| Kapitel X.
Die peripherischen Arbeiten des Pfarramts.
1. Auf dem Gebiete der
Schule. Seit dem nicht zustande gekommenen Schulgesetzentwurfe von 1869 (Referenten im bayerischen Reichsrate waren der Bischof von Augsburg, Pankratius Dinkel, früher Pfarrer der katholischen Gemeinde Erlangen, Korreferent
D. Adolf von Harleß, der unvergessene Präsident des Oberkonsistoriums) ist die Bewegung gegen die geistliche Schulaufsicht nicht stille gestanden. Während früher nur die Lehrerpresse (einst von dem gewandten und tatkräftigen Lehrer Pfeiffer von Fürth geleitet) gegen diese Einrichtung als überaltete und weder aus der Geschichte, noch aus dem Bedürfnisse des Schulwesens zu erklärende
| anging, haben neuerdings, gewiß in guter Meinung und um Wichtigeres desto mehr und erfolgreicher festhalten zu können, auch Geistliche gegen sie sich erklärt. Kaum mit Recht. Denn der geschichtliche Gang, besonders in der reformatorischen Kirche, ja von der Kirche alter Zeiten her, weist nach, daß um ihren Unterricht sich der übrige schloß, nicht daß der in den weltlichen Fächern etwa den in der Religion bei- und herangezogen hätte. Von den katechetischen Schriften Augustins an bis zu denen Luthers und weiterhin bis zu Amos Komenius und den Bemühungen derer um August Hermann Francke ist eine Kette um allen Unterricht geschlungen, und diese Kette geht von der den Herrenbefehl respektieren und erfüllen wollenden
Kirche aus. Wahrlich, nicht Herrschaftsgelüste noch hierarchische Bestrebungen heißen die Leitung der Schule den Geistlichen möglichst sichern, die Ehre ist fürwahr gering genug, wenn sie nicht in Erfüllung einer selbstverständlichen Pflicht liegt, sondern das bestimmte Verlangen, die Kirche auf dem Gebiete noch zu Wort kommen zu sehen, wo die Zeit für die Ewigkeit und dies gewiß nicht nur im Religionsunterricht bereitet werden soll. Die Einhaltungen gegen unsre Anschauung sind bekannt genug, der Religionsunterricht gewähre den nötigen Einfluß, die Aufsicht durch Geistliche sei nicht „fachmännisch“ genug, werde ja überhaupt nur noch dem Scheine nach ausgeübt und falle schon um der Ehrlichkeit willen je früher desto besser dahin. Nein, der Einfluß wird nicht gesucht, sondern die Pflicht gegen die getauften Glieder heißt die Kirche ihn möglichst lange und tunlich weit ausüben.
| Die Kirche will nicht den Lehrer bevormunden, einengen, um sein Ansehen bringen, sie will
mit ihm arbeiten, mit ihm, ja von ihm lernen, aber nicht geduldet, sondern in Ausübung eines Rechts. Der fachmännischen Erudition alle Ehre, es ist in den letzten dreißig Jahren zu ihrer Hebung und Vertiefung viel geschehen, und wir sind nicht gemeint zu glauben, daß der praktische Kurs, den die jungen Theologen auf der Universität besuchen, schon fachmännische Kenntnisse vermittele. Aber um eine
technische Aufsicht und Beratung handelt es sich nicht – für sie sind die Bezirksoberlehrer, die Kreisschulinspektoren die geordneten Größen –, es soll nur die
Gemeinde sehen, daß ihr Geistlicher der Schule
nahe ist und mit dem Lehrer eins sein will, aber auch nahe sein
muß, wenn es dem Lehrer nicht gefällt. Es sind unnatürliche Verhältnisse, wenn die beiden neben dem Elternhause zur Erziehung berufenen Instanzen nicht miteinander arbeiten. Der Takt und die Ehrerbietung, welche einem Diener Christi zustehen
sollen, verbieten ihm es anders zu halten als Röm. 12, 10 geschrieben ist. Daß viele Geistliche die Schule „um des Friedens“ willen nimmer besuchen, ist einfach nicht richtig:
εἴτε διακονιαν, ἐν τῇ διακονίᾳ, nicht
ἔξω διακονίας. Noch ist es seine Pflicht, in deren Ausübung ihn eine höhere als menschliche Obrigkeit stützt und schützt. Daß dieses
Nebenamt dem Geistlichen die Aufgabe stellt, mit den Verordnungen und Gesetzen des Volksschulwesens, mit den Schulplänen und der Schulordnung sich vertraut zu machen, Fachliteratur zu studieren, ihn aber auch willig macht, in Krankheitsfällen helfend einzutreten, sei nur
| angedeutet. Der Hinweis auf andre Staaten, in denen es auch ohne geistliche Schulaufsicht gehe, verfängt nicht und trägt nichts ein. Ob etwas geht oder nicht, darauf kommt es nicht an, sondern ob es recht ist, geschichtlich Begründetes und nicht ungut Gewesenes um des Drängens willen aufzugeben, Vorwerke zu opfern, glaublich, damit die Innenwerke desto eher behauptet werden können, in Wirklichkeit, um sie zu gefährden. Die
