nahe treten, und es ist ja gewiß eine wunderbare Gabe, die er hat; Sie werden selbst erleben, welche Vorgeschichten er sieht und wie wundersam sie sich erfüllen – aber ich meine, daneben wäre auch etwas Hinterhältiges in ihm und er spielte zuweilen mit den Menschen, die soviel Respect vor seiner übernatürlichen Gabe haben …“

„Sie meinen,“ fiel Ulrich von Uffeln wie betroffen ein, „er beutete den schönen Glauben der Leute an ihn zu seinem Vortheile aus.“

Adelheid nickte. „Ich habe ein Gefühl, als ob es zuweilen so wäre,“ sagte sie.

Ulrich von Uffeln schwieg darauf.

„Ich will es mir merken,“ sagte er nur nach einer langen Pause, ohne mit irgend einer Frage auf Herrn Fäustelmann’s übernatürliche Gabe zurückzukommen, die für ihn, als einen im Lande Fremden, doch sehr auffallend sein mußte. Menschen wie dieser Rentmeister waren eine specielle Eigenthümlichkeit seiner neuen Heimath, von der er doch bisher noch nicht vernommen haben konnte. Aber er fragte nicht weiter nach Herrn Fäustelmann. –

Als man heimgekommen war, nahm Herr von Mansdorf den Lehnsvetter mit sich in den epheuumwobenen Thurmwinkel und sandte seine Gemahlin nach Löschungsmitteln für den durch die Wanderung entstandenen Durst. Adelheid ging hinein und blieb eine Zeitlang in ihrem Zimmer; dann kam sie aus dem mittleren Thurme, in welchem die Wendeltreppe zu den Wohnräumen emporführte, mit einem Umschlagtuche gegen die Abendluft bekleidet, in frisch geordnetem und aufgestecktem Haar heraus, einen mit einem Asternstrauß geschmückten Strohhut in der Hand schaukelnd. Sie sah sehr hübsch aus, das schlanke Fräulein mit dem feinen leise gerötheten Kopf, wie sie elastischen Schrittes und offenbar fröhlich erregt so der alten Thorbrücke zuschritt. Aber noch hatte sie die morschen Bohlen dieser Brücke nicht betreten, als sie von ihrer Mutter eingeholt wurde.

„Adelheid, wohin willst Du noch?“ fragte die gestrenge Dame scharf.

[784] „Ich will dem Doctor Günther ein wenig entgegen gehen. Du weißt, Mama, er wird heute Abend kommen, um nach mir zu sehen.“

„Nun ja,“ versetzte die Mama, „so mag er kommen; es ist aber durchaus nicht nöthig, daß Du ihm in den Wald entgegenläufst.“

„Aber das that ich ja oft.“

„So ist es Zeit, daß es aufhört; es ist unpassend für Dich, und ich will es nicht. Was Doctor Günther Dir zu sagen hat, kann er Dir in meiner Gegenwart sagen.“

Frau von Mansdorf kehrte damit zum Thurmwinkel zurück, und Adelheid folgte ihr, ganz überrascht und ängstlich sich fragend, was diese plötzliche Strenge der Mama zu bedeuten habe.




4.

Herr von Mansdorf hatte mit dem neu angekommenen Lehnsvetter einen Besuch im fürstlichen Schlosse gemacht und Prinzessin Elisabeth ihn mit eigenen Augen gesehen – was Wunder, daß sie gründlich überrascht war, als sie bei der einige Tage darauf stattfindenden Waldbegegnung mit dem sonderbaren Fremden auf dessen Karte den Namen „Ulrich Gerhard von Uffeln“ las und in die Worte ausbrach: „Ein Doppelgänger!“

Es hatte nie in ihrem freilich noch jungen Leben etwas so ihre Phantasie in Anspruch genommen, wie die Erscheinung dieses Mannes und das Räthsel, das er ihr am Ende der Unterredung damals aufgegeben. Im Grunde war das nicht wunderbar. Ihr Leben war zwar nicht ganz so farblos melancholisch und von so trüber Einförmigkeit, wie er es sich vorzustellen schien, aber monoton und arm an aufregenden Ereignissen und neuen Erscheinungen, welche ihre Sympathie hätten gefangen nehmen können, war es in der That in hohem Grade, und wenn es das auch nicht gewesen wäre – wir glauben, dieser fremde Mensch mit seiner anziehenden Erscheinung, mit seiner ganz außergewöhnlichen Art, die Dinge aufzufassen und anzuschauen, mit den geistreichen, vornehmen Zügen hätte Prinzessin Elisabeth dennoch in ein unruhiges Nachdenken versenkt, von dem sie sich befangen fühlte, seit er von ihr geschieden war.

Jedoch mit dem Nachdenken und Brüten über das Räthsel, welches er ihr aufgegeben, kam sie nicht zur Lösung desselben, und da es sie täglich mehr reizte, eine Erklärung desselben zu erhalten, schlug sie endlich den Weg ein, der sich als der einzige bot: nämlich wieder ihre Zuflucht zu dem Meyer zu Jochmaring zu nehmen. Der Fremde hatte ihr verrathen, daß die Quelle dessen, was er von ihr gehört habe und wisse, der Meyer sei. Somit mußte dieser ihn kennen und Auskunft über ihn geben können; es stand nichts im Wege, einmal wieder eine Wanderung durch den Wald zum Meyer zu unternehmen.

Prinzessin Elisabeth machte also an einem schönen Nachmittage, von ihrer getreuen Marianne begleitet, diese Wanderung – als Vorwand diente ihr, daß sie dem Meyer den Schuldschein ihres Vaters über seinen Geldvorschuß bringen wolle; nach einem raschen Gange durch den Wald saß sie einmal wieder unter den Eichen auf dem Meyerhofe, auf dem kleinen Anger zwischen dem Hause und dem Flüßchen, das den Hof auf drei Seiten umkreiste, aber leider nicht dem ruhigen Meyer gegenüber, mit dem sich ein Gespräch sinnig einleiten und dann mit der klugen Ueberlegung, welche Prinzessin Elisabeth zu Gebote stand, allmählich dahin lenken ließ, wohin man es haben wollte, sondern der Frau Meyerin gegenüber, bei welcher dies vollständig unmöglich war, weil die Zunge der gutmüthigen, wohlgenährten kleinen Frau, einmal in Bewegung gesetzt, ihren eigenen Lauf nahm, von dem sie dann abzubringen eine hoffnungslose Sache war. Die Meyerin hatte Erfrischungen für die Prinzessin herausgebracht, Obst und Honig, und sie mit einigen höchst merkwürdigen Vorkommnissen bei den verschiedenen Stadien, welche die Production von Flachs, Garn und Leinewand auf dem Jochmaringhofe in diesem Jahre durchlaufen hatte, bekannt gemacht; dann hatte sie bereits dieselben kundigen Entwickelungen über das große Thema Butter begonnen, bis der Prinzessin klar wurde, daß sie hier direct auf’s Ziel losgehen müsse. Und so sagte sie geradezu, daß sie eigentlich gekommen, um den Meyer, der heute unglücklicher Weise beim Grummetschnitte auf den weit entlegenen Wiesen war, nach einem fremden Manne zu fragen, den er kennen müsse, weil derselbe sich bei der Prinzessin auf ihn berufen habe – sie könne aus diesem Manne nicht klug werden.

Die Meyerin blickte sie mit einem Gesichte an, aus dessen wasserblauen Augen das innere Vergnügen, über diesen Mann reden zu können, leuchtete.

„Sie haben ihn gesehen, mit ihm gesprochen, Durchlaucht?“ sagte sie, ihre Stimme dämpfend. „Nun darf ich ja mit Ihnen darüber reden – das ist der wunderlichste Heilige, der mir jemals vorgekommen ist. Der ist zu uns gekommen eines schönen Abends, um die Eulenflucht, und hat dem Meyer einen Zettel gebracht von unserem Anerben, dem Anton, wissen Sie, Durchlaucht, der in Spanien ist, und darauf hat gestanden: ‚Liebe Eltern, helft dem Herrn, der Euch dies bringt, in Allem und Jedem, dessen er benöthigt sein könnte! Er wird Euch das Weitere selber berichten.‘ Und das ist Alles gewesen, aber wir haben darauf gethan, was wir gekonnt haben und was er verlangt hat.“

„Und was hat er verlangt?“

„Ein Unterkommen und eine Wohnung, in der er ganz still und verborgen leben könne, von Niemandem gesehen und von Niemandem gestört; die erste Nacht hat er auf unserem Hofe geschlafen, am andern Tage aber hat er sich von unseren Köttern Den ausgesucht, der am weitesten entfernt und ganz abseit von der Welt liegt, und in dessen Kammer hat er sich eingerichtet, und da haust er nun; einen großen Koffer, den er mitgebracht, hat er sich durch den Kötter aus Stockheim holen lassen, und was die Kötterfrau ihm zurechtkocht und schmort, damit ist er zufrieden, und zuweilen kommt er und discutirt mit dem Meyer – aber wer er eigentlich ist und was er will, das wissen weder der Meyer noch ich; so können wir denn weiter nichts thun, als ihn gehen lassen und ihm den Gefallen thun, an dem ihm am meisten gelegen scheint – keiner Menschenseele etwas über ihn zu sagen.“

„Seltsam! Und das ist Alles, was Ihr von ihm wißt?“

„Alles, nur daß er in seinem Koffer vielerlei Bücher hat, über denen er die meiste Zeit des Tages hockt, und daß er den Kötter mit Gold bezahlt hat, das dieser hat in Idar wechseln lassen müssen und das, wie die Leute dort ihm gesagt haben, englisches Gold gewesen ist.“

[797] Englisches Gold! Das brachte eine Ideenverbindung hervor, in der etwas wie eine Aufklärung lag. Das englische Gold war damals überall da, wo es sich um Anstrengungen und Agitationen wider die französische Macht handelte; englisches Gold war wie das Blut, das durch die Adern der allgemeinen Empörung pulsirte, die sich gegen den großen Verderber erhoben hatte, und so war der Fremde vielleicht auch eines der Werkzeuge des großen Weltkampfes, ein Werkzeug, das sich noch verborgen hielt, vielleicht im Verborgenen wirken, vielleicht auch eine bestimmte Stunde abwarten sollte, bis die Zeit des Wirkens da war.

Das waren die Gedanken, welche in Prinzessin Elisabeth aufstiegen, als die Meyerin ihr von dem englischen Golde sagte, obwohl es dann wieder sehr räthselhaft wurde, wie der Fremde in Spanien mit dem Anerben dieses Hofes zusammengetroffen sein konnte, der doch dort unter französischen Fahnen diente.

„Hat er Euch nichts von Eurem Sohne erzählt,“ fragte sie deshalb, „wie und wo er mit diesem zusammengekommen?“

Die Meyerin schüttelte den Kopf. „Der Meyer,“ antwortete sie, „sagt, er habe ihm wohl allerlei erzählt, wie sie in einer Stadt zusammen im Quartiere gelegen, in einem Platze, wo die Engländer die Herren gewesen und wo sie unseren Anton als Gefangenen gehabt, den sie doch nachher den Franzosen wieder herausgegeben, aber weiter habe ich nicht viel davon begreifen können, und der Meyer wohl auch nicht. Aber meiner Seele, das ist ja der Herr selbst, der dort über die Laufbrücke kommt!

Die Prinzessin schaute auf; sie sah in der That den Fremden über die schmale Holzbrücke herankommen, welche drüben an der anderen Seite des Hauses über den Fluß führte; er ging langsam, die Hände auf dem Rücken, die Blicke nachdenklich auf den Boden gerichtet. Als er dann, sein Haupt wie zufällig erhebend, die Prinzessin wahrnahm, richtete er seine Schritte geradenwegs auf sie zu, ohne die letzteren doch im geringsten zu beeilen oder zu verlangsamen.

Die Prinzessin fühlte, daß sich ihre Farbe ein wenig veränderte, als sie den Mann, mit dem sich ihre Gedanken so viel beschäftigt hatten, jetzt unerwartet vor sich treten sah, und das Gefühl, daß sie erröthete, nahm ihr etwas von ihrer sonst nicht leicht zu erschütternden Unbefangenheit. Dazu kam, daß er seine unter den breiten Lidern halbverschleierten Blicke mit nichts weniger als dem Ausdrucke großer Ehrfurcht, sondern ganz keck und verwegen und so wenig demüthig auf ihr ruhen ließ, als ob er eine von des Meyers Hofmägden vor sich sehe.

Er zog seinen Hut jedoch mit einer sehr galanten weltmännischen Verbeugung und ließ sich ruhig auf den Stuhl, den die Meyerin ihm hinstellte, nieder, indem er sagte:

„Ich bin sehr glücklich Sie zu sehen, Durchlaucht; wie glücklich, das kann ich Ihnen freilich nicht deutlich machen; dazu müßten Sie, wie ich, den ganzen Tag Geschichte studirt und mit Ihren Gedanken sich in eine todte Welt eingewühlt haben, um dann, aus diesem Versunkensein erwachend, die grauenhafte Leere Ihrer Gegenwart, der stillen Kötterwelt um Sie her, zu fühlen. Dann erst würden Sie das Gefühl verstehen können, mit dem ich hier ein Stück lebendigen, reizenden Lebens finde, das nun plötzlich alle Schatten der Vergangenheit vor einer einzigen Gestalt der Gegenwart die Flucht ergreifen läßt. Seien Sie gesegnet dafür, obwohl Sie gewiß nicht mit solcher Absicht herkamen!“

„Nein,“ versetzte die Prinzessin lächelnd, „ich kam nicht mit der Absicht her, solch metaphysische Complimente zu ernten, auch nicht in der Erwartung, Jemand in unserer bewegten Zeit von der ‚Leerheit unserer Gegenwart‘ reden zu hören …“

„Davon redete ich nicht; ich sprach von der grauenhaften, gottverlassenen Leere der Welt um mich her und verstand darunter nicht die Gegenwart überhaupt, sondern zunächst nur den Bering einer ärmlichen Kötterei, in welcher ich lebe.“

„Hindert Sie etwas diesen Bering zu verlassen und für die Gegenwart zu leben, da, wo sie eben aller männlichen Kräfte zu ihren Kämpfen bedarf?“

„Es muß wohl so sein, Durchlaucht,“ versetzte er leise mit dem Kopfe nickend. Und dann nach einer Pause setzte er hinzu: „Ich bin sehr lange im Kriege gewesen; ich habe den Krieg in seiner herzzerreißendsten Gestalt kennen gelernt; ich war in Spanien und habe dort Monate lang die heißesten aufreibendsten Kämpfe mit den Guerillas durchfechten helfen müssen; ich habe Scheußlichkeiten angesehen, bin durch Blutlachen gewatet, habe mich durch Feuer und Flammen schlagen müssen – das war endlich nicht mehr auszuhalten; ich gerieth in einen Zustand von innerem Elend, von Empörung über dieses Leben, das ich zu führen gezwungen war, und nahm es als eine wohlthätige Erlösung auf, als ich endlich wegen eines Subordinationsvergehens –“

„Sie hatten Ihren Cameraden durch den Kopf geschossen, [798] wie Sie neulich erzählten,“ fiel die Prinzessin mit einem halb ernsten, halb ironischen und Zweifel ausdrückenden Tone, ein, „war es Das?“

„Richtig! Das war es, und Das rettete mich aus einer ganz unerträglichen Lage. Weil ich ein Deutscher war, dem sie schon nicht mehr recht trauten, erwiesen mir nämlich die Franzosen, unter denen ich diente, die Wohlthat, die Sache ungewöhnlich ernst zu nehmen und mich vor ein Kriegsgericht zu stellen, das mich zum Füsilirtwerden verurtheilte?“

„Ich bitte Sie – das ist ja schrecklich.“

„Es ist so. Füsilirt ohne Appell und Gnade. Das Urtheil mußte vom Divisionsgenerale bestätigt werden, und weil der Divisionsgeneral eben entfernt und vor dem Feinde beschäftigt war, habe ich zwei Tage als Verurtheilter warten müssen, bis diese Bestätigung herbeigeholt war. Zwei Tage lang. Haben Sie eine Ahnung davon, was Das sagen will? Zwei Tage, während welcher man keinen Schritt sich nahen hören kann, ohne zu erwarten, daß es der des Mannes ist, der eintreten wird, um zu sagen: ‚Komm! Der Augenblick ist da!‘ Zwei Tage! Und dann, o, die Nächte! die Nächte!“

Der Fremde fuhr mit der Hand über sein sprechendes Gesicht, das mit seinem wechselnden Ausdrucke beim Reden etwas eigenthümlich Anziehendes erhielt; es schien, als ob er die verschleierten Augen schließen wolle vor den Schatten der grauenhaften Erinnerung, welche er heraufbeschworen hatte.

„Mein Gott,“ sagte die Prinzessin tief athmend und furchtbar erschüttert, „zwei Tage lang, zum Tode verurtheilt, auf den Augenblick des Todes warten zu müssen – wie ist es möglich, das auszuhalten – wie können Menschen einander solche Qualen auferlegen?!“

„Daß es möglich ist, es auszuhalten, sehen Sie an mir, Durchlaucht; denn ich lebe noch; ich wandle wirklich noch im Fleische umher, wenn ich nicht irre; denn zuweilen kommt es mir vor, als irre ich, als gehöre ich der Welt, die mich umgiebt, dieser mir völlig fremden Welt, diesen ganz fremden Leuten, unter denen ich umhergehe, und diesen ganz fremden Interessen, für die sie existiren, durchaus nicht mehr an, als sei ich eigentlich ein Todter, aber ein verirrter, der den Weg in’s Jenseits, die Thür in die andere Welt nicht habe finden können, und laufe ich nun so ziellos umher, um nächstens vielleicht als Stellvertreter für den ewigen Juden eingestellt zu werden.“

„Aber erzählen Sie doch weiter! Was ward daraus? Wie wurden Sie gerettet?“ fiel die Prinzessin ein.

„Wie ich gerettet wurde? Wunderlich genug! Die Bestätigung des Todesurtheils kam gegen Abend an. Es sollte noch in derselben Stunde ausgeführt werden. Ich wurde aus dem Kerker geführt, die Hände auf den Rücken gebunden, den unerläßlichen Kapuziner neben mir; vor dem Gebäude marschirte das Detachement auf, welches mich escortiren und draußen vor der Stadt in die andere Welt befördern sollte. Während es sich in Marsch setzte und wir durch die engen, schon dämmernden Gassen der kleinen spanischen Stadt schritten, vernahm ich in der Ferne Flintenschüsse; man achtete nicht darauf; dann aber vermehrten sich die Schüsse. Sie kamen von der Seite her, nach welcher wir marschirten. Der commandirende Officier ließ die Truppe ihren Marsch beschleunigen. Wir passirten das enge Stadtthor; wir betraten bereits den Anger vor dem Thore, auf welchem ich den Hügel Erde erblickte, der aus meinem Grabe aufgeworfen war – da ertönte plötzlich hinter uns, im Innern der Stadt, der Generalmarsch und zugleich erneutes Schießen, als ob die Stadt irgendwo von einer entgegengesetzten Seite angegriffen würde. Mein Detachement setzt sich in heftige Bewegung, um sich rasch meiner zu entledigen und ein Ende mit mir zu machen; schon commandirt der Officier ‚Halt?‘ – da plötzlich fällt vor uns ein Schuß; auf dem mit verbranntem Gras bedeckten Höhenkamme, der den Anger begrenzt, tauchen Männer und zugleich vor und zwischen ihnen blaue Rauchwölkchen auf; sie vermehren sich – es sind Guerillas, die, mit anderen Trupps combinirt, einen Angriff auf die Stadt machen und sie durch einen Ueberfall zu nehmen versuchen. Unser Officier, in seiner Ueberraschung, verliert den Kopf; er befiehlt, vorzugehen auf die angreifenden und sich jetzt den Hügel herunterstürzenden Banden, sieht, daß diese Banden sehr stark über den Höhenkamm heranfluthen, wendet sich, will den Rückzug commandiren, erblickt jedoch seine Leute bereits im vollen Laufe dem Stadtthore zu, um sich hinter demselben zu retten. Niemand kümmert sich dabei um mich, auch bin ich sehr bald von den Guerillas umringt, angeschrieen und zum Gefangenen gemacht. Als ich dann erkläre, ich sei ein eingefangener Engländer und habe, weil man mich für einen Spion gehalten, erschossen werden sollen, überläßt man mich mir selber und ich säume natürlich nicht, mich aus dem Staube zu machen. Nachdem ich die Nacht durchwandert, gelingt es mir, ein englisches Corps zu erreichen, dem ich mich als geborenen Deutschen und französischen Officier; mit der Angabe vorstelle, daß ich den Ueberfall durch die Guerillas benutzt, um auszureißen. Sie müssen wissen, daß es eben häufig vorkam, daß Deutsche aus den Reihen des französischen Heeres sich zu den Engländern flüchteten. Als ich bei diesem Corps verweilte, stieß ich auf einige den Franzosen bei einer ganz frischen Affaire abgejagte Gefangene. Es war darunter ein Mann aus dieser Gegend, der früher in meiner Compagnie gestanden und der mir sehr zugethan war – der Sohn des Meyers; da ich ihm sagte, daß ich über England hierher reisen wolle, gab er mir die Empfehlung an seinen Vater mit …“

„Ist er denn Gefangener?“

„Nicht mehr. Er wurde nach wenigen Tagen bereits, als ein Gefangenenaustausch stattfand, umgewechselt.“

„Und Sie?“

„Ich reiste nach einigen Wochen, sobald es mir gelungen war, mir Geld zu verschaffen, das ich aus Deutschland über England kommen lassen mußte, nach England und von dort nach einem deutschen Hafen.“

„Und dort drängte es Sie nicht, in die Reihen Derer einzutreten, welche eben für Deutschland kämpfen?“

„Nein – ich mag nicht mehr Soldat sein. Ich kann es nicht mehr. Begreifen Sie es nicht?“

„Gewiß! Aber nun haben Sie sich unter falschem Namen hierher gewagt, denn der richtige würde Sie immer, wenn die französischen Behörden Sie hier fänden, in große Gefahr bringen.“

„Unter falschem Namen?“

„Nun, sicherlich – der Name, den Sie sich beilegten, ist doch nicht der Ihre? Er gehört einem Andern – das wissen Sie doch? Nehmen Sie sich deshalb in Acht! Man könnte Sie zur Rechenschaft ziehen.“

„Freilich, man könnte das.“

„Nun ja, glauben Sie, Herr von Uffeln sei in sein eben gefundenes Gut, in seine neue Herrlichkeit und in das Liebesleben, das sich für ihn daran geknüpft hat, so versunken …“

„Ein Liebesleben?“

„Man sagt ja, daß er Fräulein Adelheid von Mansdorf heirathen wird.“

„Sagt man das?“

„Freilich – und es ist ja auch so natürlich, daß hier die Hände, wie die Interessen sich verknüpfen.“

„Das ist es,“ versetzte der Fremde und verfiel dabei in ein dumpfes Brüten.

„Worüber denken Sie nach?“

Er fuhr, wie erwachend, mit der Hand über die Stirn und sagte:

„Reden wir von anderen Dingen! – Was führt Sie hierher, Durchlaucht? Die Liebe zu diesen schönen alten Bäumen? Sie haben Recht, daß Sie ihnen Ihre Liebe zuwenden.“

„Sie erwidern sie nur nicht.“

„Es ist glücklicher Menschen Loos, zu lieben, ohne Erwiderung zu finden.“

„Glücklicher? Wie paradox!“

„Und doch wahr. Eine erwiderte Liebe, die auf dem alltäglichen Wege zur hausbackenen Ehe führt, geht sehr bald im Philisterthume unter; der Duft, die Poesie verflüchtigt sich da, und das Gemüth kommt gar nicht dazu, die Blume des Lebens sich entwickeln, entknospen, aufblühen zu lassen – die eigentliche Blume des Lebens, die Leidenschaft. Sind das nicht unglückliche Menschen, die, ohne je die Leidenschaft kennen zu lernen, durchs Leben gehen, träumend, schlummernd? Nur wer so glücklich ist, unerwidert zu lieben, der lernt sie kennen, der erfährt etwas vom Dämonischen der [799] Existenz, dem reißt das Leiden alle dunkeln verborgenen Ströme des Innern auf, der erkennt des Menschenthums ganzen Umfang, seine ganze Tiefe. Ist er deshalb nicht glücklich zu schätzen?“

Die Prinzessin schüttelte, verwundert über solche Ansichten, nachdenklich den Kopf. Nach einer Pause sagte sie lächelnd:

„Dann hatten Sie freilich Recht, sich bei Ihrer Liebe gründlich vor einer Erwiderung sicher zu stellen.“

„Bei meiner Liebe? Ach, ich erinnere mich, was ich Ihnen damals sagte – wie war es doch?“

„Wie, Sie hätten Ihre arme Nonne schon vergessen? So muß diese Leidenschaft keine sehr große gewesen sein.“

„Vielleicht,“ entgegnete der Fremde, mit einem feinen, bedeutungsvollen Lächeln die Prinzessin träumerisch anblickend, „ist sie verdrängt durch eine neue, größere.“

Die Prinzessin erröthete und stand auf. Das war zu viel der Unbefangenheit, der Offenheit, falls es das war, oder der Keckheit ihr gegenüber. Ihr durchlauchtiges Blut empörte sich über so viel Verwegenheit. Sie sprach noch ein paar Worte zu der Meyerin, die während der ganzen Unterhaltung als stumme Zuhörerin dagesessen hatte; sie reichte dann dieser die Hand, trug ihr Grüße an den Meyer Jochmaring auf, winkte ihre Marianne herbei und ging – ging davon, ohne den verwegenen Mann, der sie so beleidigt hatte, auch nur noch eines Blickes zu würdigen.

Dieser blickte ihr nach, sinnend, ruhig, ernst und mit einem leisen Lächeln, das um seine Mundwinkel spielte. Dann wandte auch er sich zum Gehen, er ging, nachdem er der Meyerin die Hand gegeben, schweigend fort.

Die Prinzessin schritt sehr rasch ihres Weges. Sie war offenbar in hohem Grade erregt. Marianne, die einige Male ein Gespräch zu beginnen versuchte, erhielt keine Antwort.

Endlich, als sie bereits nahe dem Schlosse von Idar waren, sagte die Prinzessin laut und heftig:

„Ich glaube, er ist ein ganz abscheulicher Lügner und lacht nun über mich, weil ich ihn so kindlich gläubig angesehen habe, während er mir das Unmöglichste aufband. Der impertinente Mensch!“

Sie war in einem furchtbaren Zorne gegen ihn. Je mehr sie jetzt über die ihr erzählten Geschichten nachdachte, desto klarer und offenbarer wurde es ihr, daß sie sammt und sonders erdichtet und erlogen seien, daß solche wunderbare Abenteuer, wie er sie gehabt haben wollte, ganz unmöglich sich wirklich zugetragen haben könnten, daß er nur ihrer Leichtgläubigkeit gespottet, und dieser Spott, dieses übermüthige Spielen mit ihr, das sich solch ein unter gestohlenem Namen umherlaufender, vor der Obrigkeit sich verbergender Mensch, der irgend ein Verbrechen begangen haben mußte, erlaubt hatte – das empörte sie grenzenlos.

Und was sie innerlich noch obendrein kränkte, das war ihr eigenes Benehmen. Es kam ihr vor, als habe sie ihm viel zu viel Ehre damit angethan, daß sie ihm ihr Beleidigtsein gezeigt; sie hätte seine letzten Worte gar nicht verstehen müssen. Das allein wäre ihrer würdig gewesen. Sie machte sich bittere Vorwürfe, daß sie sich so tactlos benommen!




5.

Unterdessen hatte sich Herr Ulrich Gerhard mit seiner ruhigen Anspruchslosigkeit wie ein Mitglied der Familie auf Haus Wilstorp eingewöhnt und eingelebt. Er stopfte Herrn von Mansdorf die Pfeifen und trank mit ihm; er hörte Frau von Mansdorf mit der gewinnendsten Aufmerksamkeit an, wenn diese ihm die ganz außerordentlich schwer zu begreifende Verwandtschaft zwischen denen von Uffeln und denen von Mansdorf auseinander setzte und ihn in die übrigen genealogischen Verhältnisse der Gegend und namentlich auch die des Fürstenhauses zu Idar einweihte. Fräulein Adelheid aber machte er mit einer gewissen schüchternen Befangenheit den Hof, obwohl ihm diese von Allen das wenigste Entgegenkommen zeigte. So offenherzig und liebenswürdig Fräulein Adelheid gegen Jedermann war, so auffallend war es, daß sie diese gewinnenden Eigenschaften dem Lehnsvetter am wenigsten zeigte und ihn mit einer Kühlheit zu behandeln begann, welche den liebenswürdigen Charakter dieses jungen Mannes nur noch in einem schöneren Lichte zeigte, da er sich durch eine persönliche Empfindlichkeit, die bei solcher Behandlung so natürlich gewesen wäre, nicht im Geringsten in der treuen Verehrung stören ließ, die er gleichmäßig fortfuhr ihr zu widmen. Uebrigens mochte, wenn Adelheid sich ungewöhnlich ablehnend und unfreundlich gegen ihn benahm, dies auch mit ihrem körperlichen Zustande zusammenhängen, der sich offenbar nicht gebessert hatte; sie sah angegriffen aus und klagte oft über Ermüdung und Kopfschmerz – ein Zustand, der doch ihrer Mutter keinerlei Sorge einzuflößen schien, denn diese sagte mit strenger Miene nichts dazu als:

„Es wird schon vorübergehen, wie es oft vorübergegangen ist. Nach Doctor Günther darum zu senden, ist durchaus nicht nöthig. Ich will den Doctor nicht ewig mehr im Hause sehen; wir werden uns jetzt schon selbst helfen können. Dank der Güte des Vetters Uffeln, welcher uns seinen ganzen noch auf dem Gerichte liegenden Antheil an den Holzschlaggeldern, und was ihm sonst nachzuzahlen ist, zur Disposition gestellt hat, werden wir für den Winter in den Süden gehen – das wird Dich gründlich curiren.“

Adelheid mußte sich nicht so zuversichtlicher Hoffnung über die Heilkraft eines Winters im Süden hingeben, denn als die Mutter sie verlassen hatte, schoß ihr ein Strom von bitteren Thränen in die Augen und tröpfelte über ihre bleich gewordenen Wangen.

Es war offenbar so, wie Prinzessin Elisabeth gesagt: das bereits umlaufende Gerücht von einer Verbindung der Hände wie der Interessen auf Hans Wilstorp hatte seinen guten Grund; denn Frau von Mansdorf war sehr entschlossen, eine solche Verbindung durchzusetzen. Und so hatte sich für Adelheid die Ankunft des Lehnsvetters durchaus nicht zu dem freudigen Ereigniß gestaltet, das sie für alle Anderen war.

