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Das lebende Bild

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Textdaten
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Autor: Adolf Wilbrandt
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Titel: Das lebende Bild
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 17–30, S. 532–536, 568–575, 598–607, 632–639
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1899
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[532]

Das lebende Bild.

Erzählung von Adolf Wilbrandt.


1.

Herr von Hochfeld und sein Inspektor waren den halben Nachmittag über Feld gegangen, die fast beendete Ernte und alte und neue Pläne besprechend. Sie trennten sich bei der großen Eiche, die nicht weit vom Hof am Weg stand; der Inspektor ging seiner Wohnung zu, Hochfeld sah ihm nach. Er lächelte ein wenig über den ehrenfesten, harten, plebejischen Gang seines Gutsverwalters; in dem Lächeln lag aber Achtung und Anerkennung, und sogar eine Spur von Neid. Wie vergnügt der Mann nun nach Hause geht, dachte er. Nachdem er als guter deutscher Biedermann hier draußen seine Schuldigkeit gethan hat, thut er sie nun auch in seinen vier Wänden und liebt seine Familie. Er weiß vielleicht selber nicht, ob er das mehr aus Vergnügen thut oder aus Pflicht! – – Ach, das ist ja alles eins …

Hochfeld seufzte leise. Er hat eine Familie, dachte er weiter; das ist doch die Hauptsache. Nun findet er seine nette Frau, die noch immer ein bißchen hübsch und auch noch immer ein bißchen kokett, aber doch eigentlich ein sehr guter Kerl ist; und findet seinen großen Jungen, der wohl auch einmal Inspektor wird, und sein fideles Lieschen – das so gern nach Loschwitz und Blasewitz geht und für Schiller schwärmt. Das sogenannte häusliche Glück. Na ja. Es ist nicht sehr feurig bei ihnen; aber es ist doch. Es ist doch …

Er zog die Brauen nieder – eine Bewegung, die sein allzu ernst gewordenes Gesicht jetzt so oft entstellte – und ging langsam über den Gutshof seinem Herrenhaus zu. Das Haus mit dem stattlichen gotischen Mittelgiebel, unter dem eine Welt von Grün emporrankte, und den zierlichen Seitengiebeln war wohl hübsch genug; aber zu einsam war’s. Er trat ein und durchschritt die Zimmer; durch irgend einen unbewußten Trieb geführt, kam er auch in die Wohn- und Schlafzimmer seiner Frau und seiner Tochter, die nebeneinander lagen; alle einst mit Liebe und mit wählerischem Geschmack von ihm eingerichtet; nun war niemand drin. Das stimmungsvolle Boudoir Clotildens, der Frau, die allerliebste kleine Kajüte Luisens – damals für einen werdenden Backfisch gedacht; jetzt war der Backfisch zur sechzehnjährigen Jungfrau geworden, der Schule und Pension entschlüpft. Aber wo war sie denn? Im Vaterhaus, wie sich’s gehörte? Nein, da drüben in Dresden, in der Villa Viola, bei diesen Saus- und Brausmenschen; mit der Mutter, die nun auch zu dem Volk gehörte … Ein förmlich bitterer, galliger Geschmack trat ihm auf die Zunge; es war das nichts Seltenes mehr. Ein feindselig verächtliches Gefühl verzog sein Gesicht. Ihm war sogar, als verblasse die Liebe zu seinem Kind, das er einst übertrieben vergöttert, in das er wie in einen goldenen Kelch hineingesehen hatte. Weil sie in dieser Villa Viola war, statt bei ihm, schien sie auch fremder, unholder, unerfreulicher zu werden. Er mochte ihre „Kajüte“ nicht mehr anschauen; so wenig wie das Boudoir Clotildens, die ihm so allmählich davongeflattert, ihm fast wie ein Traum war. Ja, ja, ich träume nur noch, dachte er mit einem finsteren Lächeln. Ich träume mein Leben nur noch … Er ging über den Korridor in sein Arbeitszimmer.

„Du hier?“ fragte er, da er seinen Neffen Hans am Schreibtisch stehn sah. Hans von Hochfeld, ebenso lang aufgeschossen und mager wie der Oheim, aber auch ebenso kräftig gebaut, mit dem noch etwas kindlich runden Gesicht eines guten Jungen, stand wie wartend da, Hut und Reitpeitsche in der Hand, in seinem feinsten Sommeranzug. Er machte eine militärische Verbeugung; er hatte sein Dienstjahr hinter sich.

„Hab’ eben ein Telegramm gebracht,“ antwortete er und deutete auf den Tisch. „Der Bote kam damit vor fünf Minuten. Ich dachte wohl, du kämst jetzt bald; denn ich sah den Inspektor, mit dem du fortgegangen warst, in seine Wohnung gehn.“

Merkwürdig gescheit! dachte Hochfeld; er hatte sonst von den Geistesgaben seines Neffen und „Volontärs“ eine geringe Meinung. Mit der trägen, erwartungslosen Gebärde eines vereinsamten Menschen, dem das äußere Leben wenig bringt, nahm er das Telegramm vom Tisch und öffnete es. Aus Dresden! sah er; und von seiner Frau. „Bestimme, ob Luise hinauskommen soll, und wann, und wie lange. Sie grüßt ihren Vater zärtlich. Clotilde.“

Seine Brauen zogen sich wieder zusammen; ja, das ist ganz ihr Stil! fuhr ihm durch den Kopf. Ich soll immer bestimmen, entscheiden, erzwingen; wo sich eigentlich alles von selbst versteht, oder durch guten Willen sich von selbst ergäbe, da soll ich den Herrn spielen. Warum denn? Damit sie sich dann als Märtyrerin fühlen kann? Oder weil sie weiß, wie sehr ich dies Erzwingen hasse, und sich darauf verläßt: es wird nichts geschehn, alles bleibt wie es ist, ich kann weiter thun und lassen, was ich will?

[533] Ist denn das noch eine Ehe? dachte er und schloß die Augen. Jetzt fiel ihm aber ein, daß er nicht allein war; er hatte wohl auch eine Bewegung, ein Geräusch gehört. Indem er die Depesche auf den Schreibtisch legte, sah er über den Neffen hin. „Du hast dich ja so fein gemacht. Willst du noch nach Dresden?“

Hans nickte vergnügt. „Ich hab’ ein paar Besorgungen in der Stadt; bei der Gelegenheit möcht’ ich bei den Tanten vorsprechen, – natürlich wenn du’s erlaubst. Nun ist ja auch Cousine Luise da. Muß sie doch begrüßen.“

„Natürlich.“

„Und dann überhaupt – in der Villa Viola soll es jetzt sehr lustig sein. Interessanter Besuch aus Berlin; dazu die fidelste Dresdener Gesellschaft. Immer was los!“

Hochfeld blickte den jungen Nachwuchs mit etwas spöttischem Lächeln an. „Dir blitzt ja die Lebenslust förmlich aus den Augen,“ sagte er dann, durchs Zimmer gehend. „O ja, da ist ‚immer was los‘. Das richtige moderne Deutschland; seit wir ein reiches Volk werden, mehrt sich auch der Uebermut. Immer Geld ausgeben, immer uns amüsieren, uns amüsieren – und Sozialdemokraten züchten! Das verstehn sie in der Villa Viola. Die Villa Viola immer mit voran!“

Hans verzog aus Respekt keine Miene; auf seinem offenherzigen Gesicht stand aber doch leserlich genug geschrieben: du kannst lange reden, eh mir was gefällt! – Nein, dachte er und wunderte sich: wie dieser Onkel Julius sich verändert hat. Vor zwei, drei Jahren, wie famos konnt’ er lachen; ein ganz entschieden fideles Haus. Und jetzt – entweder sinnt er vor sich hin und spricht lang’ kein Wort – oder es kommt alles so gallig heraus. Der lebt eben viel zu einsam. Der sollt’ in die Welt!

Onkel Julius war an die große Glasthür getreten, die in den Garten führte; er kam wieder zurück. „Früher,“ murmelte er, „da war’s anders! – In Dresden, mein’ ich. Aus meiner Knabenzeit erinner’ ich mich: neben der Villa Viola stand eine andre, auch sehr schöne, da wurden auch wir Jungens manchmal eingeladen, spielten im Garten, an der Elbe, oder in den Zimmern. Manchmal wohl an hundert Menschen beisammen; vortreffliche, reichliche Bewirtung, große Fröhlichkeit; aber gar kein Prunk. Vornehm und urgemütlich! Am frühen Nachmittag fing’s an; Punkt zehn Uhr war’s aus. Dann erschien der Hausherr, der alte Großvater, den man bis dahin gar nicht gesehen hatte; der kleine Mann mit dem großen, klugen, sonderbaren Kopf ging durch alle Zimmer, grüßte alle Leute – so mit der Hand, ich seh’ es noch – und verschwand dann wieder, Gott weiß wo. Das war das Zeichen zum Aufbruch: alle Mann hinaus!“

Hans stieß ein kleines Lachen hervor. „Das ist komisch, Onkel!“

„Meinetwegen war’s komisch. Aber wenn man nun an die Hausthür kam, so hielten da so viele Wagen, alle vom alten Großvater gestellt, daß jeder nach Hause fahren konnte; kein Mensch brauchte zu Fuß zu gehn. Das war gar nicht übel, Hans! Hat mir sehr gefallen. Eine gute, drollige Gastfreiheit; – sonst aber keine Spur von Prunk. Dagegen jetzt bei unsern Morlands, in der Villa Viola – na, und überhaupt. Ein [534] Taumel von Genießen! Die Jagd nach dem Geld, und dann die Parforcejagd nach dem Vergnügen. – Ich bin froh, daß ich draußen bin. Zwei Meilen weit davon – ich kann auch zweitausend sagen. Mit meiner Landwirtschaft, meinen Blumen, meinen Büchern … Ich bin froh! Ich bin froh!“

Er ging mit aufgeregten, unruhigen Schritten durch das große Zimmer hin.

Hans sah ihm mit den rundlichen Augen nach. Ach, du bist ja gar nicht so froh, sagte er inwendig, ohne sich zu rühren. Du thust ja doch nur so, Onkel Julius. – Villa Viola hoch! Das ist meine Meinung. – Er wird alt, der Onkel. – Und sonst so ein Prachtmensch. – Will machen, daß ich fortkomm’!

„Hast du was in der Stadt zu bestellen?“ fragte er, als Hochfeld mit gesenktem Kopf wieder näher trat.

„Zu bestellen? Nein. – Allerdings, wegen dieses Telegramms da kannst du der Tante Clotilde sagen – – ja, was denn? – Es wird sich finden, sag ihr nur; ich weiß es noch nicht. Vielleicht – vielleicht fahr’ ich heut noch selber hinein, auf ’ne halbe Stunde, um das Kind zu sehn. Das Weitere wird sich finden, wird sich finden …“

„Sehr wohl, Onkel Julius.“

„Du willst natürlich reiten?“

„Ja.“

„Nimm nur ’nen Mantel mit. Es wird vielleicht am Abend plötzlich kalt.“

Hans lächelte. „Ein so abgehärtetes Menschenkind wie ich! – Wir haben ja noch August.“

„Kaum noch; beinah schon September. Und du kennst doch unser Klima, Junge: heiße Tage, kühle Abende. – Dein dünnes Röckchen.“

„Aber darunter ein warmes Herz!“ erwiderte Hans mit einem seiner „schuldlosen Scherze“, wie sie der kritische Onkel nannte. „Und zwar ein Soldatenherz. – Also auf Wiedersehn!“

Nein, was der sorgenvoll wird! dachte er und ging aus der Thür.

Julius zuckte die Achseln. Er sah durch die Glasthür auf den Himmel hinaus; wolkenlose Bläue lag über den hohen, besonnten Wipfeln und Kronen des Gartens. Es war noch ein richtiger Sommertag … Plötzlich überlief ihn doch ein Frösteln; warum? woher? Es mußte wohl aus der Seele kommen. Ihm war auf einmal alles leer und tot; die besonnte Welt, dieses schattige Zimmer, die Jagdtrophäen an der Wand, die Bilder, die Bücher, die hohen Yucca’s, die mächtigen Philodendren, die Statuen dazwischen. Ein Ekel an allem legte sich wie ein glattes, häßliches Ungeheuer um ihn her, umgeiferte, umschnürte ihn, schüttelte ihn dann. Es war, wie wenn nichts mehr lebte, als das dumme Blatt da auf dem Tisch, das kalte, nichtssagende Telegramm. „Bestimme, ob Luise hinauskommen soll. – Sie grüßt ihren Vater zärtlich. Clotilde.“ Warum grüßt sie ihren Vater von der Villa Viola aus? Weiß sie auch schon nicht mehr, wohin sie gehört? Hat sich dieses junge Ding schon hineingefunden, daß Vater und Mutter ihre gesonderten Wege gehn? Und hält sie zu ihrem Geschlecht? Thut sie, was die Mutter will? Ist sie doch mehr der Mutter Kind?

Und er hatte doch oft im Stillen, mit heimlicher Freude gedacht: sie ist mehr mein Blut …

Ein wilder Entschluß, den er in sich kommen und wachsen sah, stand ihm auf einmal fest in der Brust. „Nein!“ sagte er laut gegen den Tisch, gegen das Telegramm hinunter, „so halt’ ich’s nicht aus! Diese Halbheit – das ist der Tod. Dabei vergeht einem ja die Menschenwürde. Ein Ende machen! so oder so!“

Er sah den alten Mahnke, seinen zweiten Diener, durch den Garten gehn; Friedrich, den besseren, hatte er in seiner ritterlichen Art bei Clotilden gelassen. Er trat in die Gartenthür. „Mahnke!“ rief er. Der Alte kam heran.

„Lassen Sie anspannen; den Zweisitzer. Legen Sie meinen Mantel hinein. Ich fahr’ in die Stadt!“


2.

Hochfelds Gut lag nicht an der Elbe, sondern hinter Hosterwitz und Pillnitz nach Nordosten ins Land hinein; die beiden Straßen, die nach Dresden führten, waren ungefähr gleich weit, gegen vierzehn Kilometer lang. Hans, auf seinem Braunen, wählte den hübscheren Weg, nach Hosterwitz hinunter und dann an der Elbe fort. Bei so schönem Wetter wie heut war es ihm ein immer neues Vergnügen, zwischen Fluß und Höhen hinzureiten; rechts die Hügel mit Villen bedeckt, links nahe und fernere Dörfer über die Ebene hingestreut, dazwischen der spiegelnde Strom, auf dem die Personendampfer, die Schlepper so heiter auf und nieder fuhren, als wäre das ganze Leben nur ein lustiges Hin und Her. Dann wuchs ihm die große Stadt entgegen; zuerst ihre Vorboten: Loschwitz, Blasewitz, die Schillerdörfer (auch Hans von Hochfeld kannte seinen Schiller, wenn er ihn auch ein wenig als unmodern verachtete); darauf die Vorstädte hüben und drüben, die hochragenden Kirchen, die unzähligen Bäder im Strom, die große Terrasse, die Villen und die Gärten. Erst das Geschäft, dann das Vergnügen! hatte er sich unterwegs als Ehrenmann mehrmals vorgesagt, sogar vorgesungen; denn an Pflichtgefühl fehlte es ihm nicht. Zuerst die Besorgungen drüben in der Altstadt, dann wieder herüber und in die Villa Viola! – Nur als ihn seine Straße geradezu an dieser Villa vorbeiführte – das schöne weiße Gebäude mit dem vergoldeten Balkon lag so aufdringlich am Weg – da schüttelte er den jungen Kopf. So vorbeizureiten, dachte er, das ist doch zu dumm! Man kann doch erst mal sehn, was die Leute hier machen …

In der Thür, unter dem Balkon, stand Heinrich, der Diener; Hans stieg ab und übergab ihm sein Pferd. In seiner neugierigen Ungeduld sprang er dann sogleich ins Haus. Sonderbar! Das hatte er sich anders gedacht: alles war still, die Zimmer leer; kein Mensch und keine Katze zu sehn. Er ging immer geradeaus, durch den runden Saal, der ihm so besonders gefiel, den oben eine ebenso runde Altane umlief, auf die eine Menge Thüren mündete; auch hier tiefe Stille. Im Gartensalon war’s ebenso. Durch die große Glasthür und die hohen Fenster sah er die belebte Elbe und die Altstadt drüben, ein „famoses Bild“; um ihn her regte sich aber nichts. Erst als er dann in den Garten trat, sah er einen Menschen; dessen Anblick war aber auch unerwartet. Friedrich, der Hochfeldsche Diener, in der Hochfeldschen Livree, der „Musterdiener“, saß am Eingang einer Laube im Schatten, an einem Tischchen, auf das er die Hand und den Kopf gelegt hatte, und schlief. Man konnte ihn sogar leise schnarchen hören.

Hans ging kopfschüttelnd auf ihn zu. „Friedrich!“ rief er ihn nach einer Weile an.

Der Diener erwachte sofort, sah, wie und wo er war, und machte ein so verlegen beschämtes Gesicht, daß der Jüngling auflachte. „Was Tausend!“ sagte er. „Friedrich! Musterknabe! Sie schnarchen hier am hellen Tag?“

Friedrich stand auf; er versuchte zu lächeln, es gelang ihm aber nicht. „Das sagen Sie wohl, Herr von Hochfeld,“ erwiderte er verdrießlich. „Die Natur fordert ja bekanntlich ihre Rechte; wen man bei Nacht nicht ausschlafen läßt, der muß dann bei Tage schlafen. Das ist ’ne alte Geschichte –“

„Ihr lebt hier so lustig?“ fiel ihm Hans ins Wort.

„Es giebt immer was,“ sagte Friedrich langsam. „Den Herrschaften fällt so vieles ein, was notwendig geschehen muß: bald ’ne große Reitpartie, bald ein Kegelabend hier im Garten, mit ausgesetzten Preisen; dann ein Feuerwerk. Und getanzt wird – wer weiß, wie oft. Und wer weiß, wie lange. Wir machen ja auch viel Musik, Herr von Hochfeld. Heut abend werden wir im Konzertsaal ,lebende Bilder‘ haben; zum Schluß italienische Mondscheinnacht im Garten, am Wasser –“

„Teufel!“ rief Hans, wie elektrisiert; es durchzuckte ihn. „Und ich fast jeden Abend mit den Hühnern zu Bett!“

„Sagen Sie nichts gegen die Hühner,“ bemerkte Friedrich; legte sich die Hand vor den Mund und gähnte. „Ich beneide Sie und die Hühner – wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.“

„Aber Sie sind doch nur für meine Tante hier!“

Friedrich schüttelte lächelnd den Kopf: „Ach ne, sagen Sie das nicht. Frau von Hochfeld leiht mich her; ich mach’ alles mit. Das ist ja auch ganz in der Ordnung; dagegen sag’ ich ja nichts. Heinrich und der kleine dumme Junge, wie wollten die mit dieser Wirtschaft fertig werden; die lägen ja schon unter dem Rasen, Herr von Hochfeld. Ach ne, es ist sehr gut, daß ich hier bin. Wir drei –“

[535] Er brachte den Satz nicht zu Ende, weil er wieder gähnte.

„Armer Friedrich!“ sagte Hans mit seinem gutmütigsten Lächeln und legte dem Märtyrer eine seiner großen Hände auf die Schulter. – „Wo ist denn aber jetzt die ganze Gesellschaft?“

„In der Villa Eberhard; da war heut nachmittag große Quadrille. Nämlich auf dem Wasser; die Villa Eberhard hat einen kleinen See, den haben wir nicht. Nun werden sie aber wohl nach Hause kommen …“

Friedrich sah auf seine Uhr und nickte.

Hans warf sich auf einen Stuhl, vor Aufregung. „Quadrille auf dem Seel – Lebende Bilder! – Himmeldonnerwetter, und ich wieder aufs Land!“

Der Diener sah ihn schweigend an; sein kluges Gesicht war nun wieder musterhaft verschlossen. Ja, hätt’ ich nur dein Pferd! dachte er. Und könnt’ ich aus dieser Fidelität hinausreiten, zu meinem gnädigen Herrn!

„Hans!“ rief jetzt eine helle, angenehme Stimme. In der offengebliebenen Thür des Gartensaals erschien die Tante Clotilde; die noch jugendlich schlanke, schöne Gestalt, in einem reizenden Ruderkostüm, ein Matrosenhütchen auf dem Kopf, einen glitzernden Orden an der Brust, winkte mit der Hand. Hans sprang auf, ihr entgegen; sie kam aber schon heraus, mit den raschen, herzhaften Bewegungen, die er an ihr liebte. „Na, Landjunkerchen?“ sagte sie gemütlich lächelnd, als sie vor ihm stand, und gab ihm die Hand. „Sieht man dich einmal? – Ich entdeckte dich eben, als ich in den Saal trat; da schlug mir das Tantenherz, und ich bin den andern weggelaufen.“

„Beste aller lebenden Tanten!“ entgegnete Hans; es war seine ehrliche Meinung. Er staunte sie eine Weile an: wie jung und wie hübsch sie noch war mit ihren fünfunddreißig Jahren. Dann küßte er ihr die Hand.

„Ach du lieber Gott!“ rief sie nun aus, da sie dem herangetretenen Friedrich in das farblose, müde, schlaffe Gesicht gesehen hatte; auch sein verstohlenes Gähnen unterwegs hatte sie bemerkt. „Armer Friedrich! Was für ein Bild des Jammers. Mund auf, Augen zu!“

Friedrich wehrte ihr Mitleid ab. „Ach ne, gnädige Frau, es ist nicht so schlimm –“

„Sie sind ja hoffnungslos müde, Friedrich!“

Er schüttelte den Kopf.

„Mein gutes Herz, leugnen Sie doch nicht. – Sie halten dieses Leben nicht aus. Ich hab’s schon gefürchtet. Na, und jetzt verwünschen Sie mich!“

Friedrich widersprach mit Händen und Füßen. Er hing an seiner gnädigen Frau, er war auf seine Weise verliebt in sie. Seine verneinenden Bewegungen wurden so leidenschaftlich, daß Hans plötzlich auflachte; Clotilde lächelte.

„Es geht ja auch ziemlich toll bei uns zu!“ sagte sie in ihrer drolligen Aufrichtigkeit. „Wird ja aber anders werden, Sie Armer, früher oder später. Jetzt sollen Sie schlafen; machen Sie, daß Sie fortkommen. Gehn Sie in Ihr Zimmer, legen Sie sich hin!“

„Um Gottes willen,“ erwiderte Friedrich und wand sich, „liebe gnädige Frau! Machen Sie mich nicht zum Kinderspott!“

„Ich brauch’ Sie jetzt nicht.“

„Aber vielleicht Frau Morland, oder –“

„Niemand, niemand. Wenn ich’s Ihnen sage. Gehn Sie! Ich will es!“

Ihre braunen Augen blitzten ihn so liebenswürdig herrisch an, daß er sich wohl fügen mußte. Er zuckte aber die Achseln: „Schlafen werd’ ich doch nicht –“

„Na, dann ruhen Sie!“ fiel sie ihm ins Wort. Sie nahm ihn mit beiden Händen und schob ihn sanft dem Hause zu. „Fort, fort, fort!“

Friedrich ging, mit unterwürfig gesenktem Rücken; in den Schultern rührte sich aber noch der letzte Trotz. Ach ja, wenn sie nicht so gut wäre, dachte er, indem er ins Haus trat. Aber was will man machen; ihr Herz ist zu gut!


3.

Clotilde blickte ihm mitleidig nach; dann stieß sie einen leisen Seufzer aus und ging auf die Laube zu. Sie ließ sich auf denselben Sessel fallen, auf dem vorhin Friedrich geschnarcht hatte. „Ah!“ seufzte sie noch einmal. „Müde bin ich auch. An allen Gliedern.“ Sie sah das „Landjunkerchen“ komisch wehleidig an. „Hans! Hans! Ich werd’ alt!“

Hans lächelte nur. – „Ihr kommt eben von der Ruderpartie?“

Sie nickte.

