Das neue Licht
[192] Das neue Licht. Wie die Reihe der Elemente Jahrtausende lang unter jener vielgenannten Vierzahl begriffen war, welche die neuere Wissenschaft schließlich ihrer Würde entkleidet hat, um an ihre Stelle eine Anzahl von einigen und sechzig wirklichen Grundstoffen zu setzen, ebenso galten bis tief in das vorige Jahrhundert hinein nur einige wenige allbekannte Mineralien, Gold und Silber, Eisen und Blei, Zinn und Kupfer, als Metalle. Kein Mensch ahnte, daß diese Liste mit der Zeit gewissermaßen in’s Unendliche sich ausdehnen, daß nachmals fast jedes Jahr ein neues Metall zu Tage fördern würde, welches sich vom Beginn unseres Planeten an unter dieser und jener unkenntlichen Hülle verborgen hatte. Es machte daher kein geringes Aufsehen durch die ganze gebildete Welt, als vor nunmehr fast sechzig Jahren der berühmte englische Chemiker Sir Humphry Davy, derselbe, welcher durch seine Sicherheitslampe der Wohlthäter der Bergleute werden sollte, zu der Entdeckung gelangte, daß gewisse Alkalien und alkalienhaltige Erden nichts anderes seien als metallische Verbindungen, daß die allgemein gebrauchte Pottasche einem Metalle, dem Potassium, entstamme, wie die ebensoviel benützte Soda dem Sodium, und daß in wahrscheinlicher Folgerung alle dergleichen Erden ihre metallischen Grundlagen besitzen.
Großen praktischen Nutzen hatte die Entdeckung dieser neuen Metalle freilich zunächst nicht. Sie hatte nicht viel gemein mit der alten wohlbegründeten Aristokratie der längstbekannten schweren Metalle, diese Rotüre der neuen Elemente; leichte, weiche, vergängliche Dinger, wurden sie selten einmal aus den Glasglocken der chemischen Laboratorien, unter denen sie als Raritäten und „der Vollständigkeit halber“ paradirten, in das Leben hinaus entlassen, da sie sich weder zu Geräthe noch zu Werkzeug sonderlich brauchbar erwiesen. Wie wenige von den Hunderttausenden der Leser dieser Blätter werden je ein Stückchen metallischen Potassiums oder Sodiums zu Gesicht bekommen haben!
Zu dieser Rotüre der Metalle zählt auch das Magnesium. Sein Oxyd, d. h. seine Verbindung mit dem Sauerstoff der Luft, die Magnesia oder Bittererde, hat sich seit undenklichen Zeiten als Segenstifter unter der gebrechlichen Menschheit eines verdienten Rufes erfreut. Wenn die Verdauung ihre Pflichten nicht vollkommen erfüllt oder Sodbrennen und Magensäure die beschädigte Maschine documentirten, wohl auch wenn Zipperlein oder Gicht ihre unliebsamen Vorboten sandten, dann war es vorzugsweise die Bittererde, zu welcher schon unsere Groß- und unsere Urgroßväter Hülfe suchend ihre Zuflucht nahmen, während der eigentlich mineralische Grundstoff dieser vielbewährten Erde, aus dem sie zu nahezu zwei Dritttheilen besteht, aller Welt Geheimniß blieb und erst im Jahre 1829 vom französischcn Chemiker Bussy dem Dunkel entrissen wurde, in das er sich durch Millionen von Jahren gehüllt hat. Er wurde gleichfalls als ein Metall erkannt von 1,743 specifischem Gewichte, d. h. nicht ganz doppelt so schwer wie das Wasser, dessen Gewicht bekanntlich bei dergleichen wissenschaftlichen Schwerebestimmungen als Einheit angenommen wird.
