De vulgari eloquentia/I. Buch – Sechstes Kapitel
Weil das menschliche Geschäft in sehr vielen und verschiedenen Mundarten geübt wird, sodaß Viele von Vielen nicht anders verstanden werden durch Worte als ohne Worte, ziemt es sich, die Mundart aufzusuchen, deren man glaubt, daß sich der Mann ohne Mutter, der Mann ohne Muttermilch, der weder die Zeit der Kindheit noch die Jünglingszeit sah, bedient habe. In diesem Punkte, wie auch in vielen andern, ist die Stadt Petramala die weitläufigste und das Vaterland des größten Theils der Kinder Adam’s. Denn wer immer von so misgestalteter Vernunft ist, daß er den Ort seiner Nation für den köstlichsten hält unter der Sonne, dem ist es auch erlaubt, allen seine Volkssprache, das heißt, Muttersprache, vorzuziehen, und folglich sie für diejenige zu halten, welche Adam hatte. Wir aber, denen die Welt Vaterland ist, [103] wie den Fischen das Meer, obgleich wir den Sarno tranken vor dem Zahnen, und Florenz so lieben, daß weil wir es lieben, wir die Verbannung leiden ungerechterweise, stützen die Schultern unsers Urtheils mehr an der Vernunft als am Gefühl, und obwol für unser Vergnügen oder für die Ruhe unserer Sinnlichkeit kein lieblicherer Ort auf Erden sich findet als Florenz, aufschlagend die Rollen der Dichter und anderer Schriftsteller, in welchen die Welt im Allgemeinen und theilweise beschrieben wird, und bei uns erwägend die mannichfaltigen Lagen der Orte in der Welt, und ihre Beschaffenheit an beiden Polen und an dem Aequator, bedenken, daß es viele gibt, und glauben fest, auch edlere und vergnüglichere als Thuscien und Florenz, wo ich geboren und dessen Bürger ich bin, und daß manche Nationen und Völker sich einer lieblicheren und tauglicheren Sprache bedienen als die Lateiner. Zurückkehrend also zu unserem Vorhaben sagen wir, daß eine gewisse Form der Sprache von Gott mit der ersten Seele miterschaffen sei, ich sage aber Form, sowol mit Hinsicht auf die Worte für die Dinge, als auf den Bau der Worte und auf die Erweiterung des Satzbaues, welche Form jede Sprache der Sprechenden haben würde, wenn sie nicht durch Schuld menschlicher Vermessenheit zerstört wäre, wie weiter unten gezeigt werden wird. In dieser Form der Sprache sprach Adam, in dieser Form der Sprache sprachen alle seine Nachkommen bis auf den Thurmbau zu Babel, den man für den Thurm der Verwirrung erklärt: diese Form der Sprache erbten die Söhne Heber’s, welche von ihm Hebräer genannt wurden. Ihnen allein verblieb sie nach der Verwirrung, damit unser Heiland, der unter jenen geboren werden sollte, nach seiner Menschheit nicht der Sprache der Verwirrung, sondern der der Gnade sich erfreute. So war denn die hebräische Mundart diejenige, welche die Lippen des ersten Sprechenden bildeten.