„Siehst du diesen verrückten Orden hier? Den hat mir der Schwager Morland angeheftet; ’s ist der Ruderpreis. Ja, du glücklicher junger Mensch, deine Tante hat sich ausgezeichnet! Als Führerin ihres Seelentränkers, bei der großen Quadrille –“

„Seelentränker!“ unterbrach er sie. „Was ist das?“

„Das weiß nun wieder Hänschen nicht. Ach, du unschuldiger Krautjunker! – Was ein Seelentränker ist? Hast du noch nie so ’ne Nußschale gesehn? Eine Nußschale für einen Menschen, mit einem Ruder, das man so hin und her schlägt, nach rechts und nach links – das ist ein Seelentränker; und frag mich nicht, was das Wort bedeutet, denn ich weiß es nicht. Sitzend liegt man drin – verstehst du – wie ein Kind auf einem Riesenblatt der Victoria Regia; und wie in einem Traum schwimmt man dann dahin …“

Clotilde, die Todmüde, sprang auf; alle ihre Glieder fingen an zu sprechen. „Nun kommen sie aber von allen Seiten heran, verstehst du, diese schwimmenden, bunten Blätter; auf jedem rudert ein Herr oder eine Dame. Und alle rudern aufeinander zu, wie um sich in den Grund zu bohren; dann – auf ein Kommando – wieder alle zurück, pfeilschnell auseinander. Dann alle im Kreise herum, langsam, wie Schwäne hintereinander her. Nun in zwei Reihen senkrecht aufeinander, ein großes schwimmendes Kreuz; und nun Paar an Paar – wachsen zusammen, verstehst du – wachsen auseinander – fliehen sich, finden sich – wie Libellen, die über dem Wasser tanzen. Endlich, wenn es keine Figur mehr giebt, die man nicht gemacht hat, dann salutiert man mit dem Ruder – feierliche Verneigung – aus ist’s.“

Sie sank wieder auf ihren Stuhl und fächelte sich mit ihrem Taschentuch. „Siehst du, mein Sohn, das ist die Quadrille!“

Hans schüttelte bewundernd den Kopf. Dann seufzte er vor Aufregung. „Und ich draußen, als Stoppelhopser!“

„Natürlich,“ sagte Clotilde mit mütterlichem Ernst; „das ist ja dein Beruf! – Na, wie schlägt dir’s an?“

„Danke,“ erwiderte er und setzte sich auch. „So, so. Das landwirtschaftliche Studium, weißt du, das war lustiger; aber ich mußte ja endlich gründlich ins Praktische hinein, und dafür bin ich auch mehr gemacht, als für die Studia. Der Inspektor, unter dem ich als Volontär diene, ist ja leidlich zufrieden.“ Er lächelte treuherzig: „Für ein großes Licht scheint er mich zwar nicht zu halten –“

Clotilde zuckte heiter die Achseln.

„Er behandelt mich aber mit Achtung; sehr nett. Uebrigens soll ich dir vorläufig von ihm sagen, daß er sehr gerührt ist: du hast ja seiner Frau eine ganze Apotheke geschickt.“

„Wird sie besser?“

„Ja; sehr. – Er ist doppelt gerührt, sagt er, daß du bei deinem großstädtischen, ruhelosen Leben –“

Clotilde, die sich plötzlich verfinsterte, machte eine ungeduldige Bewegung, so daß er verstummte. Das hätt’ ich wohl nicht sagen sollen, fuhr ihm durch den Kopf. Das war wohl recht dumm!

Sie ward indessen schnell wieder heiter; in ihrer reizend leichtlebigen, raschen Art, die ihm so gefiel. „Na, und du?“ fragte sie, als hätte er das andre zu Ende gesprochen. „Hast dich von deiner letzten Verliebung erholt?“

„Ja,“ erwiderte er vergnügt. „Das ist vorbei. Da hatt’st du wieder mal recht, Tante; wie immer. Die hätt’ nicht für mich gepaßt.“

Clotilde nickte zustimmend.

„Nein,“ bekräftigte er lächelnd, „das war eine Dummheit. – Das ist ganz vorbei!“

„Junge,“ sagte Clotilde, die ihn mit den klugen Frauenaugen forschend betrachtete, „du ängstigst mich. ,Das ist vorbei’ … Du sprichst ja, wie wenn schon wieder etwas andres – –“

[536] Hans lachte zutraulich auf. „Dein bekannter Generalstabsblick! – Es ist aber nicht von Bedeutung, beruhige dich. Will dir nur pflichtschuldig beichten, daß mir neulich, als ich zum Theater in die Stadt kam, eine reizende junge Dame mit wunderbar frischen Farben sehr – sehr imponiert hat –“

„Schon wieder! – Kennst du sie?“

„Ja. Ich wurd’ ihr im Zwischenakt vorgestellt. Fräulein von Sabirow. – Kennst du sie auch?“

Clotilde nickte ernsthaft. „Ja. Sie malt sich sehr ähnlich.“

Malt sich? – Wieso ähnlich?“

„Vor zehn Jahren sah sie grade so aus wie jetzt!“

Er starrte die Tante verblüfft und daher nicht sehr geistreich an. „Vor zehn Jahren?“

„Ja.“

„Sie malt sich?“

„Ja. – Ja, mein Herzchen, deine unschuldigen Landjunkeraugen wählen bis jetzt nicht besonders glücklich. – – Einen mütterlichen Rat möcht’ ich dir bei der Gelegenheit noch geben; darf ich?“

„Bitte!“

„Du suchst durchaus schon deine Zukünftige; – na ja, meinetwegen. Der zukünftige Gutsbesitzer … Aber du Unglücklicher hast offenbar die fixe Idee, dich so recht durch einen Gegensatz zu ergänzen;“ Clotilde seufzte leise und blickte auf die Erde; „gieb das auf, mein Junge. Glaub mir, Mann und Weib sind von Natur schon verschieden genug! Wenn nun gar Schwarz und Weiß sich zusammenthun, so nebeneinander auf die Scheibe gemalt – hast wohl einmal so ’ne Scheibe gesehn, in ’ner physikalischen Vorstellung –“

Er nickte.

„Und wenn dann in der Ehe die Scheibe sich zu drehen anfängt – so wird, grade wie in der Physik, ein trauriges Grau daraus! – Nein, nimm dir lieber eine, die von deiner Art ist. Wirst dich immer noch wundern, Hänschen, wie die Bäume auseinander wachsen, du nach rechts, sie nach links; dafür ist gesorgt!“

Es war ihm, wie wenn er sie wieder leise seufzen hörte; er wußte auch, warum. Es ging ihm zu Herzen. Etwas befangen antwortete er nach einer Pause: „Ja, ja. – Ja, ja.“ Er schwang sich zu einem befreienden Scherz auf: „Ich hab’ ja vor der Weisheit meiner Tante Clotilde allen denkbaren Respekt. Bist ja mein Professor der Lebenskunst! – Ueberhaupt – meine Verehrung – – weißt du, daß ich deine Photographie immer bei mir führe? hier?“

Er griff in seine Brusttasche und zog eine Photographie in Kabinettsform hervor. Sie erkannte sie.

„Welche Ehre!“ sagte sie und lachte. „Rührender junger Mensch!“

Er steckte sie wieder ein. Plötzlich kam ihm der Gedanke, der ihm wohl schon eine Weile unklar die Brust beschwert hatte: Sie fragt gar nicht nach ihrem Mann!

In demselben Augenblick dachte ClotUde: Er spricht nicht von Julius!

Hans faßte Mut.

Mit einem diplomatischen Umweg begann er: „Ich reit’ also noch heute abend wieder hinaus. Der – – Mein Cousinchen ist also hier?“

„Ja, seit drei Tagen. Ich hab’ nun eine große, sechzehnjährige Tochter …“

Sie sah ihn erwartend an; er sie auch.

Er nahm wieder das Wort, vor Verlegenheit und Anstrengung rot geworden: „Und Luise – und ihr – und du denkst hier noch lange zu bleiben?“

„In der Villa Viola?“

„Ja.“

„Warum sollt’ ich fort?“ – Sie stand auf. – „Hat dir Onkel Julius – ?“

Hans erhob sich auch. „Was, Tante?“

„Das frag’ ich dich. – Ich hab’ ihm eine Depesche geschickt. Hast du die noch gesehn?“

„O ja. Freilich, Tante. Eh ich fortritt, hab’ ich sie ihm noch auf den Tisch gelegt; und er kam dann und –“

„Und hat sie gelesen?“

„Natürlich. Ja.“

„Und – und – – und er hat dir keine Antwort darauf mitgegeben?“

Hans ward wieder rot. Es kam ihm auf einmal abscheulich märchenhaft vor, daß zwischen diesen beiden Menschen, die er so verehrte, er, Hans von Hochfeld, auf eine so verrückte Art den Vermittler spielte.

„Mitgegeben?“ fragte er zurück, da ihm gar nichts anderes einfallen wollte.

„Nu ja!“ sagte Clotilde, die auch ein Erröten anflog. „Einen Zettel? ein Blatt Papier? ein Billet?“

Er schüttelte eine Weile den Kopf.

„Also keine Antwort?“

„Doch, doch. Es wird sich finden, soll ich dir sagen. Er weiß es noch nicht.“

„Ah! Er weiß es noch nicht!“

„So hat er gesagt. Das Weitere wird sich finden: das waren seine letzten Worte. Vielleicht, sagte er, kommt er noch selber auf ’ne halbe Stunde, um Luise zu sehn.“

„Hm!“ murmelte sie. „Auf ’ne halbe Stunde …“

Sie machte ein paar kurze Schritte; in vollkommener äußerer Fassung kam sie dann zurück. „Luise wird sich freuen,“ warf sie hin. „Sie erwartet ihn schon. – Dann ist ja alles gut und in Ordnung … Warum hast du das nicht gleich gesagt? Hast wohl unterwegs zu viel an die Selbstmalerin, die Sabirow, gedacht! – – Na, und wie lebt ihr denn?“

„Onkel Julius und ich?“

Sie nickte ungeduldig.

„Danke; so, so. – Ich bin ja keine große Unterhaltung für ihn, er ist aber sehr gut zu mir. Wenn er allein in seinem Zimmer speist, dann ess’ ich in meinem; oft essen wir aber auch zusammen im Speisesaal; manchmal der Inspektor mit. Dann wird viel von Politik und Landwirtschaft gesprochen –“

„Und wenn ihr beide zusammen eßt?“

Hans zuckte die Achseln. „Ja, dann spricht der Onkel nicht gar so viel. Er brütet oft vor sich hin; er –“

Clotilde machte eine Bewegung, daß er wieder verstummte. Sie faßte sich aber geschwind. Durch eine zweite Gebärde schien sie ihm zu sagen: sprich nur ruhig weiter!

„Onkel Julius ist übrigens sehr thätig,“ fing er denn auch geschwind wieder an. „Er wandert viel mit dem Inspektor herum; er sitzt halbe Tage über seinen Büchern; besonders glücklich ist er mit seiner alten Liebe, seinen Blumen und Pflanzen. Neulich haben wir zur Abwechselung ein Unglück gehabt –“

„Ein Unglück?“

„Nur ein kleines. Das heißt, doch ein Meter sechzig hoch. Von den beiden großen Gipsstatuen, die in Onkel Julius’ Arbeitszimmer stehn – Flora und Fortuna – ist die eine zerschlagen worden –“

„Durch wen?“ fragte Clotilde.

„Durch den alten Mahnke. Er fiel.“

„Welche denn?“

„Die Fortuna.“

„Oh!“

Ueber ihr bisher gleichgültiges Gesicht flog ein Zucken hin. Sie wendete sich langsam ab. Endlich wiederholte sie leise, in einem schmerzlich abergläubischen Gefühl: „Die Fortuna …“

„Ja,“ murmelte Hans.

Clotilde ging am Rasenplatz hin, gegen die Elbe zu. Ihr war schlecht zu Mut; das kam jetzt so leicht bei ihr, bei geringem Anlaß. Und auf meine Depesche, dachte sie, nur eine mündliche Antwort; durch den Jungen da. ,Das wird sich finden.‘ ‚Vielleicht kommt er auf ’ne halbe Stunde her.‘ Aber nur um das Kind zu sehn …

O Julius! Julius! Was ist aus uns geworden?

Es erwachte nun aber ihr alter Trotz. Sie drückte die Fäuste gegeneinander, daß die Ringe an ihren Fingern ihr weh thaten. Soll ich mich mit ihm aus der Welt verbannen, weil er die Laune hat, weltmüde zu sein? Sind wir denn alt und grau? – Fünfundvierzig ist er alt, und ich fünfunddreißig. – Ich will leben! leben!

[568]
4.

Als Clotilde sich zurückwandte, sah sie im Gartensalon die Gesellschaft, die sich an der offenen Thür zu sammeln schien; Hans starrte neugierig hin. „Ich bin doch recht dumm,“ sagte sie, wieder in ihrem hellen, heiteren Weltton: „Hänschen will etwas erleben, und ich frag’ ihn hier nach dem alten Mahnke und nach der Landwirtschaft aus. Komm, mein Sohn: da ist die Quadrille!“

Hans, dessen Augen strahlten, wollte noch galant widersprechen; Clotilde hörte aber nicht, sie nahm seinen Arm und ging mit ihm ins Haus. Morland, der Hausherr, hatte in der That aus seinen Gästen, Damen und Herren, eine Gruppe gebildet; seine behagliche, phlegmatische, wohlbeleibte Gestalt mit der hohen Glatze trat vor, feierlich, so weit sie das konnte. Nach einem flüchtigen Blick und Gruß für Hans und einem humoristischen Räuspern nahm er das Wort: „Meine hochzuverehrende Schwägerin Clotilde, edler Gast meines Hauses! Es hat der werten Gesellschaft gefallen, dir außer dem Orden, den ich die Ehre hatte dir anzuheften, noch ein besonderes, festliches Ehrenzeichen zu widmen –“

Fanny, Morlands Frau, fiel ihm wie gewöhnlich in die Rede. Auf die jungen Damen neben ihr deutend setzte sie hinzu: „Das unsre liebreizende Jugend gepflückt und gewunden hat!“

Sie winkte einer der jungen Damen, einer stattlichen, beinahe schon üppigen Wohlgestalt; nun trat diese auf Clotilde zu. Mit etwas theatralischer Gebärde hob sie den Kranz in die Höhe, den sie in der Hand hielt, einen einfachen Kranz, den aber viele Seerosen schmückten, und sagte mit ihrer etwas rauhen, bedeckten Stimme: „Und ich soll die unverdiente Ehre haben, es zu überreichen. Diesen Kranz – unsrer Ruderkönigin!“

„Evviva!“ rief einer der Herren, der Bankier Ellenberger.

„Sie lebe hoch!“ schrie Morland.

Clotilde wehrte mit beiden Händen ab; sie hatte ihren jungen Ritter losgelassen. „Nein, nein, nein!“ rief sie aus. „Das ist Uebertreibung! Ich werde ja prämiiert wie bei einem landwirtschaftlichen Fest. Außerdem ist es ungerecht, muß ja den blassen Neid gegen mich erwecken. Diesen Kranz hätte Fräulein Jeannette von Lossow, unsre kühnste Reiterin, verdient … Da!“

Sie nahm ihn der stattlichen jungen Dame aus der Hand, aber nur um ihn ihr auf den Lockenkopf zu setzen. Dies gelang ihr indessen nicht; Jeannette von Lossow war stärker, oder gewaltthätiger. Sie ergriff den Kranz wieder; „nein, nein!“ sagte sie nun auch. „Der Königin der Gesellschaft!“ Damit drückte sie ihn Clotilden fest auf die Stirn.

„Bravo, bravo!“ rief Ellenberger.

Fanny Morland stellte sich vor Clotilde – sie hatten ungefähr den gleichen Wuchs, Fanny war aber voller, rundlicher geworden – und verneigte sich drollig gegen ihre Gäste, als wäre sie Clotilde. „Im Namen meiner Schwester dank’ ich der verehrten Gesellschaft und erkläre hiermit: Angenommen, Punktum!“

Clotilde zuckte mit den Achseln: „Was soll ich machen? Ich weiche der Gewalt. – Sehn Sie, großmütiges Fräulein Jeannette, wie mein Neffe sie bewundert; wahrhaftig, er hält förmlich den Atem an. Mein Neffe Hans von Hochfeld, den Sie noch nicht kennen.“

Hans verneigte sich tief; bei dieser übermütigen Bemerkung der Tante waren seine Wangen sehr erglüht. Er beeilte sich dann, Morland und Frau Fanny zu begrüben; ein beinahe krampfhaftes Lächeln stand auf seinem Gesicht.

„Nein, ihr treibt’s zu arg!“ fing Clotilde noch wieder an. „Man verwöhnt mich hier so, daß ich’s endlich gar nicht mehr aushalten werde, auf dem Lande zu leben.“

„Na, das wär’ ja gut!“ rief Fräulein von Lossow. „Kommen Sie nur zu uns nach Berlin! Da gehören Sie hin!“

Ellenberger lachte. Mit dem Fräulein durch den Saal gehend, summte er leise die bekannten, abgeleierten Verse (damals noch nicht so abgeleiert wie jetzt):

„Du bist verrückt, mein Kind,
Du mußt nach Berlin . . .“

„Tante Clotilde!“ flüsterte Hans, der dem Fräulein mit großen Augen nachblickte. „Aber die ist doch richtig jung?“

„O ja,“ antwortete Clotilde leise, mit dem geschulten Tondämpfen der Weltdame; „nach ihrem Taufschein sehr jung.“

„Ein ganz reizendes –! – Du! Ob die sich wohl für einen Landjunker wie mich –“

Er stockte.

„Interessieren könnte?“

Er nickte.

„Wenn du ein Pferd wärst, o ja!“

„Was heißt das?“

Clotilde blickte ihn lächelnd an; er verstand dieses Lächeln nicht. Der Bankier und Fräulein von Lossow kamen eben plaudernd zurück. „Fräulein Jeannette,“ sagte Clotilde, „ich muß Ihnen etwas verraten, das Sie nicht glauben werden: dieser mein Neffe, ein sonst braver Mensch, weiß noch nichts von Stronzian!“

Jeannettens wasserblaue Augen, für die große Gestalt zu klein, sahen dem jungen Menschen starr ins Gesicht. „Sie wissen nichts von Stronzian?“

„Nein,“ antwortete Hans verlegen. „Wer ist Stronzian?“

Ellenberger lachte fast beleidigend. „Sie wissen nicht, wer Stronzian ist? dieses Phänomen?“

„Mein edler Stronzian?“ setzte Jeannette hinzu.

„Ja, Ihr edler Stronzian,“ sagte Ellenberger mit komischem Vorwurf; „aber ich, der ich eins seiner Opfer bin: mit meinen besten Pferden schmählich besiegt –“

„Nämlich Bankier Ellenberger ist auch auf dem Turf zu Hause,“ bemerkte Clotilde, da Hans sie anglotzte.

„Ah!“ rief Hans. „Nun versteh’ ich endlich. Stronzian ist ein Rennpferd!“

Jeannette lächelte einen Augenblick, dann sagte sie wie in tiefem Ernst: „Aber, Herr von Hochfeld, so spricht man nicht von Stronzian. Das ist nach Kincsem das Höchste, was man erlebt hat –“

„Das Pferd aller Pferde,“ warf Ellenberger dazwischen.

Nun trat auch Fanny Morland wieder hinzu, sie schlug ihre lustigen Augen beinahe feierlich auf: „Dessen Namen ich garnicht mehr aussprechen kann, ohne mich zu begeistern!“

„Tante Fanny!“ stieß Hans in seiner Verwunderung hervor. „Du auch?“

„Ja, mein guter Junge. Warum ich denn nicht? Ja, auch ich leb’ und webe jetzt im Stronziankultus. Ich wette auf ihn, ich träume von ihm, ich glaub’ an ihn –“

„Na, das ist keine Kunst,“ rief der dicke Morland; „er gewinnt ja stets!“

Frau Fanny ließ sich aber das Wort nicht nehmen; „ja,“ rief sie aus, „veni, vidi, vici! – Du mußt seine Lebensgeschichte lesen, mein guter Junge; man hat sie gedruckt …“

[570] Sie griff in eine von Morlands Seitentaschen und zog ein paar Blätter hervor. Nach einem Blick durch ihr langgestieltes Augenglas schüttelte sie aber den Kopf: „Nein, das ist es nicht. Das sind die Rennen, die ihm im September und Oktober noch bevorstehn. – Wo ist denn Stronzians Biographie?“

Rechts, wenn ich nicht irre/“ erwiderte Morlands phlegmatischer Bariton.

Fanny griff in seine rechte Seitentasche, ein Heftchen kam zum Vorschein. „Ja, das ist sie. Da!“ Sie drückte dem Neffen das Heft in die Hand. „Vierzigmal gesiegt! – Ich wette von nun an nur noch auf Stronzian! – Mußt dir mal mein Wettbuch anschauen; da wirst du sehn …“ Ihre Hand fuhr noch einmal in Morlands rechte Seitentasche; sie kam aber leer heraus. „Steckt mein Wettbuch denn links?“ fragte sie.

„Nein,“ antwortete Morland mit seiner unanfechtbaren, trockenen Gemütlichkeit. „In der Brusttasche, wenn ich nicht irre.“

Diesmal wollte er selber hineingreifen; Fanny kam ihm aber wie gewöhnlich zuvor; sie fand auch, was sie suchte. Sie hielt ihr kleines Wettbuch empor, dann reichte sie es dem Jüngling hin, der sie und Fräulein Jeannette noch immer tiefverwundert betrachtete. „Studiere das!“ sagte sie lustig ernsthaft; „bilde dich!“

„Und bis er sich gebildet hat,“ setzte Clotilde in demselben Ton hinzu, „verzeihen Sie ihm, Fräulein Jeannette; sein Herz ist eigentlich gut!“ Sie bemerkte jetzt, daß Herr von Marwitz sie mit großer Aufmerksamkeit betrachtete; der einzige „Staatsmann“ in dieser kleinen Gesellschaft, Mitglied des sächsischen Landtags, eine elegante Erscheinung, nur durch eine Brille etwas entstellt. Er lächelte; sehr schmeichelhaft, wie es schien, aber es war doch etwas darin, das ihr eigentlich nicht gefiel. „Worüber lächeln Sie, Herr Politiker?“ fragte sie ohne Zögern; sie sagte gern alles frei heraus. „Mit Ihrem staatsmännischen Lächeln?“

„Ach, das war nur so,“ entgegnete Herr von Marwitz und lächelte wieder: „es war ohne jede politische Bedeutung. Ich – freute mich an Ihnen. Ich sah Sie so an, in Ihrer glücklichen, menschenfreundlichen, entzückenden Heiterkeit, und – und wunderte mich, daß Sie liebenswürdigste Frau doch auch einen Feind haben können. Denn Sie haben einen.“

„Ich?“ fragte Clotilde, nun auch verwundert. „Einen wirklichen Feind?“

„Ja, ja.“

„Wie sieht er denn aus? Was ist das für ’ne Art von Mensch?“

„Einer meiner Kollegen im Landtag; ein nicht sehr hagerer Mann, mit entschieden mehr Schädel als Haaren –“

„Ah!“ fiel Clotilde ihm ins Wort, „nun weiß ich, wen Sie meinen. Der hat mich einst als junges Mädchen angebetet, wie er behauptet; aber nun haßt er mich, wegen der Ochsenrede.“

„Ochsenrede?“ fragte Morland. „Was ist das?“

„Ach, dieser dicke Demosthenes machte mir den Hof; und sein abscheulicher Plan war, mich in den Landtag zu locken, wo mein Herz sich an einer seiner stimmungsvollen Reden tödlich berauschen sollte. In Gottes Namen! sagte ich endlich, morgen reden Sie wieder, um den Staat zu retten; ich nehme Ihre Eintrittskarte und ich gehe hin. Ich will Ihnen dann auch meine Gefühle zeigen: gefällt mir Ihre Rede so sehr, daß sie mich begeistert, dann werd’ ich mein Taschentuch in die Höhe heben und wie eine Fahne schwenken. Bleibt aber die Bezauberung aus, so heb’ ich das Taschentuch nur bis an die Nase und niese hinein! – Ich war nämlich damals ein ziemlich übermütiges Frauenzimmer, meine Herrschaften, und –“

„Na, da sei nur ruhig,“ rief Morland, „das bist du Gottseidank noch!“

„Also das war abgemacht. Ich sitze in der Loge, er unten bei den Rettern des Staats. Die Vorstellung – verzeihen Sie – die Sitzung hat begonnen. ‚Herr N. N. hat das Wort!‘ Mein Demosthenes steht auf –“

Clotilde trat hinter einen Stuhl, auf dessen Lehne sie die Hände legte; sie nahm eine sonderbare Haltung an, es war, wie wenn sie auf einmal breiter und dicker würde. Ein Doppelkinn heuchelnd, ein dümmlich bedeutendes Gesicht machend, begann sie mit einer eigentümlich fetten Stimme: „Meine Herren!“

Marwitz lachte auf. „Sehr gut! Ausgezeichnet! – Bitte, bleiben Sie stehn, gnädige Frau, halten Sie die Rede!“

„Ich soll diese ganze Rede halten?“

„Ja,“ rief Jeannette, „die ganze Rede!“

Ellenberger legte bittend die Hände aneinander: „So, wie Sie gestern beim Thee die Familie Miller spielten. Es war unvergleichlich!“

Clotilde lächelte; für so begeisterte Anerkennungen war sie sehr empfänglich. „Verlangt die ganze Gesellschaft, daß ich die Rede halte?“ Alles drängte näher, alles stimmte lebhaft zu. Jeannette schwenkte ihr Taschentuch.

