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Der Dichter der „Sturmfluth“

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Textdaten
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Autor: Eugen Zabel
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Titel: Der Dichter der „Sturmfluth“.
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 225, 226
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1877
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Dichter der „Sturmfluth“.


Keine Form, deren sich die schöpferische Phantasie des Dichters bedient, ist so geeignet, ein Culturgemälde des Jahrhunderts zu geben, wie der Roman. Er ist nicht nur die volksthümlichste Gattung der Poesie, sondern kann auch in seinen weitgesteckten Grenzen eine fast unendliche Lebens- und Gedankenfülle zum Ausdruck bringen. Mit Recht betrachten daher alle Talente, die sich nicht mimosenhaft vor der Berührung mit der Gegenwart zurückziehen, sondern frisch aus ihrem Geiste heraus dichten, den Roman als eine jeden bedeutsamen Inhalt willig tragende Form.

Unter den Vertretern des Zeitromans hat Friedrich Spielhagen in wenigen Jahren die seltensten Erfolge erzielt und sich durch die geistreiche Behandlung und graziöse Form seiner Schöpfungen zu einem Lieblinge seines Volkes gemacht. Von all unseren Erzählern erscheint dieser Autor recht eigentlich als der Dichter unserer Zeit, mit deren Verhältnissen und Erscheinungen, mit deren politischem und socialem Ringen er auf das Innigste vertraut ist. Für Spielhagen ist der Einfluß, den die umgebende Welt auf ihn ausübt, kein lästiger Zwang, sondern ein freudiges Behagen. Von der Würde und dem hohen Berufe der Gegenwart auf das Tiefste durchdrungen, hat dieser Schriftsteller seiner Nation einen Spiegel vorgehalten und alle Wandlungen des Volksgeistes, vom unklaren Ringen bis zum herrlich erreichten Ziele, in bleibenden Kunstwerken geschildert. Geleitet von einem sehr deutlich wahrnehmbaren Principe, hat Spielhagen in seinen Romanen die Geschichte eines vollen Menschenalters, von dem tollen Jahre 1848 bis zu dem folgenschweren Ereignisse der modernen „Gründungen“, geschrieben.

Die Reactionsperiode, die bedrohlichen Regungen des Socialismus in Deutschland, die Begründung des Einheitsstaates, die Periode des sinnlosen Schwindels, all diese Phasen in der neuesten Geschichte unseres Vaterlandes hat Spielhagen in seinen Romanen zu großen Zeitgemälden künstlerisch ausgestaltet. Schon bei dem ersten Auftreten des Dichters mußte es als sein eigentlicher Beruf erkannt werden, der Nachwelt das Bild der Mitwelt in dauernden Zügen zu entwerfen. Aber wie haben seine Schöpfungen im Laufe der Zeit an dichterischer Fülle und Gedankenreichtum, an edler Harmonie und künstlerischem Gusse gewonnen! Von Spielhagen’s erstem, mit Recht Aufsehen erregendem Doppelromane „Problematische Naturen“ und „Durch Nacht zum Licht“ bis zu seinem jüngsten Erzeugnisse „Sturmfluth“, der großartigsten Composition, die ihm bis jetzt gelungen, ist sein Talent fast ununterbrochen in ansteigender Entwickelung begriffen gewesen. Aber auch diejenigen Romane, in denen uns hier ein Seitenflügel, dort ein Anbau stören mag, strömen den eigenthümlichen geistigen Dunst aus, der diesen Schriftsteller so hoch über die alltägliche Unterhaltungsliteratur stellt.

Friedrich Spielhagen wurde am 24. Februar 1829 zu Magdeburg geboren. Sein Vater, Regierungs- und Baurath, wurde schon in den nächsten Jahren nach Stralsund versetzt, und


Friedrich Spielhagen.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

hier verlebte Spielhagen seine Knabenzeit, genoß er seine Gymnasialbildung. In dem liebenswürdigen Werke „Aus meinem Skizzenbuche“ hat der Dichter unter dem Titel „In meiner Jugend-Stadt“ dieses Idyll der Kindheit anziehend geschildert. Das dürftige Leben der kleinen Provinzialstadt, die tiefen Eindrücke, welche die landschaftliche Scenerie des Meeres auf das Gemüth des Knaben ausübte, die zu jeder Tages- und Jahreszeit unternommenen Streifereien durch Wiesen und Felder werden so anschaulich erzählt, daß man wohl begreift, wie der Dichter in seinen Romamen Naturschilderungen von so unvergleichlicher Wärme und Treue entwerfen und die Poesie der preußischen Strandgegenden mit so bezaubernder Frische erschließen konnte. Während der Universitätsstudien, denen Spielhagen in Berlin, Bonn und Greifswald oblag, gehörte er einer Burschenschaft an, ohne sich jedoch an dem aufgeregten politischen Treiben der Revolutionsjahre zu betheiligen. Noch völlig unklar über die in ihm schlummernden Keime, wechselte er in seinen Studien, die sich auf Medicin, dann auf Jurisprudenz, zuletzt auf allerlei Humaniora erstreckten, ebenso häufig, wie später in seinem Beruf, da er nach einander Hauslehrer, Schauspieler, Landwehr-Officier und endlich Lehrer am modernen Gesammtgymnasium in Leipzig war. Hier veröffentlichte er seine ersten Novellen „Clara Veré“ und „Auf der Düne“ 1857 bis 1858. Der Erfolg dieser Versuche befriedigte ihn jedoch so wenig, daß er im Begriff stand die literarische Laufbahn aufzugeben, als endlich 1859 die „Problematischen Naturen“ einen glänzenden Erfolg hatten und ihrem Verfasser eine beneidenswerthe Zukunft eröffneten. Sie erschienen zuerst im Feuilleton der „Zeitung für Norddeutschland“, zu deren Redaction er von Leipzig nach Hannover übersiedelte. Im Jahre 1861 zog Spielhagen nach Berlin, um sich auf der Höhe des rasch erworbenen schriftstellerischen Ruhmes nicht nur zu behaupten, sondern denselben auch durch unablässige Thätigkeit fortdauernd zu steigern.