Für alle Anderen sagen wir und müssen doch noch eine zweite Ausnahme machen – die eines zierlich gebauten jungen Mannes mit feinen klugen Zügen und schöngelocktem dunklem Haar, der, während Adelheid so im Stillen Thränen vergoß, in dem Arbeitszimmer des Justitiars Plümer saß und in der vornehmen Anmuth, die über seine ganze Persönlichkeit ausgegossen war, einen eigenthümlichen Contrast zu dem ältlichen Herrn im zerrissenen Schlafrocke und der schnupftabakbeschmutzten Wäsche bildete, in dessen intelligente und verschmitzt dreinschauende Augen er blickte. Von des fleißigen und vielbeschäftigten Actenmannes Umgebung dagegen konnte man nicht sagen, daß sie nicht mit seiner Persönlichkeit in Harmonie gestanden. Dies kleine mit zwei Guillotinefenstern auf den Marktplatz des Städtchens Idar hinausgehende Arbeitsgemach war außerordentlich dürftig eingerichtet und, trotz seines überquellenden Actenreichthums an allen Wänden, ein ärmlich aussehender Raum. Tische mit Oelanstrich, Stühle mit Strohsitzen, Repositorien, an denen der Firnißüberzug schon von einem gewissen Luxus sprach – das genügte in jenen anspruchslosen Tagen für die Einrichtung eines Geschäftslocals eines „Honoratioren“ in solch einer kleinen Stadt, deren „Marktgewühl“, auf das der Justitiar eben nachdenklich hinausblickte, aus einem ausgespannten Bauernwagen, einer am Marktbrunnen pumpenden Magd und zwei ihrer Kerkerhaft entlaufenen muthwilligen Ferkeln bestand.

„Das Leben ist eben eine trübselige Sache, mein lieber Adolf,“ sagte der Justitiar, „was Du ja hinreichend an Deinen Krankenbetten hast einsehen lernen können. Was Du vielleicht nicht so gründlich zu erkennen Gelegenheit gehabt hast, das ist die Wahrheit des Satzes: ‚Eines muß der Mensch haben, das ist Vernunft – oder einen Strick sich zu hängen.‘ Ich denke, Du wirst die Vernunft haben.“

„Ich habe Vernunft,“ versetzte der junge Arzt, „ich glaube sie hinreichend dadurch bewiesen zu haben, daß ich nicht schon längst nach Wilstorp gegangen bin, um eine offene Auseinandersetzung mit diesem Burschen, diesem Uffeln herbeizuführen und ihm zu erklären …“

„Was könntest Du ihm erklären, was die Lage der Dinge um ein Haarbreit änderte? Sieh, die Einkünfte von Wilstorp reichen für zwei Familien nicht aus. Wenn dieser Uffeln heirathet, eine fremde Frau, und sie in’s Haus bringt, zahlreiche Kinder dazu bekommt, und das Alles soll da zusammen leben und zehren, so wird für alle diese Menschen ein Hundeleben [800] daraus entstehen. Da ist das einzige Gescheidte, das Nächstliegende, das ganz Natürliche, daß Uffeln in die Familie eintritt, daß er Adelheid heirathet. Damit ist Alles geschlichtet, jedem möglichen Conflicte der beiderseitigen Interessen für die Zukunft vorgebeugt. Und für Adelheid selbst ist es doch auch ein Glück, heirathen zu können, ohne darum das Elternhaus verlassen zu müssen …“

„Heirathen – einen fremden Menschen, den sie nicht mag, nicht will … ich bitte Dich, Oheim, sprich das Wort nicht aus, ruf’ mir diese Vorstellung nicht wach, oder Du machst mich rasend.“

„Deine Raserei wird sich legen müssen – und am ersten, denk’ ich, legt sie sich, wenn Du bedenkst, daß solch eine standesmäßige Heirath mit ihrem Vetter eine viel dauerhaftere Bürgschaft für Adelheid’s Glück ist, als wenn sie Dich nähme und aus ihrem schönen alten Schlosse zu Dir in Dein bescheidenes Bürgerhaus zöge – es gehört zu den besten, wohleingerichtetsten, Vermögen hast Du auch, ich weiß, ich weiß – aber solch einem adeligen Gemüthe genügt auf die Dauer die solideste und respectabelste Bürgerlichkeit nicht, und …“

„Ach, das ist ja Alles keine Vernunft, was Du da redest, Oheim, sondern das lautere destillirte Philisterthum,“ fiel Adolf ihm in’s Wort. „Ich bin Adelheid’s Neigung sicher; sie hat mir gestanden, daß sie kein größeres Lebensglück verlange, als ein Leben an meiner Seite, und Bürgerlichkeit oder Adel haben damit Nichts zu schaffen. Was aber damit zu schaffen hat, das ist Adelheid’s Gesundheit; diese ist angegriffen, und wenn man sie zwingt, sich gegen ihre Neigung zu verbinden, wenn man ihrem Gefühle, ihrem Herzen, ihrem innersten Leben Gewalt anthun will, so schleudert man sie dem Tode in die Arme. Das muß ich als Arzt wissen.“

Der Justitiar schwieg eine Weile.

„Freilich,“ sagte er dann, „wenn Gott Aesculap sich als Vermittler in die Sache mischt, muß ich schweigen. Dem Herrn Neffen habe ich als Mittel gegen seine Verzweiflung Vernunft angerathen – gegen Frauenkrankheiten ist dieses Mittel nicht wirksam. Uebrigens kommt mir Deine Prognose ein wenig mehr leidenschaftlich als wissenschaftlich vor.“

„Nein, nein, das ist sie nicht,“ rief Adolf aus, „ich weiß, welch zartes Wesen Adelheid ist, wie tief sie empfindet und wie sehr ihr Wohlsein von einer ungetrübten Seelenruhe abhängt. Hat sie sich nicht in den letzten Monaten ganz außerordentlich wohl befunden? Waren nicht alle krankhaften Symptome der Anämie bei ihr verschwunden? Nun wohl, das trat ein mit dem Augenblicke, wo wir Beide uns gegen einander ausgesprochen hatten, wo ich ihr meine Leidenschaft für sie bekannte, wo der Zustand von peinigender Seelenunruhe aufhörte, der immer …“

„Bald ‚himmelaufjauchzend‘, bald ‚zum Tode betrübt‘ macht,“ fiel der Justitiar ein. „Nun ja, ich beuge mich, wenn Du’s so auf empirisch wissenschaftlichem Wege festgestellt hast, kann Dir dann aber nicht den geringsten Rath geben. Frau von Mansdorf bringst Du von ihrem Plan und Beschluß nicht ab, wenn es Dir auch gelingen könnte, ihren Gatten zu erweichen. Er ist nur leider nicht das bestimmende Princip im Hause, und sie ist sonst auch eine brave Frau; nur übt auf ihren Willen fremder Widerstand eine chemische Wirkung aus; wenn Beide zusammen kommen, so entwickelt sich eine böse Säure in ihr, und die krystallisirt sich dann zur störrigen Hartnäckigkeit eines Maulesels. Im Grunde werden Beide, der Mann wie die Frau, von Herrn Fäustelmann gelenkt, dieser lebendigen Beschämung unserer Philosophie, die sich von gewissen Dingen bekanntlich nichts träumen läßt, welche Herr Fäustelmann doch ganz klar leibhaftig mit seinen Schelmenaugen sehen kann; er braucht nur ein wenig Mondschein zu haben – und ganz allein zu sein. Was aber diesen frommen Herrn Fäustelmann angeht, der keinem Kinde etwas zu Leide thut, keinem Pferde auf den Huf und Keinem, der stärker ist als er, zu nahe tritt, so haßt er uns, weil wir uns seinen Vorgeschichten gegenüber ein wenig skeptisch verhalten. Er wird sicherlich gegen Dich sein. So bliebe Dir freilich nichts übrig, als es bei diesem Uffeln selbst zu versuchen und ihn mit der Lage der Dinge bekannt zu machen. Er scheint ja ein weicher, gutmüthiger Mensch, und wenn Du Deine Beredsamkeit bei ihm versuchst, verzichtet er vielleicht auf die Hand Adelheid’s und gelobt Dir dabei, ewig als ein unbeweibter Vetter auf Wilstorp zu privatisiren, um der Familie Mansdorf nicht ihre Plätze am Herdfeuer zu beschränken.“

Adolf Günther schüttelte den Kopf.

„Er mag gutmüthig und anspruchslos genug sein,“ sagte er. „Aber er macht mir auch den Eindruck eines charakterlosen Gesellen, der thun wird, was Frau von Mansdorf und sein – Eigennutz ihm sagen.“

„Hm, ja,“ versetzte der Justitiar, „ich denke auch, daß ein Schritt bei ihm so aussichtslos für Dich wäre, wie ein Proceß um eine holländische Erbschaft.“

Es folgte eine Pause. Der Justitiar Plümer stand endlich auf, putzte seine Brille, ging seine Pfeife zu stopfen und wandte sich dann zu einem seiner Repositorien, um ein Actenstück zu suchen. Er war offenbar ermüdet von der Besprechung einer Sache, die ihm so aussichtslos schien.

„Höre,“ sagte er, indem er eines der Actenbündel hervorzog, „da ein guter Jurist seinen Clienten doch nicht ganz ohne einen Rath fortsenden darf, so will ich Dir einen geben. Vertraue Dich der Prinzessin Elisabeth an. Sie ist ja Deine große Gönnerin, dieses weise Huhn, und auch voll Freundschaft für Fräulein Adelheid. Wenn irgend Jemand hier helfen kann, so ist sie es, die im Stande, Mittel und Wege zu erdenken. Allen Respect vor ihr! Ich versichere Dich, es kommt öfter in der Burg zu Idar vor, daß Knoten, über die Keiner hinwegzukommen weiß, von ihren feinen hochfürstlichen Fingern gelöst werden.“

„Du hast Recht, Oheim,“ versetzte nach einer Pause der junge Arzt, „ich habe schon selbst daran gedacht.“

„Hat sie diesen Uffeln gesehen?“

„Ja, er hat einen Besuch im Schlosse gemacht.“

„Nun, so kennt sie ihn also. Solch’ einen Menschen durchschaut sie mit einem einzigen Blicke. Darin ist sie groß. Ich bin oft erstaunt gewesen, wenn ich mit ihr geredet habe, wie sie ihre Menschen weg hat. Geh’ zu ihr und vertrau’ ihr Deinen Kummer an!“

Adolf stand auf und griff nach seinem Hute.

„Du willst mich los sein, Oheim,“ sagte er. „Ich gehe auch; ich habe im Schloß einen Kranken – vielleicht treffe ich die Prinzessin bei ihm; sie ist immer voll Sorge für alle diese Leute. Also auf Wiedersehen!“

Der Justitiar entließ ihn mit einem freundlichen Nicken des Kopfes, und der junge Doctor ging und begab sich raschen und festen Schrittes durch die Straßen der kleinen Stadt zum Schlosse. Als er vor diesem angekommen war, wandte er sich links durch ein offen stehendes Gitterthor in den Park, und hier, die Arme über die Brust verschlingend, den Kopf gesenkt und die Blicke auf den Boden heftend, wandelte er langsam unter den hohen alten Bäumen auf und ab, denen Meyer Jochmaring seine Anerkennung versagt hatte, weil sie nicht seinen Eichen gleich kamen.

[813] Meyer Jochmaring, der sinnige Wehrfester, saß unterdeß wieder auf der Bank unter seinen Eichen, aber er hatte heute eine andere Gesellschaft bei sich als die hochfürstliche, in der wir ihn das erste Mal sahen und kennen lernten, und auch die Bewirthung war eine andere, als er sie damals der Prinzessin geboten, für die sie auch nicht ganz passend gewesen wäre, denn sie bestand aus einer Flasche mit ganz gewöhnlichem Branntwein.

Der Oberförster Runkelstein schien desto mehr an diese Panacee des heimischen Agriculturlebens gewöhnt, und auch der Apotheker aus Idar, der mit einer Botanisirbüchse herausgekommen war, hatte sein Glas schon ein zweites Mal füllen lassen, während der Rentmeister Fäustelmann, der ihm gegenüber saß, das seinige nicht berührte. Dabei saßen die Männer ziemlich dicht zusammengerückt, und es war, als ob sie mit ihren ernsten gespannten Gesichtern von Sachen redeten, die sie in hohem Grade in Anspruch nahmen. Der Enkel der alten Sattelmeyer Wittekind’s hatte seine buschigen Brauen so ernst zusammengezogen wie ein alter Richter des Sachsenspiegels; als wäre die Holzbank unter ihm eine „gespannte“ Bank, als wäre der eben mit geröthetem Gesichte redende Apotheker der Freifrohn, der neben ihm sitzende Oberförster sein Schöffe und es handle sich um nichts Geringeres als ein altes Mannengericht der heimlichen Acht. Ein zu verfehmender Angeklagter war freilich nicht da – es hätte denn Rentmeister Fäustelmann ihn vorgestellt, der mit seinem bleichen, hohlwangigen und steinernen Gesichte für die Rolle nicht übel passend gewesen wäre. Auch glauben wir, hätte man Meyer Jochmaring auf sein Gewissen gefragt, er würde es durchaus nicht in Abrede gestellt haben, daß etwas von einem alten Erbrechte, auf einem Freistuhle zu sitzen, dem Wehrfester des Jochmaringhofes von seinen Vorvätern überkommen sei, vielleicht auch noch mit allerlei kurzen Andeutungen darüber, in welchem Jahre er selber zum letzten Male an der Dingstätte unter Königs-Bann seine Schöffen versammelt und die Acht gehegt habe. –

„Wenn man nur sicherer wüßte, wie viel Wahres an den Siegesnachrichten der Preußen und Russen wäre,“ sagte der Oberförster Runkelstein, „so könnte man sich schon eher darauf einlassen. Aber die Franzosen thun ja, als ob sie immer oben auf geblieben, und so lange man darüber nicht reinen Wein eingeschenkt bekommt, wäre man doch ein Narr, sich in etwas einzulassen, was so entsetzlich gefährlich ist.“

„Die französischen Nachrichten sind erlogen – ich stehe Ihnen dafür, Runkelstein,“ rief dagegen der kleine Apotheker eifrig aus – „sie sind erlogen, insgesammt erlogen. In Schlesien ist der Blücher über sie gekommen, wie St. Michael über den Drachen; an der Katzbach, da sind sie ganz furchtbar mitgenommen worden, und ich wette um meine Apotheke gegen Ihren Zwilling, daß vor Herbst keiner von ihnen mehr auf dem rechten Weserufer zu sehen ist. Aber freilich ohne Anstrengung aller Kräfte bringen wir sie nicht zum Lande hinaus, und wenn die Stunde da ist, wo der Einzelne seine Kraft einsetzen kann, da muß er dazu bereit sein; sonst ist er ein schlechter Patriot und kein deutscher Mann.“

„Patriot – deutscher Mann!“ sagte der Meyer darauf. „Das sind nun wohl so Worte! Was ist aber dabei zu denken? Der Franzose muß fort, das ist wahr. Aber was weiter? Wenn Ihr mir nicht sagen könnt, daß mit dem Patriotenthum die guten Tage für den Bürgersmann und den Bauer kommen, so gebe ich nichts dafür, und wenn Ihr von ‚deutscher Mann‘ redet, so weiß ich auch nicht, was es besagen soll. Es muß wohl Einer für den Andern stehen, und deutsch reden thun wir, das ist wahr, aber wo Deutschland anfängt und wo es aufhört, das weiß ich so wenig, wie was mich die angehn, die ganz vorn am Anfang oder ganz hinten am Ende wohnen. Es sind vielerlei unterschiedliche Völker, die ich nicht kenne. Was aber meine Bauerschaft und was die andern Bauerschaften, die zu uns gehören, sind, das weiß ich, und wenn die aufstehen, so bin ich dabei.“

„Aber ich bitt’ Euch,“ fiel der Apotheker ein, „wir gehören doch Alle als treue Männer zu Kaiser und Reich, zum deutschen Reich, das die Franzosen uns kurz und klein geschlagen haben, und Ihr wollt doch, daß wir wieder zu dem kommen, was wir gehabt haben und ohne das die Welt nicht bestehen kann?“

Dem Meyer wurde die Sache in dieser Auffassung faßlicher.

„Kaiser und Reich – ja,“ sagte er, „das müssen wir wieder haben, denn ohne das kann die Welt nicht wieder in ihre Fugen kommen. Wenn es darum geht, Apotheker Widmer, so ist der Meyer Jochmaring der Erste, der zuschlägt. Um Kaiser und Reich thu’ ich mit. Sagt mir’s nur an, wann die Stunde da ist, und ich werde nicht fehlen mit meiner langen Entenflinte und mit Kraut und Loth und was dazu gehört“.

„So ist’s recht, Meyer,“ rief der Apotheker, ihm die Hand [814] reichend. Der Meyer legte langsam seine Finger hinein, während er sagte:

„Nun weiß ich aber nicht, daß wir mehr thun könnten, als es abwarten.“

„Das eben, Meyer, denken sie in anderen Gegenden nicht,“ versetzte der Apotheker. „In anderen Gegenden haben sie mehr gethan, als blos sich mit ihrer alten Entenflinte getröstet. Sie haben in der Stille Waffen gesammelt, haben Büchsen über kleine Hafenplätze an der Nordsee aus England eingeschmuggelt, Munition dazu angesammelt und Alles gethan, um losschlagen zu können, wenn’s Zeit ist. Und das eben sollten wir auch nicht unterlassen. Ihr, Meyer, habt Euer Gewehr über dem Herdbusen hängen. Aber Eure Kötter haben das nicht. Und für alle solche, die guten Willen haben, aber keine Waffen, muß gesorgt werden. Es muß Geld zusammengeschossen werden, und dann müssen Listen aufgestellt werden, worauf Jeder, der bereit ist, mitzuthun, ein Paar Kreuze zu seinem Namen macht. Erst dann können wir überschlagen, wie vieler Waffen wir bedürfen, auf wie viele Arme wir zählen können.“

„Aber,“ fiel hier Runkelstein ein, „wer wird es wagen, diese Waffeneinschmuggelei zu besorgen? Ich nicht, und hier der biedere Fäustelmann sieht mir auch nicht danach aus.“

Fäustelmann schüttelte den Kopf.

„Dürfte mich ohne Vorwissen meiner Herrschaft nicht in solche Sachen einlassen. Müßte auch bitten, daß auf den Listen mein Name fortgelassen würde; doch bin ich bereit, Geld herzugeben.“

„Am Ende ist das die Hauptsache,“ antwortete der Apotheker, „für die Beschaffung der Waffen sorgen dann schon andere Leute.“

„Ihr, Widmer,“ fiel Runkelstein ein, „wollt doch nicht selber die Musketen und Patronen, in Eure Kampher- und Natronbüchsen verpackt, in’s Land schmuggeln?“

„Nicht das just, Oberförster,“ entgegnete der patriotische Pharmaceut, „ich nicht; es sind jedoch schon – darüber seid unbesorgt – bestimmte Männer da, welche das übernehmen. Glaubt Ihr denn nicht, daß der Tugendbund schon längst seine Emissäre im Lande hat?“

„Meiner Seele, nein,“ sagte Runkelstein, „das hätte ich nicht geglaubt; klopfe doch in meinem Revier an manchen Busch, aber solch ein Wild habe ich noch aus keinem aufgetrieben.“

„In Eurem Revier – wüßt’ auch nicht, was sie da suchen sollten. Bei mir ist einer gewesen. Mehr als einmal. Hat mit mir die Sache überlegt, habe ihn auch bereits mit einigen andern Herren in Idar bekannt gemacht; was Weiteres geschehen und erreicht, darf ich zu dieser Stunde nicht sagen. Ihr seht aber, Oberförster, wie der Hase läuft, das weiß ich in dieser Sache besser als Ihr.“

„Muß aber doch ein verwegener Mensch sein,“ fiel hier Herr Fäustelmann ein, „sich mit solchem Betriebe hier in die Gegend zu wagen, wo es von französischen Kellerratzen, Controlleurs und Gensdarmen wimmelt.“

„Pah,“ entgegnete der Apotheker, „wenn eine Sache am Niedergehn ist, dann wird sie dumm und stumpf – wenn das Kellerratzen- und Gensdarmenvolk früher Augen auch auf dem Rücken zu haben schien, jetzt sieht es schon aus den Augen, die es vorn hat, nicht mehr gut.“

„Apotheker, nehmt Euch in Acht!“ sagte hier warnend der Oberförster, „sonst sieht Herr Fäustelmann in der nächsten Mondnacht eine Vorgeschichte, wie die Franzosen einen mittelgroßen, schmächtigen Mann mit Pockennarben und einer Botanisirbüchse auf dem Rücken – todtschießen.“

„Nehme mich schon in Acht, aber mit zu vielem In-Acht-nehmen kommen wir nicht weiter – es gilt zu handeln. Also, Meyer Jochmaring, was wollt Ihr beisteuern? Und Ihr, Oberförster, wollt Ihr eine Liste entwerfen von vertrauenswürdigen Leuten in Eurem Bezirk? Ihr, Fäustelmann, wollt Geld geben. Wie viel?“

„Seid Ihr gewiß, daß Euer Emissär ein richtiger Emissär des Tugendbundes ist und nicht blos uns um unser Geld beschwindeln will?“ fragte Fäustelmann.

„Davon habe ich mich überzeugt. Ich sah seine Papiere – einen eigenhändigen Brief von Stein darunter.“

Das schien den Ausschlag zu geben; unter solchen Umständen waren die Männer nicht abgeneigt, sich zur thätlichen Unterstützung der Sache des Vaterlandes zu rühren. Jochmaring und Fäustelmann nannten kleine Summen die sie dem Apotheker dazu anvertrauen wollten, und Runkelstein wollte ihm am nächsten Sonntage die verlangte Liste bringen. Dann auch wollten alle drei sich in der Apotheke in Idar einfinden, um die Angelegenheit weiter zu besprechen. Herr Fäustelmann brach dann auf, und der Oberförster schloß sich ihm für den Heimweg an. Als sie gegangen waren, leerte auch der Apotheker sein Glas und reichte dem Sattelmeyer die Hand.

„Also auf Wiedersehen, Meyer!“ sagte er, „ich muß nun auch den Rückmarsch antreten; ich habe noch einen weiten Weg, weil ich an der Kropp vorüber muß.“

„An der Kropp? Was wollt Ihr denn da beschaffen?“ fragte der Meyer.

„Ich will da nach einer Pflanze suchen,“ versetzte mit einem schlauen Lächeln der Apotheker, während er die Büchse auf seinen Rücken zurückschob, „es wächst da in den Sumpfgründen eine besondere Pflanze.“

„In der Kropp,“ sagte der Meyer, seinem Gastfreude das spanische Rohr reichend, das hinter jenem an den Stamm des Baumes gelehnt gestanden hatte, „in der Kropp hat ja Runkelstein neulich eine wunderliche Vorgeschichte gesehen.“

„Was? Runkelstein? Fäustelmann vielleicht.“

„Nein, Runkelstein, der Oberförster.“

„Ah – in der That?“ rief der Apotheker wie erschreckend aus.

„Hat’s mir selber erzählt.“

„Aber was hat er denn gesehen in der Kropp? Doch das muß ich von ihm selber hören. Adieu, Meyer Jochmaring, adieu! Ich werde ihn noch erreichen.“

Und damit lief der Apotheker in einer ganz merkwürdigen Aufregung dem Oberförster und Herrn Fäustelmann nach, die man eben jenseits des Hauses zusammen über das „Schem“, die schmale Laufbrücke, schreiten sah, welche dort über den Fluß führte.




6.

Es war am andern Tage, noch in der Frühe, als Herr Fäustelmann, der in seinem Rentmeisterhause draußen vor dem Burgthore von Wilstorp wohnte, die Briefe und Zeitungen brachte, welche zwei Mal in der Woche der Landbriefbote aus Idar ihm um diese Zeit abzuliefern pflegte, vorausgesetzt, daß welche angekommen waren, und vorausgesetzt auch, daß besagter Briefbote nicht durch unaufschiebbare ländliche Geschäfte, wie das Ausnehmen der Kartoffeln, oder durch einen Anfall der Gesichtsrose – ein Uebel, das ihn vorzugsweise heimsuchte – am Kommen gehindert war. Herr Fäustelmann hatte heute mehrere Zeitungen für seine Herrschaft zu überbringen auch einen Brief und ein zierliches, mit einem fürstlichen Krönchen gesiegeltes Billet. Die Zeitungen enthielten wichtige Nachrichten. Denn obwohl sie von Gefechten und Zusammenstößen der Armeen berichteten, bei denen sich natürlich die französischen Waffen neue Lorberen geholt hatten, verriethen sie doch durch die Angabe der letzten Bewegungen der Heere eine Concentrirung und ein Rückwärtsgehen aller Corps Napoleon’s, der, nachdem man früher hatte wunderbare Großthaten bei seinem triumphirenden Vordringen gegen die Preußen und Russen in Schlesien lesen müssen, jetzt wieder in Dresden, und gerade da angekommen war, wo er früher gestanden. Weit wichtigere Nachrichten aber enthielt der Brief, den Herr Fäustelmann brachte und der von einem Freunde des Herrn von Mansdorf geschrieben war, welcher in einer mehr östlich gelegene größeren Stadt wohnte; dieser berichtete, daß man dort ganz bestimmte Kunde von zwei größeren Gefechten oder Schlachten habe, deren die von der französischen Censur beherrschten Zeitungen mit keiner Silbe erwähnten und von denen die eine bei Groß-Beeren stattgefunden, die andere bei Hagelberg, wo eine französische Division gänzlich aufgerieben und vernichtet worden sei.

Das war nun eine mächtige Belebung patriotischer Hoffnungen. Herr von Mansdorf schlug, nachdem er den Brief seinem Rentmeister vorgelesen, begeistert mit seiner schweren Hand auf den Tisch und forderte Fäustelmann auf, mit ihm einen tüchtigen Trunk auf das Wohl der Alliirten zu thun; [815] sein Rentmeister schüttelte jedoch zu dieser Idee so früh am Tage den Kopf. Ohnehin hatte er ja noch hinaufzugehen zum Herrn von Uffeln und diesem das Billet mit dem Fürstenkrönchen zu bringen, denn es war an Niemand anders als an Herrn Ulrich Gerhard von Uffeln adressirt.

Herr von Uffeln saß in dem freundlichen, die Aussicht auf den Weiher und den Wald auf der Rückseite des Hauses Wilstorp bietenden Eckzimmer. Er war da mit sehr dürftigem Gepäcke eingezogen; was man außer den umherliegenden Kleidungsstücken von seiner eigenen Habe im Zimmer sah, bestand in einem hübschen kleinen Pastellbilde, dem Portrait seiner Mutter, das ihn, wie er sagte, auf allen seinen Feldzügen nie verlassen habe und das er jetzt, nebst einem kleinen aus Silber getriebenen Muttergottesbilde, dem Andenken an eine Manola Spaniens, unter dem venetianischen Spiegel aufgehängt hatte. Dann besaß er ein Paar sehr schöne Kuchenreuter-Pistolen und seinen Degen, die er an der Wand zwischen den Fenstern angebracht, und endlich eine Flöte, mit welcher er eben beschäftigt war; er suchte mit rührender Geduld sich ein Musikstück darauf einzuüben, trotz der Schwierigkeiten, welche ihm seine Unfähigkeit verursachte, über einen Theil seiner Finger zu gebieten. Endlich entsank die Flöte seiner Hand; er legte sie sanft auf das Brett des Fensters, an dem er saß, und blickte sinnend auf die alten Laubwipfel hinaus. Hätte Fräulein Adelheid ihn so gesehen, sie würde vielleicht eine Regung von Theilnahme und Sympathie mit dem vom Leben viel geprüften jungen Manne empfunden haben, der, jetzt plötzlich und für ihn fast unerwartet dem Glücke in den Schooß gesunken und über alle Noth des Lebens hinaus, doch so melancholisch und ernst in’s Weite schaute – gewiß nur, weil er sein Herz von Adelheids Reizen gefesselt und umstrickt fühlte und sich doch gestehen mußte, daß sie ihm die Beweise einer Gegenneigung mit merkwürdiger Consequenz vorenthielt.

Als er Herrn Fäustelmann bei sich eintreten sah, erhob er sich und richtete einen Blick auf ihn, in welchem sich offenbar etwas von Scheu und Erschrecken malte; der wunderliche Spukseher mußte auch für den früheren Soldaten etwas Unheimliches haben, wenigstens verloren Herrn von Uffeln’s Züge erst eine gewisse Spannung, als ihm Fäustelmann in sehr unterthänigem Tone sagte:

„Es ist nichts weiter, was mich herführt, Herr von Uffeln, als ein Brieflein, welches der Postbote für Sie aus Idar mitgebracht hat. Mit der fürstlichen Krone im Siegel und adressirt von einer Damenhand.“

Herr von Uffeln nahm das Billet entgegen und riß es auf.

„Seltsam,“ sagte er, „es ist von der Prinzessin Elisabeth. Sie bittet mich, ich möge sie besuchen. Was kann das bedeuten? Was kann mir die Prinzessin Elisabeth zu sagen haben?“

Fäustelmann zuckte die Schultern.

„Das weiß der liebe Gott,“ versetzte er. „Kann mir nichts Anderes vorstellen, als daß sie mit Ihnen von Geschäften reden will.“

„Von Geschäften? Prinzessin Elisabeth?“

„Weshalb nicht? Die Durchlaucht ist, sagt man, ein kleiner Advocat. Wo der Fürst nicht selbst Eröffnungen machen will, da sendet er sie, auf geschickte Weise eine Angel auszuwerfen, das erste Eis zu brechen. Der Fürst ist bei den jetzigen Zeitläuften in allerlei schwer bedrängte Lagen gerathen; vielleicht setzt er bei dem Herrn von Uffeln Verlegenheiten voraus, wie die seit Jahren aufgelaufenen und ihm asservirten Revenuen von Wilstorp unterzubringen, und da mag denn die Prinzessin Elisabeth anklopfen sollen, ob …“

„Die Prinzessin?“

„Nun ja, sie ist, wie gesagt, sein kleiner Finanzminister und der Schrecken seiner ‚hochfürstlichen Kammer‘.“

„Bin doch neugierig,“ entgegnete kopfschüttelnd Herr von Uffeln. „Jedenfalls werde ich mich gleich auf den Weg machen.“

„So gehen wir eine Strecke selbander. Werde mich dem Herrn von Uffeln anschließen, falls ihm mit mir einen kleinen Umweg zu machen beliebt.“

„Umweg? Welchen? Wozu?“

„Es liegt da seitab vom Wege nach Idar, nur einen Büchsenschuß weit seitab, in sumpfigem Buschwerke ein altes, verlassenes Haus, so man ‚die Kropp‘ nennt, solch ein alter Burgmannshof des Fürsten, in dem aber nun seit Jahren Niemand anders mehr gewohnt hat, als Ratten und Fledermäuse.“

„Und diesen Ratten und Fledermäusen wollen Sie einen Besuch machen?“

„Nicht das just. Ich will nur ein wenig in die alten Räume blicken. Der Oberförster trägt sich mit einer Geschichte, auf die ich im Beginne nicht viel Gewicht gelegt habe, denn wenn solch ein Mann, der ein einsames Leben führt, einmal den Abend in einer lustigen Gesellschaft in der Stadt zubringt, so ist er im Stande, auf seiner nächtlichen Heimkehr gar wunderliche Dinge zu sehen, und nur ein Narr legt Gewicht darauf. Nun ist aber im Städtlein Idar ein Apotheker, ein feiner, geriebener Kopf, der gestern in meinem Beisein die Geschichte vernahm und darüber in eine versteckte, aber mir nicht verborgen bleibende Aufregung und Unruhe gerieth. Das muß nun doch einen absonderlichen Grund haben. Der Apotheker ist kein Mann, der sich um eines Hirngespinnstes willen aus dem Gleichgewichte bringen läßt. Ich will also wissen, was für ein Zusammenhang zwischen ‚der Kropp‘ und des Apothekers Unruhe und des Oberförsters Geschwätz von Kindersärgen und abgehauenen Köpfen ist.“

„Kindersärgen? Abgehauenen Köpfen? Ich bitte Sie, Fäustelmann.“

Fäustelmann lächelte.