Klagen aber aus Nachbarländern wollen auch gehört sein. – Hier ist auch die Stätte, des Verhältnisses zwischen Pfarrer und Lehrer zu gedenken, eines Verhältnisses, das durch Abnahme des sog. niedern Kirchendienstes und mancher mit dem Bildungsstande des Lehrers, wie er wenigstens sein soll, unverträglichen Verrichtungen gebessert werden kann, nie aber durch Drangabe von Pflichten gebessert werden wird. Gefehlt wird in diesem Verhältnisse zweier aufeinander angewiesener Männer durch Mißtrauen und Herrschsucht, durch anspruchsvolles und nachgiebiges Wesen, durch Pedanterie und falsche Großartigkeit, durch unzeitige Vertraulichkeit, deren Bereuung ins Gegenteil übergehen läßt, durch ungute Nahung und Trennung zu und gegeneinander. Und doch steht die ernste Mahnung, in keinem Stücke und niemandem Anstoß zu geben, nicht damit
wir nicht ins Gericht fallen, sondern unser Amt! Denn mit dem aus Einzelerfahrungen generalisierenden Zuge wird von der einzelnen Verfehlung des Amtsträgers das Merkmal für das ganze Amt geholt und ihm ein Brandmal aufgedrückt, das nimmer vergeht. Man wird dabei dem Pfarrer raten dürfen, nie zur Feder zu greifen, was ohnehin unmännlich und unchristlich ist, solange
| der mündliche Verkehr noch möglich ist, und an das Herrenwort Matth. 18, 15 erinnern. In solchem Zwiegespräch kann und soll der Pfarrer auch sein Unrecht, selbst wo er es noch nicht einsieht, als möglich anerkennen und willfährig sein, solange er noch mit seinem Arbeitsgenossen auf dem Wege ist, und das Siebenmalsiebzigmal Matth. 18, 22 nicht vergessen, auch auf die Gefahr hin nicht, daß ihm als Schwäche ausgedeutet wird, was doch Stärke war. Und mit aller Gewalt soll er dem Feinde wehren und absagen, der mit Freuden Unkraut säet herüber und hinüber und unter die Leute trägt. Es wird, wenn er ein reines Gewissen bewahrt, auch die Zeit kommen, wo er Vergebung bereiten kann. Wenn aber gehandelt werden muß, dann werde gehandelt und nicht geredet. Die Tat befreit.
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2. Auf dem Gebiete der
Armenpflege. Es ist doch nicht nur ein Notbehelf, etwa aus ökonomischen Gründen, daß der Staat dem Geistlichen auf dem Lande (in den Städten wenigstens im Armenpflegschaftsrat, besonders nach den neuen Gesetzen) die Leitung der gesamten Armenpflege übertragen hat, es spricht die Erkenntnis, daß diese Arbeit seinem Amte verwandt und bei ihm wohl geborgen sei. Mit dem genauen Einblick in das Armenhaus und in die Verhältnisse der konstatierten Armen, denen er nachgeht und nachfragt, verbinde er die Gabe, seinen Beirat zur Barmherzigkeit zu erziehen. Es ist dem hartarbeitenden Bauern schwer, vielleicht einem abgehausten und heruntergekommenen Manne, dessen Verhältnisse einst besser gewesen waren als die seinigen, Unterstützung zu bewilligen. Er kann das Wort nicht
| unterdrücken, jeder liege, wie er sich bette, und Bettelbrot schmecke eben doch auch gut. Da muß der Geistliche den Mut finden, zu strafen und die Gabe, zu vermitteln und das natürliche Mitgefühl, das leichter zutage kommen kann, zu vertiefen, muß um persönliche Liebestaten werben, da nicht in jeder Dorfgemeinde eine Krankenpflegerin sein kann, durch die Arbeit der Pfarrfrau zum Verständnis für Liebestätigkeit und zur Nacheiferung reizen, vor sauren Gängen nicht zurückschrecken, dem Umessen („Zechet“) steuern und es einrichten, daß die Armen das Essen auf ihrer Stube bekommen, überhaupt nichts für zu gering achten, daß er sich nicht darum kümmerte. Um Gottes willen, dessen Sohn in den Armen zu erscheinen verheißen hat, nicht nur in den sog. „würdigen“. Daß Armut nicht von Forderungen losspreche und nicht Anrecht auf Forderungen gebe, wird den Armen einzuschärfen sein: Not lehrt eben nicht nur beten, sondern auch fordern. Und das Bauernwort meint, Bettelleute haben alle Tage Kirchweih. Er besuche die Armen, die in Anstalten untergebracht sind, schreibe ihnen auch von dem und jenem, was in der Gemeinde vorgeht, und enthalte sich seinesteils der „Armenleiche“, die durch Grab und Sarg und Mangel an Trauernden gezeichnet genug ist.
