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Das gefährliche Zahnen

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Textdaten
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Autor: Carl Ernst Bock
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Titel: Das gefährliche Zahnen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 343–344
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[343]
Aerztliche Blicke in die Kinderstube.
Das gefährliche Zahnen.

Noch nie ist ein Kind am „Zahnen“ gestorben. Stets ist die Ursache des Todes, wenn ein Kind während der Zahnperiode stirbt, eine neue, mit dem Ausbruche der Zähne gar nicht zusammenhängende, lebensgefährliche Krankheit, meistens eine Lungenentzündung oder Brechdurchfall. Daß dem so ist, lehren die Sectionen von Kindern, die angeblich der Tod an den Zähnen zu sich genommen hat. Damit soll nun aber ja nicht etwa gesagt sein, daß der Zahnausbruch bei manchen, zumal schon kranken, Kindern nicht ziemlich heftige Beschwerden und Krankheitserscheinungen veranlassen könnte, und daß zur Zeit des Zahnens manches schwache Kind nicht geneigter zum Krankwerden sein könnte. Beides findet statt; aber das Zahnen selbst ist niemals tödtlich, denn das Zahnen gehört zur naturgemäßen Entwickelung des kindlichen Körpers und geht bei gesunden Kindern stets ohne besondere Erscheinungen vor sich.

Es ist sehr schlimm, daß unter den Müttern und sogar auch bei einzelnen Aerzten noch so viel Aberglaube über das Zahnen herrscht; es ist dies deshalb sehr schlimm, weil dabei sehr oft leicht zu vermeidende und in ihrem Beginne schon heilbare Uebel als unvermeidliche, vom Zahnen herrührende angesehen und oft so vernachlässigt werden, daß sie einen tödtlichen Verlauf nehmen. Es ist freilich recht bequem für Aerzte, welche ein krankes Kind nicht gehörig zu untersuchen verstehen, und für Mütter, welche die Aufsicht über die Gesundheit ihrer Kinder Wärterinnen anvertrauen, beim Krankwerden von Kindern sich mit der Redensart zu beruhigen: „das Kind bekommt Zähne.“ Wie oft werden nicht mit den Ausdrücken „Zahnkrämpfe, Zahnhusten, Zahnruhr, Zahnen durch die Glieder“ u. s. f. schwere Krankheiten bemäntelt, die durch Vernachlässigung unheilbar und tödtlich werden!

Viele Mütter, denen Kinder angeblich an Zahnkrankheiten gestorben sind, werden dadurch fort und fort in ihrem falschen Glauben an die Gefährlichkeit des Zahnens bestärkt, weil sie beim noch lebenden Kinde keinen Zahn entdecken konnten, nach dem Tode des Kindes aber einen solchen deutlich wahrnahmen. Allein diese nicht wegzuleugnende Erscheinung hat, gerade so wie das Wachsen der Haare bei einer Leiche, ihren Grund darin, daß nach dem Tode [344] das Zahnfleisch, in welchem während des Lebens der Zahn noch verborgen war, (wie die behaarte Haut) blutarm und dünner wird, einschrumpft und sich über die Zahnkrone zurückzieht, so daß nun der vorher unsichtbare Zahn sichtbar wird. – Andere Mütter werden dadurch verleitet an tödtliche Zahnleiden zu glauben, weil so viele Kinder gerade zur Zeit des Zahnens sterben. Allein auch diese Thatsache hat einen andern Grund, als das Zahnen. Da nämlich gerade in der Zahnperiode die meisten Kinder von der Mutter- oder Ammenmilch entwöhnt und an andere, meist unzweckmäßige Nahrung gewöhnt werden, weil sie ferner aus dem warmen Wickelbettchen genommen und ins kühle Freie bei schlechter Luft getragen werden, also eine große Umwälzung der früheren Verhältnisse des Kindes eintritt, darum können so leicht krankmachende Einflüsse auf das zahnende Kind einwirken. In der Regel sind diese Einflüsse solche, welche Schnupfen, Husten und Lungenentzündung, sowie Brechdurchfall (in Folge von Magen-Darmkatarrh) erzeugen, nämlich eine rauhe und unreine (besonders staubige) Luft, unverdauliche Kost und Erkältungen (zumal des Bauches). Für die sorglose Mutter und den gewissenlosen Arzt sind diese gefährlichen Krankheiten (s. Gartenl. Jahrg. 1654, Nr. 17) nichts als „Zahnhusten und Zahnruhr“, und stirbt das Kind daran, so war natürlich nur das schlimme Zahnen und ein unvermeidliches unglückliches Schicksal, nicht aber menschliche Dummheit daran schuld. Wie viele solcher angeblich zahnkranken Kinder würden am Leben bleiben, wenn beim ersten Auftreten des Schnupfens und Hustens das Kind nur sofort zu Hause in warmer reiner Luft (aber bei Nacht wie bei Tage) gehalten würde, oder wenn man bei den ersten Spuren des Durchfalls warme Ueberschläge auf den Bauch und passende Nahrung angewendet hätte!