Spielhagen ist stolz darauf, ein Kind unseres Zeitalters zu sein. Wo die Interessen der Neuzeit in’s Spiel kommen, ist es ihm ein innerstes Bedürfniß seinem Volke ein Abbild vorzuhalten, in dem dasselbe seine eigenen Züge, seine Vorzüge und Fehler erkennen kann. Spielhagen ist unerbittlich, wenn es sich darum handelt, diesen Spiegel der Zeit rein und ungetrübt zu erhalten. Als die höchste Aufgabe des Poeten betrachtet er es, die Dinge bei ihrem rechten Namen zu nennen und die Welt zu schildern, wie sie wirklich ist. Keine Schönseligkeit kann ihn veranlassen, die süße Lüge der bittern Wahrheit vorzuziehen, das Laster künstlich zu übermalen, die Heuchelei idealistisch zu verschleiern. Diese natürliche Frische und Lebenswahrheit besitzen Spielhagen’s Figuren aber deshalb, weil sie, um einen Malerausdruck zu gebrauchen, nach Modellen gearbeitet sind. Fast durchweg lassen sich seine Gestalten auf bestimmte Zeitgenossen zurückführen, die demselben als Urbilder gedient hoben. Der Dichter hat seine Charakterköpfe nicht nach allgemeinen Ideen entworfen, sondern aus der [226] unmittelbaren Anschauung abgeleitet. Spielhagen nennt sich selbst mehr einen Finder als einen Erfinder. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um ein nüchternes Abschreiben der Wirklichkeit. Der Poet darf seine Modelle nur benutzen um ihnen selbstständig nachzuschaffen. Diese Fähigkeit besitzt Spielhagen in hohem Grade. Wenn er in’s volle Menschenleben hineingreift, sieht er wohl gewissen Personen und Ereignissen einzelne Züge ab, aber die lebensvollen Gestalten seiner Romane sind doch echt künstlerisch gebildet, da ihnen das Gepräge seines Dichtergeistes aufgedrückt ist.

All diese Vorzüge traten bereits in den „Problematischen Naturen“ in das hellste Licht. Die scharfe Beobachtung von Menschen und Zuständen, der ausgesprochene demokratische Sinn, die mitunter kühne und doch stets anmuthig geschilderte Sinnlichkeit mußten dem Dichter schnell die Herzen gewinnen, und wenn auch die Fortsetzung, „Durch Nacht zum Licht“, den ersten Roman an Prägnanz nicht erreichte, so war doch das Ganze Fleisch von unserm Fleische und Geist von unserm Geiste. Der Held des Doppelromans, Oswald Stein endet bekanntlich auf den Barrikaden. Spielhagen scheint einen solchen gewaltsamen Schluß zu lieben, da er ihn auch in dem Romane „Die von Hohenstein“ (1863) anwendete, wo allerdings der Zusammensturz weniger jäh, dafür aber auch ungleich ergreifender ist. Freilich tritt hier des Dichters Haß gegen den modernen Adel in einer etwas grellen Weise hervor, durch welche die Familie Hohenstein zu einer Reihe erbärmlicher Lumpen gestempelt wird. Wenn auch die Charakteristik der einzelnen Figuren vortrefflich ist, so macht der Haß den Dichter doch blind gegen die Vorzüge der seinen Tendenzen widerstrebenden Partei. Es ist interessant zu beobachten, wie sich auch in dieser Beziehung in Spielhagen’s Dichtergemüth ein Läuterungsproceß vollzog, der ihn befähigte, in seinen späteren Schöpfungen auch seinen Gegnern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In dem großen Werke „In Reih’ und Glied“ (1866) schuf er wiederum ein Werk von gleicher Trefflichkeit des Inhalts wie der Form. Im Anschlusse an die glänzende Erscheinung Lassalle’s, der dem Helden Leo als Urbild gedient hat, entrollt der Roman ein allumfassendes Gemälde der Gegenwart von Farbenpracht und Figurenreichthum. Daß der Mensch seinen Werth erst aus dem Verhältnisse des Einzelnen zur Gesammtheit erhält, daß allein die Ertödtung der Selbstsucht und die gemeinsame Arbeit glücklich macht, bei welcher auch der Größte nur ein gemeiner Soldat sein darf in der Armee der Freiheit, bildet den erhebenden Grundgedanken dieses Musterromans, aus dem die nachfolgenden Geschlechter dereinst das Ringen und die Ziele unsrer Culturarbeit erkennen könnnen. Einen fast noch größern Erfolg hatte der 1869 erschienene Roman „Hammer und Amboß“, der den im Titel angedeuteten socialen Grundgedanken mit feinfühlendem, für die Sache der Humanität begeistertem Sinne darstellt und auf die Gebote gegenseitiger Hülfsbereitschaft und Brüderlichkeit wie auf ein Evangelium der Zukunft hinweist.

