De vulgari eloquentia/I. Buch – Zehntes Kapitel
Indem nun unsre Mundart sich dreifach zeigt, wie oben gesagt ist, wenn wir sie mit sich selbst vergleichen, je nachdem sie dreifach lautend geworden ist, so zögern wir bei der Erwägung mit so großer Furchtsamkeit, weil wir diesen oder jenen, oder jenen Theil bei der Vergleichung nicht voranzustellen wagen, ausgenommen hinsichtlich des sic, das wir von den Grammatikern als Beiwort der Bejahung angenommen finden, was den Italern, welche Si sagen, einen gewissen Vortritt einzuräumen scheint. Denn jede von den drei Parteien führt ihre Sache mit bedeutenden Gründen. Die Sprache Oil führt nämlich für sich an, daß wegen ihrer leichteren und anmuthigeren Volkssprache Alles, was in der prosaischen Volkssprache übergeben ist und sich darin findet, ihr gehört, nämlich die Sammlung der biblischen Schriften nebste den Thaten der Trojaner und Römer und die herrlichen Sagen von König Artus, und gar viele andre Geschichten und belehrende Schriften. Die andre aber, die von Oc, führt für sich an, daß beredte Leute aus dem Volke in ihr von Alters her gedichtet haben, wie in den vollkommneren und lieblicheren Sprache, zum Beispiel Peter von Alvernia und andre ältere Gelehrte. Die dritte, die der Lateiner, bezeugt durch zwei Vorrechte, daß sie den Vorrang habe, erstlich, daß Diejenigen, welche lieblich und scharfsinnig in der Volkssprache dichteten, ihre Familien- und Hausgenossen sind, als da sind Cino von Pistoja und dessen Freund[1]; zweitens, weil sie sich mehr auf die Grammatik zu stützen scheinen, welche gemeinschaftlich
[112] ist, was Denen, die es vernünftig betrachten, ein sehr wichtiger Grund zu sein scheint. Wir aber, indem wir das Urtheil hierüber bei Seite setzen und unsre Abhandlung der lateinischen Volkssprache zuwenden, wollen versuchen die in dieselbe aufgenommenen Veränderungen anzugeben und sie untereinander zu vergleichen. Wir sagen demnach, daß Latium von Anfang sich getheilt habe in die rechte und linke Seite. Wenn aber Jemand nach der Theilungslinie fragt, so antworten wir, das sei das appenninische Joch, weil es sich gleichwie der Halm einer Pfeife von hier und dort nach verschiedenen Strömungen senkt, und die Gewässer zu den beiden verschiedenen Ufern von hier und dort durch lange Rinnen sich schlängeln, wie Lukan im zweiten Buch beschreibt. Die rechte Seite aber hat zum Obdach das tyrrhenische Meer, die linke aber fällt ins adriatische ab. Und die Gegenden rechts sind Apulien, doch nicht ganz, Rom, das Herzogthum Tuscien und die Genueser Mark. Zur Linken aber ist ein Theil von Apulien, die Mark Arkona, Romagna, die Lombardei, die Trevisaner Mark nebst Venedig. Friaul aber und Istrien können nur zur linken Seite Italiens gehören, und ebenso die Inseln des tyrrhenischen Meers, nämlich Sicilien und Sardinien nur zur rechten Seite Italiens gehören, oder mit dem rechten Italien verbunden werden. Auf jeder von diesen beiden Seiten und in den Theilen, welche sich damit verbinden, verändern sich die menschlichen Sprachen, wie die Sprache der Sicilier mit den Apuliern, der Apulier mit den Römern, der Römer mit den Spoletanern, dieser mit den Tusciern, der Tuscier mit den Genuesern, der Genueser mit den Sardern; eben so der Kalabresen mit den Ankonitanern, dieser mit den Romagnanern, der Romagnaner mit den Lombarden, der Lombarden mit den Trevisanern und Venetianern, und Dieser mit den Aquilejern und dieser mit den Friaulern, worüber wir glauben, daß kein Lateiner mit uns uneins sei.
[113] Daher scheint Italien allein nicht weniger als vierzehn verschiedene Sprachen zu haben, welche Volkssprachen alle wieder in sich verschieden sind, nämlich in Tuscien die Sienesen und Aretiner, in der Lombardei die Ferraresen und Placentiner, ja in derselben Stadt finden wir einige Verschiedenheit, wie wir in dem unmittelbar vorhergehenden Kapitel behauptet haben; wenn wir daher die Veränderungen erster, zweiter und dritter Klasse der Volkssprache in Italien in Rechnung bringen wollen, so möchten wir wohl in diesem so kleinen Winkel der Welt nicht blos auf eine tausendfache Veränderung der Sprache kommen, sondern noch darüber hinaus.
- ↑ So bezeichnet sich Dante in dieser Abhandlung mehrmals.