Im Allgemeinen erfolgt der Zahndurchbruch auf gleiche Weise bei allen Kindern in einer bestimmten Zeit und Ordnung. Doch giebt es viele Ausnahmen, und diese Ausnahmen sind ohne große Bedeutung. Gewöhnlich schon im 3. oder 4. Lebensmonate treten beim Säuglinge Erscheinungen ein, welche mit dem Zahngeschäfte im Zusammenhange stehen (d. i. das Einschießen der Zähne): die Kinder geifern, schreien plötzlich auf, schrecken im Schlafe manchmal zusammen, uriniren oft und blaß, haben leichteren Stuhl, bekommen wohl auch einen Bläschenausschlag im Gesicht (auf der Wange in der Nähe des Mundes) und werden blässer und unruhiger und zeitweilig unwillig; sie kauen viel und bringen alle Gegenstände mit dem Zahnfleische in Berührung, auch lassen sie sich gern das Zahnfleisch streichen. An gesunden Kindern sind diese Erscheinungen kaum bemerklich oder gering und bald vorübergehend. Das Erscheinen der ersten Zähne, und zwar der untern mittlern Schneidezähne, findet bei den meisten Kindern zwischen dem 6. und 9. Monate statt. Doch brechen sie oft auch schon weit früher (14 Tage nach der Geburt), aber auch weit später hervor. Daß Kinder nach Verlauf des 1. Jahres noch keinen Zahn haben, ist nichts Seltenes; dagegen ist es eine Seltenheit, wenn mit Ende des 2. Jahres noch kein Zahn durchgebrochen ist. Mädchen, die sich überhaupt früher als Knaben entwickeln, sind diesen gewöhnlich auch im Zahnen voraus. Frühzahnen ist aber durchaus kein Zeichen von Kräftigkeit, ebensowenig wie Spätzahnen auf Schwäche deutet. Zuweilen ist unregelmäßiges Zahnen sogar eine Familien-Eigenthümlichkeit; auch hat die Stamm- und Volks-Race auf den Zahnproceß Einfluß.

Als Zahncuriositäten erzählt man sich: daß Ludwig XIV. und König Richard mit Schneidezähnen geboren worden sind; – daß Mirabeau 2 Backzähne mit auf die Welt brachte; – daß Hercules 2 Reihen von Zähnen hinter einander stehen gehabt hat; – daß der Sohn des Prusias, Königs von Bithynien, nur Einen großen Zahn statt aller übrigen im Munde hatte; – daß ein Mann im 116. Lebensjahre 8 neue Zähne bekam, die nach einem halben Jahre ausfielen, um durch neue ersetzt zu werden, welche wieder mehrmals wechselten, so daß binnen 4 Jahren (der Mann starb in seinem 120. Jahre) 50 neue Zähne kamen und ausfielen.

Der Ausbruch der ersten oder Milchzähne, von denen ein Kind gegen das Ende des 2. oder zu Anfange des 3. Jahres 20 Stück (8 Schneide-, 4 Eck- und 8 Backzähne) besitzt, geschieht gewöhnlich in folgender Ordnung: zuerst erscheint (meistens zwischen dem 6. und 9. Monate) das mittlere Paar der untern Schneidezähne und bald (etwa 4 Wochen darauf) das obere Paar derselben; ungefähr 40 Tage später kommen die seitlichen (oder äußern) untern und kurz nachher die seitlichen obern Schneidezähne zum Vorschein. Zu Ende des ersten Lebensjahres bricht nun der vorderste Backzahn, zuerst im Unterkiefer, bald darauf im Oberkiefer hervor. In der Mitte des 2. Jahres zeigt sich der untere und nach diesem der obere Spitz- oder Eck-) Zahn, und mit dem Hervortreten des 2. Backzahnes (erst des untern und dann des obern) ist der erste Zahnausbruch beendigt. Diese Zähne behält das Kind bis zum 7. oder 8. Lebensjahre, wo dann allmählich (d. i. der Zahnwechsel) unter Ausfallen der Milchzähne die 32 bleibenden Zähne hervorsprossen. Nach Plinius sind bei den Römern die Schneidezähne des Oberkiefers zuerst erschienen.

