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Der Brautschautag in Rußland

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Textdaten
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Autor: Leon Alexandrowitsch
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Titel: Der Brautschautag in Rußland
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[356] Der Brautschautag in Rußland. Alljährlich am zweiten Pfingstfeiertage wird in den größeren Städten im Innern des russischen Reichs, welche sich noch, wie Moskau, Charkow, Kiew, Kursk etc., ihre nationalen Eigenthümlichkeiten bewahrt haben, ein heiteres Fest gefeiert, an dem die Jugend beiderlei Geschlechts mit besonderem Vergnügen Theil nimmt, das Fest der Brautschau.

In einem der innerhalb oder doch nicht weit von der Stadt entfernt gelegenen öffentlichen Gärten versammeln sich um die sechste Nachmittagsstunde die Eltern mit ihren heirathsfähigen Töchtern. Vater und Mutter gehen, scheinbar harmlos, spazieren, die Töchter mit ihnen. Letztere sind im höchsten Staate, mit Schmucksachen jeder Art geradezu beladen, sodaß man schon aus diesen den Reichthum der Trägerinnen zu erkennen vermag. Hinter ihnen geht die sogenannte Vermittlerin einher, meistens eine ältere Verwandte des Hauses, oft auch eine nur für diesen Tag engagirte Person. Zahlreiche junge Männer finden sich gleichfalls im Garten ein, theils solche, welche das Ganze nur als einen lustigen Zeitvertreib betrachten, theils aber auch solche, welche ernste Absichten haben. Auch sie wandern scheinbar harmlos auf und ab, mustern dabei aber genau die jungen Damen. Gefällt ihnen eine besonders, so genügt ein Wink an die Vermittlerin – und sofort biegt diese, wie zufällig, in eine Seitenallee ein. Namen, Charakter, Vermögensverhältnisse etc. der Schönen werden nun sicher erkundet, wenn auch all dies von der dienstbeflissenen Vermittlerin nicht selten in allzu rosiges Licht gestellt werden mag. Sagt das Vernommene dem Heirathslustigen zu, so macht auch er Eröffnungen über seine Person, Verhältnisse und Absichten und sofort beginnt die Agentin ihr Geschäft als „ehrliche Maklerin“; sie ist sehr klug: vielleicht sichert ihr irgend ein Paragraph 5 im Heirathscontract gewisse Procente zu. Das Resultat ihrer Thätigkeit besteht dann gewöhnlich darin, daß der Freier für den kommenden Sonntag in eine Kirche bestellt wird, damit ihn Eltern und Tochter sehen können. Bei hübschen Mädchen bleibt es übrigens in der Regel nicht bei einem Freier, sondern es werden zumeist mehrere in die Kirche bestellt. Finden die strengen Augen der weiblichen Richter an dem Bewerber Wohlgefallen – man behauptet hier, je älter die Tochter, desto milder ihr Urtheil; aber dies ist wohl Verleumdung – so wird Papa gebeten, denselben zu Mittag einzuladen, worauf es dann der Gewandtheit des jungen Mannes überlassen bleibt, zum Ziel zu kommen.

Auch hierbei ist ihm wieder die Vermittlerin nothwendig; denn durch sie erfährt er die kleinen Charakterzüge seiner Wirthe, nach denen er sich bei seinem ersten Auftreten zu richten hat, so z. B. ob Herr Iwan Iwanowitsch nur ein nüchterner Geschäftsmann ist, oder ob er auch liebt lange zu Tisch zu sitzen und der Flasche zuzusprechen, ob die Gattin Praskowia Petrowna es gern hat, wenn man sie selbst noch als junge Frau betrachtet und ihr huldigt, oder ob sie in mütterlicher Uneigennützigkeit es vorzieht, wenn man sich nur mit ihrer Tochter beschäftigt, und ob Letztere, Sseraphima Iwanowna, heiter oder sentimental ist, ob sie Clavier und Kunst dem Geschäft und der Wirthschaft vorzieht.

Viele, oft recht glückliche Ehen werden alljährlich auf diese Weise geschlossen, weshalb denn die Vermittlerinnen sehr gesuchte Persönlichkeiten sind, auf deren Hülfe oftmals schon mehrere Monate vor dem Brautschautage abonnirt wird. Wenn ich übrigens anfangs sagte, daß diese Sitte hauptsächlich in den echtrussischen Städten noch besteht, so ist sie deshalb in den mehr kosmopolitischen Orten des Reichs durchaus noch nicht erloschen, wovon man sich, wenn man die Augen offen hat, alljährlich in Petersburg und Odessa überzeugen kann.

Petersburg, im Mai 1882.   Leon Alexandrowitsch.