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Delius (Paul Bekker)

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Textdaten
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Autor: Paul Bekker
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Titel: Delius
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aus: Pariser Tageblatt, Jg. 2. 1934, Nr. 188 (18.06.1934), S. 4
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Erscheinungsdatum: 1934
Verlag: Pariser Tageblatt
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Erscheinungsort: Paris
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Delius


Die Meldung von Frederick Delius’ Tode ist zwar durch die Weltpresse gegangen und überall mit einigen respektvollen Worten kommentiert worden. Aber gerade diese Kommentare zeigten, wie wenig die meisten der Schreibenden eigentlich von Delius wussten. Dem Publikum vollends war er günstigenfalls ein Name, mit dem es selbst dann noch nicht viel anzufangen wusste, wenn die Titel einiger Hauptwerke hinzugesetzt wurden. Sogar unter denen, die sein Schaffen kannten, mag es manchen gegeben haben, der erst aus der Todesmeldung ersah, dass Delius, wenn auch seit Jahren erblindet und völlig gelähmt, bisher überhaupt noch gelebt hatte.

So könnte man denken, dass in einer harten, zu besinnlichem Verweilen nicht geeigneten Welt diesem nun endgiltig erloschenen Wert mit der achtungsvollen Registrierung Genüge getan sei. Wer nicht die Kraft besitzt, sich dauernd oben zu halten, der versinkt eben wieder in der grossen Flut. Aber der Fall liegt hier anders. Es war nicht Mangel an Kraft, zum mindesten nicht an Schöpferkraft, der Delius behinderte. Es war der besondere Typ Mensch, den er vorstellte. Er stand zwischen den Generationen, er stand zwischen den Nationen. Es war ein Typ, für den die streng rubrizierende Gegenwart kein Schubfach hat und der eben deshalb für uns heut von besonderer Bedeutung ist. Delius war ein Europäer. Vielleicht war er in der Musik der letzte dieses Zeichens, seit Busonis Tode. Um seines Europäertumes willen ist seiner zu gedenken. Von hier aus wird der Mann, wird seine Kunst und wird das Schicksal dieser Kunst erst verständlich.

Sohn eines englischen Vaters und einer deutschen Mutter, verlebte Delius einen grossen Teil seiner Jugend auf einer Farm in Florida. Musikalischer Autodidakt, dann wieder an deutsch konservatoristischer Theoretik gebildet, gelangte er nach Paris zu einer Zeit, wo eben die Klanggesinnung des Debussy-Kreises als Reaktion gegen den Wagner-Einfluss durchbrach. So hat Delius der Herkunft, Erziehung, Landschaft und Kultur nach Einwirkungen mannigfaltiger Art erfahren. Es erging ihm damit, wie es jedem wahrhaft schöpferischen Menschen ergeht, diese Einwirkungen konnten ihn nicht ändern, sie konnten ihn nur aufschliessen für den Gedanken der europäischen Gemeinschaft oberhalb der nationalen Verschiedenheiten. Delius war eine zarte, stille Natur, der Anregung wohl bedürftig, aber stets nur das nehmend, was für die Art der Spiegelung, wie er sie zu geben vermochte, passte, den lyrisch pantheistischen Widerhall, die Erkenntnis einer tiefen, inneren Verbundenheit von Landschaft und Leben, von Leidenschaft und Natur. Diese innere Beziehung suchte er zu hören, sie aus dem Klang gefühlsmässig bewusst zu machen, aus einem sehr sensiblen, atmosphärischen Klang, der, ohne der Kraft zu entbehren, mehr Duft und Schimmer war, als Substanz.

