Zum Inhalt springen

Der 3. Glaubensartikel/Jes. 33. In welcher Christenheit er mir und

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
« Röm. 11, 33–36. Gleich wie er die ganze Christenheit Hermann von Bezzel
Der 3. Glaubensartikel
[[Der 3. Glaubensartikel/|]] »
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).
|
 Jes. 33.
 In welcher Christenheit Er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergibt und am jüngsten Tage mich und alle Toten auferwecken wird und mir samt allen Gläubigen in Christo ein ewiges Leben geben wird. Das ist gewißlich wahr.








 Damit schließt die Auslegung des dritten Glaubensartikels, damit schließt alles, was Glauben heißt im Himmel und auf Erden, der Glaube im Himmel: all der Heiligen und Vollendeten, die auf uns warten; der Glaube auf Erden: all der Kämpfenden und Streitenden, die nach der Heimat verlangen. Das ist gewißlich wahr. Mit diesen Worten will uns der Lehrer unserer Kirche, der treue Seelsorger, der aus Zweifelsnächten zur überschwenglichen Freude des Christenbesitzes hinangelangt ist, ins Herz schreiben, daß unser Glaube nicht ein künstliches Vielleicht, nicht ein schwärmerisches Gewiß, nicht ein fragendes Etwa, sondern ein wunderbar abgeschlossener Besitz ist, ein Reichtum, der umso größer wird, je mehr man sein braucht. Hört ihr nicht, wie hinter diesen beiden Worten: „das ist gewißlich wahr“ Einer steht, der Seine Hand emporhebt: „Ich schwöre bei Mir Selbst und soll Mich nicht gereuen“ (Ps. 110, 4), Einer, Der Sich in der Offenbarung den treuen Zeugen (Off. 1, 5) heißen läßt.

 Ach, wenn wir nur mehr Mitleid mit den vielen Tausenden hätten, die umhergehen und auf Menschenwort sich verlassen und Menschenmeinung vertrauen und immer das Neueste für das Wahrste halten, während wir ein festes und prophetisches Wort haben. Ach, wenn ihr nur selbst mehr dafür danken wolltet, daß hinter eurem gesamten Glaubensleben Der steht, Der es angefangen hat, Jesus der Christ, Der in der Vergangenheit den| Grund legte, in der Gegenwart ihn bewahrte und bewährte und in der Zukunft ihn herrlich erweist. Geht es nicht durch eure Seele wie ein Jauchzen, daß ihr nicht von noch so klug und schön und artig ausgesonnenen Kirchenlehren und nicht von den Glaubenssätzen der Väter abhängig seid, sondern von der einfachen Tatsache Dessen, Der der Anfänger und Vollender des Glaubens ist. Im lateinischen Text unseres Katechismus heißt es: „Dies ist überaus sicher wahr“. Du kannst darauf schwören, du kannst darauf leiden, du darfst darauf alles wagen und in der Stunde, wo dich alle Wirklichkeiten verlassen und alle Größen erblassen, kann deine erkaltende Hand diese Worte umschließen und deine zagende Seele zu ihr selbst sprechen: „Weicht, ihr Trauergeister, denn mein Freudenmeister, Jesus, tritt herein!“
.
 Das ist gewiß wahr. Ich weiß nicht, ob das nicht die größte Meisterschaft des Feindes ist, daß er dem Schein Wahrheit und der Wahrheit Schein verleiht, daß er zu den trügerischen Schaumwellen, die das Schifflein des Lebens umkräuseln, spricht: Das ist Friede, während er an dem Friedenshort und ewigen Felsen des Heils das Schifflein langsam vorbeigleiten läßt. Ich weiß nicht, ob das nicht für unsere Seele die größte Angst ist, daß sie aus dem einfachen Glauben an die Wahrhaftigkeit Jesu Christi entfällt. Seht, die Wahrheit Jesu ist kein Lehrsatz, ist kein Erfahrungssatz, sondern ist eine Lebensfrage. Wenn Er nicht wahr ist, dann ist Er auch nicht wirklich, dann ist mir’s auch ganz gleichgültig, ob es einen persönlichen Jesus gegeben hat oder ob Jesus ein Sammelname für alle guten Eigenschaften ist. Dann kann ich einfach das alles hinlegen und sagen: „wenn mein Heiland nicht wahr ist, dann ist Er eben auch nicht mein wahrer Heiland, dann sind meine Wunden nicht verbunden und mein Leben ist nicht geheilt und mein Leid nicht getröstet, und dann kann ich auf einen anderen warten oder verzweifeln, daß je ein anderer kommt“. – Wenn ich so lese und sehe, mit welchem Scharfsinn| sich die Leute mühen, Jesum allerlei Irrtümer nachzuweisen, aufzuzeigen, daß Er in dem und jenem Stück befangen war, dann muß ich sagen: was hilft mich das alles? „sie haben mir meinen Herrn genommen und ich weiß nicht, wo sie Ihn hingelegt haben.“ (Joh. 20, 13.) Und wem über diesem Leid nicht das Herz bricht, der weiß eben nicht, was es heißt, von dem Treuesten enttäuscht zu werden. Gestern um diese Zeit stand ein armes, altes Menschenkind vor mir und teilte mir mit beweglichen Worten mit, daß ein Mensch, dem das Vertrauen ihres langen Lebens gehört hatte, es grundmäßig getäuscht habe und nun habe sie allen Glauben verloren. Und ich sagte ihr: „Hat auch Jesus Sie getäuscht?“ Dann wollen wir miteinander den Tod suchen; denn das Leben ist dann nur eine große Narrheit. Jesus – das wagte sie nicht zu sagen –, Jesus täuscht nicht. Das ist gewiß wahr.