„Nun ja,“ sagte er, „Sie lassen sich dadurch nicht Angst machen! Weshalb that es der Apotheker?“

„Mit welchen Geschichte man in diesem wunderlichen Lande heimgesucht wird!“ rief Ulrich Gerhard von Uffeln aus. „Aber Sie können mir das unterwegens ja ausführlicher erzählen. Setzen Sie sich, bis ich mich für den Besuch bei der Prinzessin ein wenig besser gekleidet habe! Dann gehen wir zusammen, ich kenne ohnehin den Weg nach Idar noch nicht genau genug, um vor dem Verirren sicher zu sein, und so schließe ich mich Ihnen gern an.“

Fäustelmann setzte sich, und Herr von Uffeln machte seine Toilette. Dann verließen Beide zusammen, Herr von Uffeln in einem eleganten grünen Fracke mit goldenen Knöpfen und grauen langen Beinkleidern, zu denen sich seit einigen wenigen Jahren erst die männliche Jugend der Zeit emancipirt hatte, den Kopf mit einem Filzhute von wunderlicher Ausladung nach oben hin bedeckt, das Haus; Herr Fäustelmann schlug durch Gehölz und über Kämpe einen seinem Begleiter natürlich noch ganz unbekannten Richtweg ein; sie sprachen wenig zusammen; Fäustelmann war überhaupt ein stiller Gesell, und Herr von Uffeln schien wieder in seine Gedanken zu versinken.

„Fäustelmann,“ sagte er plötzlich, wie aus diesen Gedanken auffahrend, „sagt mir die Wahrheit! Liebt das Fräulein einen Andern, liebt sie den jungen Arzt, der sie bisher behandelt hat? Ich will es wissen. Denn wenn es so ist, habe ich nicht Lust, mich ihr aufzudrängen und sie unglücklich zu machen.“

„Ah,“ versetzte Fäustelmann, „wer hat Ihnen denn davon gesagt?“

„Ich weiß es nicht – ein gewisser Instinct hat es mich combiniren lassen. Sie ist offenbar leidend. Man ruft den Arzt nicht, während ich doch aus den Gesprächen abnehmen muß, daß er früher oft gekommen. Als ich der gnädigen Frau vor einigen Tagen rieth, den Arzt kommen zu lassen, entgegnete sie mir offenbar verdrießlich, es sei kein Arzt in Idar, zu dem sie Vertrauen habe; nur ein ganz junger und noch unerfahrener Mann sei da, und hier fiel Fräulein Adelheid mit zitternder Lippe und offenbar tief erregt, ja zornig ein: ‚Ich habe Vertrauen zu Doctor Günther.‘ Als Antwort warf die Mutter ihr einen Wuthblick zu, und das Gespräch erstarb. Ich denke, das verräth genug.“

„Ah bah – es verräth, daß Mutter und Tochter verschiedener Ansicht über ihren Doctor sind, weiter Nichts. Das kann einen Mann nicht bewegen, einen wohlüberlegten Plan fallen zu lassen.“

„Welches Aeußere hat dieser Doctor Günther? In welchen Verhältnissen lebt er?“

„Welches Aeußere? Er ist eben ein noch blutjunger Mensch mit schwarzem Lockenhaare und rothen Wangen – Neffe und [816] Mündel des Justitiars; sein Vermögen ist, denke ich, für seine Studien und zum Ankaufe eines Ersatzmannes, um sich vor dem Militärdienste zu retten, daraufgegangen. So muß er von seiner Praxis leben, und da die Leute hier zu Lande nicht eher zum Arzte laufen, als bis auch der Pfarrer zugleich nothwendig geworden ist, so bringt das bitterwenig ein. Eine Frau zu ernähren, daran kann er nicht denken, eine Frau, die noch obendrein ein adeliges Fräulein ist; Herr von Mansdorf wird sich hüten, ihm seine Tochter zu geben – wahrhaftig, von der Seite haben Sie Nichts zu befürchten.“

„Und ich fürchte doch von der Seite,“ sagte still für sich hin und wieder in seine Gedanken versinkend Herr von Uffeln. „Ich bin zu wenig der Mann,“ hub er nach einer Weile wieder an, „der ein junges Mädchen zu gewinnen verstände. Mein Leben ist bis heute nicht derart gewesen, um darin Erfahrungen sammeln oder Uebung gewinnen zu können,“ setzte er mit einem bittern Lächeln hinzu.

„Ich meine,“ versetzte Herr Fäustelmann, „Sie hätten mir gesagt, Sie seien bis über die Ohren verliebt in Fräulein Adelheid – Fräulein Adelheid scheine Ihnen ein Engel? Wenn Sie einem jungen Mädchen zu zeigen wissen, daß sie Ihnen ein Engel scheint, so bedürfen Sie weiter keiner Erfahrungen und keiner Uebung. Damit ist die Hauptsache gethan. Im Ganzen sind doch alle diese blühenden rosigen Wesen eben Blumen, die Dem gehören, der sie pflückt.“

Herr von Uffeln schüttelte schwermüthig den Kopf zu dieser Hagestolzenansicht. Aber er antwortete nicht und schien einem weitern Gespräche über Gegenstände dieser Art mit Herrn Fäustelmann das eigene Sinnen vorzuziehen, in das er, weiter schreitend, versank. –

Herr Fäustelmann ging vorauf, seine lange Gestalt vornübergebeugt, die Hände, die einen starken Rohrstock hielten, auf dem Rücken. Als man aus den Büschen und Kämpen herauskam in ein sumpfiges, mit kleinen Wasserlachen und Erlengebüsch bedecktes Terrain, begann er von Zeit zu Zeit aufzuschauen und prüfend nach allen Seiten die Blicke zu werfen, wie wenn er beobachten wollte, ob irgend ein Menschenauge seinen Gang wahrnehme. Aber Niemand, schien es, war in der Nähe dieses verlassenen Erdflecks. Einsam hinter Erlengruppen erhob sich „die Kropp“, der verfallene Burgmannshof, der einst hier hinter breiten Wassergräben eine so gesicherte Lage gefunden hatte und dann wohl von seinen Bewohnern verlassen worden war, als es die Zeiten nicht mehr nöthig machten, um einer gesicherten Lage willen dem Wechselfieber und dem Typhus in einer solchen wasserreichen Niederung Trotz zu bieten.

„Und wozu,“ fragte Herr von Uffeln, „dient das Gebäude jetzt? Es scheint doch noch bewohnbar, und wenn man einige Gräben und Abzüge für das Wasser herstellte, ließe sich doch auch das Terrain hier nutzbar machen, wenn auch nur zu Wiesen.“

„Das Gebäude,“ versetzte Fäustelmann, „dient dazu, der hochfürstlichen Kammer die Hoffnung aufrecht zu erhalten. daß sich am Ende irgend Jemand finden werde, der durch Anmiethung desselben ihr Budget um einige Thaler bereichern werde. Und was die Gräben und die Wasserabzüge angeht, so kosten solche Anlagen Geld. Wer aber hat Geld in unseren Zeiten? Am wenigsten die hochfürstliche Domainen- und Rentkammer. Aber nehmen Sie sich in Acht! Halten Sie sich dicht hinter mir, um nicht in irgend einen Sumpf zu gerathen, der Ihre hoffähige Erscheinung bei der Prinzessin Elisabeth in Frage stellte.“

Uffeln folgte ihm behutsam auf dem sich windenden festen und trockenen Fußwege, der von dieser Seite her auf das alte Bauwerk zuführte und den Herr Fäustelmann vortrefflich zu kennen schien. So kamen sie in einen wüst und melancholisch aussehenden verlassenen Garten, in welchem noch eine Anzahl moosbedeckter Obstbäume ihr morsches Dasein wider Sturm und Wetter behaupteten. Die Brücke über den Hausgraben war auch hier durch einen Erdwall ersetzt, und dieser führte auf ein schmales Stück fester und trockener Erde, das am Fuße des Gebäudes herlief. Herr Fäustelmann schritt darauf der nächsten Ecke zu und sich um sie wendend sagte er:

„Hier ist eine Thür, die uns hoffentlich einläßt – wenn sie anders gegen uns nicht boshafter gesinnt ist, als gegen andere Leute, denen sie sich offenbar gastlich geöffnet hat. Sehen Sie?“

Er deutete dabei auf den Boden, welcher in dem feuchtweichen Erdreich die Spuren von mehreren Männerschritten zeigte, die vor nicht zu langer Zeit hier hin und her gegangen sein mußten.

„In der That,“ meinte Uffeln, „wenn auch nicht bewohnt, besucht wird das Gebäude – es waren das am Ende die Träger Ihrer – was sagten Sie? – Kindersärge?“

Fäustelmann hatte unterdeß die kleine gewölbte Thür erreicht. Er wollte sie aufstoßen, aber sie war verschlossen.

„Für Wesen von Fleisch und Blut, wie wir, nicht zugänglich,“ rief Uffeln aus – „das ist verdrießlich.“

„Wir werden sehen,“ antwortete Fäustelmann gleichgültig und zog aus seiner Rocktasche eine Hand voll kurzer, aber starker Schlüssel heraus.

„Ah – Sie haben Dietriche?“

„Man muß sich eben vorsehen … Dietriche und Korkzieher sind eine praktische Erfindung.“

Die, welche Herr Fäustelmann bei sich führte, waren es in der That. Schon bei dem zweiten, den er versuchte, öffnete sich die Thür.

Sie traten ein, und Fäustelmann schloß die Thür behutsam hinter sich. Dann schritten sie eine staubige alte Holztreppe hinauf, die auf einen kleinen nackten Vorplatz und durch eine unverschlossene dunkle Thür in einen ebenso nackten Wohnraum, in dahinterliegende wüste Kammern führte, in denen allen nichts bemerkbar war als der Graus der Zerstörung und der Wust des Verfalles; hier und da ein wurmstichiger Tisch, ein alter Stuhl mit herabhängenden Fetzen des Strohgeflechtes – das war alles, was an einstige Bewohner erinnerte, und dichte Spinnengewebe alles, was von noch lebenden sprach.

Nach einem raschen Durchwandern der Gemächer kehrte Fäustelmann in den größeren Wohnraum zurück, in welchen nur ein sehr dürftiges Licht einfiel, da sich vor den Fenstern Holzläden befanden. Fäustelmann öffnete eines der Fenster und stieß die Läden auf. Dann wandte er sich in den Raum zurück und musterte genau den Fußboden, stieß auch hier und da, wie um die Resonanz zu prüfen, mit dem Absatze seines Stiefels darauf.

„Hier ist es,“ sagte er endlich. „Die Fallthür, die ich suche – da haben wir sie.“

„Ah, Sie suchten eine Fallthür?“ rief Uffeln, während Fäustelmann lächelnd mit der Spitze seines Fußes auf eine Ritze im Boden stieß.

„Freilich suchte ich eine Fallthür, eine Oeffnung im Boden, durch die ein Mann so mit dem Kopfe schauen kann, daß ein betrunkener Oberförster in den Glauben gerathen kann, er sähe einen auf dem Boden stehenden abgeschlagenen Kopf vor sich. Und nun lassen Sie uns die Sache weiter ergründen!“

Herr Fäustelmann zog ein Taschenmesser hervor, dessen starke Klinge er in die Ritze schob; ein kräftiger Druck noch, und die Klappe hob sich. Mit ein wenig Nachhülfe, die Uffeln leistete, ließ sie sich geräuschlos an die benachbarte Wand legen.

„Alles wohl geölt und in gutem Stande erhalten,“ bemerkte der Rentmeister spöttisch, und dann stieg er die schmale unter seinen Tritten ächzende Treppe hinab, die sich unter der Fallthür gezeigt hatte.

Uffeln folgte ihm, bald aber wurde die Finsterniß der Unterwelt, in welche sie hineingeriethen, so stark, daß Herr Fäustelmann einen abermaligen Beweis ablegen konnte, mit welcher Fürsicht er an Alles gedacht, und wie wohl gerüstet er diese Untersuchungsfahrt angetreten. Er zog nämlich, am Fuße der Treppe stehen bleibend, einen Wachsstock und ein Feuerzeug hervor und hatte nach kurzer Zeit durch Stein, Stahl, Schwamm und Schwefelspahn eine kleine Flamme gewonnen, an welcher er den Wachsstock entzündete.

Das Licht zeigte ein mäßig großes Kellergewölbe; wahrscheinlich war es ein besonderer, höher liegender und deshalb trocknerer Keller, als die übrigen, tiefer unter dem Wasserspiegel der Gräben angelegten Kellerräume des Gebäudes sein mochten.

Herr Fäustelmann machte, sein Wachsflämmchen erhebend, ein paar Schritte vorwärts in den Raum hinein, während Uffeln an den Fuß der Treppe gelangte.

„Sieh, sieh!“ rief er dann triumphirend aus, „da hätten wir sie ja!“

[829] Herr von Uffeln wich einen Schritt zurück. „Was haben Sie, Fäustelmann?“ fragte er.

„Die Kindersärge. Da stehen sie.“

„Ah – unmöglich!“

„Sehen Sie her! Da sind sie - alle zusammen und in schönster Ordnung aufgestellt – fünf unten und drei oben auf den andern.“

Uffeln war herzugekommen und blickte überrascht auf die unheimlichen Kisten, zu denen Herr Fäustelmann niederleuchtete.

„Wahrhaftig!“ rief er aus. „Aber ich bitte Sie, Herr Fäustelmann, sind denn das auch Särge?“

Herr Fäustelmann antwortete nicht. Er gab seinem Begleiter das Licht zum Halten, und dann faßte er mit beiden Händen in eine der starken ledernen Handhaben, welche vorn an den Kisten befestigt waren. Er hob damit eine der letzteren in die Höhe und ließ sie dann plötzlich stoßweise wieder fallen.

Man hörte etwas wie Klirren von Eisen.

„Nein,“ sagte der Rentmeister, „das sind keine Särge, obwohl sie beinahe so aussehen; es sind Kisten, in denen Gewehre verpackt sind.“

„Gewehre?“

Fäustelmann nickte lächelnd.

„Aber erklären Sie mir …“

„Was ist da viel zu erklären? Wenn man sich die Mühe gegeben hat, hier einen kleinen Waffenvorrath anzulegen so muß man auch die Absicht haben, ihn zu benutzen, und wenn man ihn, wie der Oberförster ja durch Zufall inne geworden ist, hier des Nachts unterbringt und im Keller dieses alten menschenverlassenen Gebäudes verbirgt, so muß eben die Zeit und Stunde, zu diesen Waffen zu greifen, noch nicht gekommen sein – das ist doch klar?“

„Gewiß ist es klar, aber ich begreife nicht, wer die Leute sein können, die …“

„Was Sie desto leichter begreifen werden, Herr von Uffeln, das ist,“ antwortete Herr Fäustelmann, sich auf den Rückweg aus dem dunkeln Raume begebend, „daß, wenn uns französische Gendarmen oder Beamte hier anträfen, sie uns für diese Leute halten würden und daß sie sehr kurzen Proceß mit uns machen würden. Die alte Kropp hat immer für einen ungesunden Aufenthalt gegolten – durch diese Kistlein da ist er nicht gesünder geworden, noch auch durch die zwei Tönnchen dort im Hintergrunde, die wohl, um sie trockener zu halten, auf einen Haufen Reisigbündel gestellt sind; sie machen mir ganz den Eindruck, als ob sie, was Meyer Jochmaring ‚Kraut‘ nennt, enthalten könnten, darum kommen Sie! Treten wir schleunig unseren Rückzug aus der Nähe so gefährlicher Gegenstände an! Was ich wissen wollte, weiß ich ja jetzt.“

Herr Fäustelmann stapfte gebückt die Treppe wieder hinauf und löschte seinen Wachsstock; dann, nachdem Uffeln ihm gefolgt, ließ er die Fallthür wieder nieder, stieß mit dem Fuße einen Theil des herabgefallenen Kalkbewurfs darauf und schloß die Fensterklappen.

„Sie haben nichts fallen lassen, nichts verloren?“ fragte er, sich umschauend, „nein? So machen wir, daß wir fortkommen!“

Sie gingen, und nachdem sie das Gebäude verlassen und wieder verschlossen hatten, auch nach einigen spähenden Blicken in die Umgebung sicher sein konnten, daß Niemand sie beobachtet, wandte sich Fäustelmann dem Wege zu, den sie gekommen waren.

„Ihr Weg,“ sagte er dabei, „läuft jetzt dort hinaus. Gehen Sie nur auf diesem schmalen Streifen Erde um das Gebäude herum, und Sie gelangen von der Vorderseite bald auf den Fahrweg, der nach Idar führt. Daß wir über unsere Entdeckung schweigen müssen, begreifen Sie.“

„Natürlich,“ versetzte Herr von Uffeln aufrichtig, „es ist nicht unsere Sache zu verrathen was für seltsame Kellervorräthe dieses alte Haus birgt.“

„Nein,“ versetzte Fäustelmann, „und so lange dies unser Geheimniß ist, haben wir das Vergnügen uns zu denken, daß wir im Stande sind, durch eine kleine Denunciation eine Pulvermine loszubrennen, die gewisse nichts ahnende Leute curios in die Luft sprengte.“

„Ah, das wäre aber doch ein teuflisches Vergnügen!“

„Eben darum,“ versetzte Fäustelmann sarkastisch lächelnd, „machen wir uns dieses Vergnügen ja auch nicht, so lange es nur ein Vergnügen wäre – und nicht ein Vortheil, eine Vertheidigung, eine Nothwehr.“

„Eine Nothwehr – wie das?“

„Ich habe eben so meine Zukunftsgesichte,“ versetzte Herr Fäustelmann, still mit dem Kopfe nickend, und dann sich abwendend setzte er hinzu:

„Nun aber treten wir beide unseren Weg an; es ist nicht nöthig, daß wir uns lange hier im Schatten der alten Kropp aufhalten. Auf Wiedersehen, Herr von Uffeln!“

[830] Damit stapfte er rasch davon und überließ es seinem Begleiter, sich nun allein den Weg nach dem Städtchen zu suchen.

Dieser war freilich unschwer zu finden, dienten doch die Thürme von Idar, die vier hohen und breitmassigen Thürme des alten Fürstenschlosses vor Allem als Wegweiser. So stand Uffeln denn nach wenig mehr als einer Viertelstunde vor den Schloßgebäuden. Mit der Einrichtung derselben unbekannt, gerieth er auf einen inneren Hof, wo ein mit dem Striegeln eines Pferdes beschäftigter Stallknecht ihn in einen quer durch den nächsten Flügel führenden gewölbten Gang wies.

„Sie gelangen am Ende des Ganges in’s Vestibül, dort wird Jemand sein, der Sie zur Prinzessin Elisabeth Durchlaucht führt,“ sagte der Mann.

Uffeln schritt durch den langen dunklen Gang, der in einen weiten und schönen, mit Orangebäumen und Blattpflanzen geschmückten Eintrittsraum führte. Hohe Glasthüren gingen aus diesem auf die Terrasse hinaus, unter welcher der Park sich ausbreitete. Ihnen gegenüber führte eine breite Treppe mit schönem Geländer von geschnitztem Eichenholze in die oberen Stockwerke. Am oberen Ende des Vestibüls saß an einem Tische ein Lakai; er war mit Feder und Papier beschäftigt und schien sehr darin vertieft, – vielleicht mit der Berechnung seiner Lohnrückstände, würde Fäustelmann spöttisch bemerkt haben.

Uffeln war langsam und leise auftretend durch den dunkeln Gang geschritten; als er eben, herauskommend, den Fuß in das Vestibül setzte, sah er, wie von draußen her, über die Terrasse, ein Mann herankam, die mittlere Glasthür öffnete und sich zum Lakaien wandte, der aufstehend ihm entgegentrat.

Es war eine kräftige einnehmende Gestalt in eleganter modischer Kleidung und selbstbewußter Haltung.

„Ich wünsche der Prinzessin Elisabeth meine Aufwartung machen zu dürfen,“ sagte er mit einem sehr wohlklingenden Organe.

„Wen soll ich melden?“ fragte der Lakai.

„Melden Sie den Herrn Ulrich Gerhard von Uffeln!“ versetzte der Fremde laut.

Der Lakai machte eine leichte Verbeugung und ging der Treppe zu. Der Fremde blieb an seiner Seite und schritt mit ihm die Treppe hinauf, als ob er an eine Abweisung nicht denke.

Herr von Uffeln hatte, wie der Fremde seinen Namen nannte, augenblicklich seinen Schritt gehemmt. Er war leichenblaß geworden. Mit weit aufgerissenen Augen hatte er dem Manne nachgestarrt, der neben dem Lakai fest und elastisch die Treppe hinaufschritt. Jetzt streckte er die Hand nach der Wand des Vestibüls aus, als ob er sich daran stützen müsse, stand so eine Weile, noch immer die Treppe hinaufstarrend, während oben die Schritte schon längst verhallt waren; endlich athmete er aus tiefster Brust aus, gewaltsam nach Luft ringend, wandte er sich rasch, zitternd dem Wege wieder zu, den er gekommen war, und eilte mit den Schritten eines Menschen, der irgend eine Grauengestalt hinter sich glaubt, davon. Erst als das Schloß hinter ihm lag, mäßigte er den Schritt, wie um zu vermeiden, daß jeder Begegnende einen Flüchtling in ihm erkenne.




7.

Der außerordentliche Schrecken, den der Anblick seines Doppelgängers für Ulrich Gerhard von Uffeln gehabt und der ihn jetzt mit solcher Eile heimtrieb, war, schien es, noch durchaus keiner Beruhigung oder kälteren Auffassung einer so befremdenden Thatsache gewichen, als der junge Mann Haus Wilstorp schon wieder vor sich sah und an der Wohnung des Rentmeisters Fäustelman angekommen war. Noch waren seine Züge sehr bleich und noch zitterte die Hand, womit er die Klingel an der Thür des freundlichen einstöckigen und aus Fachwerk inmitten eines geräumigen Gartens erbauten Hauses zog. Auf seine Frage nach Herrn Fäustelmann führte eine Magd ihn durch einen weiten, von Reinlichkeit und blankem Geschirr glänzenden Küchenraum in eine Hinterstube, in welcher der Rentmeister, eben von seinem Ausfluge nach der Kropp heimgekehrt, bereits wieder hinter seinem Schreibtische über Papiere und Rechnungen gebückt saß.

„Wie – schon zurück?“ rief der Rentmeister überrascht aus. „Und wie bleich und erschrocken sehen Sie aus! Was hat die Prinzessin Ihnen anthun können, daß Sie so entsetzt drein schauen? Aber Sie haben sie in der kurzen Zeit ja gar nicht sehen können.“

„Die Prinzessin hat mir nichts angethan; ich habe sie in der That nicht einmal gesehen, aber was ich gesehen habe, das ist …“

Herr von Uffeln blickte sich um, ob auch die Thür hinter ihm fest geschlossen sei, und dann, indem er sich schwer in den nächsten Stuhl niederließ, sagte er flüsternd und gepreßt:

„Aber was ich gesehen habe, das ist ein Doppelgänger – ein Mann der sich deutlich und laut Ulrich Gerhard von Uffeln nannte.“

Herr Fäustelmann hatte sich beim Eintritte des jungen Mannes erhoben. Jetzt trat er hinter seinem Schreibtische hervor, und Uffeln fixirend sagte er betroffen:

„Einen Doppelgänger haben Sie gesehen? Ach – Unsinn! – das hat Ihnen eine kranke Phantasie vorgespiegelt.“

„Ich wollte, ich könnte das glauben,“ versetzte aus tiefer Brust aufseufzend Herr von Uffeln.

„Sagen Sie mir aufrichtig, Herr von Uffeln,“ sagte Fäustelmann, indem er immer noch seine Blicke mit dem Ausdrucke einer zweifelnden Betroffenheit scharf auf den niedergeschlagenen jungen Mann richtete, „haben Sie früher schon – wir kennen uns ja erst seit so kurzer Zeit – früher schon solche Sinnestäuschungen erlebt?“

Herr von Uffeln schüttelte schmerzlich lächelnd den Kopf. „Sorgen Sie nicht, daß ich Ihnen in’s Handwerk pfusche, Fäustelmann! Sinnestäuschungen sind Ihre Domäne, und ich lasse sie Ihnen, wie nach unserer Durchforschung der Kropp auch der Oberförster Ihnen keine Concurrenz mehr machen wird. Was ich gesehen habe, war die lebendige leibhafte Wirklichkeit und kein Schattenbild, und was ich hörte, war der laut und bestimmt ausgesprochene Name Ulrich Gerhard von Uffeln.“

Der Rentmeister zog den Stuhl, auf dem er gesessen, mehr und mehr bis an die Tischecke heran, und sich dann Herrn von Uffeln nahe gegenüber niederlassend, sagte er:

„Nun, so erzählen Sie genau und ausführlich das Wie und Wo! Die Sache wäre denn doch zu merkwürdig.“

Herr von Uffeln erzählte ausführlich. Der Rentmeister lauschte mit einem immer länger und gespannter werdenden Gesichte, und zuletzt, nach manchem Hin-und-Wider, wie von der tiefen Erregung und Unruhe seines Gegenüber endlich doch angesteckt, rief er aus:

„Es ist unbedingt nöthig, daß wir der Sache auf den Grund kommen, und das Nächste und Einfachste, um dahin zu gelangen, ist, daß wir ganz offen die Prinzessin fragen, wer dieser Mann, der heute statt Ihrer bei ihr eingetreten, sein könne, was er bei ihr gewollt, welche Angaben er ihr gemacht.“

„Soll ich das thun?“

„Lassen Sie mich es thun!“ versetzte Fäustelmann, „es ist besser so; ich bin auch besser im Stande, sofort den Weg nach Idar zu machen. Ihnen scheint er sehr zugesetzt zu haben!“

„Das hat er,“ antwortete Herr von Uffeln mit einem Seufzer der Erleichterung bei dem Gedanken, daß ihm dieser Weg erspart bleibe.

Und so übernahm Fäustelmann es, sich Aufklärung und Licht in dieser die beiden Männer in solche Bestürzung versetzende Sache von der Prinzessin Elisabeth zu erbitten, wenn sie im Stande sein sollte, sie zu geben. Er wechselte seine Kleidung, wobei er eine ungewöhnliche Sorgfalt an den Tag legte, und dann machte er sich auf den Weg nach Idar, während Herr von Uffeln still sein Wohnzimmer in dem Edelhofe aufsuchte. Er schritt hier langsam auf und nieder, blieb endlich dem kleinen Bildnisse seiner Mutter gegenüber stehen, und nachdem er lange darauf geblickt, nahm er es von der Wand, drückte einen Kuß darauf und brach zugleich in einen Strom von Thränen aus. – –

Herr Fäustelmann legte unterdeß seinen Weg nach dem Städtchen in weniger fluchtgleicher Hast zurück, als es Uffeln gethan; er ließ sich offenbar Zeit zu allerlei gründlichen Erwägungen. Als er in Idar im Schlosse angekommen war und seinen Wunsch an derselben Stelle ausgesprochen hatte, wo Herr von Uffeln in so überraschender Weise gehindert worden, den seinigen laut werden zu lassen, wurde er die Treppe in den [831] ersten Stock hinauf und durch lange Corridore geführt, deren Wände von alten und sehr schlecht gemalten Ahnenbildern des fürstlichen Hauses bedeckt waren; dann durch ein paar Säle, in welchen viele altmodische Möbel standen und wieder viele alte Bilder hingen; zuletzt in ein großes, ganz mit alten Büchern angefülltes Gemach. Es war auffallend, wie die Gegenwart hier sich aller Verpflichtung entbunden, an das Schaffen und Wirken der Vergangenheit weiterschaffend anzuknüpfen; wie auch nicht ein einziges neues Bild Interesse für die Kunst der Zeit, nicht ein einziges neues Buch unter all den schweinsledernen Autoritäten des siebzehnten und den Halbfranzbänden des vorigen Jahrhunderts Theilnahme für die Literatur des Tages verrieth. Die junge Durchlaucht saß allein in dem großen Raum an einem gewaltigen mit schweren alten Büchern bedeckten Schragentisch und zeichnete nach einem dieser alten Werke, einem großen Wappenbuche, mit feinen Federstrichen ein Wappen auf ein Blatt, welches sicherlich als ein Stickmuster zu dienen bestimmt war.

