De vulgari eloquentia/II. Buch – Neuntes Kapitel
Weil, wie gesagt ist, die Kanzone eine Verbindung von Stanzen ist, so kann man, wenn man nicht weiß, was Stanze sei, natürlich auch nicht wissen, was Kanzone sei; denn aus der Kenntniß des Definirenden entspringt die Kenntniß des Definirten, und so ist demzufolge von der Stanze zu handeln, daß wir nämlich untersuchen, was sie sei, und was wir darunter verstehen wollen. Es ist demnach zu wissen, daß dies Wort blos rücksichtlich der Kunst erfunden ist, nämlich daß Das, worin die ganze Kunst der Kanzone bestände, Stanze genannt würde, das heißt, eine geräumige Wohnstätte oder Behältniß der ganzen Kunst. Denn gleichwie die Stanze der Schooß des ganzen Inhaltes ist, so trägt die Stanze die ganze Kunst in ihrem Schooß, und es ist den folgenden nicht erlaubt, sich einige Kunst zuzuschreiben, sondern sich blos mit der Kunst der ersten zu bekleiden, woraus hervorgeht, daß sie selbst, von welcher wir sprechen, eine Begrenzung oder eine Vereinigung alles Dessen ist, was die Kanzone von Kunst empfängt; nach welcher Erläuterung die Beschreibung, welche wir suchen, sich ergeben wird. Die ganze Kunst der Kanzone scheint nun in drei Stücken zu bestehen, zuerst in der Eintheilung des Gesanges, sodann in der Beschaffenheit der Theile, und drittens in der Zahl der Verse und der Sylben: des Reims aber erwähnten wir nicht, weil er nicht zur eigenthümlichen Kunst der Kanzone gehört. Denn es ist erlaubt, in jeder Stanze die Reime zu erneuern und sie zu wiederholen nach Gutdünken, was, wenn der Reim zur eigenthümlichen Kunst der Kanzone
[148] gehörte, nicht erlaubt sein würde, wie gesagt ist. Wenn es aber nöthig ist, etwas vom Reim zu erwähnen, so wird, was von Kunst daran ist, da vorkommen, wo wir von der Beschaffenheit der Theile sprechen; daher können wir hier aus dem Vorhergehenden schließen und definirend sagen, die Stanze sei eine mit gewissem Gesang und gewisser Beschaffenheit begrenzte Zusammenfügung von Versen und Sylben.