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Das wissenschaftliche Parlament in der St. George-Halle in Liverpool

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Das wissenschaftliche Parlament in der St. George-Halle in Liverpool
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 496–498
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Das wissenschaftliche Parlament
in der St. George-Halle zu Liverpool.

Die große wissenschaftliche Association in England, eine Vereinigung aller praktischen Zweige der Wissenschaften, hat sich dies Jahr zu ihren parlamentarischen Geschäften und Feierlichkeiten in einer der glänzendsten und großartigsten Kulturtempel, der neuen St. George-Halle in Liverpool versammelt und, während Krethi und Plethi sich die Köpfe symbolisch oder wirklich auf Kriegsschauplätzen im Großen und in Masse zerbrechen, sich gegenseitig mitgetheilt und zum Gemeingut gemacht, was der stille, ernste Fleiß des Forschers oder das Genie und die Ausdauer des Technikers, Erfinders und Entdeckers in den verschiedenen Welttheilen der Erde und des Wissens geschaffen und gewonnen haben. Solch ein Parlament macht nicht nur der „Nation“, sondern unserer Zeit überhaupt Ehre und ist zugleich die würdigste Verurtheilung, die unser Jahrhundert über die Barbareien ausspricht, welche Staatsweisheit und diplomatische Finessen unter uns heraufbeschworen haben. Es ist dabei der glänzendste Beweis, daß sich Wissenschaft and Kunst, Civilisation und Humanität bereits stark genug fühlen, um sich selbst vor einem „allgemeinen Kriege“ nicht mehr scheu zu verstecken. Wir können hier natürlich nicht auf die reichen und vielseitigen Vorträge und Mittheilungen, welche sich hier die Freiheitsmänner der Wissenschaft machten, eingehen und begnügen uns zunächst mit einer kurzen Schilderung des Tempels, in welchem dieses Parlament tagte.

Er ist vor Allem ein Beweis, daß die ungeheure Welthandelsstadt, in welcher die größten Hauptadern des Weltverkehrs sich wie in einem Herzen vereinigen, nicht mehr Geld macht, um eben reich zu sein, sondern auch um dem Schönen, der Kunst und Aesthetik zu huldigen. Dies bewies schon das große Musikfest, mit welchem die Halle eingeweiht ward. Die St. George-Halle entstand in Liverpool in zwei Tagen. Wenigstens waren die Tausende von Pfunden, die dazu gehörten, während dieser Zeit alle aus Privatmitteln zusammengebracht. Das Gebäude gilt als das schönste Englands. Es ist im griechischen Style gehalten. Besonders edel und grandios ist das Innere der großen Central-Halle mit bequemen Sitzen für 4000 Personen. Die Hauptmerkwürdigkeit darin ist die große Orgel, deren Bälge durch eine Dampfmaschine getrieben werden. Sie kostet 56,000 Thaler, wofür man in England 100 Häuser bauen könnte oder ein Schiff von 1500 Tonnen Gehalt. Ihre 8000 Pfeifen werden durch vier Reihen von Tasten gespielt und durch 108 „Register“ modulirt, durch welche man alle möglichen Tonfärbungen (unter welchen ganz neue) und Stärken hervorbringen kann. Die Größe der Pfeifen dehnt sich von drei Achtel Zoll bis 32 Fuß aus. Die Dampfmaschine füllt zunächst zwei Hauptbälge, aus denen die Luft in 12 andere (die Reservoirs) und von da vermittelst neuer mechanischer Einrichtungen so in die Pfeifen getrieben wird, daß die durch Register bestimmte Färbung und Stärke ganz gleichmäßig wirkt und sogenanntes Schnarchen durch Nebenluft u. s. w. unmöglich wird. Genial, neu und ungemein praktisch sind Construktion und Stellung der Register und des Pedals. Sie sind so gestellt, daß der Spieler auf die leichteste Weise den ungeheuern Reichthum des Instruments beherrschen kann. Techniker und Orgelspieler würden hier eine große Masse Studien machen können. In dem technischen Bericht über diese grandiose Musikdampfmaschine werden nicht weniger als fünf ganz wesentliche, neue, patentirte Erfindungen und Verbesserungen angeführt, die wir aus Mangel an technischer Kenntniß nicht weiter schildern können.