Sie blickte auf, als Herr Fäustelmann herankam, nickte ihm einen gnädigen, aber ein wenig kühlen Gruß auf seine tiefe Verbeugung zu, die in der That durch ihre Unbeholfenheit auch keinen größeren Reflex von huldvoller Anmuth hervorzurufen verdiente, und sagte, sich mit langsamer Kopfbewegung und wie zerstreut ihrer Arbeit wieder zuwendend:

„Herr Fäustelmann! Was führt Sie zu uns? Sie kommen wohl statt Ihres Herrn von Uffeln, den ich zu mir zu kommen bat? Weshalb kommt er nicht selbst? Er hat doch mein Billet erhalten?“

„Er hat es erhalten, Durchlaucht, und nicht gesäumt, sich auf den Weg zu machen, um diesem gnädigen Befehle zu gehorchen. Er war bereits hier unten im Schlosse und im Begriffe sich melden zu lassen, als ein höchst auffälliger Umstand ihn davon zurückhielt. Er vernahm, wie ein anderer Mann, der mit ihm eintrat, sich unter seinem Namen bei Eurer Durchlaucht melden ließ, und sah, wie Dieser zu Ihnen geführt wurde.“

„Und da ging er heim, ohne seine Rechte auf seinen Namen geltend zu machen und zu behaupten?“

„Ach, Durchlaucht, er konnte doch nicht daran denken, hier im fürstlichen Schlosse mit einem fremden Menschen einen Streit um seinen Namen zu beginnen, mit diesem fremden Menschen streitend gar bei Ihnen, in das Zimmer einer fürstlichen jungen Dame einzudringen.“

„Das ist wahr, Fäustelmann – das konnte er freilich nicht. Sie haben darin Recht. Wissen Sie aber, daß es mir leid thut, daß er es nicht gethan hat, nicht thun konnte?“

„Ihnen leid thut?“

„Ja,“ versetzte die Prinzessin, ihr zartes Antlitz mit den tiefblauen sinnigen Augen über die Zeichnung beugend, „es thut mir leid, denn ich hätte gar gern gehört, was, wenn Ihr Herr von Uffeln in’s Zimmer getreten und dem meinen, Stirn gegen Stirn, gegenübergetreten wäre, der meine gesagt hätte.“

„Er würde doch, denk’ ich, bald eingeräumt haben, daß er kein Recht auf den Namen hat und daß es ein merkwürdig keckes Unterfangen von ihm ist, wenn er sich diesen Namen beilegt.“

Die Prinzessin antwortete nicht gleich. Sie führte, wie in ihre Arbeit versenkt, sehr sorgfältig eine der Adlerfluchten über dem offenen Turnierhelme auf ihrem Wappenbilde aus.

„Würden Sie,“ fuhr deshalb Fäustelmann fort, „die Gnade haben, mir zu sagen, was dieser Mensch, dem Sie Zutritt gewährten, bei Ihnen wollte, was er vorbrachte, Durchlaucht?“

Die Prinzessin antwortete auch auf diese Frage nicht.

„Ich mußte ihm wohl Zutritt gewähren,“ entgegnete sie erst nach einer Pause, „denn als er mir gemeldet wurde, setzte ich nichts anderes voraus, als daß es der Herr von Uffeln sei, den ich ja selbst durch ein Billet eingeladen hatte, zu mir zu kommen. Ich war natürlich überrascht, einen ganz anderen bei mir eintreten zu sehen.“

„Begreiflich! Und geruhten Sie nicht, ihm dies zu erkennen zu geben und sich Aufklärung darüber geben zu lassen, wie dieser Mensch so verwegen sein könne …“

„Freilich, freilich; ich sagte ihm, daß ich einen andern Uffeln erwartet habe, und daß ich mir die Erklärung erbitten müsse, wie es komme, daß er sich denselben Namen beilege.“

„Und er antwortete?“

„Mit der einfachen Versicherung, daß er nun einmal einen Namen haben müsse, und seitdem der, welchen er genannt, ihm die Gunst verschafft, bei mir vorgelassen zu werden, hänge er nun einmal an diesem.“

„Und Das war Alles?“

„Alles, was er darüber sagte. Er wich aus, so oft ich darauf zurückkam.“

„Alles, wo er doch erfahren hatte, daß mit der Führung des Namens ein Anrecht auf ein schönes Rittergut verbunden ist? Und daß man ihn deshalb zur Rechenschaft ziehen kann?“

Die Prinzessin antwortete wieder nicht.

„Es ist eine wunderliche Sache, Fäustelmann,“ sagte sie nur nach einer Weile mit einem leisen Seufer – und dann hob sie den Kopf und neigte ihn ein wenig schief, wie um die Wirkung ihrer Zeichnung mehr aus der Entfernung zu sehen.

Fäustelmann beobachtete, während sie so ihre ganze Aufmerksamkeit der Zeichnung zuzuwenden schien, mit scharfen Blicken die Prinzessin. Er mußte wohl den Eindruck haben, als ob sie ihm lange nicht Alles, was sie dachte oder wußte, sage. Und da sein stilles Abwarten, daß sie weiter reden würde, ihm auch nichts fruchtete, sondern sie in ihrem Schweigen beharrte, zögerte er nicht länger, seine Meinung offen auszusprechen.

„Ich glaube, Durchlaucht, ich habe den Schlüssel zu dem Geheimnisse dieser seltsamen Doppelgängerei.“

„Ah,“ fiel sie lebhaft ein, „Sie hätten den Schlüssel? Nun, wer ist denn der richtige, der echte Uffeln?“

„Danach,“ versetzte er lächelnd, „kann doch nicht die Frage sein. Aber ich glaube den Schlüssel zu haben, weshalb Ihr Herr von Uffeln sich diesen Namen beilegt, ihn sich anmaßt –“

„Fahren Sie fort!“

„Ihr Herr von Uffeln ist ein Emissär des Tugendbundes, der sich als solcher vor der Welt verbergen muß und ganz schlau sich den Namen eines Andern beilegt, für den Fall, daß etwas von seiner stillen Thätigkeit hier in der Gegend verlaute. Wenn die französische Polizei Wind und Witterung davon bekommen, wenn der Name des Agenten der Alliirten ihr zu Ohren kommen sollte – nun, dann wirft sie sich auf unsern Herrn von Uffeln, und während dieser gefaßt, arretirt, inquirirt und drangsalirt wird, hat der Schuldige die schönste Zeit, ungeahnt und ungehärmt durchzuschlüpfen. Es ist wirklich eine außerordentlich fein ausgedachte Kriegslist, für einen solchen Fall sich den Namen eines Andern beizulegen, der selbst noch fremd und ein Neuling in der Gegend ist. Hätte Ihr Emissär sich auf den Namen eines hier längst bekannten Mannes geworfen, oder hätte er einen ganz fremden angenommen, so würde ihm das nichts genützt haben; nun er sich Uffeln nannte, schob er im Falle der Entdeckung die erste Gefahr und Verantwortlichkeit von sich ab auf einen Mann, den noch Niemand recht kennt, der seine Identität noch mit Brief und Siegel beweisen muß, dem man noch allerlei Zweifel und Verdacht in den Weg werfen kann, wenn er einer Behörde als Emissär, Spion oder dergleichen denuncirt ist.“

Die Prinzessin hatte den Rentmeister betroffen und überrascht angehört.

„Ihr Uffeln hat seine Identität Ihnen und Ihrem Herrn durch Brief und Siegel nachgewiesen?“ fragte sie jetzt.

„Gewiß hat er das,“ rief Fäustelmann beleidigt aus, „mir, dem Herrn von Mansdorf und dem Justitiar.“

Sie nickte mehrmals nachdenklich mit dem Kopfe.

„Und was Sie da eben von Emissären des Tugendbundes sagten – sind Sie ganz überzeugt, daß das nicht ein bloßes Gerede, sondern die Wahrheit ist, daß solche Agenten auch hier aufzutauchen beginnen?“

„Davon, Durchlaucht,“ versetzte Herr Fäustelmann, „bin ich nicht allein fest überzeugt, sondern mehr als das, ich bin im Stande, Ihnen bestimmte Thatsachen als Beweis anzugeben. Würden Sie dann noch zweifeln, so würde ich Sie bitten, sich mit mir zu dem alten verlassenen Bau, der sogenannten Kropp zu begeben.“

„Zu der Kropp? Und was sollt’ ich da?“

„Wenn Sie sich nicht scheuten, in einen besonders geschützten abgesonderten Keller mit mir hinunterzusteigen, so würde ich Ihnen den Waffenvorrath zeigen, welchen der Emissär [832] in’s Land geschmuggelt und ein Bürger von Idar dort verborgen hat …“

„Ein Bürger von Idar – in der Kropp – einen Waffenvorrath? Welche Geschichten das sind, von denen Unsereins auch nicht eine Ahnung hat! Und der Mann, der bei mir war, ist der Mann, der hier, wo Alles noch von Franzosen besetzt ist, so etwas wagt? Welch ein Mann gehört dazu! Aber ich trau’ ihn ihm zu, diesen Muth. Und wer ist denn der Bürger von Idar, von dem Sie reden?“

„Den Mann darf ich Ihnen nicht nennen, Durchlaucht; ich habe ihm natürlich das strengste Geheimhalten versprechen müssen, als er neulich einige Männer und darunter auch mich auf dem Jochmaringhofe versammelt hatte, um unser Interesse für seine patriotischen Zwecke zu gewinnen. Diese Zusammenkunft jedoch wird Ihnen der Meyer von Jochmaring sicherlich bestätigen, wenn Sie eine solche Bestätigung wünschen.“

Die Prinzessin hatte ihre Zeichnung längst weggeworfen, und die Hände im Schooße faltend, saß sie still da und blickte den Rentmeister an. Was dieser ihr sagte, hatte sie wohl überrascht, aber es hatte ganz und gar nichts Unglaubliches für sie gehabt. Es stimmte ja viel zu sehr mit den vorsichtigen Andeutungen und Winken überein, welche längst in Briefen enthalten waren, die ihr Vater von Freunden jenseits der Weser und Elbe erhalten hatte, und die er seiner Tochter nicht vorenthalten. Es war ja auch dasselbe, was ihr in den Sinn gekommen, als die Meyerin ihr von dem englischen Golde gesprochen.

„Ja, ja,“ sagte sie endlich, „er führt auch englisches Gold bei sich.“

„In der That?“ rief Fäustelmann. „Das ist die beste Bestätigung.“

„So ist es. Welche Lage ist das nun aber, in welche Ihr Uffeln gebracht wird! Das ist ja äußerst beunruhigend und fatal für ihn. Mein Gott, der arme Mensch ist alsdann nicht sicher, statt eines Emissärs, den man zu fassen wähnt, einmal plötzlich mitten in der Nacht aufgehoben und trotz aller Einreden die er erhebt, todtgeschossen zu werden.“

„Freilich, in solch eine beunruhigende Situation ist er durch dieses freche Mißbrauchen seines Namens gekommen, und er darf nicht säumen, Alles aufzubieten, um dem ein Ende zu machen. Dieser Emissär mit dem erlogenen Namen muß aus der Gegend verschwinden. Die Schwierigkeit ist nur die, ihn zu finden, um ihn zum Verschwinden zu zwingen. Und da, hoffe ich, helfen Sie uns, Durchlaucht; er wird Sie nicht ohne Andeutungen gelassen haben, wo er sich eigentlich aufhält und wie man auf seine Spur kommt?“

„Ohne Andeutungen nicht, nein, aber da er mir diese Andeutungen freiwillig und im Vertrauen gemacht hat, möchte ich die Hülfe, welche Sie von mir verlangen, Ihnen oder Ihrem Herrn von Uffeln vielmehr in anderer Weise gewähren als dadurch, daß ich Ihnen verrathe, wo Sie ihn finden.“

„Und in welcher Weise würden Sie geruhen, uns zu helfen?“

„Dadurch, daß ich ihm selbst erkläre, er habe mit seinem gestohlenen Namen, der nun einmal Ihren Herrn von Uffeln so furchtbar compromittirt, sofort das Land zu verlassen – aber auch sofort …“

„Und wenn er nicht Lust hat?“

„So werde ich ihm sagen, daß ich mich nicht mehr für verpflichtet halte, seinen Aufenthaltsort zu verschweigen, und daß Uffeln selber ihn dann gewiß dem französischen Polizeicommissar anzeigen werde.“

„Das würde denn freilich genügen,“ sagte mit einem Lächeln der Befriedigung der Rentmeister.

„Aber ich mache meine Bedingung,“ fuhr die Prinzessin fort.

„Und welche, Durchlaucht? Herr von Uffeln und ich werden zu Allem bereit sein.“

„Zu Allem? Wohl denn. Meine Bedingung ist, daß Herr von Uffeln sich den häßlichen Gedanken vergehen läßt, Fräulein Adelheid heirathen zu wollen …“

„Ach, das ist eine harte Bedingung, Durchlaucht!“

„Auf der ich jedoch ganz entschieden bestehe. Ich hatte Herrn von Uffeln allein deshalb zu mir gebeten, um mit ihm darüber zu sprechen. Der Doctor Günther hat mich zum Vertrauten seiner Liebe zu Fräulein von Mansdorf gemacht; sie erwidert seine Neigung; die Liebenden haben sich ewige Treue gelobt. Man wird sie – davon bin ich fest überzeugt – auch nicht trennen. Aber man kann die beiden armen Menschen quälen und unglücklich machen. Ich habe Ihren Herrn von Uffeln davon in Kenntniß setzen wollen, daß Adelheid die Braut des Doctors ist und daß ich von ihm als anständigem Menschen erwarte, er werde das zu achten wissen, er werde der Frau von Mansdorf erklären, daß er seine Ansprüche rückhaltlos aufgeben wollte. Aus einer solchen persönlichen Besprechung der Sache mit Uffeln ist nun nichts geworden, aber das ist um so besser jetzt, weil ich nun viel nachdrücklicher reden, weil ich jetzt bestimmt verlangen kann, was ich heute Morgen doch nur als Bitte und Erwartung aussprechen konnte.“

Ueber des Rentmeisters Züge hatte sich ein Ausdruck von Enttäuschung gelegt, und ein wenig aus der Fassung gebracht erwiderte er:

„Sie gehen da doch sehr rasch und leichtherzig vor, Durchlaucht. Von einer Verlobung des Fräuleins mit dem Doctor wissen die Eltern Adelheid’s nichts, und wenn diese keinen lebhafteren und heftigeren Wunsch haben als den, ihre Tochter mit Herrn von Uffeln verbunden zu sehen, so ist das so außerordentlich natürlich, ihnen durch ihre Verhältnisse so dringlich nahe gelegt, daß Ihre gutmüthige Intervention für diesen Doctor Günther eine große Grausamkeit gegen die Eltern ist.“

Prinzessin Elisabeth nickte sinnig mit dem Haupte.

„Darin mögen Sie Recht haben, Fäustelmann,“ sagte sie. „Aber was läßt sich daran ändern? Ist das nun einmal nicht ein altes Naturgesetz, daß die Ideale der jungen Welt sich mit den Idealen der alten Leute nicht vertragen? Und wenn nun nachgegeben werden muß, so verlangt man das billig von den Alten, weil diese durch das Leben Resignation gelernt haben und resigniren können. Die Jungen haben noch keine Uebung darin, und man darf es ihnen nicht zumuthen.“

„Was Sie nicht Alles durchdacht haben, Durchlaucht!“ sagte Herr Fäustelmann. Erstaunt über so viel Lebensphilosophie in dem reizenden jungen Mädchenkopfe, blickte er sie betroffen an.

„Kommen wir zum Schlusse!“ fuhr sie fort. „Glauben Sie, daß Herr von Uffeln meine Bedingung annimmt? Dann übernehme ich seine Rettung von der Gefahr, in welche ihn – der Andere bringt.“

„Ich bin von Herrn von Uffeln nicht bevollmächtigt, in seinem Namen so etwas zuzusagen. Aber ich will ihm Ihre Willensmeinung mittheilen,“ versetzte der Rentmeister.

„Nun wohl, thun Sie das! Und wenn Sie sehen, daß er schwankt, wenn ihm die Liebe Adelheid’s für Günther kein hinreichender Grund ist, zurückzutreten, so fordern Sie ihn auf, mich zu besuchen, um sich offen mit mir auszusprechen. Ich glaube, es wird mir gelingen, ihm klar zu machen, was er als Edelmann in dieser Lage zu thun und zu lassen hat.“

„Ich will mich auch dieses Auftrages gern entledigen, Durchlaucht,“ entgegnete der Rentmeister, „doch darf ich dagegen wohl aussprechen, daß in dieser Sache die Minuten durchaus nicht kostbar sind, daß dagegen bei der anderen Angelegenheit, der Entfernung dieses Emissärs, die größte Gefahr im Verzuge liegt.“

„Das ist wahr; auch will ich mich sofort bemühen, diese Gefahr zu beseitigen; verlassen Sie sich darauf!“

Fäustelmann hatte sich erhoben und verbeugte sich so tief, wie seine steife Figur es zuließ. Die Prinzessin entließ ihn mit einem graziösen Kopfnicken, als er dankend seinen Abschied nahm.

Sehr viel Dank schien Herr Fäustelmann nun doch, während er durch die Schloßcorridore dem Ausgange zuschritt, nicht zu empfinden; wenigstens lag kein Ausdruck von Heiterkeit in seinen Zügen; im Gegentheile, er sah noch ernster und starrer aus als gewöhnlich.

„Eigentlich,“ murmelte er vor sich hin, „bin ich ausgegangen, Wolle zu holen, und kehre geschoren heim von diesem klugen Huhn von Prinzessin. Daß Uffeln auf das Fräulein verzichtet, davon kann doch keine Rede sein; wären sie nur erst verheirathet! Wäre die ganze Gesellschaft nur erst jenseits der Berge, ‚im Süden‘, wie sie das nennen! Daß sie niemals von da nach Wilstorp zurückkehren und der Herr auf dem Gute sehr bald Fäustelmann heißt, dafür soll nachher auch schon gesorgt werden.“

[845] Herr Fäustelmann strebte, während ihm diese und andere Gedanken durch den Kopf gingen, heimwärts und als er in Wilstorp wieder angekommen war, wandte er sich sogleich der Wohnung seines jungen Herrn zu. Dieser saß noch immer in seinem Eckzimmer in einem Sessel am Fenster, ohne dem Anschein nach weiter beschäftigt zu sein, als die hochaufgethürmten weißen Wolkenberge draußen am blauen Himmel zu betrachten.

„Nun, was bringen Sie für Nachrichten, Fäustelmann?“ rief er dem Rentmeister, als dieser bei ihm eintrat, entgegen.

„Nachrichten nicht gerade befriedigender Art – das Ergebniß ist, daß wir uns selber werden helfen müssen. Das Beste ist, daß ich aus den Reden der Prinzessin den Schluß habe ziehen können, wer Ihr Doppelgänger ist, obwohl sie mir directe Auskunft verweigerte. Es ist ganz ohne Zweifel der Emissär, von dem der Apotheker redete, der Mann, der die Waffen für die Kropp in’s Land geschafft hat …“

„Ah – und wie sollte der dazu kommen, sich Uffeln zu nennen?“

„Sehen Sie nicht ein, wie schlau das von ihm war? Welche bessere Maske konnte der Mensch sich wählen, als den Namen eines solchen neuen Ankömmlings im Lande, wie Sie sind? Wird ein Verdacht wider ihn erweckt, vernehmen die Franzosen etwas von einem Uffeln, der im Lande für den Tugendbund arbeitet, heben sie vielleicht solch einen an einen Herrn von Uffeln adressirten Waffentransport auf, dann fallen sie natürlich über Sie her, und dieser Schwindler behält unterdeß völlig Zeit, sich bei Seite zu machen und zu verschwinden.“

„So erklären Sie sich die Sache?“

„Wissen Sie eine bessere Erklärung?“

„Nein. Freilich nicht. Aber was wollte die Prinzessin von mir?“

„Ihrem Edelmuth ein großes Opfer abverlangen, Sie bitten, auf die Hand von Fräulein Adelheid zu verzichten.“

„Ah – nicht möglich!“

„Es ist so – sie wollte Ihnen die Herzensneigung von Fräulein Adelheid und Doctor Adolf Günther in einem so romantisch verklärten Lichte darstellen, daß Sie in tiefster Rührung und überquellender Seelengüte freiwillig auf alle Bewerbungen um Fräulein Adelheid’s Hand verzichten sollten.“

„Aber das kann ich ja gar nicht.“

„Nein, das können Sie nicht. Obwohl es die Prinzessin sehr ernsthaft nimmt. Denn sie läßt es Ihnen durch mich feierlich als Bedingung vorschreiben.“

„Als Bedingung? Ah – die Prinzessin schreibt mir Bedingungen vor! Wofür?“

„Sie übernimmt es dann, Ihren Doppelgänger sofort unschädlich zu machen und von hier zu vertreiben.“

„Vertreiben? Wodurch kann sie das, welche Macht hat sie über ihn? Ich werde ihr sehr dankbar sein, wenn sie ihn vertreibt – aber …“

„Aber Sie möchten wissen, welche Mittel sie dazu hat. Nun, eines, dessen sie auch erwähnte, liegt auf der Hand: sie kann das Geheimniß seines Aufenthaltes verrathen – sie kennt es.“

„Und würde sie das thun?“

„Nein! das würde sie nicht thun. Sie versprach, im Nothfall ihm damit drohen zu wollen, aber ich bin überzeugt, daß sie mit diesem Versprechen nur mich beruhigen wollte; in der That wird sie, wenn dieser Mensch ihr sich anvertraut hat, ihn auch nicht verrathen. Daran ist nicht zu denken. Sie muß also, wenn sie verspricht, ihn zu entfernen, andere Mittel haben auf ihn zu wirken, die sie nicht angeben will, statt deren sie von einer solchen Drohung redet.“

„Aber wie erklären Sie sich denn das? Wie kann diese Prinzessin mit dem Emissär zusammenhängen, wie kann sie Mittel haben, seine Entschlüsse zu bestimmen?“

„Das weiß der liebe Gott,“ sagte Herr Fäustelmann, „ich verstehe es eben so wenig wie Sie. Das Beste ist, daß wir es nicht gerade zu ergründen brauchen um uns helfen zu können, das heißt um Ihnen helfen und diesen gefährlichen Doppelgänger vom Halse schaffen zu können.“

„Und welche Mittel hätten wir dazu?“

„Dieselben ungefähr, welche die Prinzessin hat; sie scheint zwar den Aufenthaltsort des Menschen zu kennen, während er uns unbekannt ist. Dagegen können wir handeln, ohne durch Rücksichten auf Vertrauen und dergleichen gebunden zu sein. Und kennen wir seinen Aufenthaltsort nicht, den wir denunciren können, so kennen wir etwas, das uns ebenso weit hilft – sein Waffenlager.“

„Wollen Sie das der Polizei denunciren?“

„Weshalb nicht? Es muß freilich anonym geschehen, denn sonst würde man als schlechter Deutscher verfehmt, und Apotheker Widmer würde seiner vaterländischen Entrüstung in schlimmen Worten Luft machen.“

[846] „Es wäre doch auch schlecht,“ warf hier Herr von Uffeln fast erschrocken ein.

„Man wehrt sich eben wie man kann, Herr von Uffeln, wenn Sie aber vorziehen, in der Gefahr zu bleiben, die der Mensch über Sie bringt …“

„Nein, nein, jeder ist sich der Nächste, thun Sie, was Sie für nöthig halten!“

„Ich werde es mir überlegen und wahrscheinlich für nöthig halten. Die Entdeckung und obrigkeitliche Beschlagnahme des Waffenvorrats in der Kropp würde ein ganz gewaltiges Aufsehen, einen heillosen Lärm machen und Alles, was zur Polizei gehört, auf die Beine bringen. Es würde, denk’ ich, völlig genügen, unsern Tugendbundmenschen an seine Rettung denken zu lassen – er würde sich so hastig, wie wir es nur irgend wünschen können, aus dem aufgewirbelten Staube machen.“

„Das ist freilich zu erwarten,“ versetzte Herr von Uffeln, und Beide schwiegen dann eine Weile.

„Ich muß Ihnen gestehen,“ sagte endlich Herr von Uffeln mit einem Seufzer und in ziemlich verzagtem Tone, „bei allem dem fühl’ ich mich immer unbehaglicher hier. Es bleibt immer die Abneigung von Fräulein Adelheid gegen mich, die mich sehr trübsinnig stimmt, und nun gar noch dieser Tugendbundmensch, wie Sie ihn nennen, der mir die Luft hier drückend macht – das Alles läßt mich wünschen …“

„Sie könnten eine Luftveränderung vornehmem? Das ist mir sehr erklärlich,“ erwiderte Herr Fäustelmann mit einem leisen spöttischen Lächeln. „Und,“ fuhr er fort, „das trifft ja auch auf’s Beste mit der schon lang gehegten Sehnsucht unserer Familie nach einer Luftveränderung, mit dem Verlangen des Arztes nach einem anderen Klima für Fräulein Adelheid überein. Also beschleunigen wir diese Luftveränderung!“

„Was könnten Sie dazu thun?“

„Etwas immerhin, vielleicht gerade so viel wie nöthig ist. Das Geld ist ja da – es sind die für Sie beim Justitiar deponirten baaren Einkünfte des Guts, die auf Ihren Antheil fielen, und die Sie nun großmüthig Herrn von Mansdorf zur Disposition gelassen haben. Damit Sie nun einpacken und Alle zusammen einträchtiglich sich aus dem Waldschatten von Wilstorp in den Sonnenschein eines glücklicheren Klimas verziehen können, bedarf es nur noch der ausgesprochenen Verlobung mit Fräulein Adelheid, denn als ihr abgewiesener Freier können Sie freilich hinter der Familie nicht dreinziehen.“

„Sicherlich nicht! Aber diese Verlobung …“

„Müßte ohne Zeitversäumniß jetzt endlich zu Stande gebracht werden. Und das lassen Sie meine Aufgabe sein! Ich werde Frau von Mansdorf schon dafür stimmen, daß sie dem jetzigen unbestimmten Zustande, diesem Hangen und Bangen ein Ende macht. Wollen Sie mich dabei unterdtützen – wohl, so betrinken Sie sich ein paar Abende nach einander mit Herrn von Mansdorf.“

„Betrinken – wozu? Soll mich das etwa in Fräulein Adelheid’s Augen liebenswürdiger erscheinen lassen?“

„Nicht just das – es soll nur dazu dienen, den Wunsch der Frau von Mansdorf, ihren Mann aus dieser Einsamkeit hier fort zu bringen, zu verschärfen. Es soll ihr die Möglichkeit geben, zu dem Fräulein zu sprechen: mach’ ein Ende, damit wir hier fortkommen! Du hast es sonst auf dem Gewissen, daß dein Vater hier in einem Laster verkommt, an dem nur seine Einsamkeit und Beschäftigungslosigkeit schuld ist.“

„Sie sind eigentlich ein merkwürdig schlauer Gesell, Fäustelmann,“ sagte Herr von Uffeln, nachdenklich ihn anschauend.

„Danken Sie Gott dafür, daß ich Ihnen mit meiner Ueberlegung ein wenig zu Hülfe komme!“

„Das soll auch geschehen, sobald Ihre Ueberlegung und Hülfe mich an’s Ziel gebracht haben. Ich habe nicht eher Ruhe mehr. Ohne Fräulein Adelheid glaube ich nicht mehr leben zu können.“

„Das kommt blos daher, weil sie Sie mißhandelt,“ versetzte lächelnd Herr Fäustelmann. „Aber seien Sie getrost und vertrauen Sie auf meinen Eifer, Sie glücklich zu machen!“

Damit ging Herr Fäustelmann, ohne daß Uffeln doch ein großes Vertrauen zu diesem Eifer mit den Blicken ausgedrückt hätte, womit er ihm nachschaute. Im Gegentheil – der junge Mann behielt in seinen Mienen denselben Ausdruck von Schwermuth, der bei Fäustelmann’s Kommen darin gelegen hatte.

„Ich fürchte,“ flüsterte er vor sich hin, „dieser Mensch hat noch ganz andere Motive, als die er mir angiebt. Weshalb ist ihm so daran gelegen, seine Herrschaft von hier abziehen zu sehen? Er betrügt zuerst seinen alten Herrn und dann mich, den er zu seiner Puppe gemacht hat, der wie Wachs in seiner Hand ist. Wahrhaftig, wenn mein Herz mich nicht so rasch an dieses Haus gefesselt hätte …“

Herr von Uffeln endete nicht, sondern blickte trüben Auges wieder auf die hohen, weißen Wolkenberge. Nur nach einer langen Pause sagte er mit einem tiefen und schmerzlichen Seufzer:

„Ich wollte, ich wäre nie hierher gekommen.“




8.

Einige Tage waren vergangen. Der Jochmaringhof lag im hellen Sonnenscheine eines merkwürdig schönen Herbstnachmittages da. Die außerordentliche Reinheit und Klarheit der Luft ließ die näheren Gegenstände sich ungewöhnlich bestimmt und deutlich von den entfernteren abheben, so daß die Landschaft dadurch Vorder-, Mittel- und Hintergründe bekommen hatte, welche man zu andern Zeiten gar nicht so unterschieden wahrnahm. Und wie eine große Abwechselung und eine reichere Belebung, so hatte diese Landschaft dadurch auch einen größeren Farbenreichthum bekommen; die Blätter von des Meyers alten Eichen zeigten da, wo die Sonne darauf lag, ein ganz wunderbar saftiges, tiefgesättigtes Grün, und die Ziegel auf dem alten Gaden seitwärts vom Haupthause wiesen Farben und Töne auf, die einen Maler hätten entzücken müssen. Eine wunderbare Stille und fast weihevolle Ruhe lag zudem über dem Ganzen; man hörte nichts, als von einem entfernteren Gehöfte her den gedämpften Schlag im Tacte arbeitender Flachsbrecher. Die alten mächtigen Wipfel aber standen so still, als wären sie in ein tiefes, tiefes Sinnen versunken und gedächten der uralten heiligen Zeiten Widukind’s und seiner „Gesaljos“, seiner Saalgenossen und Gesellen.

Unter einer dieser Eichen, da, wo wir sie zuerst erblickten, sitzt heute einmal wieder die Prinzessin Elisabeth auf der rauhen Holzbank hinter dem weißgescheuerten Tische von Lindenholz, den die Meyerin für Gäste hinauszutragen pflegt. Diese selber, des Meyer’s Ehegesponst, wandelt mit der Prinzessin Kammerfrau drüben im Garten auf und ab, der an der andern Seite des Hauses einige Astern, einige Phloxbüsche und sonst sehr wenig Gegenstände zeigt, welche auf einen idealen Zug in bäuerlicher Gartenpflege hindeuten, dagegen eine große Sorge für die Cultur von Zwiebeln, Cichorien und Gurken verräth. Die Prinzessin pflegt unterdeß geheimer Zwiesprache mit der rätselhaften Persönlichkeit, welche es bei dem Besuche, den wir sie der Prinzessin im Schlosse machen sahen, verstanden haben muß, sich diese wieder vollständig zu versöhnen.

Der Fremde sitzt der Prinzessin gegenüber auf einem Strohstuhle und hat das Kinn auf den auf der Tischplatte ruhenden Arm gestützt; sein Hut liegt neben ihm, so daß seine hochgewölbte, von dunkelbraunem Haare umwallte Stirn völlig frei sichtbar ist. Es laufen einige zarte Linien in der Quere darüber, als Andeutungen, wo Zeit und Sorge nur zu graben haben werden, wenn sie auch in diesem Menschenantlitze die Runen herstellen wollen, die von des Lebens Mühsal sprechen. Seine dunklen großen, aber halb verschleierten Augen liegen mit einem eigenthümlichen, halb fragenden, halb verwunderten Blicke auf der jungen Dame, während um den streng geschlossenen und schön gezeichneten Mund doch wieder ein Zug von Spott, oder wenn der Ausdruck zu stark sein sollte, von Neckerei liegt.