 Ihr dürft nur nicht mit der Voraussetzung an Ihn herantreten, daß Er täuschen muß. Ich weiß wohl, zu den größten Geistreichigkeiten gehört die absolute Voraussetzungslosigkeit. Wer ein wenig nachdenkt, wird mir zugeben, daß diese Voraussetzungslosigkeit die allergrößte Voraussetzung ist. Indem ich voraussetzungslos an den Jesus meiner Kirche herangehe, habe ich bereits die Voraussetzung, daß Er wie ein anderer beurteilt und behandelt zu werden nicht nur verdiene, sondern bedürfe. Nein, im 119. Psalm heißt es: „Zuvor aber weiß ich, daß deine Zeugnisse ewiglich gegründet sind.“ (Ps. 119, 152.) Zuvor, mit der Voraussetzung gehe ich an Jesus heran und die Voraussetzung wird nicht zuschanden. Darum rufe ich eurer Seele zu: „Der Himmel eures Lebens wird vergehen, die Sterne eures Lebens werden verlöschen und die Erde wird euch betrügen: laßt’s fahren dahin, sie haben’s kein Gewinn; Er ist wahr.“

 Das ist gewiß wahr. Was ist gewiß wahr? Erstens: daß Er mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich oder, wie es der lateinische Katechismus übersetzt, gütig| vergibt, daß Er mir an jedem Abend, wenn meine Rechnung nicht stimmt, wenn die Einnahme der Gnade und die Ausgabe meiner Freundlichkeit so gar nicht sich deckt, wenn ich die 10000 Pfund in unbewachten, unbenützten Augenblicken vergeudet habe auf der einen und verschleudert auf der andern Seite, einen großen Strich durch die Rechnung macht und darunter schreibt: „für ihn bezahlt“, daß Er jeden Abend die Summe meiner Leerheiten mit Seinem allerheiligsten persönlichen Wesen erfüllt und die Klagen des scheidenden Tages mit Seiner huldreichen Fürbitte schweigt und alle Zeugnisse meines alten Widersachers und Verklägers herrlich zurücktreibt und an jedem scheidenden Tag zu Seinem Vater sagt: „Laß ihn noch einen Tag stehen und noch den andern“ (Luk. 13, 8), „nimm ihn nicht weg in der Hälfte seiner Jahre!“ (Ps. 102, 25.) Das ist gewiß wahr. Und daß Er jedem Streiter, der sein junges Leben zum Opfer bringt, wenn die suchende Seele in der Stunde des Scheidens zu den Bergen der Hilfe flieht und der einzelne Geist in der Eile des Fortgehens Seines Gewandes Saum umfaßt: „Rette mich von meinen Widersachern!“ (Luc. 18, 3) – ihm die Hand auflegt und spricht: „Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.“ (Matth. 9, 2.) Und daß Er, so gewiß Er in der Nacht des Verrates unaussäglich litt und in der Stunde der Gottverlassenheit Seines Vaters Himmelreich verlor, mich aus der eisernen Gewalt meines ärgsten Feindes, der mich an sein Herz drückt: „Du bist mein, ich habe dich betrogen“ – herausreißt und spricht: „Weichet von ihm, er ist Mein, denn Ich habe ihn erkauft und getauft und erlöst und erworben und gewonnen.“ Das heißt, daß Er mir täglich alle Sünden, nicht kärglich, nicht ärmlich, nicht mit trübem Blick, sondern mit überquellender Gütigkeit vergibt. Und wenn ich jeden Abend sagen müßte: „Wiederum ein Tag vollbracht, wiederum ist’s Nacht geworden und ich hatte niemals acht, daß du bist mein Herr geworden,“ wenn ich an jedem Abend sagen muß: „Den Tag habe| ich verloren; ach, daß er mir nicht in der Ewigkeit als eine Klage begegnete!“ – ist Sein letztes Wort: „Allen Seelenschaden decke ich jetzt in Gnaden mit meinem Purpurmantel zu.“ – Sind das Träume? Dann sind es Träume von Gold. Sind das fromme Gedanken? Dann sind es Gedanken, von denen wir wünschten, sie möchten wahr sein. Aber es sind nicht Goldträume und nicht fromme Gedanken, es sind die Tatsachen. Ich falle zu Seinen Füßen nieder als ein Toter, und Er legt Seine Hand auf mich und spricht: „Fürchte dich nicht, Ich habe überwunden.“