Bis vor Kurzem zu der nämlichen thatenlosen Rolle verurtheilt, welche, mit wenigen Ausnahmen, sämmtlichen dieser neu ausfindig gemachten Metalle zugetheilt ist, hat es sich seit einigen Monaten mit einem Male, und noch dazu in Paris, zu einem Löwen des Tages aufgeschwungen, den Jedermann sehen und bewundern will. In den Salons, in den Hörsälen, bei wissenschaftlichen Versammlungen kann Niemand mehr den Moment erwarten, bis irgend ein naturgelehrtes Mitglied der anwesenden Gesellschaft ein kleines Papierpaketchen aus der Tasche seines Frackes zieht, und Alles drängt sich um den Mann zusammen, wenn er dann ein Stückchen dünnen weißen Drahtes aus dem Päckchen zum Vorschein bringt. Jeder beeifert sich ihm die Kerze herbeizutragen, um die er bittet; schweigend in athemloser Spannung lauscht das Publicum, wenn er alsbald das Ende seines Drahtes in Brand steckt, und ein Ah! des Staunens tönt zugleich von Aller Lippen, wenn jetzt plötzlich das Zimmer, der Saal, das Auditorium im Tagesglanze strahlt, von einem Lichte erhellt, dem nur das elektrische verglichen werden kann. Der Wunderdraht ist ein Stück Magnesium, das nun mit einem dünnen weißen Rauche in ungewöhnlicher Schnelligkeit verdampft und ein Häufchen Magnesia als Asche zurückläßt.
Dies Licht scheint nicht nur Epoche machen zu sollen für Industrie und Technik, sondern es bedroht selbst das Heiligthum unseres häuslichen Heerdes mit Umsturz langgepflogener Gewohnheiten, und, merkwürdig, es kommt der Welt von einer Seite, der sonst mehr das Auslöschen des vorhandenen, als das Anzünden neuen Lichtes am Herzen zu liegen pflegt. Ein französischer Priester war es, der Abbé Moigno, als naturwissenschaftlicher Schriftsteller nicht ohne Ruf, welcher im Laufe des letzten Sommers in einer Sitzung der Assiociation scientifique die Welt mit der neuen Entdeckung bekannt machte.
Das Magnesium ist etwa so schwer, wie Buchenholz; mattglänzend, silberweiß, sehr flüchtig, schon bei gewöhnlicher Rothglühhitze schmelzbar, ziemlich spröde, aber doch biegsam genug, um sich zu einem Draht von einem dreißigtausendstel Meter (ein Meter 31/6 rhein. Fuß) Durchmesser ausziehen zu lassen. Leider ist vor der Hand das Magnesium sehr theuer, das Kilogramm (zwei Pfund) kostet etwa dreihundert und zwanzig Thaler, so daß man sich den Gedanken, der schon aufzutauchen begann, Paris magnesianisch zu beleuchten, vergeben lassen mußte. Nichtsdestoweniger verspricht es, wie schon angedeutet, für mannigfache gewerbliche Zwecke von größter Wichtigkeit zu werden. Ueberall, wo es darauf ankommt, auf kurze Zeit eine ungewöhnliche Lichtmasse auf einen bestimmten Punkt zu concentriren, überall da wird das Magnesium seine zweckentsprechendste Anwendung finden.
So wird es sich namentlich in der Photographie seinen Platz erobern, wie dies bereits vollständig gelungene Versuche in gewisse Aussicht stellen; mit ihm werden die leidigen Glassalons fallen, denen eine Reihe der schreiendsten Mängel unserer jetzigen photographischen Darstellungen beigemessen werden müssen. Auch der Chirurg, der eine tiefer eindringende Wunde, einen in das Innere des Körpers führenden normalen oder anomalen Gang (Gehörgang, Fistelgänge etc.) zu untersuchen hat, wird sich dabei keiner bequemern und vortheilhaftern Beleuchtung bedienen können, als der mittels Magnesiums. Ganz besonders bedeutsam aber dürfte es dem Seemann werden. Zwei und eine halbe deutsche Meile bei Tage und dreimal so viel des Nachts seinen Schein werfend, wird es ein vortreffliches Mittel zum Signalisiren abgeben.