„Gut, dann red ich, in Gottes Namen. Dann muß ich aber auch alle seine inneren Gedanken sprechen, die er während der Rede hatte – während er mich ansah – kurz, als stünde seine Seele nackt vor Gottes Thron! – Dieser Fächer ist sein Papiermesser, damit muß ich spielen. Diese Frisur“ – sie brachte ihr üppiges braunes Haar etwas in Unordnung – „stellt seine dreizehn Haare vor.“ Das Doppelkinn wuchs ihr wieder, die bedeutende Miene auch; sie that, als knöpfe sie sich den Rock bis oben zu; später knöpfte sie ihn wieder auf. Sie räusperte sich; dann fing sie an, mit der unheimlich fetten Stimme:

„Meine Herren! Es ist eines der ernsten Zeichen unsrer Zeit, daß die ,Ochsenfrage‘, wie ein geistreicher Vorredner den Gegenstand unsrer heutigen Verhandlung genannt hat, daß selbst diese Ochsenfrage zu einer Lebensfrage unsres Staates, ja des ganzen deutschen Vaterlandes wird und an den Säulen der öffentlichen Wohlfahrt rüttelt! Denn –“ Sie unterbrach sich; seitwärts verstohlen in die Höhe blickend, sagte sie leiser und wie für sich: „Ist sie da? – Ja. Sie hat das Taschentuch in der Hand …“

Mit einer drollig breiten und dicken Bewegung wischte sie sich den gedachten Schweiß von der Stirn; laut und kräftig fuhr sie dann fort: „Denn, meine Herren, wenn ein tiefsinniges altes Sprichwort sagt: quod licet Jovi, non licet bovi – was Jupiter darf, darf der Ochse nicht – wie kommen die Ochsen unseres vielbewegten Vaterlandes dazu, die Rolle des Blitzes zu spielen, der plötzlich aus heiterem Himmel auf uns niederfährt?“

Clotilde schielte wieder seitwärts hinauf, als säh’ sie nach der Loge. Ihre Stimme ward leise, blieb aber merkwürdig fettlich: „Warum lächelt sie? Findet sie es witzig –“ sie trocknete sich wieder die Stirn – „oder hab’ ich was Dummes gesagt?“

„Und doch“ – jetzt sprach sie wieder mit schallender Stimme – „und doch handelt es sich hier nicht um jene Ochsenfrage, die leider jedesmal auftaucht, wenn sich eine verderbliche Viehseuche unsern Grenzen nähert –“

Sie schielte und flüsterte: „Ich glaube, sie lächelt mir zu –“

„Auch nicht um weise Maßregeln unsrer Zollpolitik, durch die wir unsern Nationalbesitz an Rindvieh gebührender Weise zu vermehren trachten –“

Wieder schielend, flüsternd: „Warum hebt sie denn schon das Taschentuch? – Nur bis an den Mund ...“

„Sondern um eine jener –“

„Sie hält es sich vor den Mund!“

„Sondern um eine so künstlich aufgebauschte, pfahlbürgerliche Interessenfrage, daß der weiterblickende, echte Vaterlandsfreund wohl mit einigem Unwillen fragen darf: wer ist hier der Ochse?“

Clotilde lächelte selbstzufrieden; ihr kluges Gesicht war prachtvoll dumm. „Das war gut!“ flüsterte sie in sich hinein, nach der Loge schielend. „Ah! Jetzt hebt sie das Taschentuch. – Nein, nur bis zur Nase … Teufel! – – Die Pause wird zu lang …“

„Meine Herren!“ fing sie mit gewaltiger Stimme wieder an. „In einer solchen Lage –“

Ein rasches, erleichtertes Flüstern: „Sie reibt nur ihr Näschen …“

„In einer solchen Lage ist es die Pflicht der Regierung, den frivolen Anstiftern eines solchen Interessenkampfs den Herrn zu zeigen; hier also, den Ochsen bei den Hörnern zu fassen und ihm zuzurufen: ich, der Staat, bin ein größerer als du!“

Ein hoffnungsvolles Schielen: „Ob sie jetzt das Tuch hebt? – Ja!“

Plötzlich nieste Clotilde laut, mit merkwürdiger Kunst: es klang, wie wenn es aus einiger Entfernung käme. Dann war sie wieder der dicke Demosthenes: sie fuhr zusammen. Mit einem jammervollen Gesicht flüsterte sie stammelnd: „Sie niest! Großer Gott!“

[571] Wie wenn sie sich an einen Nachbar wendete, sagte sie schwach, gedämpft: „Bitte, ein Glas Wasser!“ – Darauf raffte sie sich noch einmal auf; die Augen, die umhergerollt waren, starrten leer, aber fest in die Ferne. Sie stützte die Hände heftig auf die Lehne. Wie mit ihrer letzten Kraft stieß sie laut hervor: „Dixi – animam salvavi!“ Im nächsten Augenblick war alles fort: das Doppelkinn, die Breite und Dicke, die denkende Borniertheit, die Niedergeschlagenheit. Clotilde trat mit leichter Anmut hinter ihrem Stuhl hervor und verneigte sich scherzhaft. Mit ihrer natürlichen Stimme sagte sie: „Dies, meine Herrschaften, war die Ochsenrede.“

„Bravo, bravo!“ rief Herr von Marwitz. „Als ob ich ihn hörte! – Gestatten Sie, Herr Kollege, daß ich Sie beglückwünsche!“

Er drückte ihr scherzend feierlich die Hand, wie im Parlament. Die andern klatschten und riefen Bravo. Jeannette von Lossow ergriff Clotildens rechte Hand und küßte diese mit Gewalt, da sie sich sträubte.

„O Sie goldenste Frau!“ rief Jeannette; ihre Stimme blieb leider dumpf und fast rauh. „Wie haben Sie das gespielt! – Nun halt’ ich es nicht länger aus ohne Ihr Bild. Sie haben mir’s versprochen!“

„Ja, wenn ich nur noch ein einziges hätte –“

Clotilde sah Hans, der neben ihr stand, vor Vergnügen strahlend. „Hänschen!“ sagte sie. „Mir fällt ein: du hast ja meine Photographie in der Brusttasche. Willst du sie mir für das Fräulein geben?“

„Mit unendlichem Vergnügen,“ erwiderte Hans voll Eifer und griff in die Tasche. „Das heißt, Tante, auf Ersatz!“

„Gewiß!“

„Mit Autograph!“ rief Jeannette.

„Wie Sie wünschen.“

Clotilde nahm die Photographie, zog einen zierlichen Stift aus ihrem Gürtel, der das Matrosenjäckchen umschloß, und schrieb auf die Rückseite des Kabinettsbildes ein paar Worte. Dann gab sie es dem Fräulein hin.

„Tausend Dank!“ sagte Jeannette verzückt, und las. „Ich muß noch was dazu schreiben …“

Sie zog auch einen Bleistift hervor und schrieb etwas unter Clotildens Schrift.

„Darf man wissen, was?“

„O ja; es ist kein Geheimnis.“

Clotilde blickte ihr über die Schulter und las: „Mein Ideal!“ – Sie lächelte; darauf machte sie doch ein ernstes, mißbilligendes Gesicht. „Kind! was schreiben Sie da!“

„Die Wahrheit, weiter nichts!“

„Sie sollten mir lieber Revanche geben; Ihr Bild.“

„Aber selbstverständlich, süße Frau,“ erwiderte Jeannette; „sobald ich eins habe! Ich lass’ mich nächstens zu Pferde photographieren; das erste Bild bekommen Sie. Einstweilen aber – warten Sie – einstweilen geb’ ich Ihnen etwas Besseres – ich hab’s immer bei mir – Stronzians Photographie!“

Sie holte sie aus ihrer Tasche; es war nur ein Bildchen. Clotilde konnte sich nicht enthalten, zu lächeln; mit höflich versteckter Ironie verneigte sie sich ein wenig: „Sie berauben sich so um meinetwillen. Danke, danke!“ – Hans trat unwillkürlich näher; seine neugierigen Augen ergötzten sie. „Nun, so schau dir das Wunder an!“ Sie hielt ihm das Bildchen hin; es blieb dabei zwischen ihren Fingern. Während Hans das Rennpferd betrachtete, sah sie, daß auf die weiße Rückseite etwas geschrieben war. „Was steht denn da?“ sagte sie gedankenlos. „‚Mein Ideal!‘ – Ah!“ Jeannettens weißes Blondinengesicht ward bis an die Augen rot. „Mein Gott!“ entfuhr ihr im ersten Schreck. Sie streckte eine Hand aus, um Clotilden das Bild wieder wegzunehmen; hielt dann aber verlegen inne. „Verzeihen Sie … Ich hatte ganz vergessen, daß –“

„Daß Sie noch ein Ideal hatten?“ fuhr Clotilde statt ihrer fort, mit liebenswürdig umschleiertem Lächeln. „Was ist da zu verzeihen? – Ich Glückliche: ich steh’ bei Ihnen ebenso hoch wie ein so vortreffliches Pferd!“

5.

Es folgte eine kleine Stille, dann ein gedämpftes, diplomatisches Lachen. Die Gesellschaft fing an, sich plaudernd zu verteilen; Marwitz und Ellenberger zogen mit Jeannette und einer zweiten jungen Dame im Saal herum. Clotilde fühlte eine Hand an ihrem Arm. Sie wandte sich und sah, daß es die Schwester war. „Was willst du?“ fragte sie. „Was giebt’s?“

Fanny erwiderte noch nichts; sie behielt den Arm in der Hand, winkte mit den Augen ein wenig und führte Clotilde langsam in ein Nebenzimmer. Unterwegs begann sie leise zu sprechen: „Na, Tilde, wie steht’s? Hast du Antwort auf dein Telegramm?“

Clotilde verdüsterte sich. Sie zögerte, es schien, daß sie gar nichts erwidern wollte. Endlich sagte sie doch: „Nun ja. Durch Hans.“

„Und was will der Gatte?“

„Das – das weiß ich noch nicht.“

„Das weißt du noch nicht?“

„Nein; du hörst ja doch. – Wird sich finden, sagt er. – Vielleicht kommt er selbst.“

„Hierher?“

„Ja; wohin denn sonst?“

„Verzeih. Ich frag’ wohl recht dumm. – Ich möcht’ dir nur sagen: wenn er kommt, und wenn er dann – – Tilde, Tilde, bleib fest!“

Clotilde machte ihren Arm los; ihr Gesicht ward bleich und noch finsterer.

„Ach ja, Kind,“ flüsterte Fanny rasch, „es ist eure Sache, ganz allein, das weiß ich. Aber ich bin doch älter als du; und ich hab’ die Erfahrung –“ durch die offene Thür sah sie auf ihren Morland zurück – „also erlaub mir nur ein Wort! Dies ist eure Krisis, Kind. Dein Julius schmollt und grollt jetzt abseits in seinem Zelt, wie Achill; der war’s ja doch, nicht? Bleib du fest! Bleib du fest! Er kommt vielleicht jetzt und spricht irgend ein großes Wort, das lieben die Männer ja. Sag du nicht viel und bleib fest! Wenn der Gatte sieht, daß seine thörichte Laune nicht über dich siegt, daß du ruhig auf deinem Willen beharrst, weil er vernünftig ist, dann wird er endlich in sich gehn, dich gewähren lassen – und zu dir zurückkommen!“

Clotilde, die vor sich nieder sah, schüttelte leise den Kopf.

„Schau, Tilde, wie hab’ ich meinen Anton erzogen; das ist ja doch das reine Glück, für ihn und für mich! Ich nähr’ ihn vortrefflich – das sieht man – ich lass’ ihm seine kleinen Liebhabereien und Thorheiten – daran hängt er; warum auch nicht. Die geben ihm zugleich das Gefühl, daß er ein freier Mann ist; na, das ist ja gut. Dafür hab’ ich die Freiheit, in allen Ehren zu thun, was ich will.“ Sie gab der Schwester einen kleinen Stoß mit der kleinen kräftigen Hand: „Hörst du? Bleib fest!“

Clotilde antwortete nicht. Fanny nahm ihren Arm, da die Hausfrauenpflichten ihr wieder einfielen, und zog sie in den Gartensaal zurück. „Meine Damen und Herren,“ rief sie mit ihrer hellen, lebenslustigen Stimme, „jetzt kommt der Ernst des Tages! Es will Abend werden; – ja, ja, mein Berthchen. Die geehrten ‚lebenden Bilder‘ werden die Güte haben, sich in ihre Garderoben zu begeben; die Primadonna, Frau Clotilde von Hochfeld, voran. Unterdessen nehmen wir andern im Konzertsaal Musik und Erfrischungen zu uns; – auch Herr Hans von Hochfeld wird hiermit feierlich geladen.“ Sie tätschelte Clotildens Wange: „Komm, lebendes Bild! Komm!“

Clotilde nickte zerstreut; eine sichtbare Unruhe war über sie gekommen. Sie sah in den Garten hinaus, auf dem die letzte Abendsonne lag. Etwas lange Zurückgedrängtes bedrückte ihr die Brust … Wo ist Luise? dachte sie. Wo bleibt denn das Kind? Es ist ja beinah, als meide sie mich. Sie geht ihrer Mutter förmlich aus dem Wege. Bei der Quadrille nicht, und im Garten auch nicht?

„Ja, ja, ich komme gleich,“ sagte sie und ging zur Gartenthür. „Laß nur erst die andern – – Ich bin immer die Schnellste. Ich komm’ immer noch zur rechten Zeit!“

„Willst du noch in den Garten?“ fragte Fanny.

Clotilde nickte, ohne zurückzusehn, und trat hinaus. Fanny folgte ihr mit den Augen; sie wunderte sich eigentlich nicht, sie wußte, daß die Schwester zuweilen ihre „Launen“, ihre „Grappen“ hatte.

„Wirst du dich nicht verspäten?“ rief sie ihr noch nach.

„Nein!“ rief Clotilde ungeduldig zurück.

Es that ihr auf einmal wohl, daß sie wieder im Freien war; vielleicht mehr noch, daß sie nicht mit den andern war; sie dachte nicht darüber nach, sie schritt aus. Wo ist Luise? dachte [572] sie wieder, mit den Augen suchend. Am Wasser? – Nein, da steht sie nicht; das ist nur ein Bäumchen. – Bei den Gewächshäusern? Diese Pflanzenwut hat sie ja vom Vater …

Sie wandte sich nach links; in demselben Augenblick erschien das Kind. Es ging langsam, in sich versunken, einen schmalen Pfad zwischen dichten Gebüschen hin; die lange, magere Gestalt erschien wohl noch magerer in dem schrecklich einfachen, dunklen Kleid, das der Mutter ein Greuel war. Und doch war auch etwas Vornehmes in dem ernsten Wesen … Clotilde betrachtete sie aufmerksam, mit einem schmerzlichen Gemisch von Verdruß und Freude. Es ward ihr so eigen eng ums Herz. Wie viel sie vom Vater hat, dachte sie, in Haltung und Gang. – Jetzt schaut sie auf, jetzt entdeckt sie mich. – Wie ernst sie mich ansieht. – Sonderbares, wunderliches Kind!

Luise kam heran, langsam wie vorher; sie nickte der Mutter zu. „Du noch im Garten?“ fragte sie etwas verwundert, mit der noch so jungen Stimme.

„Das wollt’ ich dich eben fragen. Und so allein für dich.“

„Mich entbehrt ja niemand,“ warf Luise scheinbar leicht und harmlos hin. „Oder hat man mich vermißt?“

„Vermißt? Ich hatte dich entschuldigt: du seist so beschäftigt.“

„Danke! Na, dann ist’s ja gut! Ich hatt’ auch wirklich zu schreiben; notwendige Briefe. – Und wenn sie jetzt Musik machen, oder Apfelsinen essen, was liegt daran, ob ich mitesse. Ich möcht’ lieber noch im Garten bleiben; die Elbe mit dem schönen Abendlicht und die Stadt da drüben – die Dampfer … Aber du willst dich ja griechisch kostümieren, Mutter.“ Das Mädchen sah auf seine Uhr. „O, da mußt du wohl gehn! Es wird spät!“

Ueber Clotildens Lippen flog ein etwas gereiztes Lächeln. „Nein, dieses sechzehnjährige Mädel ist die Pünktlichkeit in Person! sieht immer nach der Uhr –“ Sie brach ab. In Gedanken setzte sie hinzu: grade wie ihr Vater!

Luise zuckte mit einer liebenswürdigen Gebärde die Achseln; die erste Heiterkeit huschte über ihr Gesicht. Der Mutter ward doch wieder weich ums Herz. „Hast doch nicht immer im Zimmer gehockt?“ fragte sie so recht mütterlich.

„O nein. O, was denkst du! Nachdem ich die Briefe verfaßt hatte – am offenen Fenster – ging ich ins Gewächshaus; da hab’ ich lange die Pflanzen studiert. Dann kamen mir auf einem Beet die Blumen so vernachlässigt vor; da hab’ ich Wasser geholt und hab’ sie begossen.“

Wieder des Vaters Kind! dachte Clotilde, mit einem gepreßten Lächeln. Ihr schien auf einmal, daß sie diesem Kind viel zu sagen habe, daß ihr allerlei von der Seele müsse. Sie nahm Luise bei beiden Händen; dann ließ sie sie wieder los, legte einen Arm um ihre „lange Magere“ und ging so mit ihr auf und ab. „Ich hab’ dir allerlei zu erzählen,“ fing sie mit einer gewissen Unruhe an, die sie durch einen leichten Ton wegzuplandern suchte. „Nämlich dein Vater, Kind –“

„Soll ich hin?“ unterbrach das Mädchen sie. „Wann denn?“

„Nein. – Er kommt vielleicht heut noch her …“

„Ah!“ – Luise hob beide Arme vor Freude.

„Er will natürlich sehn, wie du dich nun ausnimmst. Ob du in der kleinen, stillen Stadt – – In eine Dresdener Pension wollt’ er dich ja damals nicht geben; er dachte, du wärst da der – Villa Viola zu nahe; du weißt, er hat nun einmal diese – Aversion gegen das Morlandsche Haus! Na, da gaben wir dich lieber gleich weit fort, damit du in eine ganz andere Luft, zu ganz anderen Menschen kämst; zu süddeutschen, wünschte dein Vater. Es hatte ja auch viel für sich; hat dir wohl auch gut gethan … Hat es? – Man weiß noch nicht! – Wie ernst, wie forschend guckst du mich an. Kann ich’s denn schon wissen? Wie viele Stunden, Kind, hab’ ich dich denn schon gesehn?“

Luise sah auf den Weg und schwieg.

Mit wachsender Anstrengung, etwas gereizt, ohne zu wissen warum, fuhr die Mutter fort: „Also nach diesem großen Abschnitt in deinem Leben: aus der Schule in die Welt hinein – was für Augen wird Vater machen! – Ich hoffe, dein liebes, gutes Gesicht wird ihm wohl gefallen; na, und vielleicht auch das an dir, was mir nicht gefällt – “

„Hm!“ machte das Kind. – 0 „Zum Beispiel, Mutter?“

Clotilde lächelte flüchtig, schwach: „Zum Beispiel schon dieses ,Hm‘, das du dir offenbar bei deinen Süddeutschen nicht abgewöhnt hast, und das so sonderbar unjugendlich, unmädchenhaft ist; hinter dem sich allemal ein stiller kleiner Trotz – ja, ja – oder eine kritische Mißbilligung versteckt. Ueberhaupt, mein liebes Herz, möchte ich dir sagen: Kind, werde kindlicher! Junges Mädchen, werde jünger, werde mädchenhafter! – Mädchen und Frauen, weißt du ja doch, sollen wie Blumen sein, ein Schmuck für die Welt; und wie brav und gut wir auch in unserm Innersten sein mögen, unsre erste Pflicht bleibt doch immer, liebenswürdig zu sein. Es ist gewiß sehr lobenswert und sehr respektabel, wenn man ein tüchtiger, ordentlicher und solider Mensch ist; aber so wenig wie man seinem Kind wünschen kann, mit zwanzig Jahren schon graue Haare zu haben, so wenig könnt’ ich wünschen, mein Herz, daß du vor lauter Tüchtigkeit und Solidität mit zwanzig Jahren ein altes Mädchen würdest, dem man respektvoll ausweicht! Deine Pünktlichkeit, deine Ordnungsliebe, deine in dich gekehrte, stille Ernsthaftigkeit, dein fast kaufmännisches Buchführen – dazu die Einfachheit deiner Toilette; schau dich doch nur an – all diese ehrenwerten Eigenschaften haben, wie ich leider merke, so ungestört an dir zugenommen, daß ich vorhin einmal dachte: ist sie älter, oder ich? – Meine liebe Luise, halt’ ein wenig inne! Uebertreib’ es nicht! Werd’ mir nicht ehrwürdig, liebes, gutes Kind, eh du rechtschaffen jung warst!“

„Hm!“ machte Luise wieder, mit einem halb kindlichen Schmollen der vorgestreckten Lippen. „Ich soll also lieber unpünktlich, unordentlich und unsolid sein –“

„Gott sei Dank,“ rief Clotilde aus, „da spricht sie einmal wie ein dummes Ding! – Nein, das sollst du nicht; aber – “

„Aber das alles hab’ ich ja vom Vater!“

Clotilde war eine Weile still. „Ja, gewiß, gewiß,“ sagte sie dann, so sanft wie möglich. „Ich hab’ ja auch vorausgeschickt: es sind ehrenwerte, gute, gute Eigenschaften. Nur – nur übertreib sie nicht! Sie sind auch gefährlich, mein Kind. Sie können sehr – drückend werden, wenn man sie hegt und pflegt, wenn sie immer wachsen und wachsen … Schau dich an, wie du aussiehst. Dieses Nonnenkleid –“

„Ich lieb’ es so, Mutter.“

„Ja, ja! Du liebst es so. Womit wird das enden? Daß du jahraus jahrein dasselbe Gewand trägst – nun ja, wie er, dein Vater. Daß man dich auswendig weiß wie ’nen Gesangbuchvers. Und daß du die Treue gegen deine Ueberzeugungen endlich auch so weit treibst, alles auf Vorrat, doppelt und dreifach zu haben: Hut, Rock, Mantel, alles. Sieh zu, mein Kind, ob dich die Welt dann auch liebenswürdig findet –“ sie stockte, sie zögerte – „wem du dann gefällst, wen du damit beglückst! – Ich geh’ jetzt, um mich umzukleiden; – muß ja sonst fürchten, du siehst wieder nach der Uhr. Möcht’st du unterdessen ein wenig über meine Warnungen nachdenken ...“

„Gewiß!“ murmelte das Mädchen, mit verhaltener Melancholie.

„Also ein andermal mehr davon!“

Clotilde ging der Villa zu. Sie blieb stehn und sah noch einmal zurück, mit einem freundlichen Mutterblick; dann schüttelte sie aber plötzlich den Kopf. „Nein, ich kann’s nicht anschauen! Diese Nüchternheit – das ist Mord!“ Sie kam gelaufen, wie ein junges Mädchen, löste sich mit Eins zwei drei ihre himbeerrote Krawatte ab und band sie Luisen um den Hals. „Ich muß dich etwas aufmuntern. So!“ Darauf lief sie ins Haus.

6.