„Sie sind von einer bewunderungswürdigen Güte, Durchlaucht,“ sagte er, „und wissen Sie, daß mir von dem Allem in diesem Augenblicke ganz eigenthümlich, ganz traumhaft zu Muthe geworden ist?“

„Wie Ihnen zu Muthe ist, darum handelt es sich hier nicht,“ versetzte die Prinzessin, „und insbesondere nicht um Ihre Träume. Sie sollen sich entschließen und das sofort, jetzt auf der Stelle, nachdem Sie Zeit genug gehabt haben, meine Worte zu überlegen.“

[847] Es handelt sich für mich doch ein wenig darum, wie mir zu Muthe ist,“ entgegnete er. „Sie wollen mich vertreiben von hier. Wenn ich nun aber mich hier wie in einem wundervollen Traume fühlte, von dem ich wollte, daß er nie zu Ende gehe, so sehen Sie ein, wie schwer es sein wird, daß ich mich gerade jetzt zu dem entschließe, was Sie von mir verlangen. Ich fühle mich eben wie mit Zaubergewalt an diesen Erdfleck gefesselt; die sonnige Welt um uns her mit ihrer reizenden Abwechselung von Hain und einzelnen Baumgruppen, von Kornflur und Rasenflächen, diese still an saftig grünen Waldwiesen vorübergleitenden wasserreichen Flüßchen, dieser Wechsel der Bodenerhebungen und Senkungen, das Alles gefällt mir ausnehmend, und mehr noch die Staffage dieser grünen Landschaft, die schönen reichen Höfe mit ihren prächtigen Sassen. Wo finden Sie einen solchen Bauernschlag wieder?“

„Aber ich bitte Sie, wie können Sie jetzt von Dingen reden, auf die es ja gar nicht ankommt?“

„Für mich kommt es wohl darauf an. Aus dem sonn- und hirnverbrannten Spanien gekommen, seh’ ich mich in einer so erquickenden, herzstärkenden Welt wie diese. Und mitten in dieser reizenden Umgebung, wo ich vergessen kann, was hinter mir liegt, wo mir der Muth, sorgenlos in die Zukunft und in das Glück hineinzuleben, wiedergekommen ist und täglich stärker in mir aufquillt, da sitzen Sie mir gegenüber, Sie, ein fremdes, schönes rührendes Märchengebilde, und reden mir mit einer Stimme, deren Töne so wunderlich zum Herzen gehen, von einer jungen Liebe, von Liebesglück und Liebeskummer vor, müssen Sie nicht gestehen, daß ich mich wie in einem Traume voll Poesie befangen fühlen muß – und können Sie mir zumuthen, ich soll mich daraus aufraffen, mein Bündel schnüren und fortwandern auf Nimmerwiedersehen?“

Die Prinzessin schüttelte den Kopf. Die Complimente, welche der Fremde ihr gemacht, schienen sie heute zwar durchaus nicht mehr zu erzürnen, aber ein wenig ungeduldig war der Ton doch, mit dem sie antwortete:

„Ich meine Ihnen doch klar gemacht zu haben, daß Sie keine Zeit haben zu träumen … daß die höchste Gefahr über Ihnen schwebt.“

„Gewiß, Sie haben es nicht an Eifer fehlen lassen, mir das Schreckliche meiner Lage klar zu machen. Der junge Mann drüben auf Wilstorp fühlt sich auf’s beklemmendste und ängstlichste dadurch compromittirt, daß ich seinen Namen mißbraucht habe, um darunter meine gefährlichen Emissar-Umtriebe zu machen. Sie haben versprochen, ihn von dieser Angst zu befreien, falls er dagegen auf seine Bewerbungen um ein Fräulein verzichtet, das längst ihr Herz einem jungen Arzte, Ihrem Protégé, geschenkt hat. Um ihn von seiner Angst zu befreien, verlangen Sie von mir, daß ich meine Umtriebe einstelle und je eher desto besser verschwinde. Wenn ich nicht verschwinde, wenn es Ihnen nicht gelänge, durch Ihr gütiges Zureden mich unverzüglich aus dem Lande zu schaffen, dann, drohen Sie, würde ganz unzweifelhaft, trotz aller patriotischen Gefühle, die ihn abhalten könnten, der Rentmeister, Herr – wie nannten Sie ihn? – selber vorgehen und mich sammt meinem Waffenvorrath, den ich in dem alten verlassenen Gebäude ‚die Kropp‘ geborgen und den ihm der Zufall entdeckt, den französischen Behörden denunciren, worauf diese mich einfangen, verurteilen und erschießen würden. Das Alles ist klar, logisch und schlagend. Namentlich ist das Erschossenwerden eine Sache, der – ich kann ja aus eigener Erfahrung darüber reden – man besser thut auszuweichen.“

„Und wie können Sie noch zaudern?“ fragte die Prinzessin.

„Weil es mir hier gefällt. Weil ich hier so wohl aufgehoben bin, wie seit vielen Jahren nicht. Weil ich mit Wonne diese reine, weiche, stille Luft hier athme. Deshalb zaudere ich. Und dann auch vielleicht ein wenig aus Trotz. Vielleicht aus bösem Trotze, weil gerade der Mund, aus dem ich dieses Wort am wenigsten gern hörte, mir sagt: ‚Geh! geh!‘ Sie wissen wohl nicht, Sie hochmüthige Durchlaucht Sie, daß unter Umständen das Wort: ‚Geh!‘ ein sehr grausames sein kann?“

Die Prinzessin erröthete leicht.

„Für Sie liegt doch keine Grausamkeit darin, wenn ich das Wort Ihnen gegenüber ausspreche. Ich mache Ihnen eine Gefahr kund, die Ihnen droht; ich sage Ihnen: man hat entdeckt, wer Sie sind, was Sie hierher führt – also retten Sie sich, fliehen Sie – nennen Sie das grausam?“

„Wollen Sie mir einräumen, daß es persönliche Theilnahme für mich, Güte, Fürsorge Bekümmertheit um mein Schicksal ist, dann will ich allerdings das Wort ‚grausam‘ widerrufen. Aber Sie senden mich fort, damit Fräulein Adelheid wieder nach Herzenslust ihren Doctor Günther lieben darf – und deshalb …“

„Würden Sie gehen, wenn ich Ihnen einräumte, daß ich auch aus Theilnahme und Sorge um Ihr Schicksal wünsche, Sie gingen und brächten sich in Sicherheit?“

„So viel würden Sie mir einräumen, so sehr würde Ihr hochfürstlicher Stolz sich herablassen, so sehr sich demüthigen, nur um mich glücklich fortzuschaffen?“

Prinzessin Elisabeth wandte sich zornig ab.

„Sie sind argwöhnisch, also schlecht.“ sagte sie. „Sie verdienen die Worte nicht, die ich an Sie gerichtet habe.“

„Habe ich Sie beleidigt?“

„Ja – tief.“

„So haben Sie also die Wahrheit geredet? Sie schenken mir wirklich eine persönliche Theilnahme, die sich um meine Sicherheit ängstigt? Das wäre ein Glück, an das ich gar nicht mehr zu glauben wage. Mein Gott – seit wann hat ein Weib mir eine wahre Theilnahme bewiesen? Seit meine Mutter todt ist, nicht mehr.“

„Dann haben Sie keine gesucht oder keine verdient.“

„Gesucht – ich habe nichts anderes gethan als sie gesucht mein Leben lang. Aber wohl nicht auf die rechte Weise. Ich bin immer etwas von einem Träumer gewesen. Ich lebte in’s Leben hinein wie ein Kind seinem Weihnachten entgegen, in ruhiger Erwartung. Wozu waren die Wolken über mir da, wenn nicht zur richtigen Stunde mir das Glück daraus zufallen sollte? Aber bis jetzt ist es mir nicht zugefallen aus den Wolken. Es ist mir nichts zugefallen als das Glück, welches die Träumer haben, daß sie heiler Haut durchkommen, wo Andere den Hals brechen. Ich bin nie verwundet worden und ich schreibe es dem Umstande zu, daß ich in einem Gefechte jedesmal in einen wunderlichen Zustand geriet, wo alles, was um mich her war und vorging, mir wie ein Traum vorkam und ich an eine Gefahr für mich gar nicht dachte.“

„Und so haben Sie auch hier gelebt, und an die furchtbare Gefahr, die über Ihnen schwebt, haben Sie nicht gedacht.“

Er sah sie lächelnd, sinnenden Auges an und sagte dann:

„Tadeln Sie mich deshalb nicht, Prinzessin Elisabeth! Seit ich Ihnen damals im Walde drüben begegnet bin, habe ich an Anderes und Besseres gedacht. Stets an Eines, das mir aber so viel zu sinnen und zu denken gegeben hat, daß ich unmöglich auch noch an Anderes denken konnte. Nun, werden Sie nicht böse, daß Ihnen ein gewöhnlicher Sterblicher so etwas sagt! Sie wollen, ich soll gehen, für immer scheiden von hier, und einem Scheidenden verzeiht man ja, wenn er ausspricht, wie ihm zu Muthe ist.“

„Aber einem Manne,“ fiel Prinzessin Elisabeth, die leicht erblaßt war, jetzt erröthend ein, „verzeiht man nicht, wenn er redet, wie’s ihm einfällt und ohne an die Tragweite seiner Worte zu denken.“

„Thu’ ich das?“

„Ja, das thun Sie,“ entgegnete die Prinzessin fast heftig, „gerade so unbesonnen und unbedacht jetzt wie damals, als Sie sich ohne Weiteres den Namen Uffeln beilegten. Jetzt sprechen Sie mir Dinge vor, die kein ehrlicher junger Mann einem jungen Mädchen sagt, auf die Gefahr hin, Ihren Frieden damit zu stören. Müssen Sie sich nicht sagen, daß das ein schlechter Lohn für die Theilnahme ist, welche ich Ihnen gezeigt habe und deren Aufrichtigkeit Sie nicht verkennen konnten? Jetzt, ehe Sie scheiden, reden Sie mir von Gefühlen, von Gedanken vor, die, wenn ich sie für wahr hielte, doch einen Eindruck auf mich machen müßten. Und kann, wenn Sie fort sind, um nie wiederzukehren, dieser Eindruck mich glücklicher machen? Sie haben kein Gewissen.“

Er sah sie überrascht und verwundert an.

„Kein Gewissen? Darin mögen Sie Recht haben. Ich werde in der Leidenschaft, fürchte ich, gerade so kopflos und um die Einwürfe des Gewissens unbekümmert vorwärts gehen, wie [848] in der Schlacht unbekümmert um die Kugeln. Bin ich deshalb ein schlechter Mensch? Glauben Sie das? Ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß ich bin, wie der liebe Gott mich wachsen ließ, und daß wenig an mir geändert werden könnte. Verzeihen Sie mir deshalb – auch dann, wenn ich von den Worten, die ich sprach und die Sie gewissenlos finden, nichts zurücknehmen kann! Seit ich Sie gesehen, wird mein Leben nur von einem Gedanken beherrscht, und das wird auch später nicht anders werden, niemals. Was geht es Sie an? Ihre Ruhe werde ich dadurch nicht mit mir fortnehmen.“

Die Prinzessin sah in den Schooß. Sie war ein wenig bleicher geworden; es glänzte etwas in ihren Augen. Plötzlich hob sie den Kopf, sah ihr Gegenüber mit einem eigenthümlich sprechenden, aber sehr flüchtigen, sehr raschen Blicke an, reichte ihm ebenso flüchtig die Hand und sagte dabei:

„Da Sie nicht aufhören, davon zu sprechen, so muß ich gehen. Ich nehme Ihr Wort mit, daß Sie von hier abreisen. Adieu – mit Gott – Gott sei mit Ihnen!“

Dabei war sie aufgestanden, und ehe er noch den Druck ihrer Hand hätte erwidern können, war sie bereits drei Schritte vor ihm auf dem Wege zu der Umzäunung des Gartens, um ihrer Kammerzofe zu winken, mit der sie nach einigen Abschiedsworten an die Meyerin den Heimweg einschlug, dem Walde zu, der nach wenigen Minuten sie aufnahm und den Blicken des Nachschauenden verbarg.

Dieser sah ihr lange mit seinen eigenthümlichen, durch die halbgeschlossenen Lider einen so merkwürdigen Ausdruck von Träumerei bekommenden Blicken nach.

„Und jetzt,“ flüsterte er nach einer Pause vor sich, „jetzt, wo diese edle goldreine Natur aus der naiven Offenheit ihres großen Herzens heraus mir solch ein Geständniß gemacht hat – gehen? Jetzt von hier scheiden? Ja, gehen will ich, aber nicht, wohin sie mich sendet.“

Er blickte lange zu Boden, stampfte dann, während er zornig ein paar Worte vor sich hinmurmelte, mit dem Fuße, und wandte sich dem Schem zu, um hinter den Wallhecken jenseits des Flusses zu verschwinden. –

Die Nachmittagssonne hatte sich unterdeß mehr und mehr geneigt und senkte sich dem Horizonte zu. Auf dem Hofe von Wilstorp spielten ihre letzten Strahlen, bevor sie hinter den Wipfeln des umgebenden Waldes und den Dächern der Vorgebäude verschwand, mit dem dunkeln Laub des Epheus, dessen Geranke sich an den Thürmen hinaufspann und den hübschen Platz zwischen den letzteren vorn abschloß. In diesem reizenden versteckten Winkel saß auch heute wieder die Familie versammelt um den großen Steintisch, mit denselben Hausfreunden, welche wir früher dort antrafen, dem Justitiar und dem Oberförster, auch Herr Fäustelmann fehlte nicht, er saß vorn, mit dem Rücken dem Hofe zugekehrt, während im Hintergrunde Herr von Uffeln neben Mansdorf saß, zur Seite vom Fräulein Adelheid. Diese sah sehr bleich aus und ließ von Zeit zu Zeit ihre Häkelarbeit in den Schooß sinken, um dann, nach einer Pause, wie erschrocken aus ihren Gedanken auffahrend desto hastiger darin fortzufahren; Herr von Uffeln, dem Anscheine nach ganz von den Gesprächen der Männer absorbirt, beobachtete doch mit häufigen raschen Seitenblicken diese Spuren von innerer Aufregung in dem jungen Mädchen neben ihm; Frau von Mansdorf strickte an ihrem obligaten Strumpfungeheuer und horchte dabei ebenfalls auf die Gespräche der Männer.

Diese waren in die neuesten Kriegsnachrichten vertieft. Napoleon spielte eben eine Rolle, welche man nicht begriff, welche man bei ihm nicht verstand – er war noch immer in Dresden mit dem Haupttheile seiner Heere, wie festgenagelt blieb er seit vielen Tagen schon an derselben Stelle, und wenn unbefangene Menschenkinder sich dadurch verführen lassen konnten zu glauben, er habe die Macht verloren, den Feldzug nach seinem Sinne und nach seinem Plane zu leiten, er habe wohl gar keinen festen Plan mehr und schwanke in seinen Entschlüssen, so wußten die Klügeren ganz genau, daß dies eben nur die Ruhe des Löwen vor dem Sprunge, das Zusammennehmen seiner Kraft sei, worauf die furchtbaren, alle seine Gegner zermalmenden Schläge folgen würden. Diese Meinung wurde auch von Leuten vertheidigt, welche die besten Wünsche für die Sache des Vaterlandes hegten, denn um diesen französischen Soldatenkaiser lag nun einmal trotz Rußland und trotz Spanien der Nimbus der Unbesiegbarkeit.

In unserm Kreise war es merkwürdig, mit welcher Ruhe und welcher Friedfertigkeit die sich einander entgegenstehenden Ansichten darüber ausgetauscht wurden. Heute würden so durchaus verschiedene Ansichten über politische Dinge unfehlbar zu heftigem Streite führen und die so sehr sich widersprechenden Propheten nächster Zukunftsereignisse sich bald in die Haare gerathen. Damals jedoch war der deutsche Unterthan so daran gewöhnt, in den politischen Ereignissen, in Krieg, Frieden, Ländervertheilungen Dinge zu sehen, welche für ihn den Charakter elementarer Erscheinungen mit elementarer Gewalt hatten, dunkle Wetter, die über sein Haupt dahinzogen, ohne sich um ihn zu kümmern, und aus denen für ihn nur die Schauer, die Schloßen oder auch die Blitze, die sein Dach in Flammen setzten, niederfuhren – so sehr, sagen wir, war der deutsche Unterthan daran gewöhnt, daß nach und nach die apathische Geduld der wesentliche Zug im Charakter der öffentlichen Stimmung geworden war. Einzelne Hitzköpfe machten eine Ausnahme; in einzelnen Herzen kochte es, und die Heftigeren machten, von einer gewissen Erregung durch den eben wüthenden Krieg ergriffen, von ihrer Gesinnung kein Hehl, wenn es ohne Gefahr war; Apotheker Widmer hatte ja sogar in seiner Propaganda für die Zwecke des Tugendbundes manche befriedigende Erfolge. Im Ganzen aber war in unserm Lande von der stürmischen Begeisterung, von der uns die Geschichte der „Freiheitskriege“ aus anderen deutschen Landschaften berichtet, nicht viel zu verspüren, und Herr von Mansdorf sagte mit gemüthlicher Ruhe, nachdem das Für und Wider einer Entscheidung nach dieser oder jener Seite erörtert war:

„Jedenfalls soll mich wundern, wer uns hier nachher bekommt.“

[861] „Wenn der zukünftige Machthaber nur Einer ist,“ bemerkte der Oberförster, „der uns in Frieden einen ordentlichen Tabak rauchen läßt. Dieses Continentalsystem ist nicht mehr zu ertragen, und dem Schläfrigsten reist dabei die Geduld.“

„Es hat auch die längste Zeit gedauert,“ sagte Herr Fäustelmann mit dem Tone ruhiger Ueberzeugung.

„Hoffen wir’s!“ entgegnete der Oberförster mit einem Seufzer.

„Sie, Fäustelmann, haben ja die Preußen schon durchmarschiren sehen,“ bemerkte hier die gnädige Frau, „und so braucht auch kein Zweifel mehr daran zu sein.“

„Nein!“ sagte der Rentmeister, still für sich hinnickend.

„Sie werden dann sehen müssen, Fäustelmann,“ fuhr Herr von Mansdorf fort, „wie Sie mit dem neuen Herrn fertig werden. Es wird mit der Veränderung in allen Dingen wieder eine hübsche Menge Scherereien verbunden sein.“

„Werde schon damit fertig werden,“ entgegnete Herr Fäustelmann, „habe ja auch zu meiner Unterstützung mit Rath und That einen so scharfen Kopf wie den Herrn Justitiar zur Hand.“

„Gewiß,“ fiel der Justitiar mit einem forschenden Seitenblicke auf Herrn von Uffeln ein, „Sie werden mich nicht säumig finden, wenn ich mit meinem Kopfe nützen kann. Doch will mich bedünken, Herr Fäustelmann, wenn Sie so gewiß – mit jener absonderlichen Gabe, die Sie vor uns anderen Menschenkindern voraus haben – den Umschwung der Dinge und das Einrücken der Preußen hier voraussehen, so handeln Sie wider Ihr eigenes Interesse, indem Sie so zuversichtlich sagen: ‚Ich werde schon damit fertig werden.‘ Etwas mehr Scheu vor der großen Verantwortlichkeit, welche Sie übernehmen wollen, etwas mehr Voraussicht, in welche Verlegenheiten die Verwaltung eines Gutes in solchen unruhigen Zeiten kommen kann, würde ich in Ihrer Stelle doch an den Tag legen, in der Hoffnung, daß sich unsere gnädige Gutsherrschaft dann nicht ganz und insgesammt fortbegäbe, daß uns mindestens Herr von Uffeln hier bliebe, um nach seinem Eigenthume zu sehen.“

„Herr von Uffeln will aber nicht allein daheim bleiben,“ versetzte Fäustelmann, „und wenn ich nun einmal keine Scheu vor meiner Verantwortlichkeit empfinde, sondern überzeugt bin, daß ich während der Abwesenheit unserer gnädigen Herrschaft Alles zu deren Zufriedenheit ausrichten und besorgen werde, so werden Sie mir nicht zumuthen, daß ich eine solche Scheu heucheln soll. Hab’ ich doch Wilstorp schon viele Jahre lang verwaltet, lange schon, ehe Herr von Mansdorf kam, um es in Besitz zu nehmen.“

„Auch gehen wir,“ nahm Frau von Mansdorf das Wort, „ohne deshalb in der geringsten Sorge zu sein – danken nur Gott, daß wir überhaupt gehen und, was ja so lange unser Wunsch war, den Winter mit Adelheid am Genfersee zubringen können. Und was Ihre Idee angeht, Plümer, daß Herr von Uffeln hier bleiben solle, so kann davon deshalb keine Rede sein, weil Herr von Uffeln nicht jetzt, wo er eben verlobt ist, seine Braut verlassen will.“

„Seine Braut?“ rief der Oberförster im Tone der Ueberraschung, und der Justitiar rief ebenfalls, nur mehr im Tone einer unwilligen Betroffenheit:

„Seine Braut?“

„So ist es,“ entgegnete Frau von Mansdorf, auf ihre Tochter und Herrn von Uffeln mit einem Lächeln wie von nachsichtigster Güte blickend, „es ist das eine Thatsache, welche ich mich freue, jetzt den Herren kund geben zu können, und bei der uns Ihre freudige Theilnahme nicht fehlen wird. Herr von Mansdorf und ich haben unsere Einwilligung zu dem Verlöbnisse der jungen Leute gegeben, und wenn wir uns früher zu dem Eintritte des Herrn von Uffeln in unseren Lebenskreis nur Glück wünschen konnten, so können wir jetzt die Hoffnung hegen, daß sein Eintritt in unsere Familie zu einem noch größeren und dauernden Glücke führen wird.“

Während Frau von Mansdorf diese Worte sprach, hatte sie, um die Feierlichkeit des Augenblicks zu erhöhen, worin sie der Welt dieses Ereigniß kund machte und damit Adelheids Schicksal besiegelte, ihr Strickzeug auf den Tisch gelegt und ihre linke Hand darauf, mit der andern jedoch die Hand ihrer neben ihr sitzenden Tochter auf ihren Schooß gezogen und diese mit warmem Drucke umspannt gehalten. Adelheid saß still und blickte vor sich nieder, ohne sich zu regen; da sie im Schatten ihrer Mutter saß und das Abendlicht in den Hintergrund des Plätzchens zwischen den Thürmen nur noch sehr gebrochen eindrang, entging wohl Allen, wie tief sie erblaßt war, wie bleich ihre Lippe geworden und wie diese Lippe jenes leise Zucken verrieth, welches einem Thränenausbruche vorherzugehen pflegt. Doch mußte wohl in dem Händedrucke der Mutter etwas wie eine geheimnißvolle magnetische Kraft liegen, welche diesen Ausbruch verhinderte. Obendrein hatte sie ja am heutigen Morgen ihrer [862] Mutter zugesagt, sich ohne weiteres Sträuben in Alles fügen und ihr Schicksal als unabwendbar hinnehmen zu wollen, die Mutter hatte ja auch in Allem, was sie gesagt, Recht gehabt; das hatte sie einräumen müssen, wenn es auch schrecklich war, daß sie Recht hatte. „Uffeln hat nun einmal sein Herz an Dich verloren und wirbt um Deine Hand,“ hatte die Mutter gesagt, „und wenn Du ihn abweisest, so wird ein ganz unerträgliches Verhältniß zwischen ihm und uns entstehen. Durch unsern gemeinsamen Besitz sind wir nun einmal in die engste Beziehung zu Uffeln gerathen, die uns sofort, wenn Zwiespalt und übler Wille an die Stelle der Freundschaft und des Vertrauens treten, das Leben zur Hölle machen muß. Uffeln wird, wenn Du ihm einen Korb giebst, unser Haus verlassen und vielleicht zum Rentmeister Fäustelmann drüben ziehen; der Rentmeister, der nicht zwei Herren dienen kann, wird sich auf die Seite des Einen schlagen, und ich traue Fäustelmann wohl zu, daß er sich nicht auf unsere, sondern auf die Uffeln’s schlägt, weil dieser in allen Dingen noch mehr auf ihn hören wird, wie – oft vielleicht zu viel – Dein Vater schon thut. Denke Dir doch das für immer verbitterte Leben, welches Du Deinen Eltern bereitest, wenn Du Uffeln von der Hand weisest – gar nicht davon zu reden, daß von unserem Reisen dann keine Rede sein kann. Uffeln ist so großmüthig gewesen, das Geld, das für ihn aufbewahrt ist und baar für ihn daliegt, dazu zur Disposition zu stellen. Können wir es anders annehmen, als wenn Du seine Braut bist? Und wenn nicht, was soll aus Deiner Gesundheit werden, was aus Deinem beschäftigungslos hier im Hause umhergehenden Vater, mit der bösen Neigung, die diese Beschäftigungslosigkeit in ihm geweckt hat und immer mehr nährt? Ich denke, das Alles mußt Du doch selbst einsehen und wirst mir nicht mehr mit Einwürfen kommen, die kindisch und albern sind, mit einer Neigung für diesen Günther, der ein recht herzlich schlechter Mensch wäre, wenn er nicht längst alle Hoffnungen auf Dich hätte fahren lassen; er kennt ja unsere Verhältnisse, und wenn er hier wäre, würde er Dir selbst sagen: ‚Ihre Mutter hat Recht. Es giebt nur einen Weg, den Sie um Ihrer selbst und um Ihrer Eltern willen gehen können.‘“

Mit solchen wuchtigen Keulenschlägen der Vernunft und der Logik hatte Frau von Mansdorf heute den letzten Widerstand ihrer Tochter gebrochen, und Adelheid war verstummt. Sie hatte sich darein ergeben, das Opfer der Verhältnisse zu werden, aber mit dem bestimmten Vorgefühl, daß es sich um ein noch größere Opfer, als das ihrer Neigung, daß es sich um das ihres Lebens handle, daß sie sterben werde, ehe sie das Weib Uffeln’s geworden, und mit dem Gefühl, daß darin ihre Rettung vor etwas ganz Schrecklichem liege, war ihr der Wunsch gekommen, diese Rettung sei schon da, und der Tod habe sie erlöst.

So saß sie jetzt in namenlosen Jammer versunken schweigend neben ihrer Mutter; sie kämpfte gegen den Ausbruch ihrer Thränen an, und um diese zu bemeistern, rief sie alle ihre Willenskraft auf; sie wollte nun einmal vor den fremden Menschen nicht zeigen, wie unglücklich sie sei, und ihr Vater sollte es nicht sehen – er sollte es niemals ahnen, wie es ihr das Herz abstieß, und wenn sie daran gestorben war, dann sollte er wenigstens nicht an ihrem Grabe stehen und sich Vorwürfe machen und durch Kummer und Reue seine letzten Lebenstage verbittert fühlen; das sollte er nun und nimmermehr, und ihr fest darauf gerichteter Wille hielt sie jetzt aufrecht.

Der Frau von Mansdorf Ankündigung aber rief bei Allen natürlich die lebhaftesten Glückwünsche hervor.

„Das ist eine vortreffliche Kunde, die Sie uns da geben, gnädige Frau,“ rief der Oberförster aus, „und gewiß ist wohl seit Jahren kein Paar zusammen gekommen, welches so sich zu einander geschickt und für einander gepaßt hätte.“

„Sie haben Recht, Oberförster,“ sagte jetzt Herr von Mansdorf, „es ist eine Verlobung, die schon deshalb die Eltern erfreuen muß, weil sie ihnen das seltene Glück gewährt, ihre Tochter, ihr theueres, ihnen an’s Herz gewachsenes Kind nicht aus dem Vaterhause fortziehen zu sehen, es nicht fortgeben zu müssen an eine ihnen fremde Welt.“

„Das ist in der That das Beste bei diesem Verlöbniß,“ sagte mit einer großen Kaltblütigkeit der Justitiar Plümer. Er nahm dabei den wehmuthsvollen Blick nicht wahr, den ihm mit langsamem Augenaufschlag Adelheid zuwarf. Daß er, Adolf’s nächster Verwandter, ihre Verlobung auch so trocken und kaltblütig billigen konnte, kam ihr wie ein Verrath vor, und es war ihr, als sei sie nun von Allen auf der Welt verlassen.

„Trinken wir denn,“ bemerkte jetzt Herr Fäustelmann, sein Glas ergreifend, – Herr von Uffeln, der sich während des Abends schweigend und stille gehalten, hatte in weiser Voraussicht eben die Gläser neu gefüllt – „trinken wir denn die Gesundheit des jungen Brautpaares und unserer gnädigen Herrschaft!“

Die Männer erhoben sich auf diesen Vorschlag Fäustelmann’s und erfaßten die Gläser, und der Oberförster rief mit seiner sonoren und vollen Baßstimme laut aus:

„Also es lebe das Brautpaar! Herrn von Uffeln und Fräulein Adelheid ein Hoch! Möge Beider Glück so groß und ungetrübt sein, wie es in diesem irdischen von so viel Wechselfällen bedrohten Leben möglich ist, so dauernd, wie wir Alle es ihnen aus voller Seele wünschen!“

„Das walte Gott!“ sprach mit vor Rührung zitternder Stimme Herr von Mansdorf, dem leicht bei solchen auf sein Gemüth wirkenden Anlässen die Thränen in die Augen traten und der mit dem Taschentuche über die Augen fahren mußte, bevor er sein gefülltes Glas mit dem Glase seines künftigen Eidams zusammenklingen lassen konnte, „das walte Gott!“

„Meine Herren,“ entgegnete, nachdem Alle mit ihm angestoßen hatten, Herr von Uffeln, „um auf so herzliche Wünsche zu antworten und auszudrücken, wie dankbar sie mich Ihnen machen, bin ich leider ein zu schlechter Redner. Ich …“

„Halten Sie einen Augenblick ein!“ unterbrach ihn hier Frau von Mansdorf, indem sie die Hand ausstreckte und leicht auf seinen Arm legte, „es kommt Jemand.“

Uffeln schwieg und blickte auf. Auch die Blicke der Uebrigen wandten sich der fremden Erscheinung zu, die so gerade im unrechten Augenblicke eben von dem Thore her über den Kiespfad rasch herangeschritten kam und geraden Weges auf die Gesellschaft im Thurmwinkel zuging.