Ein magnesianisches Licht von etwa fünfhundert Kerzenkraft und von der Dauer von zwanzig Secunden, wie man es z. B. zur Herstellung eines photographischen Portraits bedürfte, würde, nach den genaueren Berechnungen eines französischen Mathematikers, ungefähr auf vier Neugroschen zu stehen kommen. Ein Seesignal von hundert Kerzenkraft also etwa auf blos acht Pfennige. Einen Laufgraben von dreitausend Fuß Länge und fünfundsiebzig Fuß Breite behufs einer nöthigen Totalbesichtigung mit einem Lichte zu erhellen, das dem von tausend Wachskerzen gleichkäme, würde höchstens fünfzehn bis sechszehn Neugroschen kosten, mithin bei Weitem weniger, als ein einziger Kanonenschuß kostet. In runden Zahlen besitzt ein Magnesiumdraht von einem dreißigtausendstel Meter Durchmesser dieselbe Leuchtkraft, wie siebenzig Stearin oder Paraffinkerzen. In einer Minute aber verbrennt ungefähr ein Meter dieses Drahtes, das ein Zehntelgramm Gewicht repräsentirt. Hiernach würde ein Gramm Magnesium eine Minute lang ein Licht erzeugen, welches das von siebenhundert Kerzen oder von siebenzig Lampen von je zehn Kerzen Leuchtkraft erreichte. Gegenwärtig kostet das Gramm Magnesium aber noch neun Neugroschen; diese Ziffer mit sechzig multiplicirt, hätte man für die erwähnte Lichtmasse in der Stunde achtzehn Thaler aufzuwenden oder für je zehn Kerzen Leuchtkraft 73/7 Neugroschen, was etwa das Zehnfache des jetzigen Oelpreises ausmacht, vom Petroleum und Solaröl ganz abgesehen. Aus diesen wenigen Daten erhellt, daß vorläufig das neue Licht nur für einzelne besondere Zwecke mit Vortheil angewandt werden kann, von allgemeinem Gebrauche schließt es seine Kostspieligkeit noch aus.
Indeß, wie dies in allen ähnlichen Fällen zu geschehen pflegt, sobald das Magnesiumlicht erst wirklich in die Praxis übergeht, werden sich die Kosten seiner Herstellung bald wesentlich verringern. Wie wir soeben lesen, hat die Washingtoner Regierung bedeutende Mengen von Magnesium aufgekauft, um auf der nordamerikanischen Flotte, zunächst auf dem Blockadegeschwader, das neue Licht zu erproben. Eine Gesellschaft, de sich gebildet hat, die Magnesium-Metal-Company, wird das Magnesium in großem Maßstabe darstellen, während auch bereits verschiedene europäische Regierungen sich mit Versuchen befassen wollen, das Magnesiumlicht zu Küsten- und Seesignalen und namentlich für Leuchtthürme zu benutzen. Gelingt es, ein Pfund Magnesium um sieben bis acht Thaler verkaufen zu können und dem Metalle durch Zusatz anderer Substanzen noch größere Dehnbarkeit zu verleihen, so daß man es zu haarfeinem Drahte zu strecken vermag, so wird sich das neue Licht rasch genug in unsern Häusern einbürgern. Welch prächtige Sache dann, wenn man sich nicht mehr mit Oel und andern fettigen Stoffen und Flüssigkeiten zu beflecken braucht, nicht mehr Cylinder zu putzen und Dochte zu beschneiden, sich nicht mehr über Blaken und Rußen der Lampe zu ärgern hat, sondern einfach sein reinliches dünnes Drahtstückchen entzündet und nun eine wahre Lichtfluth über sein Gemach, das Boudoir, den Salon, den Saal ergossen sieht! Auf Eines nur werden wir wohl für immer verzichten müssen: auf die Hoffnung nämlich, die Straßen und Plätze unserer Städte ebenfalls magnesianisch erleuchtet zu haben; denn angenommen selbst, daß der Kostenpreis des Metalls sich wirklich in obengenanntem Verhältnisse ermäßigt, so wird das Magnesiumlicht immer mindestens zehnmal so theuer bleiben, wie das Gaslicht.