Luise stand regungslos im Weg und sah in die Luft. Sie meint, ich versteh’ sie nicht, dachte sie und seufzte leise. Ich versteh’ sie recht gut. Das alles gefällt ihr nicht, was ich vom Vater hab’; – bei dem sie nicht ist – und der nicht bei ihr ist. – Ach Gott! Sie legte sich eine Hand auf die Stirn; dort oder anderswo – sie konnte nicht sagen, wo – war ihr weh zu Mut. Es war ihr schon öfter so gewesen, hier in diesen Tagen. Alsdann erleichterte sie nichts, als mit sich zu sprechen, laut; Wie ihre lebhafte, so gern phantasierende Mutter, von der sie’s geerbt hatte. Wie oft hatte sie schon als Kind mit lauter Stimme geträumt; bis sie endlich ein leises Lachen hörte und der Vater oder die Mutter oder beide in der Thür standen und auf ihr närrisches Mädel herablächelten … „Ach,“ sagte sie traurig vor sich hin, „damals waren sie beisammen, die Eltern; und miteinander so lieb, [574] so gut. – – Mutter mag mich nicht. Was soll ich denn anfangen, um ihr zu gefallen? Soll ich nicht mehr Luise von Hochfeld sein?“

Sie hörte Schritte hinter sich, erwachte und verstummte. „Meine Luise!“ hörte sie dann. Sie fuhr vor Freude zusammen. Als sie sich herumdrehte, sah sie den Vater im Wege stehn; ganz so, wie sie ihn beim Abschied nach Neujahr gesehen hatte: im dunkelbraunen, breitrandigen Filzhut, einen braunen Kapuzmantel über die Schultern geworfen; darunter ein schwarzer Rock. Er lächelte sie herzlich an. Sie lief ihm entgegen und warf sich ihm an die Brust. „Vater!“ rief sie und küßte ihn.

Er streichelte sie. „Gutes, holdes Kind! – Da steht sie! wirklich!“ – Ein zärtliches Lächeln flog über sein Gesicht: „Sprachst eben wieder laut mit dir; daran allein hätt’ ich dich erkannt. Also diese träumerische Offenherzigkeit haben wir behalten! – – Friedrich hatte doch recht. Ich kam angefahren, da stand er an der Gartenthür. Er behauptete, du wärst noch im Garten. War mir grade recht: nun stieg ich gleich an der Gartenthür ab und schlich mich herein. Und kann meinen Liebling ans Herz drücken, ohne die ganze Bevölkerung des Salons zu sehn …“

Mit einem Ausdruck des Widerwillens, die Brauen zusammenziehend, blickte er nach der Villa hin. Darauf suchte er das Kind wieder anzulächeln, fuhr ihr mit unruhiger Hand über das weiche, dunkle Haar. „Eine Stunde wenigstens hab’ ich dich … Dann – schnell wieder fort!“

„Nein,“ sagte Luise rasch, „nein, du sollst nicht fort.“ Sie nahm ihm Hut und Mantel ab und trug beides zu einer Hängematte, die in der Nähe zwischen zwei Bäumen hing, warf es dahinein. „Das geb’ ich dir nicht wieder,“ sagte sie künstlich heiter, während sie zurückkam. „Also mußt du hierbleiben!“

Julius ward finster. Ein tiefes „Hm!“ – ach, sie kannte das so gut – brach aus ihm hervor. Sie verlor ihr Lächeln; etwas scheu sah sie ihm in die ernsten grauen Augen. „Verzeih, wenn ich eben was Dummes gesagt hab’. – Ich wollt’ dich nur nicht wieder hergeben, Vater; hab’ dich ja noch gar nicht – –“

Sie schmiegte sich weich an ihn; es war, als umrankte sie ihn. „Sei nur gut!“ flüsterte sie. „Hab’ mich lieb!“

„Was red’st du, Kind?“ erwiderte er und streichelte sie wieder; „hätt’ ich dich etwa nicht lieb? Bist du nicht mein Glück?“ Er legte sie sich recht in den Arm; so führte er sie, zuweilen die leichte Gestalt ein wenig hebend, den gewundenen Kiesweg entlang, zum Elbstrom hin. Das Haus hinter sich, das er nicht anschauen mochte, blickte er mit ihr nach der Stadt hinüber, nach der alten und der neuen Brücke, die noch von Leben wimmelten. Dann wieder sah er in ihr junges, charaktervolles, reizend nachdenkliches Gesicht. „Nein, nein,“ sagte er mit Vaterstolz, „deine Pensionsmutter hat nicht übertrieben: eine rechte Blume. Vorhin etwas blaß; jetzt nicht mehr … Da steht eine Bank; komm, setzen wir uns. So, ganz nah zu mir; laß mich diesen schönen Augenblick mit ganzer Seele genießen!“

Er drückte sie sanft an sich; wie ein stilles Bild saß sie in der Dämmerung neben ihm da. „Dies ist nun also nicht mehr die Schulbank in der Pension,“ fing er nach einer Weile mit etwas gepreßtem Ton wieder an. „Englisch und Französisch haben wir vorläufig genug gelernt; jetzt auf gut Deutsch ins Leben – tapfer und tüchtig, nicht wahr – wie es uns auch anschaut!“

Sie hörte den leisen schwermütigen Klang in seiner Stimme; in ihr selber klang’s ebenso. „Gewiß, lieber Vater, gewiß!“ sagte sie fröhlicher, als sie’s fühlte.

„Deine Pensionsmutter, mein gutes Kind, hat mir viel Liebes und Schönes von dir geschrieben: daß du in manchem ein Vorbild für die andern warst, ausdauernd, gewissenhaft, treu, liebevoll mit allen Geschöpfen der Natur, Pflanzen oder Tieren; auch musterhaft ordnungsliebend.“ Er lächelte zufrieden. „Darin erkenn’ ich mein Kind!“

Sie lächelte auch und nickte.

„Dann – ja, dann hat sie mir freilich auch andres geschrieben – das nicht so erfreulich ist. Gewisse Sonderbarkeiten deines Temperaments, die seien trotz all ihrer Bemühungen auch gediehen;“ er lächelte gezwungener: „Unkraut in dem Weizen. Zum Beispiel, dieses ernsthafte Geschöpf, dieses charaktervolle kleine Mädchen da, plötzlich, so von Zeit zu Zeit, verfällt es in die Leidenschaft, sich zu vermummen, Faschingsnarreteien zu treiben, mit andern oder auch ganz allein; sich mit bunten Lappen und Fähnchen zu behängen, vor den Spiegel zu gehn, sich darin wie ein Pfau zu beäugeln – bis man ihr alles fortnimmt wie einem Kind. Ja, mit diesen Worten, glaub’ ich, hat sie mir’s geschrieben. Dann erwacht auch manchmal noch ein andrer kleiner Teufel in ihr, gegen den ich früher gekämpft hab’, du weißt wohl noch; der Spielteufel …“

Luise blickte ihn mit den dunklen Augen sehr ernsthaft an; es war ein eigentümlich verschleierter, rätselhafter Blick.

„Der Spielteufel,“ wiederholte er, durch diesen Blick etwas erregt; „also auch noch nicht ausgetrieben! Alles, was dir unter die Hände kommt, schreibt Frau Walter – Karten, Domino, Würfel, Damenbrett, ich glaub’, auch Schach – alles wird in solchen Zeiten gepackt, ins Versteck geschleppt; und mit derselben zähen, leidenschaftlichen Ausdauer, mit der du sonst deine guten Eigenschaften ausübst, giebst du dich dann diesem Spielteufel hin!“

Luise wiederholte leise das Wort, das ihr offenbar nicht gefiel. „Warum ist denn das unrecht?“ sagte sie darauf, vor sich nieder blickend. „Ist es denn ein Laster, zu spielen? Ist es eine Schlechtigkeit, wenn man sich vermummt?“

„Das sag’ ich nicht, mein Kind. Aber da nun einmal dieser Fluch auf unsern Fehlern ruht – wie oft hab’ ich dir das gesagt – daß sie so wenig wie wir im Stand der Kindheit und der Unschuld bleiben, daß sie wachsen und wachsen, wenn man sie nicht ausreutet; und daß sie zuletzt wie Schmarotzerpflanzen den Stamm umschlingen und aussaugen, bis wir nur noch dazu da sind, für ihr Leben zu leben –“

Ein Seufzer entfuhr ihm, in einer plötzlichen Bewegung stand er auf, er atmete tief. Dann erst beendete er seinen Satz: „Darum sag’ ich dir heute, daß mich das betrübt; daß es – mich erschreckt. Meine liebe Luise, gieb acht! Laß diese lieben kleinen Teufel nicht so wachsen, wie –“

Unwillkürlich blickte er nach der Villa hin, in der schon die ersten Lichter angezündet wurden. Er brach ab; er schüttelte nur noch Luisens Schulter. „Jag sie fort!“ stieß er mit einer Art von Lächeln heraus. „Jag sie fort!“

Wie von einer inneren Unruhe getrieben ging er dann von der Bank hinweg, der Gartenmauer zu.

Luise blieb sitzen. Ihre Arme hingen schlaff hinunter, auch der Kopf sank ihr gegen die Brust. Die Lippen öffneten sich ein wenig; ein mutloser Seufzer drängte sich an die Luft. Mir ist nicht zu helfen, dachte sie. Was ich von der Mutter hab’, das gefällt dem Vater nicht; und ihr nicht, was von ihm ist. Ja, was bleibt dann von mir? – Dann muß ich mich ja auflösen, in lauter Nichts. Dann haben sie vielleicht ein Kind, wie es ihnen gefällt!


7.

Frau Fanny Morland kam aus dem Hause, in ihrem behaglichen, etwas wiegenden Gang, dem man aber doch wohl abmerken konnte, daß diese rundliche Frau wußte, was sie wollte. „Schwager Julius!“ rief sie, während sie näher kam. Julius stand mit einer unwirschen Gebärde still und kehrte sich zu ihr herum.

Die gute Erziehung siegte, er ging ihr entgegen. „Eben sagt mir euer Friedrich,“ fuhr Fanny wie in schönster Unbefangenheit fort, „daß du im Wagen gekommen bist. Das war ein guter Einfall von dir! Freut mich außerordentlich. Du Einsiedler, du Entflohener –“

Auf eine ungeduldige Bewegung, die Julius durchaus nicht unterdrückte, ward sie augenblicklich still. Sie lächelte nur noch herzlich, zur Begrüßung, und gab ihm die Hand.

„Guten Abend, Fanny,“ sagte er höflich. „Du hast Gesellschaft, darum dacht’ ich gar nicht daran, dich oder irgend jemand zu stören. Ich wollte das Mädel sehn. Ich verschwind’ auch bald wieder; mein Wagen wartet.“

„Ah!“ rief Fanny aus. „Nein, nein!“

Luise war aufgestanden, sie horchte. Er will wieder fort! dachte sie voll Schmerz; es gab ihr einen Stich in die Brust. Es empörte sich etwas in ihr … Nein, fuhr ihr nun wie ein Blitz durch den Kopf, so bald lass’ ich ihn nicht wieder fort! – Ihr fiel ein, daß sie ihm Hut und Mantel fortgenommen hatte; beide lagen noch in der Hängematte. Die war aber zu nah; man konnte sie sehn. Rasch entschlossen, nach ihrer Art, ging sie hinter dem Vater und der Tante vorbei, nicht zu schnell, damit die nichts merkten; eher etwas träumerisch, als hätte sie nichts [575] im Sinn. Erst als sie vor der Hängematte stand, mit dem Rücken gegen die Beiden, die sie miteinander sprechen hörte, lächelte sie kindlich froh; „du wirst angeführt!“ sprach sie vor sich hin. Vorsichtig nahm sie Mantel und Hut, trug sie tiefer in den Garten hinein, bis zu einem kleinen Lusthäuschen, das bei dem großen Gewächshaus stand. Drinnen legte sie ihre Beute auf den runden Tisch. Wer wollte sie nun finden? – Sie liebäugelte mit dem schönen braunen Hut, der für sie zum Vater gehörte, in dem sie ihn sich am liebsten vorstellte. Sie setzte sich dazu und legte eine Hand auf ihn. Auf einmal verging ihr dann alle Freude; sie fing an zu weinen …

„Das hatt’ ich mir schöner gedacht,“ sagte unterdessen Fanny, mit einem bekümmerten Blick auf den spröden Gast. „Ich hoffte – – Es ist ja wohl schon ein Monat, daß du nicht mehr hier warst!“

„Mag sein,“ entgegnete Julius. – „Clotilde macht Toilette, wie ich höre – “

„Ja, für das lebende Bild.“

„Für das lebende Bild,“ sprach er ihr unfroh murmelnd nach. – „Wo ist denn Luise geblieben?“

„Da in den Garten hinein. Wird wohl wiederkommen. Ich weiß nicht, ob ich wagen darf, dich in den Salon –“

„Bitte, nein, nein!“ fiel er ihr ins Wort. „Du weißt, meine liebe Fanny, mir gefällt eure moderne Gesellschaft nicht.“

„Modern!“ sagte sie ruhig lächelnd. „Ihr modernen Verächter der Gesellschaft braucht so gern das vernichtende Wort ,modern‘! Mein Gott, antik können wir doch nicht sein. Es wär’ wohl auch noch sehr die Frage, ob wir dabei gewönnen, lieber Julius; mir scheint wenigstens, eure alten Griechen lebten auch in sehr ,gemischter‘ Gesellschaft! Mit all ihren Fabelgeschöpfen, ihren Faunen, Satyrn, Centauren –“

Julius unterbrach sie wieder: „Fabelgeschöpfe? Bitte sehr; ganz was anderes. Das sind alles tiefsinnige, symbolische, ewig wahre Geschöpfe; ewig wahre Nachbilder der menschlichen Unnaturen und Thorheiten. Eurer Unnaturen –“

„Ah!“

„Jawohl! Eurer, eurer! Ihr seid’s, sie kannten euch alle – euch da im Salon!“

„Das ist mir neu,“ erwiderte Fanny herzhaft lächelnd. „Wenn du mir das gefälligst –“

Centauren, sagtest du. Da in deinem Salon sind ja gleich so ein paar von ihnen, aus Berlin importiert! Fräulein Jeannette von Lossow, diese Prachtcentaurin, die offenbar in ihrer schönen Seele nur zur Hälfte Mensch, zur Hälfte Pferd ist –“

„Ah, ah!“ rief Fanny aus, beleidigt und belustigt zugleich.

„Dann der Bankier Ellenberger, dieser Halbmensch, der sich durch seine Pferde zu ergänzen sucht; – der ist allerdings nur ein nachgemachter Centaur: die beiden Hälften sind künstlich zusammengenäht – wie die beiden Gaukler, die sich zusammengenäht hatten, um für siamesische Zwillinge zu gelten. Dann schwebt da, wie ich höre, Frau von Helling herum, diese alte Sirene, die mit ihrer süßen Stimme die Männer anzulocken sucht –“

„Nein, du bist abscheulich! Pfui!“ sagte Fanny, die wider Willen lächelte. „Als wenn mein Salon – – Und wir alle, sagst du. Also ich? Morland? Deine Frau?“

„Ist denn meine Frau nicht ein weiblicher Proteus, wie man ihn nur wünschen kann? Bald macht sie nichts so glücklich, als im feuchten Element zu leben, als Schwimmkünstlerin; oder obendrauf, im Boot, in der Ruderquadrille. Bald klettert sie zu Fuß, in einem graziösen Kostüm, auf die hohen Berge; bald jagt sie zu Pferde unten im Wald, als moderne Amazone! Dann überfällt sie die Leidenschaft, vor den ,Lampen‘ zu stehn, als dramatische Künstlerin; oder einen Salon als lebendes Bild zu entzücken. Ist das ein richtiger Proteus oder nicht? – Und Morland – dieser gute Morland, den du so vortrefflich dressiert hast, das Leben zu genießen – dein gemütlicher, zufriedener Silen –“

„Silen!“

„Ja, Silen!“

Fanny versuchte den Schwager in tiefer sittlicher Empörung anzublitzen; es gelang ihr aber nicht, die Heiterkeit ging ihr nicht vom Gesicht. „Ich sollt’ eigentlich wütend sein,“ fing sie mit ihrer lustigen Stimme an, „daß du so schauderhafte Sachen sagst; aber ich muß lachen. Mein guter, guter ,Silen‘ … Ja, er ist zufrieden. Ja, er genießt das Leben. Und das ist die Hauptsache; und das ist mein Verdienst!“

Julius sah ihr in das fidele Gesicht, als wollte er sagen: an dir prallt auch alles ab! – Seine Augen gingen dann unruhig umher; er konnte Luise nirgends entdecken. „Das Kind kommt nicht wieder,“ murmelte er. „Clotilde – – Clotilde macht also noch immer Toilette?“

„Es scheint so.“

„Hm! – Was für ein lebendes Bild wird man denn erleben?“

„Ach, wie nur sie es kann; von ihr allein gespielt! Eine ganze Reihe von Bildern, alle in einem Kostüm; bloß durch Veränderungen der Drapierung und der Stellung wird sie immer eine andere. Die sitzende Agrippina, die schlafende Ariadne; die Muse Polyhymnia oder wie heißt das Mädchen, dann die Flora; Niobide, die sich zu schützen sucht, stehende Matrone –“

„Der wahre Proteus! Bravo, bravo!“ – Julius lachte auf. Er ging dann einige Schritte hin und her; es war keine Ruhe in ihm. „Ja, ja,“ sprach er zwischen den Zähnen, „dieser Proteus hat sich gut entwickelt … Wenn ich denke, was sie nun schon alles nacheinander, nebeneinander war –“

„Mein Gott,“ sagte Fanny, „warum gönnst du ihr das nicht? Wärst du nur tolerant, wie du könntest und wie du solltest –“

„Wie dein lieber Mann –“

„Ja gewiß, wie mein vernünftiger Mann! Dann wärst du froh, sehr froh, daß deine lebhafte und lebenslustige Frau nicht – kokett ist, so wenig wie ich; daß sie nicht an Männer denkt, nur an unschuldige Amüsements. Proteus, sagst du. Sie wechselt, ja. Aber sie wechselt nur mit ihren Liebhabereien, nicht mit ihren Liebhabern; sie hat keine – sie hat nur einen, einen leider nicht sehr beglückenden und beglückten – ihren unduldsamen Gatten!“

Julius’ Brauen zogen sich eng und enger zusammen; er sah diese Frau fast feindlich an. Um die nötige Ruhe zu behalten, dämpfte er die Stimme: „Was ich darauf zu erwidern hätte, meine liebe Fanny, will ich dir nicht sagen. Dir will ich nur sagen: du, in deiner unerschütterlichen Heiterkeit, du, grade du hast vielleicht die meiste Schuld! Du hast Clotilde seit Jahren gereizt, verführt, ihre schon beruhigte Proteusnatur wieder zu entwickeln; du hetzest sie immer tiefer in diese verhängnisvolle Ruhelosigkeit des Genießens und Glänzens und Begehrens hinein; jawohl, du, Fanny Morland! Und ich – –“

„Und du?“ fragte Fanny mit äußerer Ruhe, da er nicht weitersprach.

Er antwortete nicht. Er fühlte sich aber in diesem Augenblick entschlossen wie noch nie. Und ich mach’ ein Ende, dachte er, sei es wie es sei!


8.

„Ah, das lebende Bild!“ entfuhr ihm jetzt; seine Brauen zuckten. In der Thür des Gartensalons erschien Clotilde, in einem altgriechischen Gewand von gelblich angehauchtem Weiß, ein Schleier wallte vom Kopf herunter; sie hatte aber, wohl als Schutz gegen die Abendluft, ein modernes, farbiges Tuch um die Schultern gelegt. Von dem weltklugen Einbläser, dem Friedrich, war ihr gesagt worden, daß Julius im Garten sei; plötzlich hatte es sie dann doch sehr gedrängt, ihn zu begrüßen. Als sie jetzt in der Thür stand und ihn erblickte, machte sie eine lebhafte Bewegung, ihm entgegen. War es nun aber die Ruhe, mit der er stehen blieb, oder war es, daß neben ihm Fanny stand: sie hielt wieder an sich, legte nur flüchtig eine Hand ans Herz; dann stand sie wie ein wirkliches Steinbild da.

„Guten Abend, Clotilde,“ sagte Julius nach einer Stille.

Sie nickte mit dem Kopf. Er trat einen Schritt auf sie zu; dann fiel ihm erst das Rechte ein. Er wandte sich wieder zur Hausfrau, deren beobachtende Augen hin und her gingen. „Gute Nacht, Fanny,“ sagte er sehr höflich und gab ihr die Hand.

„Ah,“ entgegnete sie lächelnd, mit gedämpfter Stimme, „das ist gut: er schickt mich aus meinem eigenen Garten fort! – Aber schon gut, ich geh’ schon. – Wegen deiner letzten Reden sollt’ ich dir sehr böse sein; ich bin aber zu gutmütig, es gelingt mir nicht. Also – gehab dich wohl; und auf Wiedersehn, wann es dir beliebt!“

Er grüßte stumm mit der Hand. Fanny ging zum Haus. Als sie an Clotilde vorbeikam, die sich nun näherte, flüsterte sie nur: „Bleib fest!“ Sie verschwand in der Gartenthür. [598] Julius erwartete seine Frau, ohne sich zu regen; es widerstand ihm, der Villa noch näher zu treten; für die Zwiesprach zwischen Mann und Frau war sie immer noch näher, als ihm gefiel. Er sah mit widerwilliger Freude, in wie edler Haltung diese antike Gestalt heranschritt; sie erinnerte ihn wieder – früher hatte sie es oft gethan – an das Musterbild für griechischen, königlichen Gang, Charlotte Wolter, die Künstlerin. Aber „bleib fest!“ sagte auch er zu sich. Erst als Clotilde fast vor ihm stand, trat er ihr entgegen. Die grauen und die braunen Augen winkten einander zu.

„Laß mich dir ohne weiteres sagen,“ begann er mit Fassung und fester Stimme, „was zu sagen ist; Umschweife zu machen, das stünd’ uns nicht gut. Als ich zuerst zu Hans davon sprach, ich führe heut vielleicht hierher, da dachte ich nur des Kindes wegen zu kommen; oder vielmehr, ich bildete mir’s ein. Dann ist mir aber klar geworden, daß es nun endlich – zur Entscheidung kommen sollte zwischen dir und mir. In jedem Menschen, weißt du ja, bewährt sich seine Natur; die meine –“

Er mußte erst einen jähen, tiefen Schmerz bekämpfen, ehe er weitersprach: „die meine erträgt keine Halbheit.“

Clotilde war zusammengefahren, als sie das Wort „Entscheidung“ hörte; auf dieses Aeußerste war sie nicht gefaßt. Sie bezwang sich aber wie er. Den Schleier ein wenig vom Gesicht zurückwerfend, sagte sie, wie wenn ihr Kleid sie zu einer alten Römerin machte: „Auch die meine nicht.“

„Mag sein. Eben darum denk’ ich – – Dieser letzte Monat war unleidlich; immer noch ein Warten und Warten, ob es anders werde, ob deine Abneigung gegen mein Stillleben und – mich doch noch zu einem guten Ende kommen werde … Das ist nicht geschehn; konnte wohl nicht geschehn. Und so hab’ ich denn jetzt meinen Entschluß gefaßt; denn jeder Entschluß ist erträglicher als die Unentschlossenheit – in der man sich verzehrt. Also diesen meinen Entschluß leg’ ich dir nun vor. Ich lasse dir eine letzte Bedenkzeit – natürlich – aber eine kurze. Jetzt fahr’ ich wieder heim, aufs Land. Bis Mitternacht wart’ ich dann noch auf dich. Bist du bis dahin nicht gekommen, reis’ ich morgen ab.“

Clotilde erschrak nun doch noch heftiger als vorhin. Es war ihr einige Augenblicke, als käme ihr die Erde entgegen, als müßten sie beide zusammenfallen. Sie drückte die Augen ein, um etwa so den Nebel zu verscheuchen, der sich ihr hineindrängte. Es gelang ihr auch. Sie blieb aufrecht, sie sah auch wieder klar. Der Erdboden kehrte in seine alte Entfernung zurück.