 Seht, und am meisten nehmt zu Herzen das Wörtlein „gütig“, reichlich, ohne Nachrechnen, ohne Feilschen, ohne die Angst, es möge Ihm die Geduld ausgehen, immer wieder gütig. Jeder andere würde sich einen Abend vornehmen, an dem er dir die Türe weist: es ist jetzt genug. Und jeden Abend öffnet Er die Türe seiner Barmherzigkeit: Komm her zu Mir!

 Nach der Schlacht bei Leipzig hat Goethe, der in Napoleons Person undeutsch verliebt und verloren war, das Wort geprägt: „Der Mensch erfährt, er sei auch wer er mag, ein letztes Glück und einen letzten Tag.“ – Aber der Christ erfährt nie ein letztes Glück und einen letzten Tag. Denn jeden Abend heißt es: „Wo Vergebung der Sünde ist, da ist Leben.“

 Und noch ein Wort: In welcher Christenheit Er mir und allen Gläubigen. Wenn ich jetzt – ich kann es nicht und wenn ich könnte, ich dürfte es nicht und wenn ich es dürfte, ich wollte es nicht – wenn ich jetzt die einzelnen fragen würde: Was dünkt dich um Jesum? so würden die wundersamsten Vorstellungen zutage treten. Denn den allermeisten Christen fehlt es am Katechismusunterricht, die allermeisten leben von Gefühlen und nicht von Kraft. Aber in dem einen würden wir uns alle verstehen: mir und allen Christen vergibt Er täglich die Sünde, und das genügt. Wenn ich einen Menschen treffe, der zu mir sagt: „Jesus| hat meine Sünde getragen“, dann ist er mein Bruder. Wenn mir eine Seele ganz einfach gesteht: „Ich weiß, daß Er die Fesseln, ob es schwere oder leichte, ob es eherne oder ob es seidene sind, von meiner Hand gestreift“, dann kann ich zu ihr sagen: „Ich danke dir für diese Glaubensstärkung; also habe ich mich nicht getäuscht, du hast dasselbe erfahren: Jesus nimmt die Sünder an.“

 O, meine Christen, die Gemeinschaft, daß drei oder vier Menschen auf diesem Satz einander begegnen, das ist die Kirche. Die Kirche ist die Gemeinschaft derer, die von der Vergebung leben als ihrem täglichen Brot. So wenig wir einander im einzelnen gestehen, womit wir jetzt in dieser knappen Zeit unser Leben fristen, so wenig wollen wir im einzelnen erzählen, wie uns die Vergebung der Seele Leben erhält. Aber das müssen wir immer wieder sagen: „Ich kann es nur Erbarmung nennen, so ist mein ganzes Herz gesagt.“ In dieser Christenheit vergibt Er mir täglich alle Sünden reichlich. Täglich, reichlich, alle.