„Wer ist das?“ fragte Herr von Mansdorf geärgert, „wer – aber Herr von Uffeln, was haben Sie – kennen Sie ihn?“

Dieser Ausruf wurde durch den Umstand veranlaßt, daß das gefüllte Glas des Herrn von Uffeln sich so plötzlich schwankend senkte, daß der Wein auf den Tisch überfloß. Ebenso plötzlich überzog eine fahle Todtenblässe sein Gesicht, während der Fremde herantrat, eine leichte Verbeugung machte und dann mit einem eigenthümlichen Blicke, unter breiten halbgeschlossenen Lidern her, wie prüfend die Gesellschaft überschaute. Diese starrte wieder auf die fremde Erscheinung, die so imponirend, wie mit einem hochmüthigen Lächeln auf den Lippen vor dem Epheubogen des Thurmwinkels dastand, von dem letzten auf den Vorgebäuden liegenden Sonnenreflexe hell beschienen. Nur Frau von Mansdorf hatte, durch ihres Mannes Ausrufe abgelenkt, ihre Augen auf Uffeln gerichtet und sah erschrocken, daß dieser wie einer Ohnmacht nahe auf seinem Sessel zusammengebrochen war und starrte, als ob er eine Vision sähe.

„Uffeln, wird Ihnen unwohl? Was ist, was haben Sie, Uffeln?“ rief sie laut aus.

Die Antwort gab der Fremde. Mit einer merkwürdigen Ruhe im Klang der Stimme sagte er:

„Was Herr von Uffeln hat? Er sieht seinen Doppelgänger.“




9.

Prinzessin Elisabeth stand am andern Tage in der Nähe des Schlosses vor einem kleinen im Parke angelegten Rehgehege und fütterte die drei zierlichen Thiere, welche darin gehalten wurden und für deren Pflege zu sorgen sie übernommen hatte. Heute reichte sie ihnen die Kohlblätter, welche sie ihnen mitgebracht hatte, lässig hin und schaute, zerstreut in die braunen glänzenden Augen, welche die Thiere, sich zuthulich an sie schmiegend, auf sie richteten; zerstreut fuhr sie mit der weißen Hand über ihre Rücken, schob sie dann plötzlich heftig von sich und verließ sie, ohne ihnen weiter einen Blick zu gönnen. Sie ging jetzt nachdenklich unter der Platanengruppe, die in der Nähe stand, auf und ab und machte sich ein Spiel daraus, jedesmal auf eines der gelben Blätter, die bereits ziemlich zahlreich und doch noch vereinzelt am Boden lagen, zu treten. Und [863] doch waren ihre Gedanken weit ab von diesem mechanischen Spiele. In einem eigenthümlichen Kampfe waren diese Gedanken mit sich selber, in einem Streit des Herzens mit dem Kopfe, der, weil bei dem klugen Fürstenkinde beide, das Herz wie der Kopf, von seltener Stärke waren, das eine warm, der andere klar, mit einer ganz besonderen dialektischen Schärfe durchgefochten wurde.

Denn mit ihrem hellen Verstande und starken Bewußtsein hatte Elisabeth sich nicht mehr verbergen können, daß sie diesen wunderlichen, träumerischen, in einer Atmosphäre von ganz absonderlichen Vorstellungen und Gedanken lebenden Menschen liebte, diese räthselhafte Gestalt des einsamen Mannes, den nirgendwo feste Verbindungen an eine bestimmte reale Welt anzuknüpfen schienen und der durch die grünen Wälder des Jochmaringhofes schritt, so losgelöst von allen menschlichen Banden, wie nur der Stoßfalke war, der über ihren Wipfeln kreiste. Von solch einem Manne, der ja noch obendrein Dinge und Erlebnisse von sich erzählte, die man gar nicht glauben konnte, alle Gedanken und alle Empfindungen des Herzens gefangen nehmen lassen, das war ja – Prinzeß Elisabeth stand nicht an, sich selber das sehr derb und rund heraus vor den Kopf zu sagen – es war ja eine ganz entsetzliche und wahnsinnige Thorheit; es war ja von einem vernünftigen, an Selbstbeherrschung und Gefühl ihrer Würde gewöhnten Mädchen etwas Aberwitziges und Monströses, aber was half das – ihr Herz lag und blieb nun einmal wie im Banne der Erscheinung dieses Mannes.

Das einzige Gute bei der Sache war, daß sie ihm hatte klar machen können, daß er gehen müsse – daß er jetzt aus ihrem Lebenskreise verschwunden sei und dann sicherlich nie wieder in demselben auftauchen werde. Darin lag die beste Gewähr ihrer Genesung von der Wunde, die sie in sich trug, die dann, wenn sie nichts mehr von ihm hörte noch sah, doch bald sich schließen mußte, die aber heute in der Vorstellung, daß er vielleicht in diesem Augenblicke gerade sein stilles Asyl verlasse, um nie zurückzukehren, ganz schmerzlich blutete. –

Wenn sie sich noch darüber hätte täuschen können, daß Er ihr gegenüber nichts von dem tiefbestrickenden Einflusse empfunden, den seine Erscheinung für sie gehabt, aber er hatte ihr ja so offen und unbefangen und rundheraus gestanden, daß er sie liebe … und das war mit einer so unumwundenen Natürlichkeit, einem solchen arglosen, freien, großartig einfachen Wesen geschehen, daß sie an der innersten Wahrheit und Aufrichtigkeit seiner Worte gar nicht zweifeln konnte. Und diese Gegenseitigkeit der Gefühle bildete nur eine Verdoppelung des Bandes, an dem sie sich gefangen fühlte, daß sie laut hätte weinen mögen bei dem Gedanken an die furchtbare Schwere der Aufgabe, vor die sie gestellt war und die das Schicksal mit unerbittlicher Grausamkeit von ihr forderte – der Aufgabe, diesen Mann zu vergessen.

Sie ging auf und ab unter der Platanengruppe und vergaß alle die kleinen Obliegenheiten, die der Morgen ihr brachte: sie vergaß den Geflügelhof, wo sie am Vormittage zu erscheinen pflegte, um sich Bericht über die neuesten Vorkommnisse geben zu lassen, und vergaß die kranke Dogge zu besuchen, die sie sonst auf ihren Gängen begleitete und jetzt alterssiech in ihrem Häuschen lag. Mehrere Male blieb sie stehen und schaute gedankenverloren in die Parkgründe ringsumher, auf die Gehölzpartieen, die Rasenstücke, die Blumenbeete; das Alles war für sie heute so anders als sonst, so wie von Farblosigkeit überschleiert, so todt und öde; es war als ob diese ganze Welt sie nichts mehr anginge, als ob es eine richtige lebendige Welt gar nicht mehr wäre, sondern ein Spiegelbild, ein Nebelgebilde, ein gleichgültiger Traum, den sie schauen mußte und der hätte verschwinden können, ohne daß sie ihm nachgeblickt hätte.

Wie lange sie so zwecklos die Zeit an sich hatte vorüberrinnen lassen – sie wußte es nicht, als sie nicht fern von sich ihren Vater, den Fürsten, von seinem Morgenspaziergange im Parke zurückkehrend, erblickte. Wie schuldbewußt wandte sie sich. Er sollte nicht gewahren, daß sie aus dem gewohnten Gleichmaße ihrer Tagesordnung gerathen, und so ging sie dem Schlosse zu, um durch eine kleine Bogenthür in einen der Eckthürme hineinzukommen, da sie annahm, daß ihr Vater über die große Terrasse in’s Schloß treten würde. Aber sie hatte sich geirrt. Er hatte sie gesehen und war ihr gefolgt, und nach kurzer Zeit hörte sie seinen Ruf hinter sich:

„Elisabeth!“

Sie wandte sich und ging ihm entgegen.

„Schon zurück, lieber Vater? Du pflegst sonst Deine Spaziergänge länger auszudehnen.“

„Länger? Ich denke, es ist spät. Du siehst bleich aus, Elisabeth – hast Du eine schlechte Nacht gehabt? Denk’ Dir, wir haben ein kleines Ereigniß in der Gegend gehabt.“

„Ah – und was ist das?“

„Du erräthst es nicht – ein politisches Ereigniß. Du sagtest mir, daß Du wüßtest, in der alten Kropp habe man Waffen geborgen.“

„Nun ja … und daß im Stillen gearbeitet werde, um – aber was ist mit den Waffen?“

„Sie sind den Franzosen verrathen.“

„Verrathen?“

„So ist es – das Depôt ist gefunden. Ich stieß vorhin auf den Gensd’armerie-Sergeant Duplessis, der an der Parkecke an mir vorüberritt; er war sehr in Anspruch genommen durch die Sache und rief mir über die Verzäunung herüber die Nachricht zu. Es ist gestern Abend dem Brigadier die Anzeige zugekommen; in der Nacht ist die Erhebung vorgenommen worden, und dann ist auch bereits der Emissär in ihren Händen, der –“

„Der Emissär?“ fiel ihm Prinzessin Elisabeth mit einem Aufschrei des Schreckens in’s Wort.

„Ja, der Emissär – ein ehemaliger französischer Officier, der in Spanien gedient hat, ein Mensch, der sich hier frecher Weise den Namen ‚von Uffeln‘ beigelegt hat, aber gar nicht so heißt; er heißt – wenn ich den Gensd’armen recht verstanden habe – Falstner oder Falsner; man hat ihn nach M. transportirt, den armen Teufel, und wird da wahrscheinlich – aber ich bitte Dich, Elisabeth, was ist Dir? was hast Du?“

Elisabeth stand todesbleich, am ganzen Körper zitternd – so starrte sie ihren Vater an, dann wankte sie und griff mit einer Heftigkeit mit beiden Händen nach seinem Arm, daß der Fürst sie rasch umschlang, weil sie offenbar im Begriff war, zusammenzusinken.

„Elisabeth!“ rief er tief erschrocken noch einmal aus.

„O mein Gott, Vater – Vater – das überleb’ ich nicht – sie werden ihn erschießen, und das überleb’ ich nicht.“

„Du kennst ihn? Es ist der Fremde, von dem Du mir gesprochen hast? Dacht’ ich’s doch!“

„Derselbe, Vater, derselbe,“, rief sie aus, ihr Gesicht mit den Händen bedeckend, „und wenn sie ihn jetzt tödten, ihn erschießen, so sterb’ ich.“

Der Fürst, ein hochgewachsener starker Mann mit ein wenig ausdrucklosen, aber äußerst gutmüthigen Zügen, sah höchst betroffen auf seine Tochter nieder, die, auf seinen Arm gestützt, die furchtbarste Erschütterung durch das krampfhafte Ringen ihres Busens nach Athem verrieth.

„O Vater, Vater,“ rief sie dann aus, „warum hast Du mir das gethan, warum hast Du mir das gesagt – das ist mein Tod, mein Tod!“

„Dein Tod? – Aber, Elisabeth, was – –“

„O, Du magst Alles wissen, Alles hören – ich kenn’ ihn ja nicht allein, ich lieb’ ihn ja auch, diesen Mann, und wenn sie ihm das Schrecklichste anthun …“

„Du liebst ihn? – Elisabeth!“

Der Fürst rief das wie vom Donner gerührt. „Elisabeth! Du redest irre.“

Sie erhob sich aus seinem Arm. Sie stand gesenkten Kopfes, die Hände zusammenfaltend und nach Athem, nach Fassung ringend.

„Vater,“ sagte sie dann ruhiger und ohne aufzublicken, „ich weiß sehr wohl, was ich Dir, was ich unserem Namen schuldig bin. – Ich liebe ihn, ja, ja, ja,“ brach sie heftig aus, „ich liebe ihn und wie sehr, das fühle ich jetzt und daran ist nichts, gar nichts zu ändern. „Aber,“ fügte sie wieder gefaßter hinzu, „daß es eine Thorheit ist, eine Raserei, das seh’ ich ja ein, das weiß ich ja; ich verbinde auch keine Wünsche, keine Auflehnung gegen die Vernunft, keinen Ungehorsam gegen Dich mit dieser Liebe. Ich will ihn vergessen, vergessen für [864] immer. Nur sollen sie ihn nicht tödten, nur das nicht, denn wenn sie ihn tödten …“

Sie unterbrach sich und die Hand auf ihres Vaters Arm legend sagte sie, nach Athem ringend:

„Komm, führ’ mich zu jener Bank dort! Ich halte mich nicht mehr aufrecht; dort will ich Dir Alles sagen.“

Der Fürst führte sie zu der nächsten unter einer der Platanen angebrachten Gartenbank. So niederschmetternd, so all sein innerstes Gefühl empörend auch das Geständniß seines Kindes auf ihn gewirkt haben mußte – er sah doch in diesem Augenblicke wie ein gutmüthiger Mann nichts als das tiefe Leid des Weibes, wie ein bekümmerter Vater nichts als die Verzweiflung eines Kindes – und so führte er sie, zärtlich ihre Gestalt umschlingend, und ohne ein Wort weiteren Vorwurfes zu sprechen.

Als sie sich gesetzt hatten, legte Elisabeth, sich vornüberbeugend, ihre beiden Arme auf das Knie ihres Vaters, und die Hände zusammengefaltet auf den Boden niederblickend, sagte sie:

„Vater, Du wirst mich begreifen, Du wirst mit mir fühlen können. Man darf diesen Mann nicht ermorden, oder ich bin unselig für immer. Wenn man ihn rettet, wenn er verschwindet, wenn er dann wie versunken und verschollen für mich ist in der mir fernen fremden Welt, dann werde ich ihn vergessen; ich werde es über mich gewinnen, Tag für Tag weniger an ihn zu denken, ich werde mir mit jedem Tage klarer und lauter sagen, welche Thörin ich war, mich von dem eigenthümlichen Zauber umgarnen zu lassen, den dieser fremde Mensch mit seinen wunderlichen Reden auf mich ausübte, ich werde genesen von solch einer Leidenschaft – ich werde es. Obwohl mein Herz mir zuschreit: ‚nein, nein, Du wirst es niemals, niemals,‘ so bin ich doch überzeugt, daß meine Vernunft mir beistehen und daß sie siegen wird – meine Vernunft und mein Wille, den ich doch auch habe.“

Der Fürst legte sanft seine Hand auf ihren Scheitel.

„Ich glaube es Dir, Elisabeth,“ sagte er seufzend. „Denn Deinen Willen – ja, den hast Du.“

„Aber, Vater,“ fuhr sie nun heftig und ihre Hände krampfhaft zusammenballend auf, „wenn sie ihn erschießen - wenn ich das erleben muß, wenn ich im Geiste sehen muß, wie er vor den Gewehren knieet, wie er in seinem Blute daliegt, wie er - o, mein Gott, mein Gott, das überwind’ ich nicht, das Bild werde ich nie aus meiner Seele los, über dem Bilde werde ich wahnsinnig, und wenn Du mich retten willst, so rette ihn!“

„Ich ihn retten? Aber um’s Himmelswillen, wie denkst Du Dir das? Wie kann ich ihn retten?“

„Wir müssen nach M. Nach M., sagst Du, hat man ihn geführt? Wir müssen dahin! Du mußt mit dem Präfecten oder in wessen Hand sein Schicksal liegt, reden; Du mußt für ihn zeugen, ihn losbitten auf irgend eine Art. Der Präfect ist kein Unmensch. Hat er doch auf Dein persönliches Einschreiten einmal den Meyer Jochmaring freigegeben, als sie diesen eingezogen hatten, weil sein Anerbe sich nicht zur Conscription gestellt.“

„Aber, mein Gott, was könnte ich dem Präfecten denn sagen?“

„Daß er gar kein Emissär sei, daß Du Dich mit Deinem fürstlichen Worte dafür verbürgtest.“

„Aber er ist es ja doch ohne allen Zweifel.“

„Es ist wahr, er ist es, o, wie fürchterlich ist es, lügen zu müssen – diesen Menschen gegenüber – aber, Vater, Vater, wenn Du Deine Tochter vom Untergange, und einen Menschen vom Tode retten kannst durch eine Lüge – wirst Du sie nicht sprechen?“

Der Fürst fuhr mit der Hand über seine Stirn.

„Das ist eine schreckliche Lage,“ sagte er. „Mag man noch so alt werden, es giebt Verhältnisse, in denen man sich hülflos wie ein Kind fühlt und einen Vater, einen Bruder fragen möchte. Ich wollte, ich könnte meinen Vater fragen, ob ich lügen darf.“

„O, um meinetwillen, Vater, um meinetwillen, um Deines verzweifelnden Kindes willen!“ jammerte Elisabeth.

„Höre, Elisabeth,“ versetzte nach einer Pause der Fürst, „ich will Dir nachgeben, in so fern, als ich mit Dir nach M. fahre. Wir wollen mit dem Präfecten reden. Wir wollen sehen, was bei ihm auszurichten ist. Der Himmel wird uns die richtigen Worte auf die Zunge legen. Geradezu eine Unwahrheit mit meinem fürstlichen Worte bekräftigen – nein, das werde ich nicht können. Aber während wir fahren und rathschlagen, werden uns andere Gedanken kommen, andere Hülfsmittel einfallen.“

„O, ich danke, ich danke Dir,“ rief die Prinzessin aufspringend aus, „und nun laß’ uns eilen! Eile thut sicherlich noth. Laß’ uns in diesem Augenblicke fahren!“

„Ich bin’s zufrieden,“ entgegnete der Fürst und erhob sich nun auch; Elisabeth hing sich an seinen Arm, und Beide schritten eilig dem Schlosse zu.

Die Zurüstungen zu der Fahrt waren bald gemacht. Eine Viertelstunde später fuhren der Fürst und Elisabeth in einer etwas schwerfälligen, mit vier Pferden bespannten Reisekalesche aus dem Schloßhofe ab und in der Richtung nach der Präfecturstadt dahin.

[38] Die Wegebeschaffenheit jener Zeit gehörte bekanntlich zu den mancherlei Dingen der Vergangenheit, die für unsere Generation den Charakter des Räthselhaften und Mystischen haben. Zum Glücke hatte damals der schöne trockene Herbst sie so erträglich gemacht, daß die vier starken fürstlichen Braunen in ununterbrochener rascher Gangart dahin eilen konnten. Trotzdem blieb zu Unterredung und gründlicher Berathschlagung den Fahrenden vollauf Zeit; man hatte drei Meilen weit bis zum Ziele. Elisabeth sprach gegen ihren Vater Alles aus, was sie ihm von ihrem Verkehre mit dem unglücklichen Manne, um den es sich handelte, nur irgend berichten konnte, und sie wußte dadurch dem Fürsten selber eine innere Theilnahme für diesen Mann abzugewinnen, der doch seiner Tochter und dadurch auch ihm ein solches Leid zugefügt hatte, und an den er deshalb nur in Entrüstung und Zorn hätte denken können. Ja, Elisabeth durfte endlich wagen, ihm den Vorschlag zu machen, den Präfecten dadurch zu täuschen, daß man ihm erkläre, der Verhaftete sei durchaus unschuldig an dem aufgehobenen Waffendepot – wenn er sich mit falscher Namensangabe und in größter Verborgenheit im Lande aufgehalten, so sei das deshalb geschehen, weil er mit Elisabeth heimlich verlobt sei gegen des Vaters Willen; wenn sie, die Prinzessin, das offen erkläre und der Fürst dem nicht widerspreche, so – davon war Elisabeth überzeugt – mußte der Präfect ihren Vorstellungen nachgeben und den Gefangenen frei lassen.

Dem Fürsten war nun auch diese Zumuthung schrecklich, aber sein Widerstreben, seine Einwürfe erstarben nach und nach, und je tiefer er in die verzweifelte Seelenpein seines Kindes blickte, desto mehr fühlte er sich bezwungen und zu einer Handlungsweise hinübergedrängt, die ihn in einen flagranten Widerstreit mit sich selber warf, in den er sich doch endlich ergab, wie in etwas Unvermeidliches, vom Schicksal über ihn Verhängtes, das ihn mit einer Gewalt faßte, in deren Händen er sich selber wohl bemitleiden, aber nicht retten und helfen konnte.

Und so rasselte die Kalesche, brausten die Braunen, zuletzt schweiß- und schaumbedeckt, dahin. Wer den stattlichen Wagen mit den reichgeschirrten Vieren davor, mit Kutscher und Bedienten in der fürstlichen Livrée, vorüberrollen sah, der ahnte sicherlich nicht, welch tief bekümmerte zwei Menschenherzen im Innern dieses Wagens schlugen.

Und endlich rasselte er über das schlechte Steinpflaster der Gassen der Präfecturstadt, dann noch über einen weiten, mit Bäumen bepflanzten Platz, und zuletzt rollte er donnernd unter das gewölbte Einfahrtsthor des großen Schloßgebäudes, in welchem statt des früheren Landesherrn jetzt der Präfect eines französischen „Departements“ residirte. Der Fürst und seine Tochter stiegen aus und die hohe Ehrentreppe hinan, von einem französischen Lakaien empfangen, der sie durch große schöne Räume mit altem Rococoschmucke, vergoldeten Stuckarbeiten und prunkvollen Deckengemälden in einen Empfangssalon führte und dann ging, seinen Herrn herbeizuholen. Elisabeth klopfte das Herz so sehr, daß sie sich in einen der rothsammtenen Lehnsessel niederlassen mußte – der Fürst ging während des Harrens auf und nieder und murmelte dabei:

„Dahin wär’s denn gekommen, daß ein deutscher Fürst bei solch einem französischen Abenteurer antichambriren muß. Nimm Dich zusammen, Elisabeth! Es wird Deine Sache sein, zu reden – ich bin einem solchen Menschen gegenüber nicht im Stande, viele Beredsamkeit aufzubieten …“

Doch hatte er Unrecht, sich über Antichambriren zu beklagen; die beiden Flügel der Thür wurden rasch aufgeworfen, und der Präfect erschien, mit großer Beflissenheit und Zuvorkommenheit seinem Besuche entgegen eilend. Es war ein mittelgroßer, magerer Mann, Franzose in seinem ganzen Wesen und Gebahren, so durch und durch Franzose, daß er, jahrelang das Haupt der Verwaltung eines Stückes deutschen Landes, auch nicht das kürzeste Gespräch in deutscher Sprache zu führen verstand. Nach dem ersten Austausche von Höflichkeiten und nachdem der Präfect seinen Besuch bewogen, auf einem breiten Wanddivan Platz zu nehmen, dem gegenüber er sich auf ein bescheidenes Tabouret niederließ, sagte der Fürst:

„Wie Sie voraussetzen werden, Herr Präfect, kommen wir mit einer Bitte, die sich an Ihre Menschenfreundlichkeit wendet, an die Güte, welche Sie mir schon einmal bewährt haben; es handelt sich heute abermals um einen unschuldig Verhafteten, nur mit dem Unterschiede, daß diesen ein weit ärgeres Loos bedroht, als damals meinen alten Meyer. Es handelt sich um ein Waffendepôt, das in meiner Nachbarschaft aufgehoben ist.“

„Ach ja, in der vergangenen Nacht,“ fiel der Präfect, dessen Miene sich plötzlich um ein Bedeutendes verfinsterte, ein. „Ich habe mich gerade in diesem Augenblicke mit der Sache beschäftigt und den Emissär der Alliirten, dessen man zugleich habhaft geworden ist, mir vorführen lassen.“

Elisabeth empfand eine furchtbare Erschütterung bei dieser Andeutung, daß der Verhaftete in ihrer nächsten Nähe, vielleicht nur durch ein paar Thüren von ihr getrennt sei, während ihr Vater, der nun doch einsah, daß er zuerst den Redner und Fürsprecher machen müsse, fortfuhr:

„Wenn Sie ihn sprachen, werden Sie sicherlich bereits den Eindruck empfangen haben, daß es sich bei diesem Manne nicht um einen Schuldigen handelt – nur der Umstand, daß er sich längere Zeit und leider auch unter einem ganz falschen Namen in unserer Gegend aufhielt, hat den Verdacht wider ihn erweckt …“

„Verdacht?“ unterbrach ihn der Präfect. „Es liegt eine ganz bestimmte Denunciation wider ihn vor, dieselbe, welche zur Entdeckung des Waffenvorrathes führte.“

„So ist,“ rief hier Elisabeth stürmisch bewegt aus, „diese Denunciation eine ruchlose Verleumdung. Der Mann, der in Ihren Händen ist, hat nicht daran gedacht, hochverrätherische Pläne gegen die Macht des Kaisers zu verfolgen; er ist einzig und allein in unsere Nachbarschaft gekommen, weil er mich liebte, und wenn er einen falschen Namen angab, wenn er sich verborgen hielt, so geschah dies, weil mein Vater seine Leidenschaft nicht ahnen durfte.“

Der Präfect sah sie höchst befremdet an.

„Ich zweifle durchaus nicht an Ihrer Versicherung, meine gnädigste Prinzessin, daß ein junger Mann, der das Glück hatte, Sie zu sehen, Sie liebt,“ versetzte er mit einem überlegenen Lächeln. „Wir leben aber nicht in Arkadien, und ein junger Mann pflegt in den Mußestunden, welche ihm eine solche Leidenschaft läßt, doch noch andere Beschäftigungen zu treiben, mehr oder minder harmlose. Ihr Emissär hat uns über die seinen ein vollständiges Bekenntniß abgelegt.“

„Ah!“ rief der Fürst aus, „er selbst hat Ihnen bekannt?“

Elisabeth war tödtlich erbleicht.

„So ist es; soeben hat er selbst Alles zugestanden,“ bejahte der Präfect.

„Der Unglückliche!“ flüsterte der Fürst.

Elisabeth hatte Mühe, unter der Wucht dieser Erklärung [39] ihre Geistesgegenwart zu behalten. Dann war nur die eine Hoffnung noch, daß er sein Geständniß sofort zurücknehmen werde, sobald ihm die leiseste Kunde davon gegeben werden könne, wie man ihn retten wolle, und so rief sie heftig aus:

„Aber, mein Gott, das ist ja ganz unsinnig – so ist dieses Geständniß nur gemacht in der Verzweiflung, um der Folter des Verhörs zu entgehen, oder weil er sterben will.“

Der Präfect zuckte die Achseln. Dann stand er auf, zog eine Klingel, und als der Diener erschien, sagte er:

„Man soll den Gefangenen, der in meinem Geschäftszimmer wartet, hereinführen, aber unter Bedeckung.“

„Sie werden,“ fuhr er dann zum Fürsten gewendet fort, „aus seinem eigenen Munde hören, daß er seine agitatorischen Umtriebe ganz offen gesteht. Was mir nur nicht klar geworden aus seinen Antworten, das ist: heißt der Mensch Falstner oder heißt er von Uffeln? Wäre das letztere der Fall, so lägen gegen ihn noch aus seiner spanischen Dienstzeit Thatsachen vor – ich lasse darüber eben in den Polizeibüchern nachschlagen – es wird sich dann das Genauere herausstellen. Aber da ist er, und nun fragen Sie ihn selbst!“

Die Thür, durch die der Präfect vorhin eingetreten, öffnete sich, und von einem Gensd’armen begleitet, erschien auf der Schwelle eine Gestalt, bei deren Anblick Prinzessin Elisabeth in einer gar nicht zu beschreibenden Ueberraschung hoch auffuhr.

„Mein Gott,“ rief sie stürmisch aus, „hört denn diese Doppelgängerei gar nicht auf?“

Der Eingetretene war Niemand anderes, als Ulrich Gerhard von Uffeln, der Mann mit der gelähmten Hand, der Verlobte von Fräulein Adelheid von Mansdorf.

„Das ist ein anderer Mann, als von dem die Rede,“ rief auch der Fürst überrascht aus, „das ist ja der …“

Der Fürst verschluckte den Namen Uffeln, den er aussprechen wollte, um den Verhafteten nicht dadurch zu compromittiren.

„Was überrascht Sie so?“ fiel der Präfect ein, „Sie erwarteten Jemand anders zu sehen?“

„In der That,“ sagte der Fürst und Elisabeth setzte rasch hinzu: einen ganz anderen – von diesem Manne kenn’ und weiß ich nichts.“

Der Verhaftete trat mit einem bescheidenen ruhigen Anstande auf sie zu und sagte:

„Sie kennen und wissen nichts von mir, Durchlaucht, aber es läge mir unendlich viel daran, daß Sie mich kennten und daß Sie von mir zu Fräulein Adelheid von Mansdorf sprächen. Ich habe eine große Schuld gegen Fräulein Adelheid von Mansdorf begangen, eine Schuld, die sich nicht rechtfertigen läßt, aber die ich milder von ihr beurtheilt sehen möchte, und wenn Sie mich anhörten und dann aus Ihrem gütigen Herzen heraus mit ihr redeten, so würde sie mich milder beurtheilen. Wollen Sie mich anhören?“

Prinzessin Elisabeth, noch immer nicht von ihrer Ueberraschung zurückgekommen, aber mit dem Gefühl einer unendlichen Erleichterung aufathmend, versetzte:

„O, gewiß will ich, gewiß. Reden Sie nur!“

„Wollen Sie mir eine Unterredung mit der Prinzessin verstatten?“ wandte sich der junge Mann bittend an den Präfecten.

Dieser runzelte die Brauen, dann, als die Prinzessin ihn ebenfalls bittend ansah, entgegnete er:

„Eine geheime Unterredung? Ich kann Ihnen nur in meiner Gegenwart Mittheilungen verstatten. Die will ich Ihnen erlauben. Tragen Sie der Durchlaucht also vor, was Sie ihr zu sagen haben! Sie mögen dort in die Fensterbrüstung treten, und seien Sie kurz!“

Elisabeth begab sich in die mit schweren Draperien verhangene Nische des letzten Fensters in dem großen Raume. Der Fürst und der Präfect schritten unterdeß in diesem letzteren neben einander auf und ab, während der Gensd’arm sich regungslos an der Thür hielt.

„Wen haben Sie denn eigentlich hier zu sehen erwartet, Durchlaucht?“ fragte der Präfect den Fürsten.

„Um es Ihnen offen zu gestehen,“ versetzte der Fürst, „ich weiß es selbst nicht. Meine Tochter, als sie durch mich von der Verhaftung eines Emissärs der Alliirten vernahm, wurde von Schrecken ergriffen, weil sie annahm, daß man aus Mißverständniß, aus falschem Verdacht sich eines Mannes bemächtigt haben könne, den sie liebt und,“ setzte der Fürst zögernd hinzu, „der sich aus Furcht vor meinem Unwillen verbirgt …“

„Dessen Entdeckung und Unschädlichmachung wir dann also auch ganz allein Ihnen überlassen können, Durchlaucht,“ entgegnete der Präfect mit einem trüben Lächeln. „Ich bin gar nicht von dem Eifer erfüllt, die Zahl der Opfer unserer heutigen politischen Lage zu vermehren, die uns freilich zwingt, unerbittlich zu sein, wo ein Feind in unsere Hände fallt. Wir haben der Feinde zu viele.“

„Und jener junge Mann dort, was wird mit ihm geschehen?“ fragte der Fürst.

„Ich werde ihn nach der Festung W. senden, wo das Kriegsgericht über ihn zu befinden hat. Da er bekennt und falls sich noch außerdem herausstellt, daß er in Spanien als französischer Officier diente, so wird man ihn höchst wahrscheinlich erschießen.“




10.