Wir kehren zu dem wissenschaftlichen Parlamente zurück, um aus dessen Mitgliedern den würdigsten und größten Mann der Wissenschaft hervorzuheben: Professor Owen, den Geologen. Die Geologie, diese junge, gigantische Wissenschaft, die, denuncirt von Ignoranten und Heuchlern, verwünscht von Autoritätsgläubigen und nur allmälig angenommen und noch langsamer verstanden und gewürdigt von den offenen Köpfen studirender und studirter Jugend, wie ein wahrer Hercules Hydras köpft, Augiasställe reinigt und wissenschaftlichen Autoritätslöwen das Fell abzieht, hat in Professor Owen einen der eifrigsten, frömmsten und mächtigsten Diener und Priester gefunden. Fromm ist er wie wohl selten

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Die St. George-Halle zu Liverpool.

[498] ein Mensch war, das sieht man ihm (auch ohne Phrenologie) schon im Gesicht an, fromm im unerschütterlichen Glauben an die Wissenschaft im Allgemeinen, im thätigen, Tag und Nacht forschenden Glauben an seine Wissenschaft.

Richard Owen erblickte das Licht der Welt unter den Baumwollenballen und Spinnmaschinen am Lancashire, in der Stadt Lancaster (1805). Von seiner Kindheit, die in Armuth verlebt ward, wissen wir nichts. Er studirte Medizin in Edinburg, wo er schon nach 2 Jahren (1826) Professor und (1835) Conservator des dortigen Museums ward. Bis dahin hatte er schon ein großes fünfbändiges Werk über Physiologie und vergleichende Anatomie geschrieben. Von seinen fast unzähligen, wissenschaftlichen Werken, deren Entstehung man kaum einem einzigen Kopfe zutrauen kann, erwähnen wir nur noch eine Naturgeschichte, ein Buch über die „fossilen organischen Ueberreste“ im Museum, „Memoiren über den Perlen-Nautilus,“ eine „Odontographie,“ „Memoiren über geologische Riesenthiere,“ „Geschichte der fossilen Mammalien und Vögel Englands,“ „Erztypen und Homologien in den Rückenwirbel-Skeletten,“ „Geschichte der fossilen Reptilien Englands,“ „Constructionsgesetze im Gliederbau“ und ein besonders merkwürdiges Buch über freiwillige Erzeugung, Entstehung von lebendigen Wesen aus bloßen Ingredienzien, ohne Zeugung mit allmäliger Entwickelung zu vollkommneren organischen Wesen, die „Partheno-Genesis“ (jungfräuliches Gebären), wie er das vielfach bestrittene Naturgeheimniß nennt. – Wir brauchen kaum zu sagen, daß der Mann Mitglied fast aller betreffenden Wissenschaftsvereine der ganzen Erde ist und zwar nicht Ehrenmitglied, sondern wirkliches und thätiges. Im wissenschaftlichen Parlamente war er nicht nur eine der würdigsten und edelsten persönlichen Erscheinungen, sondern durch seine Vorträge auch die interessanteste und wichtigste. Er ist ein Mann, den die Wissenschaft durch und durch human, edel und nach allen Seiten hin liebens- und verehrungswürdig gemacht hat. Alle Völker und Klassen bewundern in seinen vorsündfluthlichen, lebensgroßen und lebensgetreuen Schöpfungen auf der geologischen Insel[1] des Krystallpalastes (von ihm geschaffen und entworfen, ausgeführt von Waterhouse Hawkins) den größten und genialsten Meister geologischen Wissens. Die Königin Victoria gab ihrer Verehrung dadurch einen liebenswürdigen Ausdruck, daß sie ihm im Schlosse zu Kew (mit dem weltberühmten botanischen Garten) eine glänzende Residenz anwies. Wie er schon in der großen Industrie-Ausstellung als Präsident der Jury für animalische und vegetabilische Substanzen sich viele Verdienste erwarb, fährt er mit jugendlichem Eifer fort, an der geologischen und naturwissenschaftlichen Ausstattung und Bereicherung des neuen Krystallpalastes zu arbeiten. Die „geologische Insel“ wird als erste, wirkliche, vorsündfluthliche Schöpfung der geologischen Wissenschaft immer zu den größten Merkwürdigkeiten gehören und Richard Owen als diesen Schöpfer eines Ruhmes genießen, für welchen die geographischen und sprachlichen Grenzen bereits als überwunden betrachtet werden müssen.