„So reisest du morgen ab –“

„Ja. – Auf lange. – Mit andern Worten: so machen wir aus einer halben Trennung eine ganze … Ohne Geräusch, natürlich. Wir zwei unter uns; die Welt geht es nichts an. Luise – –“

Jetzt zitterte er doch; drum zitterte auch die Stimme mit. Er wartete eine Weile, bis er ruhiger fortfahren konnte: „Luise kann und werd’ ich dir nicht nehmen; sie ist ein Mädchen und gehört zur Mutter. Wir werden uns aber so einigen, denk’ ich, daß sie einen Teil des Jahres ihrem Vater gehört –“

„Julius!“

„Clotilde?“

Sie hob die Hände gegen ihn; ließ sie wieder sinken. „Befiehl, daß ich mit dir hinausfahre – so gehorch’ ich!“

„Hm!“ murmelte er. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich will keinen Gehorsam dieser Art; der hilft uns zu nichts. Was für ein Zusammenleben, wenn es ohne Wahrheit, ohne Ueberzeugung ist, wenn es dem Widerwillen abgerungen ist? Nein, lieber Trennung; so weh – – “

Er sprach nicht weiter.

Auch Clotilde war eine Weile still; ein schmerzliches Lächeln irrte um ihre blaß gewordenen Lippen. „Thut dir’s doch noch weh?“ fragte sie endlich.

Er schwieg.

„Julius! Bist du ein anderer geworden oder ich? Früher gefiel dir an mir das alles, alles, was du jetzt verdammst. Meine Lust am Leben – meine Lust, mich in allerlei Gestalten zu bewegen, allerlei Künste zu können – meine ‚Sonntagsstimmung‘, wie sie damals hieß – mein ,Unternehmungsgeist‘. Du warst jung mit mir! Denk doch zurück. Als du noch so eifrig Bild auf Bild von mir machen ließest, oder selber machtest; Photographien über Photographien; weißt du das nicht mehr? Um all meine ‚Metamorphosen‘ darin festzuhalten, wie du sie nanntest – wie du sie an mir liebtest –“

„Verzeih,“ fiel er ihr ins Wort. „Das ist – lange her. Du warst eben jünger als jetzt. Jetzt muß ich fürchten –“

„Was?“

„Daß bei dir dauernd, ewig wird, was nur der Jugend gut steht; was dich nicht mehr schmückt, sondern – verzeih, Clotilde – sondern lächerlich macht, wenn es dich bis ins Alter begleitet! – Aber wie eine Leidenschaft ist es über dich gekommen – wie es über so manche Frau an der Grenze der Jugend, in den kritischen Jahren des Uebergangs kommt: jung bleiben um jeden Preis! glänzen und genießen! So kam es auch damals – so viel Jahre früher – über deine Schwester. Und nun sieh sie an: die Jugend ist zu Ende, aber diese Leidenschaft nicht; sie wird nie mehr enden, nie mehr, nie mehr, nie mehr! Ihr Beispiel, statt dich abzuschrecken, hat dich angesteckt; ,ewiger Karneval‘, das ist eure Parole. So schau’ ich das Leben nicht an! So will ich nicht leben!“

„Nein!“ sagte Clotilde bitter, mit verzogenen Lippen. „‚Ewiger Aschermittwoch‘, so heißt es bei dir! Denn dir ist es leider umgekehrt ergangen: vor der Zeit bist du still, alt und kalt geworden. Menschenmüde, weltscheu, vergraben in deine Bücher, Pflanzen und Gedanken – –“

Sie hielt inne, sie machte eine Bewegung mit der Hand, als jage sie ihre Worte weg, als vertreibe sie sie aus der Luft. „Verzeih,“ setzte sie ruhiger hinzu. „Ich hatte mir gelobt, diesen Streit nicht mehr zu erneuern –“

„Ich auch. Also vergieb! – Nur dies eine Wort laß mich dir noch sagen: du stehst so festlich, so geschmackvoll und edel gekleidet da – auch so schön – o ja – aber glücklich siehst du doch nicht aus. Mir deucht, du fühltest es eben selbst: diese Bewegung, mit der du dich abwandtest … Und jetzt, in [599] diesem herausfordernden Blick, ist doch auch mehr Trotz als Glück. Wie sollt’ es auch anders sein? Du hast zu viel Geist, um mit solchen Karnevalsmenschen wirklich glücklich zu sein; und auch zu viel Herz. Du kannst es nur nicht mehr entbehren, in diesem Taumel zu leben, der deinen Ehrgeiz, deine Eitelkeit umflimmert, deine Phantasie berauscht. Befriedigen kann er dich nicht; das verlangst du wohl auch nicht … O genug, genug! Ich hab’ also mein letztes Wort gesagt. Nicht daß ich ernstlich gehofft hätte, dich noch zu bekehren; dazu kenn’ ich denn doch das Menschenherz zu gut. Aber – den Versuch war ich dir und mir noch schuldig. Den Versuch – den –“

Er zögerte, ein Ende zu machen. Seine Augen lagen mit einer letzten, langen Frage auf ihrem fast statuenbleichen Gesicht. Dort sprach aber nichts. Die trotzigen Lippen waren festgeschlossen, und auch wie versteinert. „Also genug, genug!“ wiederholte er, dieses nutzlose Schweigen brechend. „Ich hab’ nun mein Kind gesehn – und – und dich noch einmal – und nun ist’s gut. Heute Mitternacht – Ende. Dann morgen ein neues Leben; jeder für sich!“

Clotilde zuckte zusammen. Sie erwiderte dann aber: „Wie du willst.“

„Nicht wie ich will –“

„Also wie ich will,“ sagte sie tonlos.

„Gut. – Gute Nacht!“

Es schien, daß sie gehen wollte; es ward aber ein Schwanken daraus, bei dem sie sich mühsam aufrecht hielt. „Clotilde!“ rief Julius und trat näher.

Das gab ihr Kraft, sich aufzurichten; sie wehrte ihn mit Fassung ab. „Was noch?“ fragte sie kalt.

Er trat wieder zurück. Eine letzte Stille entstand. „Wo ist Luise?“ murmelte er. Seine Augen suchten rechts und links; und sie fürchteten doch, das Kind zu sehn. „Lassen wir sie,“ murmelte er weiter; „wohl ebensogut, ich geh’ fort, ohne sie zu sprechen. Sag ihr, bitte – – Nein, nein; es ist nichts zu sagen. Ich werd’ ihr schreiben … Also Gute Nacht! – Mein Mantel? Mein Hut?“

Es war dunkel geworden; der fast volle Mond begann jedoch zu leuchten, und Julius’ scharfe Augen sahen weit genug. Ihm schwebte vor, als hätte Luise seine Sachen in die Hängematte gelegt; die war aber leer. Ah, nur fort, nur fort! dachte er. „Was liegt an dem Hut,“ warf er hin, um über die Stille hinwegzukommen; „ich lass’ mir einen von Morlands Hüten holen. Und die Nacht ist mild. Milder, als ich dachte. Den Mantel, den brauch’ ich nicht …“

„Find’st ja auch draußen den andern, den gleichen,“ sagte Clotilde, scheinbar ruhig, mit verhaltener Bitterkeit.

„Ja, gewiß, gewiß. – Mir war, als wollt’ ich noch etwas sagen. – Offenbar ein Irrtum …“

Er wartete zwei, drei letzte Sekunden. Sie schwieg.

„Gute Nacht!“ murmelte er und ging, am Hause vorbei zur Gartenthür.


9.

Erst nachdem er fort war – sie sah ihn nicht mehr, sie hörte nur noch gedämpfte Schritte – sagte auch Clotilde, tonlos: „Gute Nacht.“ Sie fühlte nun doch einen dumpfen Schmerz in ihren Knien; wunderbar ermattet fühlte sie ihre ganze Gestalt. Es wunderte sie auch nicht; eher staunte sie, daß nicht in allen Gliedern Weh und Elend war. Sie rang die Hände ineinander, ohne es zu wissen; aus ihren Augen leuchtete aber der starre Trotz. Näher beim Hause sah sie ein paar Sessel stehn. „Ach ja!“ seufzte sie. Halb unbewußt wankte sie hin und sank auf den nächsten. Abschied! dachte sie. Es schien ihr nicht ein Wort, sondern eine Sache, ein körperliches Ding zu sein. Es stand in der Luft vor ihr. So auch „Mitternacht“. Bis Mitternacht; dann ist’s aus …

Der Gedanke schüttelte sie. – Es ist aber nicht zu ändern, dachte sie. Es ist nicht zu ändern …

Die beiden Hände legten sich vor ihr Gesicht.

Morland trat vorsichtig aus dem Hause, mit den kleinen Augen spähend. Noch bei der Thür fragte er mit möglichst wenig Stimme: „Julius ist fort?“

Clotilde fuhr auf. Sie blieb aber auf dem Sessel. „Ja,“ antwortete sie.

Die runde Gestalt kam näher, stand dann bedächtig, fast schüchtern still. „Ich störe, wie es scheint ...“

„O nein,“ warf sie hin.

„Sehr schön! – Wenn du nun also bereit wärst, meine liebe Clotilde –“

Ohne Blick, wie abwesend, fragte sie: „Zu was?“

Morland lächelte ein bißchen: „Eine merkwürdige Frage. Wir warten ja schon auffallend lange, teure Schwägerin. Wir warten mit Sehnsucht – mit Entzücken – auf das lebende Bild. Ist die schlafende Ariadne bereit?“

Clotilde legte sich fest gegen die Lehne. „Nein,“ antwortete sie.

„Nein?“

Sie zog sich das Tuch enger um die Schultern, als fröstle sie. „Jetzt anfangen? – Ich kann nicht. Ich – – Luft muß ich haben; Luft!“

Sie legte sich eine Hand an den Kopf.

„Was heißt das?“ fragte Morland bestürzt. „Was hat’s gegeben? Was giebt’s?“

„Weiter nichts, als daß ihr warten müßt. Sollst der Gesellschaft melden, verstehst du: das lebende Bild hat Kopfweh. Das lebende Bild bleibt noch hier im Garten! – Habt doch Geduld, Geduld. Bin ich denn nur auf der Welt, euch zu unterhalten?“

„Um Gottes willen! O nein!“ Morland that sein Aeußerstes mit beiden Armen, um ihr zu beteuern, das sei nicht der Fall. Diese Frauen mit ihren Launen, o Gott, o Gott! dachte er; zugleich fuhr er aber fort zu reden: „Beste, Teuerste, wie bedaur’ ich das; ich bin ganz geknickt. Kopfweh. Infam! Eine solche Frau und Kopfweh! – Soll ich Erfrischungen holen? Soll ich bei dir bleiben? Was soll ich?“

Der ganze Umfang des dicken Silens stellte sich zu Befehl.

„Sollst mich ein wenig in Ruhe lassen“, erwiderte sie, den Kopf schüttelnd; „das ist alles, was ich wünsche. Weiter brauch’ ich nichts. Geh, sag’s ihnen. – Geh!“

„Augenblicklich, standepede,“ stieß er diensteifrig hervor, mit einer Gebärde, als stürze er bereits davon. „Ich hoffe nur, süße Frau – – Nicht wahr, ich gehe in der Hoffnung auf –“

„Besserung! Gewiß!“

Sie entließ ihn mit einer ungeduldigen Bewegung. Er nickte und ging dem Hause zu. Als er an die Thür kam, hatte er schon sein ganzes phlegmatisches Behagen wiedergefunden; er zuckte wohl noch die Achseln, aber mit einer Art von Genuß. Gemütlich resigniert spitzte er die Lippen. Sie macht’s grade wie Fanny, dachte er. Na, in diesem Punkt bin ich abgehärtet!

Die Thür schloß sich hinter ihm. Clotilde horchte, das Geräusch that ihr wohl; sie atmete erleichtert. Sie war nun wenigstens einstweilen allein auf der Welt … Der heraufsteigende Mond schien nur gar so hell, und ihr ins Gesicht. Sie stand auf, sie wandte sich von ihm ab, sah umher. Jetzt leuchtete das weiße Haus so grell unter seinem Licht; es war ihr so nah; es starrte sie so zudringlich an. Aus den Fenstern kam überall rötlicher, gelblicher Schein; als wären Dutzende von Riesenaugen auf sie gerichtet, neugierig oder vorwurfsvoll: warum amüsierst du uns nicht? du, unsre Primadonna? Warum treibst du dich so allein herum? Was ist dir geschehn?

Sie wandte dem Haus den Rücken zu. Ich will tiefer in den Garten gehn, dachte sie; wo mich niemand sieht! – Am Fluß war es zu frei, zu hell; rechts war die Mauer zu nah, der Garten bald zu Ende. Nur links, auf die Gewächshäuser zu, konnte sie in tiefem Schatten verschwinden. Sie schritt rasch, beinahe heftig aus, in diesen Schatten hinein. Mit einer Art von Wollust versank sie in die Nacht unter den hohen Bäumen, zwischen den dichten Gebüschen.

Als sie das große Gewächshaus und daneben das Lusthäuschen sah, hörte sie gedämpftes Sprechen; es klang wunderlich, traurig, dabei ganz eigen verschleiert. Sie war zuerst erschrocken, blieb dann lauschend stehn. Nun merkte sie, daß es aus einer dicht überwachsenen Laube kam, nur wenige Schritte von ihr, am Weg. Sie staunte beklommen: es war Luisens Stimme …

[602] Mit wem spricht sie denn? dachte sie. Eine Weile verstand sie nichts. Das Reden ward beinah zum Flüstern; dann zu einer Art von gesprochenem Gesang; aber undeutlich, wie aus dem Traum. Spricht sie denn mit jemand? – Clotilde schüttelte den Kopf. Ach nein, dachte sie, dann kläng’s nicht so. Mit wem sollt’ sie auch – – Nein, das ist wieder eines ihrer Selbstgespräche! Das hat sie von mir! – Wirkt denn heut der Mond auf sie? Oder – ist ihr auch das Herz so traurig? – Könnt’ ich nur verstehn!

Sie stand und regte sich nicht. In der Laube knarrte etwas; das Kind schien auf der Bank ausgestreckt zu liegen, sich unruhig nach rechts und nach links zu drehn; und es knarrte wohl die Bank auf ungleichen Füßen. Die junge Stimme wuchs allmählich. Sie klang so traurig, daß Clotilde auf einmal zitterte, was sie wohl hören werde …

„Ach, was wollt ihr [??] ?“ – Luise sprach noch leise, aber doch zu laut; Clotilde verstand nun jedes Wort. – „Ach, warum quält ihr mich. Kann ich mich denn auflösen? Kann ich mich zerreißen? Laßt mich doch, wie ich bin. Bin ich denn nicht euer Kind? – Ihr könnt auseinander gehn, ach ja, – ich kann’s nicht; in meinem armen Kopf müßt ihr euch vertragen. Ihr müßt! Ja, ja, ja, ihr müßt! – Hab’ doch das alles von euch geerbt, ohne daß ihr mich fragtet. All die ,Teufel‘ und Nichtteufel, die haben in meinem Kopf miteinander gelebt all die Jahre her. Warum hetzt ihr sie mir gegeneinander auf? Was soll ich dann machen?“

Clotildens Kopf, bisher vorgestreckt, sank ihr allmählich gegen die Brust. Das Kind warf sich offenbar wieder auf der Bank herum; es kam ein Seufzer aus ihr, daß die Mutter zuckte. Eine Weile war’s dann still. „Dich kenn’ ich sehr gut,“ fing Luise plötzlich wieder an zu sprechen; „dich da in der Ecke! Du bist der ,Spielteufel‘, wie Vater dich nennt. Du bist von der Mutter. Bist du denn so schlimm? Ich hab’ immer nur gefunden, daß du lustig bist. Ach was, ich kann dich nicht so ohne weiteres hinausjagen … Aber die andern auch nicht. Also geh hin und vertrag’ dich! – Geh zu dem andern da, zum Ordnungsteufel, den Mutter nicht mag. Halt du nur Frieden mit ihm, dann seid ihr wohl auch beid’ nicht so schlecht, wie sie von euch sagen! – – Ach, Vater! Mutter! – Warum ist das so? – – Du bist der kleine Trotzteufel! der immer ,Hm‘ sagt; das mag sie auch nicht. Na ja, mit dir muß es wohl auch besser werden; – dich werd’ ich mit dem andern Bösewicht, dem Verkleidungsteufel, in die Ecke stellen, bis ihr besser werdet. Aber da steht dann und vertragt euch! Ich hab’ euch von Vater und Mutter, ihr müßt Frieden halten! Wenn ihr alle auseinander geht, kann ich nicht mehr leben!“

Großer Gott! dachte Clotilde erschüttert, plötzliche Thränen in den Augen, wie das Kind phantasiert! – Als hört’ ich mich selbst. Wenn ich als Mädchen, im Kummer über meine uneinigen Eltern, in halbem Fieber, in närrischen Phantasien – –

„Ach, Vater!“ fing das Kind wieder an. „Warum bist du mir doch weggefahren; ohne Hut und Mantel. Ich hab’ deinen Wagen rollen hören. Hast mir nicht einmal Adieu gesagt. Warst wohl wieder uneins mit ihr! – Nun scheint hier der Mond durch die Blätter; und ich lieg’ hier allein; und er fährt allein. Und im Saal machen sie nun wohl Musik, und Mutter steht als lebendes Bild … Ach, Vater! Mutter! – Ich bin auch nicht glücklich!“

Sie fing an, leise zu weinen. Hörbar war es doch.

Das ertrug Clotilde nicht; „sie weint!“ fuhr ihr aus der Kehle, wenn auch fast ohne Klang. Sie bewegte sich wohl auch.

Luise hatte das eine oder das andere gehört; ihr Weinen ward plötzlich still. Es schien, daß sie horchte. Dann stand sie auf und ging leise bis an den Eingang der Laube. „Ist da jemand?“ fragte sie, mit Angst in der Stimme. Nach einer Weile, etwas mutiger: „Wer ist da?“

Clotilde hatte im Schatten gestanden; sie trat nun rasch in den Mondschein vor, als käme sie eben gegangen, und auf Luise zu. „Ich bin’s,“ sagte sie.

Du?“ fragte das Kind verwundert, immer noch etwas verwirrt. Sie blieb in der Laubenöffnung stehn. „Wie kommst du hierher, Mutter?“

„Ich komm’ aus der Villa, Kind. Mein Kopf ist nicht gut. Ich wollte mich in der Luft – – Nein, bedaure mich nicht! Laß mich nur hier – bei dir!“

Sie ergriff Luisens Arm und drückte ihn mit zärtlicher Heftigkeit.

Luise verstand nicht, was das sollte. Befangen, mit bittenden Augen sagte sie: „Verzeih, Mutter –“

„Was?“

„Ich war da in der Laube, im Mondschein – und ich hab’ versäumt, dich mit anzuschauen.“

„Du hast nichts versäumt! Das lebende Bild ist noch hier, siehst du; noch hat es kein Mensch gesehn. – Anzuschauen … Eben schaust du mich ja an. Ganz mit – deines Vaters Blick …“

Auf einmal warf sich ihr das Kind an die Brust: „Verzeih’! ich kann nichts dafür!“

Vor Erschütterung stand Clotilde eine Weile wie erfroren da. Sie hielt Luise in den Armen, wagte sie aber nicht zu drücken. „Kind!“ stammelte sie endlich, sich allmählich fassend. „Was sprichst du nur? Ich versteh’ dich nicht. Wie können dir solche Worte, solche Gedanken kommen …“

Ihr wuchs der Mut, sie preßte sie leidenschaftlich an sich. „Ich hab’ dich ja über alles lieb, du närrisches Kind; so, so, wie du bist! ganz so, wie du bist!“ Sie sah ihr in das gute Gesicht, das eben so kummervoll geträumt, auf die schöne junge Stirn, die wie im Fieber des Grams phantasiert hatte; mit beiden Händen faßte sie den Kopf, streichelte ihn, küßte ihn. „Ach, dieser arme Kopf – mit allem, was in ihm ist – laß ihn so, Luise. Er soll Frieden haben …“

Luise starrte die Mutter betroffen an; hatte die etwas gehört? – Clotilde machte ihre Uebereilung geschwind wieder gut. „Wenn ich dir vorhin weh gethan hätte, mein’ ich; bei unserm Gespräch vor dem Haus. Als ich mit dir schalt … Ach, du bist mein gutes Kind. Ich hab’ dich lieb, wie du bist!“

An die Mutter angeschmiegt, vor Glück lächelnd, drückte das Mädchen die Augen zu. „O,“ sagte sie leise, „wie thut das gut. – Daß du mir das jetzt sagst – grade jetzt – o wie thut das gut. Wenn du wüßtest, Mutter …“

Clotilde antwortete nicht und drückte sie nur an ihre Brust.

„Ach, laß mich noch ’ne Weile so …“

„Ja, ja, ja,“ hauchte Clotilde ihr an die Wange hin. „Du hast recht: so ist’s gut!“ – Sie beugte den Kopf zurück und betrachtete das junge Gesicht. Wie sie ihm gleicht, dachte sie; und doch ein Mädchengesicht. – Wie wunderbar ist die Welt gemacht! – – Und ihre Mondscheinphantasien – darin mein, mein Kind. Ja, doch auch mein Kind! – Eine gute Mischung …

Sie küßte das dunkle Haar, die lichte Stirn. Luise nahm der Mutter Hand und drückte die heißen Lippen darauf.

Ach, dachte Clotilde, so eine gute Mischung sollte auch die Ehe sein; Frieden und Eintracht, wie in diesem jungen Kopf. – In einem jähen, hoffnungslosen Schmerzgefühl ließ sie das Kind aus den Armen. – Vorbei! Vorbei! Ach, das kommt nicht wieder!


10.

Auf dem schattigen Weg von der Villa her tauchten farbige Lichter auf; Stimmen und Schritte ließen sich hören, ein ganzer Zug kam heran. Es fehlte keiner von der lustigen Gesellschaft. Die Bowle hatte sie angeheitert, man konnte es den Stimmen abmerken und auf den Gesichtern sehn. Morland ging voran, mit einer der älteren Damen; Ellenberger und ein paar junge Herren trugen bunte Papierlaternen, in denen die Lichter brannten. Marwitz hatte einen Hut auf dem Kopf, die andern waren unbedeckt. „Lebendes Bild im Mondschein,“ rief Morland, der offenbar nicht zu wenig getrunken hatte, wenn auch noch nicht zu viel: „Mutter und Kind!“

„Wir hielten es nicht länger aus, gnädige Frau,“ sagte Ellenberger. „Da das ‚Bild‘ noch immer nicht kommt, so gehn wir zum Bild!“

Fanny drängte sich vor: „Wir mußten sehen, hören. Na, du arme Kleine, wie geht’s?“

„Danke,“ antwortete Clotilde, die sich wie von einer Schar von Bacchanten überfallen fühlte. „Besser. Sehr viel besser.“

„Besser, sehr viel besser,“ sprach Fanny ihr nach. Dann [603] lachte sie drollig auf. „Ich glaub’ wahrhaftig, ich hab’ zu viel Bowle getrunken!“

Ein unwillkürliches „Hm!“ kam aus Luisen hervor. Sie trat darauf, wie erschrocken, hinter die Mutter zurück.

Wieder dieses väterliche „Hm!“ dachte Clotilde; diesmal lächelte sie aber inwendig. – „Was giebt’s?“ fragte sie. Hans hatte sich an ihre Seite gestellt und machte ihr verstohlene, geheimnisvolle Zeichen.

„Diesmal war ich zu rasch im Urteil, Tante,“ flüsterte der Jüngling. „Wenn Stronzian ihr Ideal ist, dacht’ ich, mit so ’nem Gaul konkurrier’ ich nicht! Aber das nehm’ ich zurück. Ein ganz famoses Frauenzimmer! ein Prachtmädel!“

„Ah!“ flüsterte Clotilde.

„Und gegen mich sehr liebenswürdig; aber schon sehr! Beim nächsten Rennen, dem Schlußmeeting – ein Flachrennen, ein Hürdenrennen und drei Steeplechases – soll ich Stronzian mit ihr in ihrer Loge bewundern. Morlands und ich. – Lebend oder tot, kommen muß ich!“

Er hatte nach und nach, vielleicht mit Absicht, etwas lauter gesprochen. Jeannette von Lossow war mittlerweile auch herangetreten; einige Hauptworte hatte sie gehört. „Sie sprechen von Stronzian?“ fragte sie; ihre Wasserblauen Augen waren voll Harmlosigkeit und Unbefangenheit.