Von den Beschwerden, welche das Zahnen manchen Kindern macht, sind die gewöhnlichsten: Hitze und Schwellung des stärker gerötheten Zahnfleisches, was das Kind veranlaßt, öfters mit den Händchen in den Mund zu greifen, jedoch nicht mehr wie früher das Streichen des Zahnfleisches zu dulden. Das beste Linderungsmittel gegen diese beschwerliche Hitze im Munde ist öfteres Betupfen des Zahnfleisches mit kaltem Wasser. Manchmal sind mit dem Zahnfleische auch die Speichel- und Halsdrüsen geschwollen; ja sogar Schwämmchen können sich im Munde entwickeln, doch dürften dieselben öfter noch als vom Zahnen von unpassender Nahrung, vom Zulpe oder nicht gehörigen Reinhalten des Mundes herrühren. Daß bei schwächlichen, reizbaren Kindern durch die Zahnfleischaffectionen beim Durchbruch der Zähne Krampfanfälle veranlaßt werden können, ist nicht unmöglich, jedoch tödtlich werden dieselben sicherlich nicht. In solchen Fällen kann allenfalls das Einschneiden des dünnen, stark über die vorstehende Zahnkrone hinweggespannten Zahnfleisches manchmal augenblicklichen Nutzen schaffen. In den meisten andern Fällen ist aber diese Operation nutzlos, ja sie könnte sogar dadurch schaden, daß sich danach eine Narbe im Zahnfleische bildet, welche der Zahn, weil sie aus festerem Gewebe besteht, schwerer durchbrechen kann als das gesunde weiche Zahnfleisch.

Die Pflege den zahnenden Kindes braucht keine andere als die eines kleinen Kindes überhaupt zu sein, denn dieses bedarf stets der allergrößten Vor- und Umsicht (s. Gartenl. Jahrg. 1854, Nr. 43). Es werde das Kind seinem Alter angemessen ordentlich und mäßig ernährt, hauptsächlich durch Milch; es werde gehörig warm und reinlich gehalten und, wie sich das eigentlich von selbst versteht, vor Erkältung, Diätfehlern, Verstopfung, großer Hitze und schlechter Luft bewahrt. Ein gerade zahnendes Kind, zumal wenn es Beschwerden dabei hat, muß man weder entwöhnen noch impfen. Wäre also ein Kind vor dem Durchbruche der ersten Zähne noch nicht entwöhnt worden (was übrigens gar nicht sein soll), so ist es rathsam zu warten, bis die ersten 8 Zähne durchgebrochen sind, weil dann gewöhnlich ein mehrmonatlicher Stillstand eintritt.

Sicherlich wird es jedem Kinde gut thun, wenn es bis nach dem Erscheinen der Eckzähne gestillt wird. – Eine recht unsaubere, sogar bisweilen schädliche Manier ist es, dem zahnenden Kinde öfters mit unreinem (d. h. mit einem nicht eben erst gewaschenen) Finger in den Mund zu fühlen. Ebenso kann das Darreichen und Umhängen von festen Körpern (Wurzeln, elfenbeinernen Ringen, Korallenstücken u. s. w.) zum Daraufbeißen nur Nachtheile bringen.

Daß gegen schweres Zahnen mancher Altweiber-Hokuspokus (wie das Umbinden von Zahnperlen aus verschiedenen Stoffen oder Bändern um den Hals des zahnenden Kindes u. s. f.) existirt, ist bekannt, ebenso auch, daß dieser Unsinn sogar von sogenannten gebildeten Müttern getrieben wird. Und daß die ebenfalls zu den sympathetischen Curarten gehörige homöopathische Heilkünstelei eine hübsche Anzahl (gegen 16-20 von ausgezeichneten Heilnichtsen gegen Zahnbeschwerden der Kinder besitzen muß, ist natürlich, da ja bei jeder besondern Beschwerde ein besonderes Heilnichts nöthig wird. So ist (nach Dr. Clotar Müller) z. B. vom Kalk alle Wochen eine Gabe zu geben, wenn die Zähne sehr lange zögern durchzubrechen oder wenn das Kind 9–12 Monate wird, ohne daß überhaupt Andeutungen am Zahnfleische zu bemerken sind. Nach Hering dagegen hilft dieser Kalk ganz besonders auch, wenn zu viele Zähne auf einmal durchbrechen. Schwache Kinder brauchen nur an Kalk zu riechen, und bekämen sie Beschwerden davon, dann hilft das Riechen an Kampher oder an versüßten Salpetergeist. China kann gegeben werden, wenn zahnende Kinder oft in’s Bett pissen und sich sehr an der Nase reiben, Chamomille aber, wenn sie einen grünen, gehackten Stuhl haben. Ist das nicht eine nette Heilkunst?

Bock.