„Ich habe nur eine kurz gemessene Zeit, Durchlaucht, Ihnen Mittheilungen zu machen, von denen ich aus tiefster Seele wünsche, daß Adelheid von Mansdorf sie erfahre, damit sie milder von mir denke, als ich es von allen Uebrigen erwarten kann,“ so hatte unterdeß der Mann, der mit Elisabeth in die Fensternische getreten, zu der Prinzessin zu sprechen begonnen. „Ich muß also,“ fuhr er fort, „in wenig Worte zusammendrängen, was, wie ich zu Gott hoffe, mir ein versöhnteres Angedenken bei ihr gewinnen wird, wenn Ihre Herzensgüte sich zum Dolmetscher meiner Erklärungen macht.

Zuerst, um damit meine rückhaltlose Beichte zu beginnen: was ich in Wilstorp über mein Leben und meine Herkunft angegeben, ist in allem richtig, nur heiße ich nicht Uffeln, sondern Falstner und bin der Sohn eines bürgerlichen Mannes. Den Herrn von Uffeln, dessen Namen ich mir angemaßt, habe ich früher nur ein einziges Mal gesehen, und das war in Spanien, in einem Kaffeehause in Saragossa. Ich saß mit einigen Cameraden meines Regiments an einem der Tische. Am benachbarten Tische hatte eine Gruppe von Officieren eines anderen Regiments, das zu unserer Division gehörte, Platz genommen; mir im Rücken zunächst saß einer, den ich von seinen Cameraden Uffeln nennen hörte; ich wurde dadurch aufmerksam, weil ich aus dem Namen schloß, daß er ein Deutscher sei. So kam es, daß ich auf die am Nachbartisch geführten Gespräche horchte und vernahm, wie mein deutscher Landsmann seinen Freunden erzählte, er habe einen Brief aus seiner Heimath erhalten, man schreibe ihm, daß er dort in den Zeitungen gesucht werde, um eine Erbschaft in Empfang zu nehmen. Man beglückwünschte ihn dazu, er wies aber in einer skeptisch humoristischen Weise diese Glückwünsche zurück, indem er versicherte, es handle sich um ein verfallenes Eulennest, das er nicht einmal ganz, sondern in Gemeinschaft mit einem alten Krautjunker erben solle, den er weit entfernt sei in seiner ländlichen Ruhe zu stören, bevor nicht der Krieg zu Ende. Bis dahin könne der gnädige Herr den Pflugsterz selber halten und sehen, wer ihm dabei die Ochsen treibe. Mir prägten sich diese Worte ein, weil ich in mir gerade das Gegentheil, die größte Sehnsucht nach solch einer ruhigen friedfertigen Existenz empfand und kein höheres Glück gekannt hätte, als solch ein Asyl irgendwo in der Welt mir geöffnet zu wissen. Mit einem gewissen Neid hafteten deshalb auch meine Augen auf dem glücklichen, den Capitainsrang bekleidenden Officier, der bald darauf mit seinen Freunden das Café verließ.“

„Ich habe ihn seitdem in Spanien nicht wieder gesehen“, fuhr der Erzählende nach einer Pause fort, „aber ich dachte oft, wenn mir meine Lage, mein Beruf dort unerträglich wurden, an ihn. Und so erschrak ich, als ich eines Tages plötzlich in sehr überraschender Weise an ihn erinnert wurde. Da ich ein schlechter Soldat war und eine schöne Handschrift hatte, wurde ich oft zum Bureaudienst commandirt. So kam es, daß ich vor jetzt etwa drei bis vier Monaten im Bureau meiner Division arbeitete, als eine Acte einlief, die nichts weniger als eine kriegsrechtliche Verhandlung wider den Capitain Ulrich Gerhard von Uffeln enthielt, der einen ihm vorgesetzten Officier erschossen hatte; die Acte endete mit einem über ihn ausgesprochenen Todesurtheil und war eingesandt worden, damit der Divisionsgeneral, der den verwundeten [40] Führer des Corps zu vertreten hatte, dies bestätige. Die Bestätigung erfolgte auch, ich selbst habe dann das verhängnißvolle Papier mit einer beigegebenen Ordre, welche die augenblickliche Ausführung des Urtheils anbefahl und die mir der General selbst dictirt hatte, einer reitenden Ordonnanz übergeben, und als dieser Mann aus dem Hofe unseres Hauptquartiers fort und seiner Straße in den entfernten Ort dahinsprengte, wo von Uffeln’s Abtheilung stand, da mußte ich den letzteren als einen todten Mann betrachten.

Die eingereichte Acte sollte in unserm Büreau aufbewahrt werden. Es herrschte aber sehr wenig Ordnung in unserer militärischen Registratur; bei raschem Aufbrechen und plötzlich ankommenden Marschordren wurde oft der ganze Bestand von Schreibereien bis auf weniges Wichtigste vernichtet oder zurückgelassen; hatte ja doch der ganze Krieg in diesem unglücklichen spanischen Lande einen Charakter wildester Regellosigkeit angenommen; die überlegten und zusammenhängenden strategischen Bewegungen waren durch ganz unberechenbare Dinge unmöglich geworden; die Kämpfe selbst entwickelten die zügellosesten dämonischen Triebe in der Menschennatur, und oft fielen Handlungen von haarsträubender Entsetzlichkeit vor …“

„Ich weiß – ich hörte es,“ fiel Prinzessin Elisabeth hochaufathmend ein, „erzählen Sie weiter!“

„Ich fand der Acte, von der ich sprach, die Papiere Uffeln’s beigelegt, seine Dienstcertificate, seine Officierpatente; ich dachte dabei, daß dies die Legitimationen gewesen sein würden, wenn er sich zu seinem Erbe gemeldet hätte; ich dachte ferner, daß sie dort, wo man seine Meldung um sein Erbe erwarte, von Wichtigkeit sein würden, damit nun statt seiner ein neuer Erbe eintreten könne, und um sie vor dem Untergange zu retten, nahm ich sie an mich und verwahrte sie unter meinen eigenen Papieren; ich verband weiter durchaus keine Absicht mit dieser Handlung und vergaß sie bald darauf in der Aufregung der nächsten Tage, die voll angestrengter Märsche waren, weil wir uns durch ein englisches Corps plötzlich im Rücken bedroht sahen, und es fast täglich zu kleineren oder größeren Zusammenstößen kam. In einem derselben wurde ich verwundet, in einer Weise, die ich als ein Glück betrachtete, denn diese Verwundung brachte mir die Befreiung aus einer Lage, die mir längst unerträglich schien; sie brachte mir den Abschied. Ich erhielt, als ich nothdürftig geheilt war, die Entlassung und eine Marschroute in die Heimath; ich kehrte heim über Paris, wo man mir meine Pension als invalider Officier in einem Betrage festsetzte, daß ein Hund, aber kein Mensch davon leben konnte, und endlich war ich wieder in meinem Geburtsorte, der mir fremd geworden, wo ich nur ganz entfernte, in dürftigen Umständen lebende Verwandte fand, der mich mit der Frage zu empfangen schien: wozu kommst du, was willst du hier? was gehen wir uns an, du armer verlassener Mensch, und ich, der wohlhabende Ort, in dem Jeder im Kreise der Seinen warm gebettet ist? – In dieser Lage erinnerte ich mich jener Papiere, die in meinem Besitze waren. Ich konnte sie überbringen – dort, wo sie jedenfalls von Interesse, vielleicht von großem Werthe waren; waren sie das letztere, so konnte ich für ihre Ueberbringung eine Geldentschädigung in Anspruch nehmen, die mir weiter half. Ein Zeitungsblatt, welches eine Aufforderung an Ulrich Gerhard von Uffeln enthielt, wurde mir nicht schwer mir zu verschaffen; es gab mir Richtung und Ziel des Weges, den ich zu nehmen hatte, an, und so begab ich mich auf die Wanderung, bis ich eines schönen Abends auf Haus Wilstorp anlangte und mich zuerst bei dem Rentmeister meldete.

Dieser empfing mich offenbar sehr erfreut, als ich ihm erklärte, daß ich komme, ihm den Tod Uffeln’s zu melden und dessen Papiere zu überbringen.

‚Ist er todt, dieser unfaßbare Lehensvetter,‘ sagte er, ‚so ist uns Allen geholfen – dann sind wir alleinige Erben hier und alle Schwierigkeiten haben ein Ende. Wo sind die Papiere darüber?‘

Ich gab sie ihm, und er durchflog sie hastig.

‚Aber der Todtenschein?‘ rief er dann aus, ‚wo ist er?‘

‚Einen Todtenschein? Den habe ich nicht,‘ war meine Antwort.

‚Den haben Sie nicht, und nichts anderes, was seinen Tod beurkundet?‘

‚Nichts darüber. Aber ich sagte Ihnen, er ist füsilirt; ich selbst habe die Ordre des Divisionsgenerals in die Hände der Ordonnanz gegeben, die …‘

‚Das sagen Sie –‘ fiel er mir in’s Wort. ‚Aber was hilft uns das, was hilft alles, so lange wir nicht Schwarz auf Weiß darüber besitzen? Können Sie nach Spanien schreiben und irgend etwas Amtliches darüber beschaffen?‘

Ich schüttelte den Kopf.

‚Nein,‘ sagte ich. ‚An wen sollte ich schreiben? An das Divisionscommando? Gott weiß, wo es in diesem Augenblicke ist. Ich habe in den Zeitungen gelesen, daß der Kaiser die Division aus Spanien zurückgezogen hat, um sie gegen die Alliirten zu verwenden. Sie wird auf dem Marsche sein; vielleicht steht sie schon vor dem Feinde – wie ist es da möglich …‘

Herr Fäustelmann warf sehr geärgert meine Papiere von sich.

‚So sind wir gerade so weit, wie wir früher waren,‘ sagte er. ‚Es ist eine Sache zum Verzweifeln. Nach keiner Seite hin sich frei rühren zu können! Ihre Papiere da, Herr, können Sie zu Fidibus verwenden. Es sind Wische für uns, bloße Wische, weiter gar nichts. Hätten Sie wenigstens noch eine amtliche Abschrift des Todesurtheils! Dann würde Ihr Zeugniß, daß er wirklich executirt ist, daß er vor Ihren Augen erschossen ist, dieser Uffeln …‘

‚Das ist er nun freilich nicht …‘

‚Nicht vor Ihren Augen?‘

‚Nein. Aber die Execution ist befohlen und also auch ausgeführt.‘

‚Auch ausgeführt,‘ sprach der Rentmeister plötzlich sehr gedankenvoll mich fixirend mir nach, nickte dann mit dem Kopfe, und nachdem er eine Weile höchst nachdenklich vor sich hin, wie in’s Leere gestarrt, sagte er:

‚Ich will Ihnen einen Vorschlag machen. Helfen Sie selbst uns! Diese Papiere da genügen dazu. Geben Sie sie für Ihr Eigenthum aus!‘

‚Ich denke, das sind sie – bis jetzt wenigstens‘ – versetzte ich.

‚Sie verstehen mich nicht. Nennen Sie selbst sich Uffeln …‘

‚Ah, ich bitte Sie, wie könnt’ ich das?‘

‚Weshalb nicht? Nennen Sie sich Uffeln – und wir sind über alle Schwierigkeiten hinweg. Sie erben ein hübsches Gut, die Hälfte davon mindestens; Herr von Mansdorf ist froh, nun Herr über seine Hälfte zu werden, und dem armen Teufel, den sie in Spanien erschossen haben, kann’s einerlei sein.‘

Ich war erschrocken; ich zeigte mich empört über den Vorschlag, der Rentmeister aber sprach in mich hinein, so lange, mit einem solchen Tone der Ueberzeugung, daß dies das ganz selbstverständliche Auskunftsmittel sei, daß ich endlich meinen Widerstand gegen den Betrug gebrochen fühlte und nur noch die Angst vor der Entdeckung geltend machte.

‚Die Entdeckung ist ja unmöglich,‘ sagte er, ‚und wenn Sie sie dennoch fürchten, so können wir ja den schlimmen Folgen derselben auf’s Beste vorbeugen. Sie heirathen Fräulein Adelheid von Mansdorf, dann gehören Sie zur Familie, und dann ist es einerlei, ob Sie als Uffeln oder als Mansdorf’s Schwiegersohn auf Wilstorp sitzen.‘“

„Aber welch’ schreckliches Complot!“ rief hier die Prinzessin entrüstet aus.

[50] „Sie haben Recht,“ entgegnete Falstner der Prinzessin, „es war ein abscheulicher Betrug – das habe ich, als ich furchtbar unter seiner Ausführung litt, mit jedem Tage mehr eingesehen. In jener Stunde aber – mein Gott, ich war so arm, so verlassen in der Welt, und eine Heimath zu finden hatte etwas so unwiderstehlich Verführerisches für mich – und dann, war ich nicht gewohnt, immer Werkzeug zu sein, mich Anderer Willen zu beugen, fremdem Einfluß als dem mein Leben bestimmenden Schicksal mich zu unterwerfen? Ich bin nicht schlecht, glauben Sie mir das, Durchlaucht –“

„Aber schwach, sehr schwach,“ antwortete, ihm streng und fest in’s Auge sehend, Prinzessin Elisabeth.

„Ja. Verdammt es mich oder entschuldigt es mich?“

„Erzählen Sie weiter! Eilen Sie! der Präfect wirft ungeduldige Blicke zu uns herüber.“

„Ich will deshalb,“ fuhr er fort, „nichts sagen von den Tagen, die nun folgten. Nichts von der Qual, in die ich gerieth, als ich Adelheid’s Erscheinung einen immer stärkeren Zauber auf mich ausüben fühlte und dann gewahrte, daß ihr Herz nicht mehr frei sei, daß es längst in leidenschaftlicher Liebe einem Anderen gehörte, während ich doch in der Sorge um eine mögliche Entdeckung meines Betrugs, um der Sicherheit meiner Zukunft willen auf ihre Hand nicht verzichten konnte. Durch diese Lage habe ich bitter gebüßt. Und dann kam der fürchterliche Augenblick, wo ich, im Begriffe zu Ihnen zu gehen, Durchlaucht, einen Mann vor mir auftauchen sah, der sich Uffeln nannte. Ich war wie vom Blitze gerührt. War das der Mann, den ich einmal in Spanien gesehen, der Mann, dessen Namen ich usurpirt hatte, oder war er es nicht, war es ein Fremder, der sich ebenfalls diesen Namen beigelegt hatte …“

„Erkannten Sie ihn denn nicht wieder?“

„Nein, nicht sicher, nicht gewiß; ich hatte[WS 3] ihn in Spanien [51] nur Abends, in einem schlecht beleuchteten Locale gesehen; damals war er in Uniform, jetzt in ganz anderem Anzuge. Und wenn die Unmöglichkeit, daß er dem Tode entgangen, zur Möglichkeit geworden wäre, weshalb war er dann nicht nach Wilstorp gekommen, sein Recht dort geltend zu machen? Nein, nein, er konnte, er durfte es nicht sein, und mit diesen Gedanken eilte ich heim, um Rath und Zuflucht bei dem Rentmeister zu suchen, dem ich freilich meine innere Angst, daß dieser Mann wirklich Uffeln sein könne, gar nicht anzuvertrauen wagte; er hätte mir dann ja die niederschmetterndsten Vorwürfe gemacht, daß ich, der ihm den Tod Uffeln’s als eine ganz unbestreitbare und felsenfest stehende Thatsache dargestellt, ihn damit hintergangen und ihn durch leichtsinnige Versicherungen in einen betrügerischen Handel verstrickt. Nein, Fäustelmann durfte ich die ganze peinigende Angst, welche mich erfüllte, nicht durchschauen lassen, und so zog er denn aus, um bei Ihnen, Durchlaucht, Ermittelungen anzustellen – er kam mit der festen Ueberzeugung zurück, der Mann, der mit so kühner Stirn sich Uffeln nannte, müsse ein Emissär der Alliirten sein, der sich, um besserer Sicherheit willen, frech jenen Namen beigelegt habe. Auch ich suchte mich bei diesem Gedanken zu beruhigen, und da der Fremde für uns verschollen blieb, da er Tag um Tag vorübergehen ließ, ohne mit Rechtsansprüchen hervorzutreten, die er doch geltend gemacht hätte, wenn er sie irgend gehabt, wiegte ich mich in eine falsche Sicherheit ein, bis endlich gestern die Katastrophe hereinbricht …“

„Gestern bereits? Und was ist da geschehen?“

Gestern, um die Dämmerung – eben wurde meine Verlobung mit Fräulein Adelheid gefeiert – da steht plötzlich, wie aus dem Boden emporgewachsen, dieser Herr von Uffeln vor uns und sagt mit spöttischer Ruhe, daß er bedauere, einen Mißton in den Einklang einer schönen Feststimmung gemüthreicher Menschen werfen zu müssen. Er sei nämlich Ulrich Gerhard von Uffeln, mit Herrn von Mansdorf zu gesammter Hand belehnter Vasall von Haus Wilstorp, und obwohl er auch nicht den geringsten Beweis dafür, nicht den kleinsten Fetzen von einem urkundlichen Papier, um sich zu legitimiren, habe, fordere er doch in größter Gemüthsruhe mich auf, ihm in’s Auge zu blicken und ihm zu sagen: er spreche eine Lüge.“

„Welche Scene!“ rief Prinzessin Elisabeth aus.

„Welche Scene in der That! Ich brauche die Verwirrung, die Ueberraschung, die Rathlosigkeit, das wilde Hin und Her, welches folgte, nicht zu schildern; ich könnte es auch nicht; ich war mehr todt als lebendig. Nur das Eine war mir klar: daß ich wirklich und wahrhaftig Uffeln vor mir hatte. Ich erkannte ihn jetzt; ich erkannte den Ton seiner Stimme, die breiten Lider seiner Augen, die mir schon damals in Spanien aufgefallen waren; ich erkannte ihn, ohne daß ich hinzuhören brauchte auf das, was er über die Art und Weise angab, wie er dem Füsilirtwerden entgangen sei. Ich war ja auch viel zu bestürzt, viel zu sinnberaubt dazu. Ich ließ mich willenlos von dem Rentmeister bei Seite ziehen, der mir zuraunte:

‚Seien Sie ein Mann! Weichen Sie keinen Fingerbreit! Nur um Gotteswillen den Kopf nicht verloren. Er gesteht selbst, keine Spur von einem Ausweise zu haben. Also bieten Sie ihm die Stirn, bis ich ihn unschädlich gemacht habe. Und dafür soll auf der Stelle gesorgt werden.‘

Und danach eilte er davon …“

„Um eine Denunciation anzubringen?“

„Gewiß, dazu …“

„Aber ich bitte Sie,“ unterbrach die Prinzessin Falstner, „was trieb den Rentmeister so, Ihre Sache als die seinige zu betrachten und, ohne zu untersuchen, gegen den echten Uffeln so leidenschaftlich Partei zu ergreifen? Er fürchtete, daß Sie, entlarvt, ihn als Ihren Verführer anklagen würden?“

„Ich weiß nicht, ob das allein. Er hätte dann ja leugnen können. Seine Triebfeder war ja eine andere, glaube ich, eine schon lang gehegte Berechnung des Eigennutzes. Ich war sein Geschöpf, er konnte mich zwingen, ihm um einen Spottpreis meinen Antheil am Gute zu überlassen, und ich zweifle nicht, daß das seine Absicht war, sobald er mich mit Fräulein Adelheid vermählt sah … den Antheil Mansdorf’s hätte er dann auch unter den leichtesten Bedingungen an sich gebracht.“

„Der abgefeimte Schleicher!“ rief die Prinzessin empört aus. „Und was wurde weiter?“

„Fragen Sie mich nicht! Ich weiß nur, daß ich zunächst Rettung vor den Augen, vor den Fragen der mich bestürmenden Menschen suchte, daß ich mich flüchtete, daß ich mich stundenlang im Walde umhertrieb und dann heimschlich, um in der frühesten Frühe mit den wenigen Habseligkeiten, an denen mein Herz hing, von Haus Wilstorp zu verschwinden, bevor noch eine Menschenseele dort erwacht sei und meinen Abzug beobachten könne. Ich führte dies in der Morgenfrühe glücklich aus. Kaum aber hatte ich das Haus verlassen und schlug eben den nach Idar führenden Weg ein, als ich zwei Gensd’armen in die Hände fiel, die mir entgegengeritten kamen und mich anhielten.

‚Wohin – wer sind Sie? Wir haben einen Verhaftsbefehl gegen Sie. Wie heißen Sie?‘ wurde ich angefahren.

Ich antwortete, indem ich meinen wahren Namen Falstner angab; daß ich mich Uffeln genannt, daß ich Officier in Spanien gewesen, gab ich dann zu, und darauf wurde ich verhaftet und nach Idar gebracht, und von da zurück zu dem geheimen Waffendepôt, bei dessen Erhebung ich zugegen sein sollte –“

„Und Sie protestirten nicht dagegen, daß Sie mit diesem Depôt etwas zu schaffen haben, daß Sie ein Emissär seien?“

Nein, ich protestirte nicht. Indem ich schwieg und mich als den Schuldigen behandeln ließ, schützte ich Uffeln vor der Verfolgung und Verhaftung. Es war das Einzige, was ich thun konnte, um den Betrug zu sühnen, zu dem ich mich hatte verführen lassen.“

„O, das ist edel von Ihnen,“ rief die Prinzessin aus. „Das ist edel und groß und versöhnt mich mit Ihnen. Aber wissen Sie, welchem Schicksale Sie sich dadurch aussetzen?“

„Freilich – dem Tode. Und ich will nicht unwahr sein, mir nicht die Miene geben, als fürchte ich den Tod nicht. Nein, ich fürchte ihn, und deshalb werde ich Alles aufbieten, ihm zu entgehen, sobald ich annehmen darf, daß Herr von Uffeln volle Zeit gehabt hat, sich zu retten. Man wird mich in die nächste Festung senden und dort vor eine Commission stellen; ich werde dort die Wahrheit sagen und mich vertheidigen, so gut ich kann und bis auf’s Aeußerste. Und jetzt, Durchlaucht, wissen Sie Alles – wollen Sie zu Fräulein Adelheid von mir reden?“

„Ich will es. Sie soll erfahren, was Sie entschuldigt, und auch das, was Sie wieder zu Ehren bringt – Alles, sie soll versöhnt an Sie denken. Wenn ich Ihnen zum Abschiede meine Hand gebe, zum Zeichen, daß ich Sie nur noch bemitleide, so mögen Sie darin im Geiste auch die Hand Adelheid’s erblicken, die Ihnen verzeiht.“

„Ich danke Ihnen aus voller Seele,“ antwortete Falstner, indem er die Hand der Prinzessin an die Lippen führte. –

„Ich glaube,“ sagte hier die Stimme des Präfecten, der herantrat, „es kommt die lange Unterredung der Herrschaften endlich zu einem Schlusse; ich müßte wenigstens darum bitten, Durchlaucht.“

Die Prinzessin wandte sich mit einer leichten Kopfneigung rasch von Falstner ab und schritt zu ihrem Vater zurück. Der Präfect gab dem Gensd’armen einen Wink, und Falstner kam diesem entgegen, um sich von ihm abführen zu lassen.

„Sie sind so rücksichtsvoll und milde, wie es Ihnen die Pflicht erlaubt, gegen den Unglücklichen, nicht wahr, Herr Präfect?“ sagte Prinzeß Elisabeth dann zu den Beamten.

„Da er das Glück hat, eine solche Fürsprecherin zu besitzen, so zweifeln Sie nicht daran!“ versetzte lächelnd der Präfect.

„Dann,“ fiel der Fürst ein, „trüben wir diese Ihre gute Stimmung nicht, indem wir Ihre kostbare Zeit noch länger in Anspruch nehmen.“

„Als ob ich nicht ganz und völlig zu Ihren Diensten stände, mein Fürst!“ sagte der Präfect mit einer Verbeugung und setzte dann hinzu: „Bevor Sie gehen, lassen Sie mich eine Bitte an Sie richten!“

„Verfügen Sie über mich!“

„Falls Sie in Ihrer Gegend – Sie wohnen ja, denke ich, schon so viel weiter östlich – falls Sie dort irgend eine sichere Kunde erhielten, daß sich diesseits der Weser Kosaken gezeigt, so lassen Sie es mich sofort wissen – sofort – senden Sie mir eine Estafette! Wollen Sie?“

„Wenn Sie es wünschen – gewiß.“

[52] „Ich wünsche es – ich verlasse mich darauf.“

„Ich verspreche es Ihnen.“

Man schüttelte sich die Hände. Der Präfect begleitete seinen fürstlichen Besuch hinaus bis auf den ersten Treppenabsatz, und nach einigen Augenblicken trabte das Viergespann wieder über den Platz vor dem Schlosse dahin.

„Hörtest Du das,“ war des Fürsten erstes Wort an seine Tochter, als sie wieder in ihrem Wagen saßen, „hörtest Du das, wie er von den Kosaken Nachricht haben wollte? Das sagt uns besser, wie die Dinge stehen, als hundert ihrer Zeitungen. Die Kosaken, sie fürchten sie schon diesseits der Weser auftauchen zu sehn. Bei Gott, wenn ich noch Souverän wäre, ich ließe bei der Rückkunft in Idar jetzt mit allen Glocken läuten und ein Tedeum singen. Die Kosaken diesseits der Weser! Aber wahrhaftig, die Estafette soll er haben, wenn sie beihelfen kann, ihn rascher einpacken zu machen.“

Der Fürst war so voll patriotischer Freude über dieses erste ihm kund gewordene Symptom jener Kosakenfurcht, die sich bald nachher unter den Franzosen unserer Gegend wie eine Art panischen Schreckens verbreitete und in oft lächerlichen Ausbrüchen verrathen sollte, daß Elisabeth ihn erst nach einer Weile auf das Nächstliegende zurückbrachte. Sie theilte ihm die ganze merkwürdige Enthüllung mit, welche sie eben erhalten hatte, und da sich jetzt herausgestellt hatte, daß der Mann, um dessen willen Beide die ganze Fahrt gemacht hatten, der rechte und wahre Erbe von Wilstorp sei, so fand der Fürst nichts einzuwenden, als seine Tochter nun voll Eifer und Erregung darauf drängte, daß man nach der Heimkehr zuerst und vor Allem diesem die Lage der Dinge kund thun und ihn vor einer falschen Sicherheit warnen müsse, die nur so lange dauerte, als Falstner’s Bekenntnisse sich gleich blieben. –




11.


Unterdeß hatte Herr Fäustelmann einen sehr üblen Tag verlebt. Am gestrigen Abend spät war er von Idar, von seiner geheimen Zwiesprache mit dem Gensdarmerie-Brigadier zurückgekommen und hatte eifrig sich nach seinem Schützling umgesehen, um sich zu vergewissern, daß dieser fest in seiner Rolle geblieben und seinem Gegner die Stirn geboten. Fäustelmann zweifelte nicht daran; es war ja eine so leichte Aufgabe, einen solchen Menschen, der selbst gestanden, daß er ohne eine Spur eines Beweises für seine Behauptungen sei, zu beschämen und abzuweisen. Aber wie Fäustelmann auch suchte und sich erkundigte, er fand seinen Schützling nicht; dagegen vernahm er, daß, nachdem die anderen Herren sich entfernt, der neu aufgetauchte Uffeln sich mit der Herrschaft noch lange unterhalten und dann ebenfalls gegangen sei.

Am heutigen Morgen war es dann förmlich wie Schlag auf Schlag über ihn gekommen. Herr von Mansdorf hatte ihn schon in der Frühe zu sich holen lassen.

„Aber nun bitte ich Sie, Fäustelmann,“ hatte er ihm entgegen gerufen, „was sagen Sie zu dieser Geschichte? Wie konnten wir uns so täuschen lassen!“

„Täuschen? Sind wir denn getäuscht? Ich glaube das nicht. Ich halte den Menschen, der gestern mit einer so frechen Stirn vor uns trat, für einen Schwindler.“

„Für einen Schwindler? Ihn? Wenn Sie ihn hätten länger reden hören, so würden Sie das nicht thun, und ich bitte Sie, wenn er das wäre, weshalb brauchte dann der Andere vor ihm Reißaus zu nehmen; weshalb brauchte er wie ein begossener Hund sich fortzustehlen?“

„Ah – ich hoffe nicht …“

„Gewiß – er hatte, das Weite gesucht, ist auf und davon, ist verschwunden, ohne nur an Einen von uns ein Wort der Vertheidigung oder Erklärung zu richten. Spricht das nicht deutlich genug? Und wenn Sie den Andern hätten reden hören – aber wo waren Sie denn? Sie waren ja auch verschwunden und fort wie in den Erdboden gesunken.“

Herr Fäustelmann fand nicht für gut, hierüber eine Auskunft zu geben; er blickte nur in höchster Betroffenheit seinen Herrn an und wiederholte:

„Also er ist fort? Uffeln ist fort?“

„Ihr Uffeln, ja. Glauben Sie es nicht? Gehen Sie in sein Zimmer hinauf! Von den Leuten hat ihn heute Morgen da keiner mehr gesehen – vielleicht daß Sie mit Ihren Geisteraugen glücklicher sind.“

„Dann,“ versetzte Fäustelmann, indem er tief aufathmete, „dann allerdings muß er sich schuldbewußt fühlen und uns getäuscht haben.“

„Das ganz gewiß,“ entgegnete Herr von Mansdorf, „und ich habe nach Plümer gesendet, um mit ihm zu überlegen, ob man ihn verfolgen soll; Plümer wird, hoffe ich, bald hier sein, mit dem Doctor Günther, nach welchem meine Frau gesendet hat, weil Adelheid von allem dem so erschüttert und angegriffen ist, daß sie, wie ich fürchte, im Fieber liegt.“

Herr Fäustelmann strich sich mehrmals mit der Hand über sein aschfahles Stirnhaar und sagte sich, daß er jetzt mit seiner Denunciation einen recht dummen Streich gemacht – wie furchtbar war er compromittirt, wenn die Welt sie erfuhr! Und sein so schön aufgebauter Plan, Herr von Wilstorp zu werden, lag nun auch am Boden. Der war nun zerstört durch dieses Auftauchen eines todtgeschossenen Menschen, welcher jetzt als Lebender frisch und gesund umherging – wie das zu erklären, wie das möglich, das ging über Fäustelmann’s praktische Kunde vom Geisterreich hinaus. Sein Uffeln mußte ihn abscheulich belogen haben. Plümer, der Justitiar, kam sehr bald. Sein ganzes schlaues Gesicht glühte vor Aufregung; seine Blicke stachen ordentlich in Fäustelmann’s betroffene Mienen hinein.