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3. Durch die Kirchengemeindeordnung (dies letzte Geschenk des geliebten Regenten Luitpold an sein bayerisches Volk) ist in Bayern dem Vorstand der Kirchenverwaltung neue Arbeit und manche Schreiberei erwachsen, wenn auch das Schreibwerk im Verhältnis zu früheren Jahren wesentlich abgenommen hat, was geschichtlich
| feststellbar ist. Daß die Kirchengebäude würdig und anständig, die Kirchengelder wohl verwaltet und dem Mitsperrer der Kirchenkasse der ihm zugehörige Schlüssel schon zu der eignen Entlastung ausgeantwortet sei, liegt in den nächsten Pflichten. Weniger achtet man auf Altertümer in der Kirche, auf künstlerisch bedeutsame Grabsteine, die nicht gerade zu Brückenübergängen und Türschwellen verwendet sein wollen, auf allerlei Kleinheiten, durch die der Geist der Vorfahren zu uns spricht. Und doch kann hier viel bewahrt und etwas von dem Lichte, das einst geleuchtet hat, in die Gegenwart herüber gerettet werden. Jedes, auch das kleinste Zeichen kann Geschichte lehren, und ihr zu lauschen bewahrt vor Kleinkram, den aus allen Verrichtungen und Verpflichtungen zu bannen des Pfarrers Anliegen sein soll. Es kann die unbedeutendste Arbeit durchgeistigt und die geistig (und geistlich) bedeutsamste veräußerlicht werden.
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4. Das Vereinswesen. Während der Geistliche auf dem Lande mit dem Amte eines Waisenrates und dem eines Aufsichtsrates bei Darlehenskassen vielleicht noch betraut ist (es steht nicht jedem zu Gesichte und ist noch weniger jedem zuträglich), um dann von weiteren Vereinen befreit zu sein, denn an den gemeinnützigen soll er doch nur als zahlendes Mitglied, an „unterhaltenden und belehrenden“ am besten gar nicht beteiligt sein, beginnt mit der Steigerung und Vermehrung des Vereinswesens für den Pfarrer in der Stadt die große Not, die ihn von der Hauptsache abzieht, ihm den gewaltigsten und Hauptforderungen gegenüber die Zeit raubt. Hier ist schwer raten. Denn es muß ja die Kirche freuen,
| und kann auch Gewinn für sie sein, wenn der Pfarrer überall begehrt wird, andrerseits wird sie ihm bedeuten müssen, genau zu fragen, wo die Grenze anhebt. Und diese Grenze lieber enger als zu weit zu ziehen, ist gewiß wohlgetan.
Überall, wo an Stelle des Pfarrers ebensogut und noch besser ein andrer wirken kann, soll er sich ferne halten, also von politischen wie humanitären Vereinigungen, von denen, die künstlerischen Bestrebungen huldigen, wohl auch von den rein sozialen. Es bleiben ja dann noch Besprechungen genug übrig in Diakonissen- und Brüderangelegenheiten, in Fragen der Innern Mission, in Kirchenbauvereinen, in den Vereinen zur Unterstützung der Glaubensgenossen, den Missionsvereinen, den Arbeitervereinen. Kurz, wenn kein Abend mehr dem Pfarrer für sein Haus, Amt und Herz gehören soll, dann ist er übel beraten und seine Gemeinde mit ihm. Gewiß zeigt sich nicht nur der Meister in der Beschränkung, aber noch weniger in der Schrankenlosigkeit. Es ist kein biblisches, aber ein wahres Wort: πᾶσιν ἀδεῖν καλεπόν. Und das Vielerlei zieht von der Stille ab, welche die Ruhe sucht.