Er hat mehrere Opern geschrieben. Sie sind in Frankreich unbekannt geblieben, in England gelegentlich, richtig nur im einstigen Deutschland aufgeführt worden, und auch hier selten. Trotzdem haben sie sich dem Bewusstsein eingeprägt, wozu die textliche Bezugnahme auf berühmte Erzählungen beigetragen haben mag: „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ (Berlin und Wiesbaden), „Fennimore und Gerda“ (Frankfurt am Main). Eine ältere Neger-Oper „Koango“ ist kaum bekannt geworden, umsomehr die Orchesterfantasien „Paris“ und „Appalachia“ mit Chor, die nach Zarathustra-Worten zusammengestellte „Messe des Lebens“, eine Gruppe landschaftlich inspirierter Orchesteridyllen („Brigg fair“), ein Klavierkonzert, Lieder und kleinere Werke.

Es gab Zeiten, in denen Delius’ Musik als revolutionär empfunden wurde. Als „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ 1907 in der Berliner Komischen Oper aufgeführt wurde, überschlug sich die Berliner Presse vor Entsetzen über die Kühnheiten der Harmonik. Sie war aber nur ein in impressionistische Bezirke überführter Tristan-Stil. Heut begreift man nicht mehr, was die Menschen vor einem Vierteljahrhundert daran so in Aufregung gebracht hat. Aber es sind Dinge anderer Art in dieser Partitur, die bleiben für alle Zeiten. Es sei nur der Traum Salis und Vrenelis von ihrer Hochzeit erwähnt, oder das Mohnfeld, oder die Kirmes. Aehnlich rein und innerlich erfasste Konzeptionen enthält auch „Fennimore und Gerda“, und wenn in all dem Getue, das in den letzten Jahren um die deutsche Opernbühne getrieben wurde, ein Körnchen Ernsthaftigkeit wäre, so hätte man längst einmal auf eines der Werke von Delius zurückgegriffen.

Freilich stösst man damit auf die Hauptschwierigkeit: Delius ist nach heutigen Begriffen ein Fremdling auf der Erde. In England betrachtet man ihn nicht als richtigen Engländer, in Deutschland – obwohl die Opern und die Messe auf deutsche Texte geschrieben sind – nicht als Deutschen, in Amerika nicht als Amerikaner. Genau genommen dürfte er nicht existieren, und es war nur ein Versehen der Natur, dass er auf die Welt kam. Ein Mensch, der nicht einen klaren Ausweis über seine nationale Herkunft erbringen kann, gilt in unserer Zeit als verdächtiges Wesen. Sofern man es nicht als widernatürlich bekämpft, geht man ihm behutsam aus dem Wege. Es fehlt ihm irgendetwas, das der Mensch heut braucht, um als „richtig“ zu gelten.

Delius ist ein solches fremdartiges Wesen. Nicht nur der Abkunft und Bildung, vor allem dem Willen und Geist seines Künstlertumes nach. Er stammt von einem anderen Stern, und das ist es, was ihn uns verehrenswert macht. Seine Kunst hat nicht das Format der gewaltigen Eroberer. Es liegt kein Anlass vor, sie, wie man sagt, zu überschätzen, obschon das ein törichter Begriff ist gegenüber Kunstschöpfungen, die ihren Massstab nur in sich selbst tragen. Aber Delius hat – auch das gehört zu seinen Vorzügen – „Grösse“ in dem heut geltenden Marktschreiersinne nie gewollt und erstrebt. Sie war ihm zuwider, geradeso wie er für parteiliche Tendenzen kein Verständnis hatte. Noch weniger aber war er trotz seines Europäertumes international im Sinne der Verwaschenheit. Seine Musik trägt ausgesprochen nordische Züge, er ist sozusagen Anti-Lateiner, in der Art der harmonischen Zerlegung und Modulationstechnik wie in der lyrischen Empfindsamkeit Grieg nahestehend. Das sind Einzelheiten der Individualcharakteristik, sie hat nichts zu tun mit dem Sinn seines Schaffens. Es setzt einen Künstler voraus, der als Kennzeichen des Menschen nur das Menschliche in Natur, Leben und Kunst gelten lässt und aus ihm den Gestaltungsantrieb empfängt.

Welche Narrheit, so etwas zu denken, geschweige auszusprechen und als Schaffensziel zu nehmen. Aber um dieser schönen Narrheit willen wollen wir den Namen Delius im Gedächtnis halten.