„Nein, von Ihnen, mein Fräulein!“ erwiderte Hans galant. „Ich erzählte meiner Tante eben – –“

Er sprach leiser weiter. Also schon wieder verliebt! dachte Clotilde. Richtig, nach einigen Augenblicken ging er mit dem Fräulein den Weg entlang, auf die Gewächshäuser zu, eifrig in sie hineinredend; sie sah in den Mond, er in ihr Gesicht.

Ellenberger und die andern Laternenträger waren in die Laube getreten und hatten dort die bunten Lichter auf den Tisch gestellt; sie kamen jetzt auf den Weg zurück. Ellenberger blickte den beiden jungen Leuten nach; er sagte nichts, aber er ging hinterdrein. Fanny, Morland, Marwitz verfolgten wieder ihn mit vergnügten Augen; sie sahen im Mondschein, wie er zu den beiden stieß, wie nun zwei Trabanten um die üppige Jeannette kreisten. Fanny lachte leise. „Das muß man sehn,“ murmelte sie ihren Herren zu, „wie diese kluge Jeannette die beiden da magnetisiert! Sie will einen Mann haben!“

In ihrer Bowlenheiterkeit sprach sie allmählich lauter: „Beide haben Geld; der eine auch hübsche Pferde; der andre ist selber hübsch. Für wen wird sie sich entscheiden? Wer weiß das?“

„Um Gottes willen,“ flüsterte Morland, „sprich doch nicht so laut. – Die Bowle!“

Fanny lächelte.

„Sie nimmt Ellenberger,“ setzte Morland hinzu.

Fanny schüttelte den Kopf. Ihre Wangen glühten, ihre Augen lachten. „Ich wette, sie nimmt Hans!“ – Das Wort „wetten“ brachte sie auf einen fidelen Gedanken; mit immer lachenden Augen hob sie ihren Zeigefinger: „Wetten wir! Wetten wir!“ Sie griff in Morlands Brusttasche und zog ihr kleines Wettbuch heraus, riß ein Blatt davon ab und nahm ihren Bleistift. „Ich setz’ fünfhundert Mark auf Hans, daß er früher ankommt. Wer hält gegen mich?“

Luise stand rückwärts, auch an der Laube, allein; sie hatte von Fanny’s Reden einiges gehört. Unwillig das Gesicht verziehend stieß sie wieder ein „Hm!“ heraus, diesmal ganz unbewußt.

Niemand gab drauf acht; nur Clotilde, die sich auf eine Rasenbank unter dem Gebüsch gesetzt hatte, hörte den bekannten Ton. Was „hmt“ sie wieder? dachte sie.

„Im Mondschein kannst du ja doch nicht lesen,“ murmelte Morland.

„Zur Not, o ja!“ antwortete Fanny; „aber da brennen ja die Lampions.“ Sie winkte ihren Herren und trat in die Laube; Morland und Marwitz folgten ihr. „Hans hat Rasse,“ fuhr sie fort und setzte sich an den Tisch; „und er hat gut gestartet. Wer hält gegen mich, auf Ellenberger?“

„Ich!“ sagte Morland, fast zu laut; er legte sich dann die fette Hand auf den Mund.

„Ich auch,“ flüsterte Marwitz lächelnd.

Fanny schrieb mit ihrer modernen, kühnen (nachträglich gelernten) Schrift auf das ausgerissene Blatt: „Fanny Morland fünfhundert Mark auf Hans von Hochfeld; Handicap-Steeplechase; Ziel: Jeannette von Lossow. Herr von Marwitz fünfhundert Mark auf Bankier Ellenberger …“

Sie schrieb für Morland das Gleiche. Morland schmunzelte. Er liebte jeden gewagten Humor.

Jeannette kam von den Gewächshäusern mit ihren beiden Männern zurück. „Ach Gott,“ seufzte Hans, nach einem heimlichen Eifersuchtsblick auf Ellenberger, „ich muß leider fort!“

Jeannette bedauerte es; ihre Augen suchten ihn noch zurückzuhalten.

„Das verdammte Pferd ist gesattelt,“ seufzte er weiter, „und die elende Pflicht ruft!“

Luise trat jetzt hinter der Laube hervor; auf einmal stand sie im hellen Mondlicht. „Du mußt fort?“ sagte sie zu Hans. In diesem Augenblick fiel ihr ein [??] hatten sich noch gar nicht gesehn. Sie gab ihm die Hand: [?? g]uten Abend, Hans. – Du reit’st nach Hause? zu meinem Vater?“

Er nickte. „Das heißt, ich muß ja erst noch in die Altstadt hinüber; ein paar Besorgungen. Verbummelt. – Dann geht’s Hals über Kopf hinaus!“

„Bitte, wart noch eine Minute!“

Luise lief fort, dem Hause zu.

„Sie reiten doch gern?“ fragte Jeannette, die neben der Laube stand.

„O gewiß!“ beteuerte Hans. „Mit Passion!“

„Ich find’ alles andre fad; nur zu Pferde ist man ein Mensch! – Tanzen? Es ist so lächerlich, wenn man sich herumdreht – “

Hans nickte. Er stimmte jeder ihrer Behauptungen zu; – so ein Vollblutmädel.

„Und Schlittschuhlaufen,“ fuhr sie fort, „ist Cichorie!“ – Sie lächelte ihn an. „Wollen Sie mit mir reiten, Herr von Hochfeld?“

„Ich? Ob ich will! Durch ganz Rußland, bis Sibirien!“

Fanny war in den Eingang der Laube getreten, das kleine Blatt in der geschlossenen Hand; Marwitz und Morland streckten hinter ihr die neugierigen, geröteten Gesichter vor. „O seht, seht,“ flüsterte Fanny zurück, „wie sie den Hans avancieren läßt. Seht Ellenbergers versauertes Gesicht. Ich wette noch fünfhundert auf Hans!“

Marwitz lächelte überlegen, staatsmännisch. „Er behält aber nicht die Führung.“

„Ein Outsider,“ murmelte Morland geringschätzig.

Fanny lachte die Herren leise aus. „Wer hält Ellenberger?“

Marwitz deutete auf seine Brust.

Ihren Gatten beiseite schiebend, trat Fanny wieder an den Tisch, setzte sich und schrieb.

Jeannette hatte sich inzwischen zu Ellenberger gewendet, um den etwas Vernachlässigten wieder aufzuheitern; es kam auch schon ein erster Sonnenstrahl in sein Gesicht. Hans blickte den Weg hinunter, ob Luise käme; dabei entdeckte er Clotilde in ihrem Schatten, auf der Rasenbank. Abschied nehmen! dachte er. Ihm war lächerlich verrückt zu Mut: das Herz in ihm lachte und blutete zugleich. Es blutete und lachte … Er ging zu Clotilden hinüber. „Gute Nacht,“ sagte er mit weich gedämpfter Stimme, „Tante aller Tanten.“

Sie zog seinen Kopf sanft zu sich herunter. „Armer Junge!“ sprach sie ihm ins Ohr. „Es scheint, du bist schon wieder rettungslos verliebt!“

„Rettungslos!“ antwortete er.

Luise kam in geschwindem Schritt, ein eingewickeltes, großes und dickes Buch im Arm. Sie zog Hans von der Mutter fort, ein Stück Weges weiter. „Willst du mir einen Gefallen thun, Vetter?“ sagte sie leise, als niemand sie mehr hören konnte. „Schau, dieses Buch. Willst du das mitnehmen, und sobald du meinen Vater siehst – – Siehst ihn heute noch?“

„Ich denke.“

„Willst du’s ihm dann geben?“

„Natürlich! Mit Vergnügen!“

Sie legte es ihm auf die Hand. „Donnerwetter! Schwer!“ sagte er erschrocken.

„Ja, leicht ist es leider nicht –“

„Ach, das macht ja nichts. – Was ist denn drin?“

[604] „Nicht neugierig sein. – Ihm selber geben.“

„Sehr wohl! – Gute Nacht!“

Er drückte ihr die Hand, mit dem gemütlichen, leidenschaftslosen Vetterdruck. Als sie nun aber zur Laube zurückkamen und er noch einmal vor Fräulein Jeannette, vor dem „Prachtmädel“, stand, und sie ihm so fest, so unbegreiflich kräftig die warme Hand mit ihrer noch wärmeren drückte, da ward ihm anders zu Mut. „O mein Fräulein,“ fing er an; es kam aber fast kein Ton heraus. „Mein verehrtes –“

Er sah jetzt, daß all die andern ihn anschauten; ihm verging das Sprechen. Er machte seiner Dame nur noch eine verlegene, tiefe Verbeugung, wie vor einer Fürstin; dann ging er im Sturmschritt davon.

Clotilde sah ihm nach, heimlich mitleidig lächelnd. Was hat ihm Luise gegeben? dachte sie dann und suchte das Mädchen mit ihren zärtlichen Augen. Luise stand am Eingang der Laube; sie warf einen Blick hinein; darauf zeigte sich wieder ihr ernsthaftes, fast zu ernstes Gesicht. Sie blickte die Mutter, die sich näherte, wie auffordernd an. Sie winkte mit dem Kopf, zur Laube hin. Was wollte sie? Was meinte sie?

Schnell entschlossen ging Clotilde an ihr vorbei und in die Laube hinein. Dort saß Fanny noch am Tisch, bei den Papierlaternen; sie las leise vor, was sie geschrieben hatte, die beiden Männer lächelten. „Was habt ihr da?“ fragte Clotilde. „Was erheitert euch so?“

„Ach, nur ein kleiner Spaß!“ raunte Fanny, mit ausgelassen vergnügten Augen. „Wir wetten auf Ellenberger und Hänschen: wen wird sie erhören? wer siegt? Ich hab’ tausend Mark auf Hänschen gesetzt –“

Sie wollte weiterreden; nun stockte sie aber vor Clotildens empörtem Gesicht. „Das ist ein schlechter Spaß, meine teure Fanny!“ sagte Clotilde in der ersten Entrüstung zu laut; sie dämpfte dann die Stimme. Sie riß Fanny das Blatt aus der Hand und steckte es in ihre Tasche. „Ihr macht die Pferde zu Menschen, jetzt wollt ihr auch die Menschen zu Pferden machen; der Karneval wird mir doch zu toll!“

Fanny stand auf. Tiefverwundert, bestürzt guckte sie die Schwester an; ihre weltklugen Augen waren nun ganz dumm. Die Männer starrten nicht viel anders. „Was hast du?“ stammelte Fanny endlich. „Warum so empört?“

„Clotilde hat recht,“ murmelte Morland, der geschmeidige; er suchte seine Verlegenheit mit halb ernsthaftem Ausdruck wegzulächeln. „Es ist eine Frivolität!“

Jeannette und Ellenberger erschienen vor der Laube; mit ahnungsloser Neugier schauten sie hinein. Geschwind plauderte Morland weiter, mit einem süßen Blick auf Clotilde: „Also nun das lebende Bild? Meine teure Schwägerin, dürfen wir nun hoffen?“

In der Thür der Laube, hinter Jeannette, bemerkte Clotilde noch ein Gesicht; eigentlich nur die Stirn und die Augen; sie erkannte aber gleich ihr Kind. Sonderbar – und ganz mit des Vaters Blick – schauten die Augen sie an; als wollten sie sagen: thu’s nicht! – Clotilde wußte nicht, was sie wollte; es war ein wüstes Durcheinander in ihr. Die Entrüstung, die Weltrücksicht, die Spiellust; dazu das neue Gefühl für ihr Kind … „Ich bitt’ noch um ’ne kleine Weile Geduld,“ sagte sie, eine Hand am Kopf, als schmerze der noch. „Die Herren und Damen, denk ich, gehn wieder ins Haus; unterdessen erhol’ ich mich ganz und –“

„Das sei fern von uns, daß wir dich bedrängen,“ fiel ihr Morland ins Wort. „Wir sind immer in deiner Schuld!“

Schmeicheln schadet nie! dachte er.

„Mein Gatte hat recht!“ rief Fanny, die sich über seine diplomatische Gewandtheit freute. „Ich find’ übrigens, hier wird’s kühl. Erkält’ dich nur nicht, Tilde. Also Rückkehr in den Konzertsaal, wenn ich bitten darf! Wir machen noch Musik!“

„Gehorsam ist des Christen Schmuck,“ sagte Marwitz lächelnd, zu Fanny und dann zu Clotilden gewandt.

Die Gesellschaft ging; diesmal die drei Herren mit den Papierlaternen voran, die sie aus der Laube geholt hatten. Jeannette schlenderte hinterdrein. Sie that es wohl mit Absicht; denn sie kehrte noch wieder um und war mit ein paar raschen schritten bei Clotilde, die wieder auf ihrer Rasenbank saß. Ebenso geschwind sagte sie, mit halber Stimme: „Ich hab’ übrigens ein neues Verdienst an Ihnen entdeckt, angebetete Frau.“

„Nämlich?“

„Ihren Neffen Hans!“

Darauf lief sie den andern nach.


11.

Clotilde folgte ihr mit den Augen; es war aber ein kriegerischer Ernst darin. Ja, dieser dumme Hans! dachte sie. Den werd’ ich doch vor dir zu schützen suchen, meine teure Jeannette!

Alle waren fort; Luise auch. Wo war die geblieben? – Doch nicht mit den andern ins Haus? – Clotilde schüttelte den Kopf. Das war doch unmöglich! – – Es ward ihr auf einmal so eng, so bang zu Mut; sie fühlte es stark; ihr Verstand stellte sich aber noch immer, als verständ’ er’s nicht. Was will ich denn Schlimmes thun? dachte sie. Ums Herz war ihr aber so schwer, als wollte sie ein Verbrechen begehn; oder als riefe sie eine mahnende Glocke und sie ginge nicht …

Vor Ueberraschung und Schreck stand sie auf. Luise kam von den Gewächshäusern her; sie hatte aus dem kleinen Lusthäuschen des Vaters Hut und Mantel genommen, den braunen Hut aufgesetzt und den braunen Mantel umgehängt. Im ersten Augenblick war Clotilden, als käme Julius selbst. Nun sah sie aber Luisens Lächeln, im Mondlicht. Das Kind blieb vor der Mutter stehn, mit einem militärischen Gruß.

„Wo hast du das her?“ fragte Clotilde. „Vater hat’s gesucht, als er fortging.“

Luise lächelte, wie eine sechzehnjährige Spitzbübin. Immer war aber heut ein gewisser Ernst hinter ihrem Lächeln; auch jetzt.

„Hattest du’s versteckt?“

Luise nickte.

„Warum?“

„Weil – – Ich wollt’ ihn nicht fortlassen. – Er ist aber doch fort!“

„Hm!“ sagte Clotilde bewegt.

Das Mädchen lächelte etwas erzwungen: „Jetzt machst du ,Hm!‘ Du!“

Clotilde sah sie eine Zeit lang schweigend an. „Kind, wie siehst du aus?“ warf sie dann möglichst harmlos hin; es klang aber doch viel hindurch. „Wie – merkwürdig diese Vermummung dir steht. Bist ihm wirklich ähnlich – dem Vater – als er jung war …“

Luise griff nach dem Mantel, um ihn abzulegen; Clotilde machte aber eine abwehrende Bewegung. „Nein, nein, bleib noch so! Ich muß dich noch ’ne Weile so anschauen; im Mondschein. Es hat so was – Märchenhaftes. – Geh, Kind, tritt einmal etwas zurück. Daß du etwas undeutlicher wirst – und ihm ähnlicher. So! – – Was für eine Idee, so zu mir zu kommen. Ich fang’ ja an zu träumen, zu phantasieren, wenn ich dich so sehe. Ich denke, jetzt –“

Ihr ward so beklommen, daß sie nicht weitersprach.

„Was denkst du?“ fragte Luise.

„Ich denke, jetzt wird sie das oder das thun, was der Vater that …“

Luise lächelte. Der Spielsinn in ihr war schnell geweckt; er hatte vielleicht nur auf so ein Wort gewartet. Einen Augenblick dachte sie nach; dann nahm sie eine denkende, sinnende Stellung an, eine Hand am Kopf.

„Richtig! Da thut sie’s schon. – Sehr gut. – Wie du ihm das abgelauscht hast, wenn er so dasteht und in seine Gedanken versinkt. – Sonderbares Kind! – Wo willst du hin?“

Luise trat zu einem der Gebüsche, wobei sie Julius’ Gang nachzuahmen suchte; unter dem Gebüsch blühten Spätsommerblumen. Sie sah auf die hinunter und auf den Busch, aufmerksam, liebevoll. „Weißt du, so steht er morgens im Garten, vor seinen Pflanzen. Stellt sich so hin, weißt du, um zu sehn, was über Nacht geworden und gewachsen ist – “

Clotilde lächelte: „Ja, ja.. Und pflegt sie.“

„Und nimmt hier ’ne Raupe ab – und da wieder eine …“

Das Kind that es ihm nach.

„Und dann bindet er mit furchtbar ernstem Gesicht diese Ranke fest, die so zwecklos in der Welt herumirrt. Und bricht die welken Blätter ab …“

[606] Luise spielte das alles. Mit kopfschüttelndem Staunen sah Clotilde zu.

„Ja, ja, ja. – Wie du das machst!“

„Das hab’ ich ja von meiner Mutter,“ sagte Luise kindlich drollig lächelnd; „das ist Künstlerblut. – Die Mutter in mir spielt den Vater in mir.“

„Meinst du!“

Clotildens heiteres Staunen verging; ein tiefer, befangener Ernst erfüllte ihre Züge. Auf ihrer Bank weit vorgebeugt starrte sie das Mädchen an; „ach, wie märchenhaft, wie wunderbar das ist,“ murmelte sie. – „Spiel’ ihn weiter, Kind! – Laß ihn auch einmal reden, Kind. Oder kannst du das nicht?“

Luise schüttelte den Kopf. Sie ward blaß; so erschreckte sie dieser Gedanke, der sie doch auch reizte. Ein scheuer, noch zaghafter Wunsch, es zu thun, flog ihr durch das junge Herz.

Clotilde bewegte sich, als wollte sie aufstehn; jetzt sagte Luise rasch, mit plötzlichem Entschluß: „Doch, Mutter, ich kann’s!“ Sie zerrte vor Erregung mit der einen Hand an der andern und wiegte den rechten Fuß auf den Zehen. „Jch möcht’s einmal versuchen, Mutter. – Er ist auf dem Lande, weißt du...“

Sie suchte noch ihren Gedanken, ihre Worte.

„Ja,“ murmelte Clotilde.

„Im Garten ist er; ganz allein. Er hat mit seinen Pflanzen geliebäugelt; jetzt – guckt er umher, als sucht’ er jemand. Er denkt – –“

Sie sagte nicht, was er denke; sie wagte auch nicht mehr, die Mutter anzusehn. Aber sie fing an zu seufzen, in Julius’ Art, so gut sie das konnte. Es gelang noch schlecht; ihr Herz schlug zu unruhig, sie fürchtete sich. Ach was, dachte sie, warum mich fürchten; Mutter sitzt ja so still, so gut. Ich muß es thun – ich muß was thun …

„Luise!“ rief sie dreist, wie mit des Vaters Stimme, den Kopf auf die Seite gedreht. – „Ja so. Luise ist nicht hier. Die ist in der Stadt. – Und hier ist’s so still. – Warum kommt denn meine Luise nicht zu ihrem Vater? Hat sie ihn denn nicht lieb? Sehnt sie sich nicht nach ihm? – Ach, was red’ ich da; wie kann ich das sagen. Gewiß hat sie ihn lieb. Sie sehnt sich auch nach ihm. Aber sie muß ja in Dresden bei der Mutter bleiben …“

Die Worte waren glücklich heraus; nun zitterte sie aber selbst. Zur Mutter hinschauen mochte sie nicht; mit dem Augenwinkel konnte sie jedoch sehen oder fühlen, daß sich die helle Gestalt auf der Rasenbank unruhig bewegte. Wird’s nun schlimm? dachte sie. Wird sie nun bös?

Es kam nichts. Es ward eine tiefe Stille. Die helle Gestalt regte sich auch nicht mehr. Endlich konnte Luise den Atem der Mutter hören, so laut ging er durch die schweigende Nacht. „Warum hast du schon aufgehört?“ sagte Clotilde nach einer Weile, so weich und so heimlich bewegt, daß es dem Kind über die Haut lief. „Spiel nur weiter, Kind. ,Sie muß bei der Mutter bleiben‘ … Sag nur alles, was er sich denkt!“

„Ja,“ antwortete Luise selig; obwohl ihr noch immer der Mut verging, nach der Bank zu blicken. „Also er steht da noch im Garten. Und – er denkt und denkt …“

Sie wühlte ein wenig mit der Hand in ihren Haaren, wie sie’s am Vater kannte. Ihr Blick bohrte sich in die Erde, es legte sich eine tiefe Schwermut auf das rührend junge Gesicht. „Wo mögen die nun wohl sein?“ fing sie wieder an, als wär’ sie der Vater; die Aehnlichkeit des Tons und der Stimme wuchs. „Im Saal, bei der Musik? Oder sind sie noch im Garten, im Mondschein – Mutter und Kind – und denken auch einmal an mich?“ – Leise begann ihr die Stimme zu zittern, aber ungewollt: „Ist ihnen doch ein wenig traurig zu Mute, daß sie nicht bei mir sind? Haben sie doch auch etwas Kummer, wie ich?“ – Jetzt hielt sie den Kopf und eine Hand so, als horchte sie. „Was ist das? Rollt da nicht ein Wagen auf den Hof? Ich hör’s ja, wie die Hufe stampfen. Mein Gott! Könnten sie das sein? Wenn sie plötzlich kämen, um mich zu überraschen. – Clotilde! Luise!“

Sie hob die Stimme, als riefe sie. Dann sank die aber ebenso geschwind, und mit ihr die Gestalt. „Nein, jetzt hör’ ich’s. Kein Wagen. Nur ein Reiter. Nur Hans. Niemand als mein guter dummer Hans …“

Sich nach rechts wendend, wie zu einem Eintretenden, sagte sie nur noch, so recht resigniert: „Guten Abend, Hans!“

Es ward wieder eine tiefe Stille. Nichts, gar nichts rührte sich auf der Bank. Luise sah noch immer nicht hin. Bei dem Schweigen ward ihr endlich bang zu Mut; sie grollt mir wohl so! dachte sie. Dann schämte sie sich aber ihrer Bangigkeit. Sie wandte das Gesicht der Mutter zu.

Jetzt wunderte sie sich: Clotilde saß in sich zusammengesunken, die Hände vors Gesicht gelegt. Luise hatte einmal ein Bild gesehn, auf dem war eine Griechin oder Römerin auch so abgebildet, wie in einen großen Kummer vertieft. Daran mußte sie denken, bei diesem antiken Gewand und dem Schleiertuch. Es schien nun sogar, als finge die Mutter leise an zu weinen … Eine andre Bangigkeit kam über das Kind. Sie fürchtete: ich hab’ ihr zu weh gethan …

„Verzeih, Mutter!“ flüsterte sie. „Es – es kam mir so. – Ich war kindisch. Ich will nicht wieder – – “

Sie nahm sich den Hut vom Kopf und warf ihn ins Gebüsch, wo er hängen blieb.

„Nein, nein, nein,“ sagte Clotilde, so still weiter weinend. „Laß nur. Es war gut. – Laß nur. O laß nur …“

Sie nahm die Hände vom Gesicht und stand auf. „Kind! Ach, komm zu mir!“

Immer noch zagend trat Luise zur Bank. Auf einmal fühlte sie sich umschlungen, rundum, so leidenschaftlich wie noch nie. Sie fühlte der Mutter nachtkühlen Mund auf dem ihren, und einen rollenden, warmen Tropfen. „Luise! Mein Kind!“ sagte die zitternde und thränende Stimme zwischen Kuß und Kuß. „Du mein einziges … Meiner Jugend Kind! Meiner Liebe Kind!“


12.