 Und am jüngsten Tage – das ist die zweite große Wahrheit – wird Er mich und alle Toten auferwecken. Am jüngsten Tage! Ich höre deine Stimme, ich kenne sie: Ach, wie lange, bis der jüngste Tag kommt. Jahrtausende ziehen vorüber, unsere Gräber haben bis zum jüngsten Tage Generationen aufgenommen, unser Staub hat sich, wer weiß mit welchem Staub vermengt, und der jüngste Tag ist immer noch nicht da. O, es gibt keine größere Naivität im Leben, als wenn man die Vorstellungen der engen Zeit in die Zeitlosigkeit überträgt. Das ist eben die Zeitlosigkeit, daß sie nicht Zeit ist. Wenn du einmal gestorben bist, gibt es für dich kein lang und kein kurz mehr; denn dann wird eben die Zeit, dieses enge Gefäß, das dein Leben birgt, zerbrochen; du hast auch keinen Raum mehr, die Seele des Abgeschiedenen ist allgegenwärtig wie der Sonnenstrahl und der Hauch der Luft und dabei doch entweder im Frieden Gottes oder im Unfrieden des Feindes. Nein, es wird nicht lange währen, der| jüngste Tag ist in einer Kürze da. Sobald die letzte Minute für mich ausgeschlagen hat und zum letztenmal der Zeiger für mein Leben den Umlauf vollendet, sobald werde ich nicht mehr von der Zeit beherrscht sein, und die Frage: wann kommt der jüngste Tag? wird seine schnelle Beantwortung sehen in einer Kürze, in ganz anderer Weise als du denkst.

 Der selige Abraham Strauß von Iserlohn, ein Mann, der einst durch seinen Glauben, wie durch seine Kindlichkeit in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts vielen ein Wegweiser zur alten Wahrheit geworden ist, hielt mit einem jungen Amtsbruder einst ein langes Gespräch über die Ewigkeit, und das Gespräch verzog bis um Mitternacht, und beide schliefen in dem Gespräch ein. Und als sie wieder erwachten, sagte Strauß: „So wird es sein, wenn wir gestorben sein werden. Man wird sagen: ist’s denn so spät, ist’s denn so früh?“ – Ach, laßt’s euch nicht anfechten, wenn die bange Todesnacht auch euch Gedanken macht und wenn der jüngste, das heißt der letzte Tag, der große Frühlingstag, verzieht zu kommen, den Abgeschiedenen kommt er überraschend schnell und überraschend froh.

 Er wird mich und alle Toten aus dem Grabe auferwecken, wo auch mein Grab sein mag, auch mit dem einzigen Wort, mit dem Wort Seines göttlichen Werde, mit dem Ruf, durch den und auf den der Staub sich in Herrlichkeit wandelt, mit dem Frühlingsgruß, mit dem Er alljährlich die Erde verneut, wird Er auch unser Grab grünen lassen, daß wir froh des neuen Lebens unsere Seele mit Ihm verbinden. Allen! Und mir samt allen Gläubigen in Christo ein ewiges Leben geben wird. Wenn die Auferstehung der Toten eintreten wird, wird es kein Ende mehr geben; denn die Erde ist ganz in diese Auferstehung mit hineingenommen, denn „ich sehe einen neuen Himmel und neue Erde“ (Off. 21, 1). Ihr müßt glauben, daß in der Stunde, in der Er den Einzelleib erweckt, auch der Gesamtleib der Erde und der Sterne| und des Himmels und der Elemente und aller Kreaturen neu geschaffen sein wird, derselbe Leib, nur neu. Nicht ein neues Leben wird geschaffen, sondern ein Leben wird neu geschaffen; das ist der Unterschied. Und wenn nun alles, was tot war, um des unvertilgbaren Lebensverlangens willen und um der großen Tat des Lebensfürsten willen in ein neues Leben gehoben und gewandelt sein wird, dann wird endlich die Scheidung zwischen Dunkel und Licht – ein Zwielicht gibt es dann nicht mehr –, die Scheidung zwischen Tod und Leben – ein Übergang ist dann nicht mehr vorhanden –, die endliche Trennung zwischen all den Gedanken, die zu Gott wollen, und all den Gedanken, die Ihn verwünschen, eintreten. Dann werden auf der einen Seite alle, alle Kreaturen, nicht bloß die Menschen, stehen, die Gott von Anbeginn ins Sein gerufen hat. „Nach Dir, Gott, verlanget mich, mein Gott, ich hoffe auf Dich!“ (Ps. 25, 1.) Dann wird die große Heimatklage in den brausenden Chor der Heimatfreude sich wandeln und alles, was ohne Gott sich leidvoll, trostlos bekannte, wird in Gott blühen und grünen und froh sein; denn Er hat ein Neues geschaffen. Mit einem Wort: die Hoffnung ist dann Besitz und das Heimweh hat dann sein Recht. Und die anderen, die Kreaturen, die Menschen, die Dinge, die Elemente, die Engel, denen Gott ein Greuel war, alle die, die den Gedanken an Gott von Jahr zu Jahr weiter von sich schoben, um dann in ihrem letzten Ende die Selbstverzweiflung schon äußerlich darzustellen, und die alle, alle, die Gott von Seinem Thron stießen, was wird mit ihnen sein? Sie werden auch leben, leben in der Wahrheit, kein Scheinleben, es wird ein volles, starkes, bewußtes Leben sein, aber freilich ein Leben, da jede Minute eine neue Qual und jede Stunde ein neuer Schrecken ist. Dann aber werden sie, sagt der Herr Jesus, anheben zu sagen: „Berge, fallet über uns, und Hügel, decket uns!“ (Luc. 23, 30.) Das wird ihr erster Eindruck sein und der wird sich immer mehr vertiefen; denn in die Sonne sehen| müssen, ohne das Auge der Sonne zugewendet zu haben, in die volle Sonne sehen sollen, ohne sonnengewohnt zu sein, das ist der Tod, der Tod im Leben. Ihr wißt, wenn man die herrlichste Glocke, die Domglocke von Köln, in einem luftleeren Raum läutet, hört man keinen Klang, man sieht nur die Bewegung der Glocke, man hört nichts. So wird es der Seele sein. Alle Trostworte Gottes, alle Friedensgrüße Jesu, alle wundersamen Erquickungen des heiligen Geistes wird sie hören und spurlos wird alles an ihr vorüberrauschen.

