Der Christabend bei Victor Hugo
[96] Der Christabend bei Victor Hugo. Am vergangenen Weihnachtsabend war große Freude und Bewegung in Hauteville-House auf der Insel Guernesey, dem Wohnsitz des verbannten Dichters Victor Hugo, dessen neueste Schöpfung „Les travailleurs de la mer“ eben die französische Welt in Aufregung setzt. Er hatte nach seiner Gewohnheit wieder alle armen Kinder von Guernesey eingeladen, den Weihnachtsabend bei ihm zu feiern. Draußen herrschte eine scharfe Kälte, aber in dem großen Saale brannte ein lustiges Feuer in zwei mächtigen Kaminen und um die reichlich gedeckte Tafel drängten sich etwa dreißig muntere Kinder von allen Altersstufen, die kaum zu essen vermochten vor freudiger Erwartung.
Nach der Mahlzeit wurden die kleinen Gäste aus dem Speisesaale in einen Nebensalon geführt, wo das Dessert aufgetragen war, und was für ein Dessert! Es bestand aus den köstlichsten englischen und französischen Leckereien, vom substantiellen Pudding bis zu den feinsten Bonbons, und daneben waren Trauben, Aepfel, Apfelsinen, Feigen, Datteln, Mandeln aufgehäuft – kurz Alles, was ein Kinderherz entzücken kann. Währenddem waren die Erwachsenen eifrig im Billardsaale beschäftigt, auf dem Billard die Geschenke für die Kinder auszubreiten, welche in Kleidungsstücken, Büchern und Spielsachen aller Art bestanden.
Nun rief man die Kleinen herein, an deren Glückseligkeit sich nicht blos der edle Geber mit seiner Familie, sondern auch die Eltern der Beschenkten, falls diese nicht etwa Waisen waren, sowie einige der Bewohner von Guernesey erfreuten. An diese richtete der Dichter zum Schluß folgende Worte:
„Mehrere englische und ausländische Journale erweisen mir die Ehre, dieses alljährlichen Festes bei mir zu erwähnen, welches sie als eine edle That meinerseits schildern. Dies ist jedoch nicht der rechte Name dafür – es ist nicht einmal eine gute Handlung, sondern ganz einfach die Erfüllung einer Pflicht, der Pflicht jedes leidlich wohlhabenden Mannes gegen die, welche nichts haben. Nicht einmal die Idee dazu ist von mir ausgegangen, ich habe sie nur aus dem erhabenen Beispiele Jesu geschöpft, der da sprach: ‚Lasset die Kindlein zu mir kommen!‘ Er wollte damit zugleich sagen: ‚Lasset die Kinder der Armen in die Wohnungen der Reichen eintreten!‘ Uebrigens giebt es nach meiner Ansicht überhaupt keine Reichen: Gott giebt den Menschen nichts, er leiht ihnen nur. Seine Wohlthaten sind es, die mir heute gestatten, den Aermeren meine Thür zu öffnen.
Es giebt zwei Arten von Reichthum – den äußeren und den inneren. Der äußere Reichthum ist das Geld; der innere ist die Gesundheit für den Körper und die Sittlichkeit für die Seele. Der äußere Reichthum vergeht und schwindet, der innere bleibt. Wir können den Armen nicht unseren ganzen äußeren Reichthum geben, aber es ist unsere Pflicht, ihnen Gesundheit und Sittlichkeit zu geben. Wenn wir ihre physischen Verhältnisse bessern, wird ihre moralische Erziehung auch dadurch gehoben, denn die Seele wächst mit der Kraft des Körpers.
Für alle Religionen giebt es einen gemeinsamen Glauben – den an Gott. Für alle Menschen giebt es eine gemeinsame Liebe – die zu den Kindern. In diesem Glauben und mit dieser Liebe haben wir uns heute hier versammelt. Nur der Zufall der Geburt hat diese Kinder arm gemacht – und das Weihnachtsfest existirt blos für reiche Kinder. Das darf aber nicht sein. Wenn es im Leben eines Kindes keine Freuden giebt, so bleibt eine Leere in seinem Dasein, unsere Aufgabe sei es, dieselbe auszufüllen!“
Nach diesen schönen, tiefgefühlten Worten war der Dichter wieder heiter wie ein Kind mit den anderen Kindern. Möchte sein Beispiel viele Nachahmer finden!