Friedrich, der Diener, der von der Villa her kam, blieb in einiger Entfernung stehn; er wartete respektvoll, wie er’s gewohnt war, bis die Umarmungen von Mutter und Tochter ein Ende nahmen. Sie dauerten ihm allerdings unbegreiflich lange; das war aber ihre Sache; seine Sache war, geduldig auf seinen beiden Füßen zu stehn. Als Clotilde, das Kind noch in einem Arm haltend, den umschleierten Kopf endlich wandte, räusperte er sich, auch nach seiner Gewohnheit; darauf trat er heran. „Ach ne, keine Sorge, gnädige Frau,“ sagte er zur Beruhigung, „die Herrschaften schicken mich nicht; die machen noch Konzert. Ich wollt’ mir nur erlauben, zu fragen – da ich höre, gnädige Frau sind nicht so ganz wohl – ob Sie vielleicht meine Dienste wünschen. Wir haben ja unsre Hausapotheke.“

„Mein guter Friedrich,“ versetzte Clotilde langsam, als erwachte sie aus einem Traum. „Hausapotheke …“

Sie lächelte. Das Kind an sich drückend fragte sie: „Was hat er eigentlich gesagt?“

„Nichts, Mutter. Er fragte nur –“

„Wie es mir geht?“

Luise nickte.

„Ach, der gute Friedrich. – Ich hatt’ ihn ja doch zu Bett geschickt; oder hatt’ ich das nicht? – Er schüttelt den Kopf. – Wie’s mir geht? Besser, besser, Friedrich. Viel, viel, viel besser!“

Sie ließ Luise aus dem Arm; es war nun offenbar eine Unruhe über sie gekommen. Sie starrte in die Büsche; dann zum Himmel auf. Mehrere Male nickte sie, wie ein Mensch, der sich in seinem Willen klar wird, der an seinem Entschluß nun nicht mehr deutelt oder zweifelt. Danach lächelte sie, offenbar vor Freude; ihr blasses Gesicht verjüngte sich. Ein rosiger Hauch erschien auf den Wangen. „Wie spät ist es?“ fragte sie, sich langsam wieder zu den beiden wendend.

„Neun Uhr,“ erwiderte Friedrich.

„Neun Uhr …“

Sie sah an sich hinunter. „Die schlafende Ariadne … Ach, was thut das. Man hängt ihr was um. – Sagen Sie, Friedrich: ob die Gartenthür an der Landstraße wohl noch offen ist?“

„Gewiß, gnädige Frau.“

Sie wiederholte mechanisch: „Gewiß. – Kind, laß einmal mich den Mantel – –“

Sie nahm Luisen den braunen Mantel von den Schultern und hängte ihn sich selber um, bedeckte damit auch vorn ihr [607] gelbweißes Gewand. Dann trat sie an den Busch, in dem Julius’ Hut hing, warf ihren Schleier ab – sie mußte ihn erst aus dem Mantel lösen – und drückte sich den Hut auf das üppige Haar. „Braun,“ murmelte sie. „Man könnte darin aussehn wie ’ne Pilgerin; – das war ich noch nie. – Pilgerin auf der Bußfahrt –“

Sie flüsterte in sich hinein: „Die nicht ruht, bis sie ihr frommes Ziel – –“

Mit einer ihrer jugendlich raschen Bewegungen trat sie wieder vor Luise hin und legte ihr die Arme um die Hüften, indem sie die Hände hinter ihr zusammenschloß. „Willst du mitgehn?“ fragte sie. „Willst du mich begleiten?“

Das Mädchen wußte noch nicht: verstand sie die Mutter recht? Es war aber ein so eigener Glanz in deren Augen … „Gewiß!“ sagte sie für jeden Fall.

„Aber weit, weit!“ – Clotilde deutete auf den Mond. „Was thut das; die Nacht ist hell!“

„Mutter!“ flüsterte Luise; nun zweifelte sie nicht mehr. Sie hätte beinah gelacht vor Glück. Ihre Arme, ihre Hände zitterten vor Freude.

„Aber – wir zwei allein?“ sagte sie dann leise; es rührte sich die väterliche Bedächtigkeit. „Diesen weiten Weg? bei Nacht?“

„So hell.“

„Aber doch nur zwei Frauenzimmer. – Vater wär’s nicht lieb …“

Clotilde kämpfte ein wenig; das Absonderliche, Romantische hatte sie gelockt. „Friedrich!“ sagte sie dann.

„Gnädige Frau?“

„Sie sind nun wohl sehr müde, Friedrich?“

Er begriff, um was es sich handelte; ein Freudelächeln huschte über sein Gesicht. Gleich sah er aber wieder nach gar nichts aus. „Ach ne, gnädige Frau,“ antwortete er mit seinem trockenen, verschlossenen Ernst. „Ich hab’ mich ja auf Ihren Befehl ausgeruht.“

„Haben Sie das wirklich gethan?“

„O ja.“

„Lange?“

„Sehr lange nicht, das müßt’ ich lügen; aber doch lang’ genug.“

„Wenn Sie nun aber tüchtig marschieren sollten?“

„Wär’ mir grade recht. Nur im Stillsitzen schlaf’ ich ein. – Die Luft ist so gut.“

„Ich thu’ Ihnen auch einmal was zuliebe, Friedrich! – Sie gehn also ins Haus und holen Ihren Hut; und Hut und Mäntelchen für Luise; aber ohne daß man’s merkt. Und dann geben Sie diesen Zettel an Heinrich … Ja so, ich hab’ nichts bei mir.“

„Ich immer, gnädige Frau!“

Friedrich zog ein kleines Taschenbuch aus der Brusttasche und riß ein Blatt heraus. Clotilde nahm es und schrieb ein paar Worte, auf Luisens Rücken. „Hätten Sie auch ein kleines Couvert?“ fragte sie.

Er nickte, er hatte schon eins aus derselben Tasche hervorgeholt. Er führte Bindfaden bei sich, Oblaten, Briefmarken, Heftpflaster, alles. Das beschriebene Blatt übernehmend, faltete er es, steckte es in den Umschlag und leckte ihn zu. „Also an Heinrich geben!“ sagte Clotilde noch einmal. „Er soll das Billet eine halbe Stunde behalten; dann soll er es an Frau Morland geben. Es sei eine Ueberraschung.“

„Versteh’ schon. Werd’s schon machen.“

„Sie treffen uns dann bei der Gartenthür.“

Friedrich nickte und ging. – Clotilde legte sich eine Hand auf die Brust. Ihr war zu Mut, wie wohl noch nie.

„So, nun komm!“ sagte sie leise.

Luise trat zu ihr. „Die werden sich wohl wundern,“ sagte sie ebenso, nach dem Haus zu blickend.

„Die mögen dann weiter wetten. – Ich hab’ meinen Weg. Ich mit meinem Kind!“

[632]
13.

Hans von Hochfeld verlor allmählich die Geduld. Zweimal war er schon mit Luisens Buch in Onkel Julius’ Arbeitszimmer eingetreten, um es ihm versprochenermaßen selbst zu übergeben; jetzt kam er zum drittenmal und der Oheim war noch nicht da. Die große Stockuhr hatte halb zwölf geschlagen. Müde war Hans nicht, heute abend gar nicht; aber er sollte doch zu Bette gehn. Heimgekommen war der Onkel gewiß. In seinem Schlafzimmer war er nicht, in den andern auch nicht. Auf seinem Arbeitstisch brannte die Lampe; sonst war alles dunkel und tot. So konnte er nur im Garten sein, im Mondschein spazieren gehn … Zum vierten- oder fünftenmal trat Hans an die große Glasthür; bisher hatte er in dem mondhellen Garten nichts Lebendiges entdeckt. Diesmal – ja! Da ging er! Aus der Nacht unter den dichten Bäumen kam er ins Lichte heraus, ging quer über den Rasenplatz hin; den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Rücken, wie er das so liebte.

Merkwürdig! dachte Hans. Eigentlich verrückt! So kurz [634] vor Mitternacht irrt er noch umher. – Wenn er noch ein verliebter junger Bursch wär’ wie ich! – – Schauderhafte Einsamkeit hier! Keine Musik, keine Parfums, keine Toiletten, keine blitzenden Augen. Donnerwetter, diese Augen! Jeannette von Lossow hat doch die merkwürdigsten, unternehmendsten Augen, die – – Klein sind sie ja eigentlich. Und kein rechtes Blau. Aber manchmal guckte sie mich an, daß ich – –

Mit einem verzückten Lächeln sah er in die Luft. Wie viel hatte er in den paar Stunden erlebt! Wie persönlich wohl war ihm zu Mut; er fühlte, daß es ganz entschieden ein Glück war, Hans von Hochfeld zu sein. Nur das muß ich sagen, ging ihm nach einigem Nachdenken durch den Kopf: etwas in mir bäumt sich doch gegen sie auf. Ich bin ja nicht unbescheiden; aber wenn sie zum Beispiel meine Frau würd’ und sagte mir dann eines Tages: ich hab’ Almansor doch noch lieber als dich –

Ein furchtbarer, schauderhaft aufregender Gedanke; Hans ballte seine beiden Fäuste. Diesem Almansor schöss’ ich eine Kugel vor den Kopf!

Er hatte das schwere Buch auf den Arbeitstisch gelegt; aus Pflichtgefühl konnte er sich aber noch nicht entschließen, zu gehn. Endlich! Der Oheim kam! In sich versunken, unheimlich ernst, ohne Hans zu sehn, trat er durch die Glasthür ein, in braunem Mantel und braunem Hut, ganz denen gleich, die er in der Villa Viola gelassen hatte. Er drehte den Schlüssel um. Er sah auf die Erde, ließ ein paar Töne hören, die wie halb unterdrückte Seufzer klangen. Derweil blieb er stehn, neben der lebensgroßen Flora-Statue; gegenüber stand nur noch das leere Postament der zerschlagenen Fortuna. Er nahm Hut und Mantel ab und legte sie, wie er schon öfter gethan, der Flora auf Kopf und Schultern. Als er dann zum Arbeitstisch ging, sah er Hans.

„Guten Abend, Onkel Julius,“ sagte der junge Mann.

Julius nickte ihm zu: „Guten Abend, Hans.“ Er unterdrückte ein bitteres Lächeln; der kommt immer wieder! dachte er. – „Was, du noch auf?“

„Ich hatte dir was zu übergeben, Onkel. Uebrigens war ich auch – noch zu aufgeregt. Hätte doch noch nicht schlafen können.“

„Du warst im Salon bei Morlands?“

„Ja, auch; eine Zeit lang. Hab’ aber natürlich auch meine Geschäfte besorgt. – In der Villa war’s – recht interessant. Ich hab’ auch dieses merkwürdige junge Mädchen, Fräulein von Lossow, kennengelernt –“

„Ah!“ unterbrach ihn Julius. „Die Centaurin!“

„Centaurin?“

„Ja. Dieses junge Weibchen mit dem Pferdeherzen.“

Julius trat an das Fenster, das auch in den Garten sah; es war aber durch einen langen, dunklen Vorhang verdeckt. Er lüftete ihn und starrte wieder in die dämmernde Nacht.

Er drückt sich immer merkwürdig abkühlend aus, dachte der doch etwas verwirrte Hans. Wie ein Regenbad! – „Ich find’ sie aber jedenfalls sehr interessant,“ entgegnete er, um sich aufzulehnen.

Julius lächelte über die Schulter. „So? Sehr interessant? Daß sie immer von Pferden spricht? – Ich hab’ sie im Frühling in Berlin gesehn; das war nicht sehr – –“

„Aber wie sie davon spricht!“ warf Hans ein, wenn auch etwas unsicher. „Und dann – ihre frische, herzliche Art; ihre Natürlichkeit.“

Der Oheim sah ihn schweigend an. Was er dachte, konnte er nicht gut sagen: Alle Weisheit aller gescheiten Menschen kann die Dummen nicht hindern, dumm zu sein!

„Verliebt!“ murmelte er dann in den Vorhang hinein, wie um den Bengel ein wenig zu entschuldigen.

„Sagtest du etwas?“ fragte Hans.

„Nur so für mich. – Na, und du warst auch so glücklich, die lebenden Bilder zu sehn?“

„Nein, Onkel, ich nicht mehr. Tante Clotilde ließ sich entschuldigen, weil sie Kopfweh hatte. Später suchten wir sie alle im Garten auf; da sah sie aber in ihrem Kleid und Schleier und Blässe noch aus wie eine Statue des –“

Er suchte das Wort; er hatte sich zu weit gewagt.

„Wessen?“ fragte Julius.

„Wie eine Statue des Kopfwehs,“ brachte Hans mit einem kühnen Lächeln heraus. „Es ging ihr aber doch schon besser … Du, Onkel, bei Statue fällt mir ein: da fehlt also noch immer das Gegenstück zur Flora. Das Postament und gar nichts drauf; es sieht schauderhaft unsymmetrisch aus. Willst du sie nicht wieder kommen lassen?“

„Die Fortuna?“

„Ja.“

„Nein, nein. – Laß es nur so aussehn. Was liegt daran. – Ich werd’s auch nicht mehr lange sehn. Ich reise ab.“

„O! Du reisest ab?“

„Ja.“ – Julius ging durchs Zimmer, langsam hin und her. – „Eine längere Reise. Nach dem Süden; es kommt ja nun der Herbst.“

Nach einigem Zögern fragte Hans: „Allein?“

„Ja. – – Geh zu Bett, mein Junge. Es ist spät, du bist für einen Landmann schon viel zu lange auf. Morgen wieder früh heraus –“

„Ich schlaf’ schnell!“

„Sehr angenehm. Aber doch Gute Nacht!“

Hans trat näher und gab ihm die Hand. „Wie der Herr Onkel befehlen. Gute Nacht!“ Er ging.

„Allein!“ dachte Julius, sich Hansens Wort wiederholend, als er die Thür hatte schließen hören. Es ödete ihn an, dieses Wort; sich auf die Reise freuen konnte er nicht. In der Fremde herumirren, allein … Und doch war’s vielleicht gut. Vielleicht verjüngte es ihn; denn sie hat wohl nicht Unrecht, dachte er, die verfinsterten Augen schließend, – ich fühl’s: ich bin wirklich älter, als ich sollte. Die wahre Lust am Leben, die ist mir entfallen …

Nebenan, im Salon, hörte er Klavierspiel; leises, aber er hörte es doch. Er erkannte Hans am Anschlag; weich spielten seine Finger nicht. War der dumme Junge denn in den Salon gegangen, statt nach seinem Zimmer? – Der glückliche dumme Junge fand also noch nicht zu Bett. Offenbar verliebt! Der Waldmensch in die Centaurin! – Julius saß an seinem Schreibtisch nieder, stützte die Stirn in die Hand. Wär’ wenigstens Luise bei mir! fuhr ihm durch den heißen Kopf; das würd’ mich verjüngen! Mit ihr in die Welt hineinschauen – o ja. Mit ihr wieder neu staunen lernen über alles! – Sie bleibt bei der Mutter.

Sie bleibt bei der Mutter …

Er starrte auf den Tisch. Etwas Eingewickeltes fiel ihm in die Augen; „an meinen lieben Vater“ stand darauf. Es war von Luisens Hand geschrieben. Wie kam das hierher?

Er stand auf, ging zur Salonthür und öffnete sie. Eine einzige Kerze brannte dort, auf dem Klavier; Hans saß noch und spielte. Als der Jüngling den Oheim sah, sprang er auf. „Bitte um Vergebung! Ich wollt’ mir nur noch ein Schlummerlied aufspielen –“

„Hast du das gebracht?“ unterbrach ihn Julius. „Auf meinem Tisch liegt ein Buch, wie es scheint.“

„O Gott, ja! Verzeih! Das hab’ ich vergessen. Als du von der – Centaurin anfingst – –“

Er folgte dem Onkel ins Arbeitszimmer, um seine Dienstfertigkeit zu zeigen, und legte ihm das Buch selber in die Hand. „Schwer! Was? Und damit den ganzen Weg geritten. Cousine Luise schickt es dir.“

Julius wickelte den Inhalt heraus; befremdet, mit einem mißfälligen Spiel der Brauen, sah er darauf hinunter. „Ein Album. Das alte Buch mit – den Photographien von Tante Clotilde. – Das schickt mir Luise?“

„Ja.“

„Warum?“

„Lieber Onkel, das weiß ich nicht. Sie kam damit und gab mir’s; basta.“

Julius öffnete das Album und durchblätterte es. „Ich versteh’ nicht! – Vielleicht hat sie sich vergriffen; mir fehlte ein anderes Buch, das ich in der Stadt gelassen hatte. Das sollte Friedrich mir schicken.“

„Ja, so wird’s wohl sein!“

Hans sah dem Oheim über die Schulter, seine Augen blätterten mit. „Donnerwetter, schöne Photographien! – Weißt du, Onkel Julius, wenn dir’s kein Opfer ist, könnt’st du mir eine davon geben: Tante Clotilde ist in meiner Schuld. Die einzige [635] Photographie, die ich von ihr hatte, mußt’ ich heute hergeben; sie verschenkte sie weiter –“

Er sagte doch lieber nicht, an wen.

„Gut,“ antwortete Julius gleichgültig; er schaute schon nicht mehr hin. „So nimm dir eine.“

„Darf ich wählen?“

„Ja.“

Hans deutete mit dem Finger auf das Bild, das er eben sah. „Die da ist ausgezeichnet, Onkel; die im Bergwandererkostüm. Kann ich die nehmen?“

Julius nickte. Er zog die Photographie aus dem Album heraus und hielt sie ihm hin; dabei warf er noch einen Blick darauf. „O ja,“ sagte er, „ein gutes Bild; nur etwas verblaßt. Das ließ ich in der Schweiz machen, als wir beide sogenannte Bergfexe waren, mit Leidenschaft auf die ,Pics‘ und ,Pize‘ stiegen; – da waren wir beträchtlich jünger als jetzt …“ Er lächelte, in langsam aufsteigender Wehmut; er hielt die Photographie besser zum Lampenlicht. „Ja, das war in Pontresina. – Ein gutes Bild. Ganz das unternehmende, frische, feurige Gesicht; und die elastische, unermüdliche Gestalt! – Vier, fünf Wochen wanderten wir damals in der Schweiz und in Tirol herum; fast jede Nacht ein neues Quartier. Diesen Alpenstock“ – er lächelte wieder – „den sie so kriegerisch in der Hand hält, wie die Jungfrau von Orleans ihre Fahne, den verlor sie den Tag darauf; er rollte in den Abgrund. Bei einem Haar rollte sie ihm nach. – – Weißt du, nimm lieber ein andres Bild. Dies da – zur Erinnerung sollt’ ich’s doch behalten. Das ganze Album ist voll; also Auswahl genug!“

Hans nickte und blätterte zurück. „Da war eins, das mir auch sehr gefiel; im Reitkleid. Da ist es.“

„Gut, also nimm’s!“

Indem Julius es herausziehen wollte, sah er es noch einmal an. „Ja, ja, damals lernte sie reiten; als junge Frau: denn als Mädchen war sie nicht aufs Pferd gekommen, ihre ängstliche Mutter hatt’ es nicht gelitten. Sie lächelt auf dem Bild, rein vor Glück. ,Reiten ist der Himmel,‘ sagte sie damals, ,Reiten ist das Paradies!‘ – – Ein kindlich triumphierendes Lächeln. Ich glaube, so kann das nur ’ne Frau! – – Mein lieber Junge, das Bild ist nicht gut; zu wenig Form im Gesicht, zu viel retouchiert; aber ich – wenn ich’s ansehe, wird es mir lebendig; ich seh’ wieder die Wangen glühn und die Augen leuchten. Diese Reiterin – nein, die geb’ ich doch nicht her. Such’ dir eine andre; von der Infanterie!“

Er macht wieder Witze, dachte Hans sehr verwundert. Auf die Kavallerie verzichtend, blätterte er weiter zurück. „Da ist eine, die sitzt und liest. Die find’ ich vortrefflich.“

„Findest du?“ – Julius betrachtete sie nun auch, zuerst nur von der Seite. „Das ist der wahre Gegensatz zu der Reiterin! So ernsthaft still, wie man nur sein kann; träumend, weltvergessen. – Des Gegensatzes wegen sollt’ ich das Bild eigentlich behalten; – aber nimm es hin!“

Er zog es heraus, hielt es Hans entgegen; der griff danach.

Julius hielt es aber noch fest: „einen Augenblick!“ Er betrachtete es aufmerksamer. „Das Bild hab’ ich selbst gemacht; ich glaube, damit fing mein Photographieren an. Ja, ja. Sie hatte zum erstenmal Lord Byrons ‚Manfred‘ gelesen; ich fand sie grade, als sie so ergriffen, in das Buch versunken dasaß; mit einem fremden, beinah rätselhaften Gesicht. Könnt’ ich das festhalten, dacht’ ich! So entstand diese Photographie …“

Er ruhte noch mit den Augen darauf; eigentlich sah er sie aber nicht mehr. Es ward ihm so wohl und weh ums Herz. O ja, dachte er, eine merkwürdige Frau. Was für eine Frau. So viele, viele Geister in der einen Seele. Ein Proteus … Aber ach –!

Er versank in sich.

Hans wartete eine Weile; dann fragte er schüchtern: „Also – behalte ich dieses Bild?“

Julius blickte auf. Er lächelte: „Du hast’s ja noch nicht.“ Nach einem stummen Blick auf den Jüngling – was er für Augen hat! dachte Hans – steckte er die Photographie wieder an ihren Platz. „Ich kann dir’s nicht geben, Junge. Es hängt etwas daran; eine Erinnerung, mein’ ich. Nimm irgend ein anderes Bild, das mir nichts bedeutet.“

„Gieb mir doch, welches du willst!“ sagte Hans.

„Also dieses da. Im antiken Kostüm; mit Schleier und Diadem;“ Julius’ Gesicht verzog sich: „als ‚lebendes Bild‘. Aus der Zeit, als sie anfing, die Statuen aus dem Altertum zu spielen – in Drapierungen und Stellungen zu glänzen –“

Er sprach nicht weiter. Ein bitterer Geschmack trat ihm auf die Zunge, wie an diesem Nachmittag. Bis es nun damit endet, dachte er, daß Centauren und Silene ihr dort Beifall klatschen, während ich hier im Mondschein durch den Garten irre …

Weg mit diesem Bild!

Er begann es herauszuziehn; dabei blickte es ihn noch einmal an. O, sie weiß warum! ging ihm durch den Sinn, während seine Augen es wider Willen anstarrten: das Antike steht ihr so gut. Es macht sie vornehm und edel; es legt gleichsam den Zeigefinger auf die Poesie ihrer Gestalt, es giebt ihren Augen Stimme … Diese Bilder machen mich verrückt!

Er ließ das Album auf den Schreibtisch fallen. – Um diese Bewegung wieder harmlos zu machen, fragte er, ohne Hans anzusehn: „Hast du endlich gewählt?“

„Du wolltest ja für mich wählen, Onkel.“

„Wollt’ ich das? – Na, gut!“

„Soll ich das lebende Bild da nehmen?“ fragte Hans und griff nach dem Buch.

Julius zog es ihm fort: „Nein, nein, nein! Die nicht! – Versteh mich, mein Junge – um des Kostüms willen muß ich sie behalten. In diesem Kostüm ist sie eben eine andere; und diese andre ergänzt sie; und aus all den Ergänzungen wird ja erst der ganze Mensch. Reiß’ ich ein Blatt heraus, ist das Buch verstümmelt …“

Er sah die aufhorchende, wachsende Verwunderung auf Hansens Gesicht; mit einem fast verlegenen Lächeln brach er ab. „Du verstehst,“ murmelte er nur noch.

„O ja,“ erwiderte Hans treuherzig. „Verzeih, daran dacht’ ich nicht. Dann verzicht’ ich, Onkel.“

„Warte, warte; wir finden vielleicht –!“

Julius blätterte noch weiter zurück; Hans trat aber bescheiden zwei Schritte weg, als wär’s schon zu Ende. „Im Ballkleid; – das ist nichts für dich. – Auf einer Rasenbank liegend, träumend; hier im Garten …“ Julius schüttelte den Kopf und schlug um.

„Im Morgenkleid! – Auch von mir. Bei meinen Blumen im Treibhaus; mit der Gießkanne; das jüngste Bild, vor zwei Jahren gemacht. Damals versuchte sie mir nachzueifern und meine Blumen mütterlich zu pflegen; du kannst dir wohl denken, es stand ihr gut …“

Er versank in das Bild und in sich. Wieder wie anders! dachte er, einen körperlichen Schmerz in der Brust. Wie die größte, sonderbarste, veredeltste unter all den Blumen. Holde Mütterlichkeit in dem noch so frischen Gesicht. Die letzte goldene Zeit! – Dann fing diese Unruhe an, wieder jung zu sein, dieser Lebenstaumel … Ach, ist es denn nun wirklich vorbei? Seh’ ich sie nie mehr so? Soll ich ihr nie wieder zu Füßen sinken wie damals, und verjüngt, verliebt – –

Er hörte Hans, der vor Ungeduld einen Fuß bewegte, erschrak und blickte auf. Wie kam er zu diesen Gedanken – und zu diesen Bildern. Weg, weg, weg damit …

Er legte das Buch wieder auf den Tisch; dann ging er durchs Zimmer. So lange war er in der Nacht umhergegangen, bis er ruhig wurde; nun war wieder alles hin!