5. Mit Vorbedacht ward der
Kirchenvorstand ans Ende gestellt, obgleich er so bedeutsam ist, daß er füglich nicht zu den peripherischen Amtsverpflichtungen gezählt werden darf. Man wird zugeben dürfen, daß die reichlich sechzig Jahre, welche Bayern wenigstens diese freilich nicht genuin lutherische, sondern von der reformierten Kirche bevorzugte und seit 1819 in Bayern ebensoviel verlangte als abgewehrte Einrichtung besitzt,
| sie nicht volkstümlich gemacht haben, wie die Wahlen beweisen, die nur zu gewissen Zeiten und für gewisse Zwecke stärkere Beteiligung finden. Man möge aber nicht glauben, daß dieser beklagenswerte Zustand vom Mangel an Kompetenzen herrührt, in den Städten wenigstens sicherlich nicht. Man wird vielmehr fragen müssen, ob denn die Geistlichen dem Kirchenvorstand Leben eingehaucht haben. Wieviel Anlaß dazu gab es in ruhigen Zeiten, aus denen alte Protokolle oft wertvollen Einblick in das kirchliche Leben (Übung und Reste der Kirchenzucht, Kirchenordnungen, Mitteilungen aus den Volkskreisen in der Landeskirche, Besprechung über Gemeindeverhältnisse) gewähren, wie viel mehr sollte es jetzt geben! Trotz Wuttke und Roskoff ist das Gebiet des Aberglaubens
terra fere incognita. Wird da nicht manche Umfrage noch bedeutsame Aufschlüsse geben? Die Pflege der konfirmierten Jugend, der die Sonntagnachmittage manches treuen Geistlichen, die Sonntagabende mancher Pfarrfrau gehören, liegt darnieder. Sollte nicht den Kirchenvorstehern die Pflicht immer wieder in die Seele gelegt werden, den Lichtstuben zu steuern, wenn sie nicht im Lichte sein wollen und können, und selbst bei dem jungen Volk nach dem Rechten zu sehen? Die grause Entvölkerung durch unheimliche und nächtige Maßregeln nimmt zu: unsre Kirche leidet an ihr. Vor der
Gemeinde kann um der zuhörenden Kinder willen darüber nicht gesprochen werden. Der Pfarrer habe
hier im Kirchenvorstand den Willen, dieses Unwesen zu strafen und die Aufmerksamkeit auf kommende Zeiten zu lenken. – Das Gemeinschaftswesen
| in seiner gesunden, der Kirche Licht und Salz sein wollenden Kraft wie in der schwärmerischen Entartung, die, der Kirche abgünstig, auf ihren Fall wartet, geht durch die Gemeinde, die durch ihre Väter aufgeklärt werden soll. Neue Verbindungen erheben sich, der Kirchenvorstand soll sie auf Recht und Unrecht zu prüfen und zu beurteilen wissen. Je mehr die kirchlich erwählten Vertreter inne werden, daß ihr Pfarrherr ihnen nicht überlästig, sondern treu sein will, und sie ihm nicht zuviel sind, so wenig wie ihm etwas zuviel ist, desto mehr werden sie das Stillschweigen brechen. Rede und Gegenrede erfolgt, besonders wenn die Sitzung nicht zwischen Kirche und Mittagessen, sondern am Abend ist. Es ist wahrlich alles Preises wert, eine Institution zu heben, die im Verborgenen mehr Segen gestiftet hat als man weiß. – Wer freilich den Kirchenvorstand nur als überlästiges und darum überflüssiges Organ empfindet, das sich die Beaufsichtigung des ohnehin genug beobachteten Pfarrers anmaßt und in dieser Anmaßung „von oben“ gestützt wird, der wird ihn nicht heben können. Aber gewiß lohnt sich die Pflege reichlich: der Geistliche ist wahrlich nicht nur der Gebende. Und in den Städten wird oft großzügige, weitgehende Anregung vom Kirchenvorstand ausgehen, die zu nützen und in rechte Bahn zu leiten viel Kraft kostet, aber auch reichen Gewinn bringt. Hier kann der Geistliche wahrnehmen, wie viel trotz allem Abfall und Kirchengegensatz an Erkenntnis der Bedeutung von Kirche und Gottes Wort vorhanden ist, kann in den einfachen wie hochgebildeten Mitgliedern seines Kirchenvorstands alte Erfolge der kirchlichen Bewegungen erkennen
| und sich beraten lassen, indem er rät. Es ist auf dem Lande die große Kunst, gute Rede zu bringen, in der Stadt die noch größere, zuzuhören und zurückzutreten, um doch zur rechten Zeit einzutreten. Wenn der Kirchenvorstand das wird und ist, was er sein soll, müssen seine Sitzungen wie Oasen sein, von denen aus man überschaut und überlegt, in denen man zu neuer Wanderung sich stärkt.