 Es sieht der reiche Mann das Glück des Lazarus, und dadurch wird sein Unglück noch gemehrt. Ach, den ewigen Tod sich ausmalen ist sehr wohlfeil, es gibt auch eine Wollust des Schmerzes. Die ewige Höllenpein sich ausschildern, bis ein gelindes Grauen die Seele wohltätig überrascht, ist faul und feig. Aber deshalb spricht Jesus die Wahrheit so furchtbar ernst von jenem Tage, da Er majestätisch die einen Kreaturen zu Seiner Rechten und die anderen zu Seiner Linken scheidet, daß jeder von uns täglich die Hände faltet und spricht: „Setze mich zu Deiner Rechten, scheide mich von allem Schlechten, zähle mich zu Deinen Knechten!“

 Es gibt eben ein Doppeltes: an Jesus hellste, hehrste, heiligste Freude: ich bin bei Jesus und daheim! und – furchtbarstes Los: tue weg den Anblick des Nazareners, ich kann Ihn nicht sehen! – Und das Bild des Heilandes bleibt. Der Wunsch einer von Gott geschiedenen Seele, daß Jesus nicht mehr erblickt werden müßte, damit endlich die Seele sterben kann, wird nie erfüllt. Durch die Ewigkeiten ragt, mit dem heiligen Ernst der Wahrheit, in ein unwahres Leben das Bild Jesu Christi: Du mußt Mich ansehen, weil du es nicht willst!