Hans sah ihm bedenklich nach. Das kommt von dem Buch, dachte er; das hat ihn so aufgeregt. Es war eine Dummheit, daß Luise ihm das Album schickte!

Julius kam langsam zurück; „ja so, du bist noch da!“ sagte er. Sein gewohntes Schicksal: er vergaß so leicht, daß der Junge da war. „Also die Photographie! – Es ist komisch: ich finde keine für dich. Jede gehört –“

„Zum Ganzen,“ fiel Hans ein. „Ich versteh’ das. Ich verzichte, Onkel. Ein andermal, wenn eine neue gemacht wird –“

„Dann gewiß, gewiß! – – Nun aber endlich zu Bett. Ich darf’s nicht dulden, daß du länger aufbleibst. Und ich – will auch schlafen …“

Es war ihm nur, als hätt’ er jede Möglichkeit des Schlafs verloren für diese Nacht. Er trat wieder an den Tisch, es zog ihn förmlich. Das Album war noch offen; die Clotilde mit der [636] Gießkanne, die „mütterliche“, schaute ihn noch mit den herzlichen Augen an. Was für ein Blick das ist! dachte er. Ach, ich könnte jetzt – –

Die Stutzuhr begann zu schlagen. Er fuhr zusammen.

„Also Gute Nacht, Onkel!“ sagte Hans. „Wahrhaftig, es schlägt schon Mitternacht.“

„Mitternacht!“

Julius drückte die Augen zu. Also aus und vorbei. Also morgen fort!

Er sammelte sich zu männlicher Ruhe. Alte Gewohnheiten sind oft die besten Helfer; ihn unterstützte sein Ordnungssinn. Bedächtig schlug er das Album zu und ließ die Krampen einspringen; dann legte er ein andres Buch darauf. „Bitte, lösch die Lampe, Hans, eh’ du gehst. Geh aber auch gewiß. Gute Nacht!“

Die große, magere Gestalt schritt ehrenfest in den Salon hinaus.

So hab’ ich ihn vielleicht noch nie gesehn, dachte Hans. Wie komisch ihm das zu Herzen ging, daß es zwölfe schlug! – Ueberhaupt, ich glaube – – Was? – Ich weiß es nicht. – Ich bin auch viel zu müde, um noch viel zu denken. Ich bin höllisch müde. Wenn Jeannette von Lossow etwa meinen sollte, ich werd’ heute nacht um ihretwillen nicht schlafen – furchtbar schlafen werd’ ich!

Er wollte zum Schreibtisch gehn, unbewußt, mechanisch, um die Lampe zu löschen; ihm fiel aber wieder das infame Wort „Centaurin“ ein und schüttelte ihn. „Das junge Weibchen mit dem Pferdeherzen“ … Ihm ward so zuwider zu Mut, daß er einfach aus der Thür ging; die Lampe war vergessen. Centaurin! Centaurin! Das Wort kam ihm immer wieder, während er über den Korridor zu seinem Zimmer schlich. Am Ende seh’ ich sie heut nacht im Traum als wirkliche Centaurin über die Koppel galoppieren – und hör’ mich wiehern als Stronzian!

14.

Die drei „Nachtwandler“, Clotilde, Luise und Friedrich, waren elbaufwärts marschiert, über Loschwitz, Niederpoyritz, Hosterwitz; dann über die Höhen ins Land hinein. Bis Hosterwitz ging Clotilde wie die andern ihren guten Schritt; als sie aber die Hügel anstiegen, schämte sie sich sehr: sie, die ewig Elastische, die Bergsteigerin, fühlte eine Müdigkeit in den Knien, die in wahrhaft verächtlicher Weise wuchs. Was war denn mit ihr geschehn? War sie plötzlich alt geworden? Oder hatten diese wilden Wochen, diese Jagd von Sport zu Sport, von „Vergnügen“ zu „Vergnügen“, sie doch heimtückisch ausgesogen und zu einer Art von schöner Ruine gemacht? – Sie sah den schweigsamen Friedrich von der Seite an, der neben ihr so gleichmäßig dahinstapfte: verstellte er sich nur? ward er auch schon müde? Nein, es war ihm nichts anzumerken. Er schritt beleidigend tapfer fort. Vollends die Gazelle auf der andern Seite, die lange, schlanke Luise, die von Zeit zu Zeit ein süddeutsches oder ein heimatliches Liedchen in die Mondnacht hineinträllerte … Ja, ja, dachte Clotilde mit mütterlich gönnendem Neid, die hat vernünftig, natürlich gelebt! Das hat ihre Mutter wohl nicht gethan; – dafür wird sie sich nun aber zusammennehmen; niemand soll was merken. Wenn man in so ’nem braunen Pilgermantel geht … Auf der Bußfahrt. Laß dir die Knie nur weh thun. Das thut dir gut!

Sie sang nicht wie die Tochter, aber mit einem hellen, heiteren Gesicht wie der Mond – dann freilich wieder plötzlich bange: ach, wie wird es enden? – wanderte sie ihre Straße fort.

Endlich kamen sie auf den Gutshof; vor ihnen lag das alte, zum Teil erneuerte hellgraue Haus. In Julius’ Schlafzimmer sahen sie noch Licht. Sie gingen leiser heran; Friedrich schloß die Hausthür mit dem Schlüssel auf, den Julius ihm vor Monaten für alle Fälle mitgegeben und den er beim Abmarsch nicht vergessen hatte. Auch eine kleine, zierliche Laterne hatte der Vorsorgliche mitgenommen; damit leuchtete er nun den Damen im Haus, auf dem Korridor. Alles um sie her war still. Luise ging ungeduldig, aber auf den Zehen, voran: sie trat zuerst in des Vaters Arbeitszimmer. „Was ist das?“ flüsterte sie. „Hier brennt noch die Lampe?“

Clotilde folgte ihr in starker, heimlicher Bewegung; sie sah wie im Traum umher. „Ja, das ist sonderbar,“ erwiderte sie; es beschäftigte sie aber nicht. Ihr war der ganze Raum so merkwürdig; als hätte sie ihn früher mit andern Augen gesehn. Die schön gebundenen Bücher in den altertümlich geschnitzten Gestellen, die herrlich gediehenen Pflanzen, die Geweihe und Waffen, die edlen Bilder, alles schien ihr heut so stimmungsvoll; und so menschenwürdig. Nur über den braunen Mantel, den andern, der auf den Schultern der Flora hing, flog sie ein kleines Lächeln an; und auf dem Postament gegenüber fehlte die Fortuna …

Friedrich war draußen geblieben. Luise legte einen Arm um Clotilde: „Soll ich dir was sagen, Mutter? Weißt du, was ich mir ausgedacht hab’? Ich geh’ jetzt in den dunklen Salon, neben seinem Schlafzimmer, setz’ mich ans Klavier, spiel’ sein altes Lieblingsstück, die ,Adelaide‘; leise, aber doch, daß er’s merkt. Oder wenn er schon schläft – er hat zwar noch Licht – na, dann werd’ ich lauter spielen, bis er endlich aufwacht. Und dann wird er horchen – und wird sich wundern: was ist denn da für ein Heinzelmännchen gekommen, das mir meine Musik macht? Und wird aufstehn und kommen; ich versteck’ mich aber –“

Clotilde faßte ängstlich Luisens Arm: „Ja, ja! Aber nicht zu früh. Ich – bin noch nicht so weit. Geh ans Klavier, ja, ja; aber fang’ nicht gleich zu spielen an, wart’ noch fünf Minuten, hörst du? bis ich hier, am Schreibtisch – –“

Es kam ein verschämtes Erröten über sie, vor dem eignen Kind. „Laß mich nur und geh! – – Ach, du meine gute Luise. Bist noch so jung, so jung, und über dein Leben kommt schon so – Wunderbares, Unaussprechliches. Das man besser nie erlebte …“

„Ich hab’ dich aber so lieb!“ flüsterte Luise, umschlang sie und küßte sie auf die heiße Wange.

Clotilde lächelte glücklich. „Geh!“

Luise, immer auf den Zehen, trat in den Salon: sie machte die Thür hinter sich zu. Auf einmal schlug Clotilden das Herz so stark. Das Schmerzgefühl in den matten Knien war vergangen, dafür zog ihr die Unruhe, die Bangigkeit nun durch alle Glieder. Sie wollte an seinem Arbeitstisch schreiben, für ihn; er sollte ihre Worte lesen, ehe er sie sähe. Aber auch davor fürchtete sie sich jetzt; ihr war, als sähe sie schon sein ernstes, ungläubiges Gesicht, das auf seine Stirn geschriebene „Zu spät“; und alles, was sie fühlte, was sie ihm bekennen, was sie hinausweinen wollte, floh ihr wie zurückgeschrecktes Blut wieder dem Herzen zu. Sie konnte noch nicht … Sie schloß die Glasthür zum Garten auf und öffnete sie, frische Luft zu schöpfen. Der Hauch der Nacht that ihr gut; er belebte sie, gab ihr wieder Mut. Sie wehte ihn sich mit der Hand ins Gesicht. Die Thür offen lassend, um mehr Luft zu haben, ging sie dann endlich zum Schreibtisch hin, setzte sich entschlossen, nahm Papier und Feder. Sie schrieb. Ob er nicht staunen wird wie über ein Gespenst? dachte sie, während die Feder flog. Wenn ihm hier die Lampe meine Schrift beleuchtet? und dann – mich selbst?

Die Thür zum Korridor öffnete sich leise, ohne daß sie’s merkte; Hans, der vom schlafen gehenden Oheim nicht gehört sein wollte, trat mit aller Vorsicht herein. Es war ihm doch noch eingefallen, daß er die Lampe hatte brennen lassen … Jetzt erschrak er aber, da er die braune Gestalt am Schreibtisch sah. Der Onkel wieder hier? Und in Hut und Mantel? – „Onkel Julius?“ sagte er zaghaft, schlaftrunken.

Clotilde, die von ihm abgewandt schrieb, fuhr vor Schreck zusammen. Hans! Großer Gott!

Das ist ja doch nicht der Onkel! dachte Hans, dessen Verstand erwachte. Der ist größer und – –

Er sah jetzt das weibliche Haar unter dem Hut. Er erschrak nun auch: aber nur einen Augenblick. Donnerwetter! eine Dame! – Wie kam eine Dame hierher?

Unsicher, langsam trat er näher; Clotilde stand auf. Was thun? fuhr ihr durch den Kopf. Soll dieser Junge mich sehn – und alles, alles erraten? – Wie bring’ ich ihn fort? Oder, wie komm’ ich fort? – In diesem Augenblick begann Luise [638] nebenan zu spielen. Es klang gedämpft herein; aber die so oft von Julius gespielte Beethovensche „Adelaide“ war nicht zu verkennen. Zum Teufel! dachte Hans und stand in neuer Verblüffung still; Onkel Julius spielt Klavier? Und eine Dame hier in seinem Zimmer – in seinem Mantel und Hut – nach zwölf? – Ah! Ah! Ich hab’ ihn immer für einen Tugendspiegel gehalten …

Er oder ich muß fort! Das war Clotilden klar; sonst nichts. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie den Zettel aus Fannys Wettbuch, den sie ihr weggenommen, in der Tasche hatte; auf der Wanderung, im Mondlicht, hatte sie ihn gelesen. Sie griff unter ihren Mantel, zog das Blättchen geschwind hervor; mit dem konnte sie Hänschen den Mund stopfen – und zugleich ein gutes Werk an ihm thun! Rückwärts auf ihn zugehend, ohne ihm ihr Gesicht zu zeigen – nun wieder ganz die lustige „Zigeunerin“, die einen Evasstreich spielt – hielt sie ihm abgewandt den zerknitterten Zettel hin. „Lesen Sie das!“ sagte sie mit dumpfer, verstellter Stimme.

„Was heißt das?“ fragte Hans.

Sie antwortete nicht; der Zettel blieb in seiner Hand. „Lesen Sie!“ murmelte die fremde Stimme noch einmal.

Hans trat näher zur Lampe und las: „Fanny Morland fünfhundert Mark auf Hans von Hochfeld; Handicap-Steeplechase; Ziel: Jeannette von Lossow. Herr von Marwitz fünfhundert Mark auf Bankier Ellenberger …“

Der gute Junge verstand noch nicht; es war für seine Unschuld zu fremd; er starrte wie auf hebräische Schrift. Clotilde hatte mittlerweile die langen, dunklen Vorhänge am Fenster gesehn; da war Rettung! Sie huschte hin und verschwand darunter. Hans, sich die Stirne kratzend, las weiter: „Anton Morland desgleichen. Fanny Morland nochmals fünfhundert Mark auf Hans von Hochfeld“ …

„Ah! Ah!“ stieß er nun in seiner Empörung heraus. „Das ist unerhört! Das ist eine Infamie! – Eine Centaurenwirtschaft; wahrhaftig. Mit so ’nem Pferdestall will ich nichts zu thun haben; bei Gott nicht!“

Er sah umher, er suchte die rätselhafte Dame, die ihm den Zettel gegeben hatte. Wo war sie denn? Sie war fort. Nein, da stand sie, in dem Mantel und Hut! – – Nein, das war Flora. Er lief wie närrisch auf die Statue zu, dann an ihr vorbei. Jetzt blickte ihm der Mond ins Gesicht; leibhaftig, nicht durchs Glas. Die Glasthür war offen. Ah! da war sie hinaus!

Er stürzte in den Garten.

15.

Unterdessen war das Klavierspiel lauter geworden; neben Hänschens aufgeregtem Gebahren erklangen die ernsten, großen Melodien wunderbar in die Sommernacht. Clotilde trat aus ihrem Versteck hervor; die Musik ging ihr so weich durchs Herz. Was nun thun? Zu Ende schreiben? Es drängte sie, es trieb sie hin; – mitten im Zimmer blieb sie doch wieder stehn. Wenn der Junge zurückkam? zu früh? Sie hörte seine Schritte im Garten; er lief tief hinein, wie es schien. Er verfolgte vielleicht eine falsche Spur. Wenn sie ganz geschwind – –

Das Klavierspiel brach ab. Im nächsten Augenblick hörte sie Julius’ Stimme im Salon: „Hans! Willst du denn die ganze Nacht am Klavier sitzen? Bist du rein von Sinnen?“

Es war zu spät! Er war da!

„Hans!“ hörte sie Julius noch einmal, lauter. „Wo steckst du, Junge? Ich seh’ nichts. Gieb Antwort! – Ist denn in meinem Zimmer noch Licht?“

Mein Gott! dachte Clotilde erschrocken; sie hörte Schritte auf die Salonthür zu. Eh die sich aufthat, wohin? Es war nur noch eine Sekunde Zeit. Sie stand fast neben dem leeren Postament der Fortuna; ihre alte Geistesgegenwart verließ sie nicht. Mit einem kleinen Sprung war sie hinauf. Da stand sie nun ebenso wie die Flora, in braunem Mantel und Hut. Das wird er wohl nicht gleich bemerken, dachte sie, daß wir wieder zwei sind ... Und hat doch Hans eben die Flora für mich angesehn …

Julius trat ein. Er murmelte etwas vor sich hin, verdrießlich, verstört; er schien von der noch brennenden Lampe zu sprechen und auf Hans zu schelten. An Flora und „Fortuna“ vorbei, ohne sie zu sehn, ging er auf seinen Schreibtisch zu; dann neigte er sich, um die Lampe auszublasen oder auszudrehn. „Was liegt denn da?“ murmelte er zornig. „Hat er hier sogar geschrieben?“ Er nahm Clotildens Blatt in die Hand.

Ein wunderbarer Wechsel, von trocknem Verdruß zu tiefstem, nichtfassendem Staunen, ging über seine Züge. „Ich las einmal als Kind,“ fing er noch halb unbewußt an zu lesen; darauf hielt er inne. Er durchbohrte das Blatt mit den grauen Augen. Mit der leeren Hand fuhr er sich langsam, stockend, zitternd über die Stirn hin und her. Das war Clotildens Hand. Wie kam das auf diesen Tisch? – – Zuerst noch mit den Lippen, dann lautlos, regungslos, in sich hinein las er, was da stand:

„Ich las einmal als Kind ein Märchen von einem Kind. Dessen Augen waren krank geworden, und sie flohen vor der Sonne und wollten ihr Licht nicht mehr sehn. Da schickte die Sonne ihr Kind, den Mond, das Licht von ihrem Licht; das sah dem kranken Kind ins Fenster, und der milde Glanz that ihm wohl, und es ward gesund. Und durch das liebliche Sonnenkind genesen, kehrte es zur Sonne zurück und hatte sie lieb wie zuvor. – Julius! Damals wußt’ ich nicht recht, was das Märchen sollte; ich behielt es wohl, aber ich verstand es nicht. Jetzt ist mir, als wär’s für mich gemacht. Ich war jetzt dieses kranke Kind. Und ich komm’ wieder zu dir. Bist du mir noch gut? Du warst meine Sonne so viel Jahre lang; Wärme und Licht und Leben hatte ich von dir; und dazu diesen holden Mond, unser goldnes Kind“ …

Es war aus. Ohne Schluß. Julius sah auf das Blatt, als müsse noch mehr kommen; erschüttert und überrätselt und verwirrt zugleich. „Heiliger Gott!“ brach es endlich aus ihm heraus, in die tiefe Sülle. „Was soll dieses Blatt? Wer hat das hierhergelegt?“

„Ich,“ flüsterte hinter ihm eine Stimme; wenigstens klang es so.

Er horchte auf; ein leichter Schauder überlief ihn. Hatte er recht gehört, oder kam’s aus ihm? Schon während er las, War ihm gewesen, als seufze etwas hinter ihm, leise, geisterhaft; wie wenn sich’s in der Flora rührte. – Mein Ohr phantasiert, dachte er; ich hab’ überreizte Sinne. Vielleicht ist auch dieses ganze Blatt ein Wahn, eine Phantasie …

Er wandte aber doch noch langsam den Kopf. – Nein, hinter ihm stand kein Mensch. Nur die Statue da, die Flora …

Nur die Flora? Nein, noch ein Bild. Ein lebendiges – blickendes – schüchtern lächelndes. Vom Grauen befreit erkannte er’s. „Clotilde!“ rief er.

„Ja,“ sagte sie, noch befangen, zaghaft. „Verzeih. Du liebst sie ja nicht mehr, die ‚Verwandlungen‘ und Verkleidungen – und doch steh’ ich so närrisch da.“ Sie öffnete den Mantel, zeigte das griechische Gewand darunter. „Das lebende Bild, siehst du, kommt zu dir; aber als Pilgerin – als Büßerin –“

„Clotilde! Du!“

„Bitte, sag noch nichts; laß mich noch was sagen.“ Sie stieg vom Postament herunter, warf Hut und Mantel ab, auf die Erde, blieb aber dann so stehn. „Ach, wie viel wollt’ ich dir noch schreiben; aber –“

„Du hier! Plötzlich! Mitten in der Nacht!“

Sie lächelte schmerzlich freundlich: „Bis Mitternacht, hatt’st du ja verlangt. Ich bin etwas zu spät gekommen; der Weg war so weit. Mit dem Kind, zu Fuß –“

Du!“ rief er wieder aus.

„Ja, ich. Bin ich nicht oft viel, viel weiter mit dir gegangen, nur um von einem Berg in die Welt zu sehn – und sollt’ nicht diesen Lebensweg gehn, zu dir?“ Ihre frei gewordene Stimme begann nun doch zu zittern: „Um dir zu sagen, Julius: ich dank dir für mein ,goldenes Kind‘ – das mir geholfen hat, diesen Weg zu finden – ja, und für all das Licht von deinem Licht, das du ihr gegeben hast. Und – und in ihr lieb’ ich dich!“

„Clotilde!“

„Könnt’st nur auch du mich in ihr noch lieben. Und Geduld mit mir haben, bis ich – Frieden finde; bis ich ihr ähnlicher werde – oder wie du willst. – Glaub mir, Julius: diese letzte Jugend in mir, die noch so thöricht sein kann, sie hat wohl auch noch die Kraft, wieder anzufangen – noch einmal zu [639] wachsen, im Guten, mein’ ich, im Frieden – mit ihr und mit dir!“

Julius sah sie in stiller Seligkeit an. Er hatte mehrmals lächelnd den Kopf geschüttelt; es waren aber nur Versuche, sich von dem Uebermaß der unerwartetsten Empfindungen zu befreien. Als er nun auch Worte fand, war seine Stimme eine Weile noch fast ohne Klang: „Wie beschämst du mich! Ja, ja. Ich, der ich an nichts mehr glaubte – weder an dich noch an mich – und nun geschehn Wunder in uns beiden …“

Sie blickte ihn fragend an.

„Ja, ja, auch in mir! – Das Album da, mit deinen Bildern –“

Im Salon begann wieder gedämpftes Klavierspiel, das ihn unterbrach; jetzt eine andere Melodie. Es war Zerlinens Trostgesang zu Masetto, im „Don Juan“:

Wenn du fein fromm bist, will ich dir helfen;
Ich weiß ein Mittel, für alles gut.
Es schmeckt so lieblich, und hilft so plötzlich;
Du sollst dich wundern, wie wohl drr’s thut!
Ach, das zerteilet.
Lindert und heilet …

Sie horchten eine Weile, beide, auf den süßen Wohllaut. Julius hatte begriffen: „Das ist unser Kind!“

Clotilde nickte.

„Gott! Was für ein Kind! Diese Sechzehnjährige. Dir hilft sie auf den Weg zu mir, wie du sagst – pilgert her mit dir – und mir legt sie so von weitem, ohne Worte, ihre kleine Hand aufs Herz. Schickt mir das Buch da – ja, sie – und öffnet mir die verdrossenen Augen, die sich schließen wollten ... Nein, nein, sie sind wieder offen, Clotilde. Ich schau’ wieder hinter mich in mein Jugendglück – als du meine Freude warst, als alles, alles noch gut war – wie es wieder werden soll, wenn mir dein Mund und deine Augen nicht fromme Lügen sagen –“

Sie schüttelte den Kopf.

„Wenn du mir noch gut bist!“

Sie gab ihm die Hand; mit feuchten Augen. „Frag dein Kind,“ sagte sie leise, mit dem Kopf nach der Salonthür deutend, in die eben Luise trat. „Frag sie, ob ich dir noch gut bin. Sie weiß es!“

Julius nickte Luisen zu, mit seiner Bewegung kämpfend. „Komm, Kind, komm zu mir!“ – Sie ging, unterwegs erwiderte sie sein Nicken; wie sie sich’s vorgenommen, hatte sie ein nichtsverratendes, zartfühlend verschlossenes Gesicht. Er nahm ihre beiden Hände: „Mir ist was Gutes geschehn, Luise. Ich hab’ meine zerschlagene Fortuna wieder; eben stand sie da auf dem Postament. Und sie geht nun nicht mehr fort. – Und du –“

Er zog sie in seine Arme; ihr Kopf sank an seine Schulter, schwer von lauter Glück. „Und du hattest recht … O, du hattest recht!“

„Worin?“ fragte sie leise.

„Mir das Buch zu schicken, das Photographienbuch. Mir dadurch zu sagen: es ist voll, fang’ ein neues an. Ja, ja, Kind, das wird geschehn. Wir fangen ein neues an. Die braune Pilgerin als das erste Bild!“

„Vater!“ rief Luise, umschlang ihn nun auch und küßte seinen Mund, der so süß gesprochen hatte.

Er erwiderte den lieben Kuß; ihm war aber, als müßte die Mutter auf diese voreilige Umarmung eifersüchtig werden. Vor Clotilde hintretend, sah er sie mit verjüngten, gefeuchteten Gattenaugen an. „Und du?“ sagte er. „Mein Proteus?“

In dem einen Wort hörte sie, daß alles gut war. „Julius!“ rief sie nur und warf sich ihm ans Herz.