„Nun, das wird immer besser,“ rief er aus, als er eben eingetreten war, „immer besser. Wissen Sie die neuesten Neuigkeiten aus Idar, Herr von Mansdorf?“

„Aus Idar? Ich weiß nichts.“

„Man hat ein Waffendepôt in der Kropp aufgehoben. Runkelstein’s Kindersärge. Schöne Särge! Kisten mit Musketen. Und dazu hat man sich einen Emissär eingefangen – und wissen Sie, wen? Eben unseren falschen Uffeln, unseren charmanten Lehensvetter, der obendrein beinahe noch Ihr Schwiegersohn geworden wäre.“

„Ihn,“ rief Fäustelmann aus, „ihn hat man eingefangen – verhaftet?“

„Ihn – ich habe ihn mit eigenen Augen über den Markt führen sehen.“

Das war der zweite Schlag für Herrn Fäustelmann. – War dieser Mensch verhaftet, so gestand er ohne allen Zweifel die Rolle, die er in Wilstorp gespielt, nicht ohne Beschuldigungen Fäustelmann’s als seines Verführers, ein.

„Ihn!“ wiederholte er deshalb ganz tonlos und verwünschte dabei innerlich die Dummheit der französischen Schergen, denen er doch deutlich gesagt hatte, wer der Emissär sei, dessen Persönlichkeit er ihnen doch auf’s Genaueste beschrieben zu haben glaubte. Lange über diese für ihn schreckliche Verwechselung zu grübeln, dazu ließ Plümer jedoch dem Rentmeister keine Zeit, denn er fuhr fort:

„Und nun muß Alles aufgeboten werden, herauszubringen, wem diese abscheuliche Verrätherei, diese Denunciation an die Franzosen zu danken ist – der Bösewicht muß exemplarisch bestraft werden. Widmer, der patriotische Apotheker, sagt, er kenne schon Leute, die bereit sein würden, im Stillen ein Volksgericht über ihn zu halten, und auch solche, die sich nichts daraus machten, ihn nach altem gutem Väterbrauch an eine Eiche zu knüpfen. Widmer ist außer sich und wird den Schuldigen herausbringen, ehe vierundzwanzig Stunden vergehen. Verrathen die Gensd’armen nichts, so wallfahrtet Widmer darum nach M., wo einer seiner Vettern Schreiber auf der Präfectur ist und ihm im Stillen einen Einblick in die Acten nicht verwehren wird.“

Das war nun der dritte Schlag für Herrn Fäustelmann, der nach so viel Aufregung das lebhafte Bedürfniß empfand, ein wenig freie Luft zu schöpfen und über die Unsicherheit menschlicher Berechnungen nachzudenken. Er sagte, daß ihn Leute auf seinem Bureau erwarteten, und daß er gehen müßte, um sie abzufertigen. –

Unterdeß war der Doctor Günther bei der erkrankten Adelheid angekommen. War bei diesem Wiedersehen auch Frau von Mansdorf zugegen gewesen, so hatte dies die beiden jungen Leute doch nicht hindern können, sich durch ihre strahlenden Blicke das Glück dieses Wiedersehens auszudrücken, und dies Glück schmolz denn auch in Adolf so sehr alles Gefühl von Zorn und Bitterkeit gegen Frau von Mansdorf, daß er es [54] nicht über sich gewinnen konnte, den Racheplan, mit dem er gekommen, auszuführen und der Mutter den Zustand, in den durch sie ihr Kind gebracht worden, als recht bedrohlich und sorgenerregend vorzustellen. Bedrohlich fand er diesen Zustand ja in der That nicht; er wußte, daß während einiger Tage der Schonung das Gefühl inneren Glückes Adelheid so kräftigen und herstellen werde, daß er fast nur zur Beruhigung der Ihrigen etwas aus den Droguentöpfen Widmer’s verschrieb.

Doch sagte er, als er ging und Frau von Mansdorf ihn in’s Vorzimmer begleitete, um noch unter vier Augen seinen Ausspruch über Adelheid’s Zustand zu vernehmen, offenherzig zu der heute sehr kleinlaut gewordenen und bekümmert dreinschauenden Dame:

„Danken Sie Gott, gnädige Frau, daß es nicht schlimmer ist, und hüten Sie sich ja, wieder solche Experimente mit Fräulein Adelheid’s Herzen anzustellen! Dazu hat der Himmel ihm nicht die nöthige Härte gegeben – Gewalt dürfen Sie ihm nicht anthun wollen oder Sie verlieren Ihr Kind. Ich will Ihnen auch nicht verhehlen, daß Fräulein Adelheid’s Herz mir gehört, daß ich allein der Arzt bin, durch den sie gesunden kann, und daß Sie sich deshalb gefallen lassen müssen, daß dieser Arzt sie von nun an in ununterbrochene treue Pflege nimmt. Ich werde deshalb jetzt täglich wiederkehren, und Sie, nicht wahr, gnädige Frau? sind eine zu gute besorgte Mutter, um dies hindern zu wollen.“

„Es ist das zwar,“ versetzte trübe lächelnd Frau von Mansdorf, „eine merkwürdige Art von Ausbeutung der ärztlichen Autorität, wenn der Doctor seinen Kranken als Heilmittel sich selbst verschreibt – oder gar am Ende als sein Honorar für ärztliche Bemühungen den Patienten selber in Anspruch nimmt.“

„Es ist das allerdings,“ fiel der Doctor scherzend ein, „in der Medicinaltaxordnung nicht vorgesehen, aber doch auch nicht verboten. Und da, was Heilmittel betrifft, diese sich immer auf’s Genaueste nach dem speciellen Falle richten müssen, den Fall aber nur der Arzt beurtheilen kann, so werden Sie ihn, gnädige Frau“ – der Doctor setzte das mit einem bittenden Blicke und weicherer Stimme hinzu – „in seiner Curmethode nicht stören und hindern wollen.“

Frau von Mansdorf seufzte.

„Ich bin ja freilich selbst schuld, daß ich den Doctor habe die Krankheit hervorrufen lassen. So werd’ ich mich denn auch wohl nicht dawider auflehnen dürfen, daß er sie nun heilt.“

Sie reichte ihm langsam und ein wenig widerstrebend die Hand, die er nichtsdestoweniger lebhaft und glücklich an seine Lippen zog.

[73] Am späten Abend fuhr noch die Equipage des aus der Präfecturstadt rückkehrenden Fürsten an Haus Wilstorp vor – doch stiegen die Herrschaften, da sie sehr ermüdet waren, nicht aus, sondern der Fürst ließ Herrn von Mansdorf herausrufen, und er und Prinzessin Elisabeth theilten ihm rasch den Kern alles dessen mit, was nothwendig zu berichten war. Es war das Todesurtheil Fäustelmann’s, was durch diese Mittheilungen besiegelt wurde. Herr von Mansdorf gerieth außer sich vor zorniger Entrüstung und verschwor sich hoch und theuer, daß er den Menschen keinen Tag länger in seinen Diensten halten werde. Was aber Herrn von [73] Uffeln anging, so wußte er über ihn nicht das Geringste zu sagen. Herr von Uffeln war, nachdem er gestern Abend bis zu einer späteren Stunde geblieben und alle wünschenswerthe Auskunft über sich gegeben, geschieden und hatte sich heute den ganzen Tag über nicht blicken lassen. So mußte man darauf verzichten, ihn auf der Stelle zu warnen, und die Herrschaften eilten, nach Idar und zu der wohlverdienten Ruhe nach ihrer anstrengenden Fahrt zu kommen.

In Prinzessin Elisabeth war auf’s Neue die Sorge um den wunderlichen Mann erwacht, der nun heute wieder ganz verschollen geblieben. Als sie auf dem Schlosse zu Idar angekommen und wieder in ihrem Zimmer war, warf sie die Warnung, welche sie ihm senden wollte, hastig in einigen Worten auf’s Papier und wollte sie dem Meyer Jochmaring senden, daß er sie ihm zukommen lasse. Dann aber, im Begriff das Billet abzusenden, konnte sie es nicht über sich gewinnen – sandte sie es ihm, so würde er vor Tagesgrauen vielleicht noch die Flucht ergreifen. Sie sah ihn dann nicht wieder, vielleicht niemals – und bei dem Gedanken brach all der Muth zusammen, den sie am Morgen ihrem Vater gezeigt, all der Heroismus des Entsagens, all die Macht der Vernunft, vor der sie sich gebeugt. Auch hatte ja Alles jetzt, wo sich herausgestellt, daß dieser Mann seinen Namen mit Recht trug, eine andere Wendung genommen – er war kein Abenteurer mehr; es lag nicht mehr die weite Kluft zwischen ihm und ihr.

Und so beschloß sie, es kühn zu wagen, noch einmal ihm selbst entgegenzutreten, und wenn dann geschieden sein mußte, doch erst zu scheiden, nachdem sie sich völlige Klarheit über die Motive seines Handelns und Verhaltens verschafft, in dem doch noch so vieles Räthselhafte war. Und darüber sinnend, innerlich auf’s Tiefste erregt, aber auch wieder mit dem festen Selbstvertrauen, daß sie ihm werde die Hand zum Abschiede reichen können, ohne ihm zu verrathen, wie furchtbar sie dabei litt, ging sie am andern Morgen zum Hofe des Meyers; der Meyer sollte ihn aus seinem Aufenthaltsort herbeischaffen und zu ihr holen. Sie wollte diesen Gang rasch machen, noch bevor ihr Vater sichtbar wurde. Niemand sollte etwas davon erfahren. Nach einer kurzen Zwiesprache wollte sie heimkehren.

Sie sollte den, den sie suchte, eher sehen, als sie vermuthet. Wie sie durch den Wald ging, ihre getreue Marianne neben sich – es war ein von einem feinen Nebel verschleierter Morgen; im Walde herrschte Todtenstille, und an den Spitzen der Farrnkräuter hingen kleine Tropfen zusammengerieselter Feuchtigkeit, während aus den Baumwipfeln ein welkes Blatt nach dem andern wie ein großer gelber Falter niederschwirrte – während sie durch diesen heute so herbstlich angethanen Wald ging, vernahm sie Schritte, die ihr entgegenkamen, und sah bei der nächsten Wendung des Fußpfades Uffeln sich entgegenschreiten.

An dem Drehkreuze, an dem sie ihn zuerst gesehen, begegneten sie sich.

„Ich danke Ihnen, meine Fürstin,“ sagte er, „daß Sie mir auf meinem Wege entgegenkommen; ich bedarf auf diesem Wege ein wenig Ihres Entgegenkommens.“

„Ich verstehe Sie nicht,“ versetzte sie, ihn überrascht anschauend, „wer in aller Welt sagt Ihnen, daß ich Ihnen entgegen zu gehen beabsichtigte?“

„Daß Sie es beabsichtigt, behauptete ich nicht. Aber Sie kommen doch mir zu sagen, daß Sie gestern meinetwegen die lange Fahrt in die Präfecturstadt gemacht haben, Sie und Ihr Herr Vater?“

„Das wissen Sie?“

„Ich habe vom Meyer erfahren, daß Sie in großer Hast dahin gereist, und ich war anmaßend genug, zu glauben, es geschehe nicht um meines Doppelgängers willen, den man verhaftet hat; ich weiß nicht weshalb, denn ein Emissär ist dieser arme Teufel so wenig wie ich, aber Sie reisten in der Sorge, ich könne der Verhaftete sein …“

„Ich sehe, Sie wissen Alles,“ fiel die Prinzessin ein; „nun wohl denn, ich leugne es nicht, ich sprach mit meinem Vater, und dieser entschloß sich im Interesse einer patriotischen Sache zu der Fahrt, um Sie durch seinen Einfluß bei dem Präfecten zu retten. Wir waren sehr überrascht, in dem Verhafteten nicht Sie zu erkennen, aber wir erfuhren auch, daß Sie auf’s Schleunigste sich retten müssen, um nicht dasselbe Schicksal zu erleiden.“

„Mich retten? Aber ich bin ja kein Emissär, was Sie so gütig waren immer vorauszusetzen; auch wird meine Flucht nicht so dringend sein, daß Sie mir nicht erlauben dürften, Sie zu Ihrem Schlosse heimzubegleiten.“

„Nein, nein, das dürfen Sie nicht,“ fiel die Prinzessin lebhaft ein, „mein Vater würde es unpassend finden; ich wollte ja nur mit einem Worte Ihnen rasch sagen, welche Gefahr über Ihnen schwebt.“

„So lassen Sie wenigstens bis zur Margarethenlinde mich an Ihrer Seite bleiben – wenn Sie für Ihren weiteren Weg, zum Schlosse – wie durch’s Leben, es mir nicht gestatten wollen!“

„Ich will Ihnen nichts gestatten,“ antwortete sie, lebhaft bei diesen Worten erröthend, „als mich aufzuklären, weshalb Sie [74] mit den Menschen hier ein so seltsames, verdecktes Spiel trieben, weshalb Sie nicht gleich als der auftraten, der Sie sind.“

Dabei schritt sie doch auf ihrem Rückwege vorwärts, und während er an ihrer Seite blieb, schritt ihre Begleiterin, die sich bei dieser Unterredung für überflüssig halten mochte, ihnen weit vorauf.

Er antwortete: „Wie hätt’ ich das sollen? Ich habe meinen Namen nicht verheimlicht. Habe ich Sie darüber getäuscht? Nein. Aber wer mir nicht glaubte, mit dem konnte ich mich in keine Debatte einlassen. Ich hatte nichts, ihn zu überzeugen. Einen Paß, den ich mir in der Hafenstadt, wo ich landete, auf fremden Namen verschaffen konnte, den allerdings. Sonst aber nicht das Mindeste. Durfte ich vor irgend eine Behörde treten und mein Anrecht auf das Mansdorf’sche Gut geltend machen wollen? Nein, ich mußte warten, bis es einem Anwalte in Stockheim, an den ich mich gewendet habe, gelungen war, aus meiner Heimath alle die Papiere neu zu beschaffen, deren ich bedurfte, um gegen den Mann auftreten zu können, der sich meines Erbes bemächtigt hatte. So hielt ich mich verborgen – um so mehr, als ich fürchten mußte, daß, wenn bei einer Behörde, einem Gerichte hier der Name Uffeln zu früh laut werde, mein spanisches Erlebniß mich in ominöse Beziehungen zu der Polizei verwickeln könne. Ich weiß ja nicht, ob mein damaliges Entkommen als eine indifferente Thatsache hingenommen und vergessen ist, oder Veranlassung geboten hat zu weiteren Verfolgungen und Meldungen der unter sich in Verbindung stehenden und halb Europa mit ihren Fäden überspinnenden kaiserlichen Polizei.“

„Es scheint,“ unterbrach ihn die Prinzessin, „das letztere nach einer Aeußerung des Präfecten in der That der Fall zu sein.“

„Sehen Sie, so hatte ich allen Grund, mich nicht vorzudrängen. Als ich in England beschloß, hierher zu reisen, um die Lehnsherrlichkeit, die mich hier erwartete, in Anspruch zu nehmen, hoffte ich eine weit raschere Entwickelung der Dinge auf dem Kriegsschauplatze; ich habe gesehen, wie mürbe und gebrochen die französische Macht in Spanien ist, und deshalb erwartete ich nicht, daß sie hier in Deutschland einen so zähen und langathmigen Widerstand gegen die sie bedrängende furchtbare Uebermacht leisten würde. So hoffte ich hier nicht viel früher einzutreffen als die Vortruppen der Alliirten. Das aber hat mich getäuscht, und deshalb nahm ich meine Zuflucht zu der stillen Kötterbehausung, die mich barg, vernahm dann mit großer Ueberraschung, daß sich bereits ein Mitbewerber um mein Erbe eingefunden habe, ließ mich aber dadurch nicht anfechten, sondern wartete zunächst des Anwalts Benachrichtigung ab, daß er neue Papiere zu meiner Legitimation beschafft. Nun wissen Sie Alles.“

„Alles bis auf das, was Sie bewog, so plötzlich vorgestern eine Katastrophe herbeizuführen.“

„Das fragen Sie? Und doch waren nur Sie es, die mich dazu bewog. Hatten Sie mir nicht das Liebesleid des Fräuleins von Mansdorf und ihres jungen Aesculap geschildert? Konnte ich unempfindlich dagegen bleiben? Ich wäre ein Barbar gewesen. Und so leicht war es, hier Hülfe und Rettung zu bringen. Ich brauchte nur mit offenem Visire unter diese Familie von Mansdorf zu treten und dem falschen Demetrius dort die Stirn zu bieten. Ich konnte nichts beweisen, aber ich konnte sprechen. Und das, was ich zu sagen hatte, das mußte wenigstens das junge Mädchen retten; man mußte wenigstens erschrecken und alles Weitere aufschieben bis zu dem Tage, an welchem ich versprach, meine Beweise vorbringen zu können. Daher das, was Sie eine Katastrophe nennen; sie nahm für mich eine unerwartet gute Wendung. Man glaubte mir und erkannte die Wahrheit dessen, was ich sagte, um so eher, weil sie keinen Widerspruch fand; mein Doppelgänger nämlich löste sich wie ein richtiger Doppelgänger in Luft auf – er war verschwunden, ehe man sich’s versah.“

„Ja,“ fiel hier die Prinzessin ein, „und über die Motive bei diesem Verschwinden kann ich Ihnen Aufklärung geben.“ Und sie erzählte jetzt, was Alles Falstner ihr gestern eingestanden hatte.

„Wer hätte einen so starken Drang, ein begangenes Unrecht wieder gut zu machen, in einem so schwachen Menschen erwartet!“ sagte Uffeln. „Ich bedauere ihn jetzt von Herzen. Und weil er durch seine Angaben vor der Behörde mich nur so lange schützen will, bis ich Zeit, das Weite zu suchen, gewonnen, soll ich jetzt die Flucht ergreifen?“

„Sie müssen das augenblicklich.“

„Nehmen wir einen Augenblick hier Platz!“ versetzte er, sich den Bänken unter der Margarethenlinde, neben der sie angekommen, zuwendend. Prinzeß Elisabeth folgte ihm, und Beide setzten sich auf eine dieser Bänke.

„Ich kann nicht von hier gehen, ohne Ihnen den Grund meines Herzens auszuschütten,“ fuhr Uffeln hier mit einem offenen Blick in ihre Züge und einem merkwürdig festen Tone fort. „Ich bin ein einfacher Edelmann, aber ich habe Vermögen genug, um Herrn von Mansdorf, dessen Familie sich ja von hier fortsehnt, auszukaufen und der alleinige Besitzer von Wilstorp zu sein. Die kleine Burg ist ein Juwel von Romantik. Genügt sie Ihnen, um als Hausfrau darin zu schalten, kann sie Ihnen Ihr stolzes Fürstenschloß ersetzen, wenn Sie darin an der Seite eines Mannes leben, der Sie liebt, wahrhaft und aus voller Seele liebt – dann nehmen Sie meine Werbung um Ihre Hand an, Fürstin!“

Prinzeß Elisabeth wechselte die Farbe. So klar ihr auch ihre eigene Neigung für diesen Mann geworden, so empörte sich doch ihr jungfräulicher Stolz gegen diese Sprache. Durfte man so um sie werben? Durfte man voraussetzen, daß sie so von einem fremden Manne durch ein paar Worte einer kühnen Erklärung gewonnen werden könne? Erst[WS 4] erbleichend antwortete sie mit hochgeröthetem Gesichte:

„Ihre Werbung um meine Hand ist sehr kühn, Herr von Uffeln. Ich möchte wissen, was Ihnen zu einer solchen – leichtfertigen Werbung den Muth giebt?“

„Eine Werbung um Ihre Hand ist immer kühn, Prinzessin,“ antwortete er ruhig, „denn ich glaube nicht, daß ein Bewerber mit dem Bewußtsein, Ihrer würdig zu sein, sich für Sie finden kann. Den Muth giebt mir die Ueberzeugung, daß niemals ein Anderer Sie so lieben kann, wie ich es thue. Wären Sie ein junges Mädchen wie ein anderes, so hätte ich mit einer leidenschaftlichen und feurigen Schilderung dieser Liebe begonnen und Sie dadurch zu rühren, zu erobern, im Sturme zu nehmen gesucht. Sie stehen mir zu hoch zu solch einem Werben à la Papua-Indianer, die ihre Frauen als Jagdbeute gewinnen und betrachten. Vor Sie trete ich als vor die Göttin meines Lebensschicksals und will bescheiden mein Loos aus Ihrer Hand empfangen. Ich bin auch voll Zuversicht, daß dieses Loos ein gnädiges sein wird. Denn sehen Sie, Fürstin Elisabeth, Sie fühlen selbst, daß für Sie kein anderer Mann taugt, als einer, der ein träumerischer Mensch ist und dessen Vorsehung Ihr kluger wacher Geist sein wird, bei dem Sie in jedem Augenblicke die Ueberzeugung haben, daß Sie ihm nöthig sind, daß er Ihrer bedarf, ohne Sie zu Grunde ginge. Und das wäre bei mir der Fall. Ich versiechte ohne Sie in diesen Wäldern hier, wie eine Pflanze ohne Licht und Sonne. Daß Sie mir wohlwollen, weiß ich; darum reichen Sie mir groß und hochherzig die Hand!“

„Mein Gott, ich kenne Sie ja gar nicht,“ versetzte Prinzeß Elisabeth, die trotz allem, was er sagte, ihren Zorn nur zunehmen und doch ein Gefühl von Angst und Hülflosigkeit sich hineinmischen fühlte.

„Das ist wahr. Seit ich Sie kenne, kenne ich mich selbst nicht mehr. Wie sollten Sie es?“

„Und deshalb,“ fuhr sie mit Thränen in den Augen fort, „ist es doch eine unerhörte Vermessenheit, der beleidigendste Hochmuth von Ihnen, mir zuzumuthen, ich solle mein Schicksal ohne weiteres Besinnen an den ersten Mann weggeben, der die Kühnheit hat, es zu verlangen.“

„Wir Menschen ringen alle um unser Glück. Ich sehe das meine vor mir und – vermessener Hochmuth oder nicht – ich suche es zu erfassen.“

Elisabeth schwieg. Sie war in diesem Augenblicke noch viel zu empört, um ihm ein gütiges Wort sagen zu können. Sie hätte es trotz des heften Kampfes, den sie in sich fühlte, nicht über die Lippen gebracht, und doch – auch ein für immer abweisendes konnte sie nicht sprechen, und so blieb sie stumm und antwortete nur durch die Thränen, die in ihre Wimpern traten.

„Ich habe Ihnen Schmerz gebracht,“ sagte er leise. „Das wollte ich nicht. Soll ich gehen – gehen für ewig?“

[75] Sie blieb noch immer stumm. Dann sprang sie auf. „Ich will gehen,“ sagte sie stolz.

Und rasch schritt sie davon, während er, mit dem Ausdrucke der Bestürzung in jeder Miene ihr nachstarrend, auf seiner Bank zurückblieb.

Als sie von der die Linde umgebenden Lichtung auf den Fußpfad trat, der weiter durch den Wald führte, hielt sie erschrocken inne; sie sah mit seiner ganzen derben Gestalt, die Arme untergeschlagen, den Meyer Jochmaring zwischen den ersten Bäumen dastehen. Er heftete seine Blicke mit düsteren Zornrunzeln auf sie.

Der Meyer mußte auf dem Wege nach Idar sein und schien bereits eine Weile beobachtend, so dagestanden zu haben.

Prinzessin Elisabeth blieb vor ihm stehen, trotz der inneren Erregung und Erschütterung doch betroffen durch die Erscheinung des alten Mannes, der, ohne sich zu regen, so starr und zornig auf sie niederblickte.

„Ihr, Meyer Jochmaring?“ sagte sie, als er nicht die geringste Miene machte, ihr den Pfad frei zu lassen. „Habt Ihr mit mir zu reden?“

„Ja, Prinzessin,“ versetzte er, „ich denke, zu reden hätt’ ich mit Euch. Denn es ist nicht lange her, daß Ihr selber mir gesagt habt, daß Euer fürstliches Haus – von den Tagen Wittekind’s her, mein’ ich, sagtet Ihr – zusammengehalten hätte mit dem Meyer, der auf dem Jochmaring-Hofe sitzt, und daß Einer zum Andern gestanden hätte in guten und in bösen Tagen. Und darum, denk’ ich, wäre heute der Meyer kein aufrichtiger und getreulicher Mann, wenn er nicht zum Fürsten ging und ihn wahrschaute, wenn er ihm nicht sagte: ‚Herr Fürst, unter der Margarethen-Linde im einsamen Walde, in der Morgenstunde, da hat hinter Eurem Rücken Eure Tochter eine Zusammenkunft mit dem fremden Manne, und sie sprechen heimlich da von Liebessachen. Kein Mensch hätt’s geglaubt von Eurer Tochter, der Prinzeß Elisabeth, daß sie sich so wegwürfe und einem fremden Manne ein Stelldichein im Walde gäbe.‘“

Prinzessin Elisabeth war bei dieser überraschenden Anrede des Meyer’s in einen ganz merkwürdigen Anfall von Fassungslosigkeit gerathen. Sie starrte ihn bei seinen ersten Worten wie versteinert an; dann hatte sie, dunkelroth werdend vor Zorn, mit ihrem Fuße den Boden gestampft, und jetzt, mit zitternden Händen an ihrem Taschentuche zupfend, als ob sie es in lauter kleine Stücke zerreißen wolle, rief sie:

„O mein Gott, was denkt Ihr, Meyer – was denkt Ihr? Ihr habt kein Recht, so zu mir zu reden – Ihr habt kein Recht, denn das mögt Ihr wissen, daß –“ sie stockte einen kurzen Augenblick und fuhr dann, wie mit einer heroischen Anstrengung der Selbstbeherrschung gefaßt und stolz sich aufrichtend, fort: „Elisabeth von Idar giebt keinem Manne ein Stelldichein, wenn dieser Mann nicht ihr Mann ist, wenn sie ihm nicht gehört für immer. Wißt Ihr, Meyer Jochmaring, dieser fremde Mann hat ehrlich um mich geworben, und ich bin seine Braut. Nun geht und sagt es, wem Ihr wollt!“

„Ah,“ sagte der Meyer, „wenn es so steht, so nehmt’s nicht für ungut. Ich sagte Euch, was ich glaubte Euch sagen zu müssen, damit Ihr später nicht reden könntet, Meyer Jochmaring habe hinter Euerm Rücken den heimlichen Angeber gemacht. Aber wenn es so steht, so wünsche ich Euch Glück von ganzem Herzen, und weiter lästig will ich Euch auch nicht sein; denn bei Dem, was Ihr alsdann hier auszumachen habt, ist ein Dritter nicht vonnöthen. Ich wünsche Euch Glück, Prinzessin – und dem Herrn da ebenfalls.“

Und damit faßte der Meyer an seinen Hut, nickte ernsthaft mit dem Kopfe und ging schweren Schrittes weiter in den Wald hinein.

Uffeln war währenddessen rasch herangekommen und stand neben Elisabeth. Als sie das Wort „Ich bin seine Braut“ laut und entschlossen ausgesprochen, hatte er, elektrisch auffahrend, ihre Hand ergriffen und festgehalten – jetzt ließ er sie wieder sinken und sagte mit einem ängstlichen Blicke in ihre Züge:

„Meine Braut – um Ihres Stolzes willen, damit Niemand der Fürstin nachsage …“

Elisabeth wandte sich heftig, leidenschaftlich, tief aufathmend zu ihm.

„Ja, ja, deshalb!“ rief sie aus, „und auch weil dieser Mann mir wies, was das Rechte, das allein Würdige für ein Weib sei, das liebt. Sie haben nun einmal mein Herz, meine Seele – nehmen Sie denn auch mich!“

Sie umschlang mit beiden Armen seinen Nacken, um ihre furchtbare Erschütterung an seiner Brust auszuweinen.




„Nehmen Sie denn auch mich!“ hatte sie im Sturme ihres Gefühls ausgerufen. Sie hatte dabei vergessen, daß eine Prinzessin doch nicht so ohne Weiteres ihre Hand verschenken kann. Der Fürst von Idar hatte für seine Lieblingstochter ein glänzenderes Lebensloos in Aussicht genommen, und seinen anfänglichen Widerstand gegen eine Verbindung dieser Tochter mit einem einfachen Edelmanne zu besiegen, war nichts Leichtes. Elisabeth war zu stolz, ihrem Vater die Einwilligung abzuschmeicheln. Während Uffeln seiner Sicherheit willen sich entfernt hatte und in einer andern Gegend in Verborgenheit lebte, suchte sie durch ruhige Erörterungen auf ihren Vater zu wirken. Anfangs ohne Erfolg – bis endlich mit den vordringenden Alliirten Uffeln zurückkam und der Fürst sich erweichen ließ, gewonnen von der Persönlichkeit Uffeln’s und dem den Ausschlag gebenden Gedanken, daß er Elisabeth so ganz in seiner Nähe behalten werde. Und so kam es, daß im folgenden Lenze, nachdem die Familie von Mansdorf ihren Wunsch, der sie gen Süden trieb, hatte erfüllt sehen können – Herr von Uffeln hatte die Mansdorf’sche Gutshälfte von dem Letztern unter günstigen Bedingungen übernommen –, in das neu eingerichtete Haus Wilstorp zwei glückliche junge Gatten ihren Einzug hielten.

Auf Adelheid Mansdorf’s Gesundheit hatte der Aufenthalt am Genfer See und das Gefühl des Glücks bald den heilsamsten Einfluß geübt. Im nächsten Sommer brach der Doctor Günther, der ein weiteres und lohnenderes Feld für seine Thätigkeit ersehnte, als eine kleine Landstadt es ihm gewähren konnte, von Idar auf, um in der Stadt am Rhein, wo Mansdorf sich bleibend zu fixiren gedachte, Adelheid heimzuführen und dort für immer zu bleiben. –

Was Herrn Fäustelmann angeht, so schied er nicht ohne einen chicanösen Proceß wegen allerlei Entschädigungsforderungen und Ansprüchen an die Herrschaft auf Wilstorp anzufangen. In diesem Proceß bekam er Dank der energischen Abwehr des Justitiars Plümer gründlich Unrecht; worin er aber Recht bekam, das war in seiner Prophezeiung, daß preußische Bataillone durch Idar rücken würden. Das war Gottlob wirklich und wahrhaftig schon nach weniger Wochen Verlauf, bald schon nach der Schlacht vom 18. October 1813, geschehen. Herrn Fäustelmann selber konnte das nun freilich nicht viel verschlagen – er hatte sich in seiner Angst vor den Verfolgungen des patriotischen Apothekers Widmer längst in eine andere Gegend verzogen.

Von dem armen Falstner ist nie wieder gehört worden. Man hatte ihn von der Festung entlassen, weil sich im Lauf der Untersuchung allerdings durchaus keine Beweise gegen ihn herausgestellt hatten. Wohin er sich dann jedoch gewendet, und wie seine Lebensschicksale sich gestaltet – darüber hat sich bis heute auch nicht die leiseste Tradition oder nur Vermuthung erhalten. –



Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Monsdorf
  2. Vorlage: Gravoswein
  3. Vorlage: hätte
  4. Vorlage: Fast, Berichtigung nach Heft 7, S. 123