 Er wird am jüngsten Tage alle aus dem Tod zu Leben erwecken. Ja, wenn es nur ein Leben wäre, das sich selbst verzehrt! Ludwig Richter in seinem Lebensbild erzählt einmal, was es für einen Eindruck auf ihn gemacht habe, wie er als Knabe ein| Schauspiel ansah und wie dort der arme verdammte Engel gesagt habe, als man ihn fragte, ob denn die Hölle gar so schauerlich sei: „O lieber Herr Doktor, wenn ich eine ewige Leiter hinaufsteigen müßte und jede Sprosse wären tausend Messer und ich käme an der obersten Sprosse ganz zermalmt an und es sagte jemand zu mir: jetzt bist du genesen! ich wollte diese Sprossen emporjauchzen.“ Das ist es, daß man leben muß, ohne zu wollen. Ja, wenn das Leben der Verdammten sich selbst aufzehrte, daß man sagen könnte: in 50000 Jahren ist’s vorbei, wunschlos, wesenlos, willenlos zerrinnt dann dein Leben im Sande, es ist vorüber, so würden sie diese 50000 Jahre wie einen Traum hinleiden: es kommt ein Ende, es kommt ein Schluß des Leidens. Aber, hört was Luther sagt, dieser Doktor misericordiae: „Diese Lehrer des Erbarmens täten gut daran, wenn sie mehr in der Zeit vom Ernst der Hölle sprächen, als daß sie bei der Ewigkeit den Ernst der Hölle vermindern.“ Wir aber wollen nicht weiter davon reden, weil auch das Ärgste nicht schrecklich genug und das erfindungsreichste Wort nicht an die Wahrheit hinanreicht. Wir wollen nur das eine bitten: „Gib, daß jeder dahin kommen mag, wo tausend Jahre wie ein Tag; in Gnaden aber mich davor bewahr, wo ein Tag wie tausend Jahr!“
.
 „Er wird mir und allen in Christo“ – denn so gehört es zusammen – „ein ewiges Leben geben“, und dann kann ich endlich einmal leben, ohne die Angst zu haben, daß mir’s an Kraft gebricht, und dann kann ich endlich einmal arbeiten, ohne die Furcht zu haben, daß mir der Feind die Arbeit verwirrt. Und dann kann ich endlich einmal von Herzen reden, ohne mich sorgen zu müssen, Mißverständnis zu erwecken oder zu erfahren. Und dann kann ich endlich einmal mich ganz geben, wie ich bin, weil ich geheiligt und vollendet und verklärt bin. Und dann kann ich endlich einmal mit Recht mein eigenes Ich sein, brauche weder Selbstbeherrschung noch Selbstverleugnung| mehr, denn ich bin im Frieden. Denkt euch, wie müßt ihr euch jeden Tag quälen, ihr Gebildeten, um euch selbst zu beherrschen, ihr Einfachen, um in dieser Selbstbeherrschung fortzuschreiten, ihr alle, um euch selbst zu beherrschen; und all die Unnatur hört auf.

 Ja, was kein Auge gesehen hat, auch an Jesus, und was kein Ohr auf Erden erlauscht hat, das einfache, klare, gute Wort, und was in keines Menschen Herz gekommen ist, das Finden im eigenen Ich, das hat Gott denen bereitet, die Ihn lieb haben.

 Und nun laßt mich am Ende noch einmal sagen, wenn statt alles dessen, was diese Abendstunde vor eure Seele führte, einer käme und sagte: es ist alles Lug und Trug, Sündenvergebung ist Wahn, denn es gibt keine Sünde, Sünde ist nur der Traum einer herrschsüchtigen Pfaffenwelt! – die einfachste Lösung des Problems – und wenn er weiter sagte: es gibt keine Auferstehung, mit dem Tod ist es vorüber, die Flamme verlischt, es ist vorbei, und wer an ein ewiges Leben glaubt, der kann höchstens an ein ewiges Leben der Menschheit glauben, daß es nach 20000 Jahren auch noch Menschen geben wird – wenn einer euch das sagte, dann frage ich euch aufs Gewissen: „Habt ihr darum gelebt, geliebt, gelitten, verzichtet, euch in Zucht genommen, daß am Ende wie ein zerbrochener Krug euer Leben zerfalle und der Inhalt des Kruges in den Sand versickere? oder habt ihr dazu gelebt, daß Er euch endlich einmal annehme, von Dem ihr so viel gehört und gelesen und gelitten, an Dem ihr so viel geliebt und gelobt habt?“ Ich hoffe, ihr werdet sagen: „Mein ganzes Leben ist doch von dem einen Gedanken beherrscht, daß ich Gottes froh werden kann. Meine Seele ist ein einziger Gedanke nach Gott und Gott ist der einzige Gedanke meiner Seele!“ Ich glaube, ich würde antworten, sie sei ein Gedanke Gottes und Gott ein Gedanke der Seele, die beiden müssen zusammenkommen. Und an dem Tage, an dem der Herr Jesus Gottes Hand in meine Hand legt, habe ich meines Lebens Fülle erreicht.

|  Für diese Entscheidung segne euch der ewige treue Gott mit einem Wiedersehen, das alles Denken übersteigt. Und der Heilige Geist werde gepriesen, Der in das Menschenleben die Gewißheit eingesenkt hat, daß Sterben Schein und Leben Wahrheit sei.
Amen.



« Röm. 11, 33–36. Gleich wie er die ganze Christenheit Hermann von Bezzel
Der 3. Glaubensartikel
[[Der 3. Glaubensartikel/|]] »
Für eine seitenweise Ansicht und den Vergleich mit den zugrundegelegten Scans, klicke bitte auf die entsprechende Seitenzahl (in eckigen Klammern).