Nach dieser gewaltigen Kraftanstrengung machte sich in dem Roman „Allzeit voran“ (1872) eine gewisse Ermattung in Spielhagen’s Schaffen geltend, das sich jedoch unmittelbar darauf in dem kleineren Roman „Was die Schwalbe sang“ (1873) durch die geschickte Verwebung der Fabel und der Charaktere wieder einigermaßen hob. In dem jüngst erschienenen Roman „Sturmfluth“ bietet er uns endlich die reifste Frucht seiner Weltanschauung. Spielhagen hat sich in dieser Schöpfung von allen Einseitigkeiten seiner früheren Erzeugnisse frei gemacht und eine in der Anlage wie in der Ausführung gleich vollendete Leistung hervorgebracht, der sich in Bezug auf Großartigkeit der Composition und Fülle der Gedanken nur Weniges auf dem Gebiete der Romanliteratur an die Seite stellen läßt. Die gewaltige Sturmfluth der Ostsee vom 23. November 1872 mit der durch das Gründerunwesen über unsere wirthschaftlichen Verhältnisse einherbrausenden Sturmfluth zu einem tragischen Gemälde vereinigen zu wollen, war ein Gedanke, dessen Kühnheit nur noch von dem prachtvollen, bei dem Aufbau des Romans bewährten Schwunge übertroffen wird. Bei der Schilderung des socialen Ereignisses und des Naturphänomens verräth Spielhagen seltenen Reichthum an Charakteren, große Mannigfaltigkeit der Begebenheiten in der Architektonik der Dichtung bekundet er eine bewunderungswürdige Meisterschaft. Das Gesetz der Objectivität, welches von dem epischen Dichter verlangt, nicht in eigener Person hervorzutreten, sondern seine Gedanken und Empfindungen in Situationen und Handlung umzusetzen und dem Kunstwerke als organische Glieder einzufügen, wird in diesem Roman bis in die geringsten Kleinigkeiten mit musterhafter Sorgfalt befolgt.

Neben diesen großen Schöpfungen hat unser Dichter sein Talent auch in dem engeren Rahmen einer nicht geringen Anzahl kleinerer Erzählungen bekundet, von denen die früheren, wie „Clara Vere“ und „Auf der Düne“, als poetische Federzeichnungen gelten können, während die späteren, wie „Röschen vom Hofe“, „Hans und Grete“, „Die Dorfcoquette“, an’s Genre der Dorfgeschichten streifen. Daneben hat Spielhagen auch auf dem Gebiete essayistischer Darstellung, namentlich bei der Ausführung literarischer Portraits und der Behandlung ästhetischer Fragen sich als ein Meister gezeigt, durch die Uebertragung amerikanischer Lyriker sich unter den deutschen Uebersetzungskünstlern einen Namen gemacht und endlich auch als Dramatiker theatralische Erfolge errungen, die den Dichter hoffentlich veranlassen werden, sein reiches Talent dauernd der deutschen Bühne zuzuwenden.

So hat sich Spielhagen unter Denen, welchen die Nation den Kranz flicht, durch die Größe seines ursprünglichen Talents, wie durch die liebevolle Hingabe an seine idealen Ziele eine erste Stelle errungen. Der einst wild gährende Most hat sich zu klarem, kräftigem Weine geläutert, an dem sich unsere Zeitgenossen wie die Nachwelt erquicken werden. Von schroffen Einseitigkeiten ausgehend, welche die strotzende Kraft seines Talents bekundeten, ist er, ohne jemals der Fahne echter Volkthümlichkeit untreu zu werden, zur Höhe harmonischer Kunstwerke gelangt, die den Stempel höchster Reife tragen. So heftig das Blut des Fortschritts auch in den Adern des Dichters pulsirt, so fest und unentwegt steht er trotzdem auf dem Boden des Vaterlandes, dem sein Segenswunsch, sein Wollen und Sehnen gehört.

Eugen Zabel.