Das fünfte allgemeine deutsche Turnfest in Frankfurt am Main
„Geschichtliche Denkwürdigkeit wird in lebendigem Anschauen männlicher Kraft erneuert und die Ehrenthat der Altvordern verjüngt sich im Wettturnen. Wo sich allerlei Leute als müßige Eckner mit dem Bahgesicht angaffen können, da stehen sie einander im Wege, müden sich freudenlos ab, weil die festliche Würze fehlt.“
„Wo etwas Wichtiges geschehen, das dem Andenken lebendig bleiben soll, trete die Turnkunst als Turnfest auf und fördere die allgemeinen Volksfeste; vom Schmausen ist hier nicht die Rede, sondern von Anregung vaterländischer Gesinnung und von lebendiger Ueberlieferung des Geschehenen.“
Mit dem „Ruf zur Sammlung“ von Georgii und Kallenberg 1860 wurde die Reihe der großen deutschen Turnfeste eingeleitet. In Coburg fand im selben Jahre ein solches vom 16. bis 19. Juni statt, an den Tagen von Waterloo, an welchen einst Ehre und Unabhängigkeit des gemeinsamen Vaterlandes gegen fremden Uebermuth siegreich gewahrt worden sind. Der Festzug, aus kaum tausend Theilnehmern bestehend, ordnete sich nach Stämmen: die Schwaben mit schwarz-roth-goldenem Banner voran, die einst des Reiches Vordertreffen zu führen hatten, dann Baiern, Sachsen, Preußen, Märker, Hessen, Friesen; die blau-weiß-rothe Fahne Schleswig-Holsteins wurde noch umflort mitgetragen. Was der Präsident Georgii 1860 gesagt, ist erfüllt: „Die turnende Jugend wird an ihrem Theile ehrlich beitragen, daß Deutschland, mit dem Staate voran, der der mächtigste ist, groß und frei wird.“
Schon im nächsten Jahre, 1861, fanden sich die deutschen Turner wiederum zusammen, in Berlin am 10. bis 12. August zur Feier des Geburtstages von Fr. L. Jahn und zur Grundsteinlegung des für ihn zu errichtenden Felsendenkmals. Damals schrieb der Kronprinz des deutschen Reiches unter dem 22. Juli [572] von Osborne auf der Insel Wight nicht minder prophetisch an den Berliner Turnrath: „Ich begrüße das allgemeine deutsche Turnfest als eine neue willkommene Gelegenheit, Genossen aus allen Gauen des deutschen Vaterlandes zu vereinen und eine Kunst zu fördern, deren nutzbringende Thätigkeit von mir schon in früher Jugend geschätzt ward und die, gegenwärtig mit neuem Eifer erfaßt, sicherlich bei richtiger Handhabung die Söhne des Vaterlandes zu thatkräftigen Stützen seiner Schicksale anleiten muß.“
Eine Perle im Kranze glänzender nationaler Feste war das dritte allgemeine deutsche Turnfest zu Leipzig am l. bis 5. August 1863, zur fünfzigjährigen Feier der Erinnerung an die glorreichen Tage der Völkerschlacht bei Leipzig im October 1813. Selten verlief wohl ein Fest so ungestört, so friedlich unter 20,000 Theilnehmern. Selbst der Himmel wartete mit seinem Regenschauer und Donnerwetter, bis am letzten Tage des Festes die zündenden, begeisterten und begeisternden Worte des damaligen Privatdocenten von Treitschke von der Einigung der Nation verklungen waren, und es war dann fast wie eine großartige Manifestation höherer Mächte, als an die Stelle des projectirten Feuerwerks ein gewaltiges Gewitter trat.
Das für Nürnberg geplante Turnfest unterblieb des österreichischen Krieges wegen. Zur Feier der Wiederausrichtung des deutschen Reiches, zur Erinnerung an die denkwürdigen Tage von Wörth und Spichern wurde vom 4. bis 6. August 1872 in Bonn das vierte Turnfest gefeiert. Leider kleidete hier der unaufhörliche Regen die Feststimmung in ein so abscheuliches Grau, daß die große Masse der Turner – wir möchten nicht zu viel sagen – ohne rechte Befriedigung heimkehrte.
In Frankfurt am Main feierte vom 25. bis 29. Juli 1880 das volksthümliche Turnen seinen siebenzigsten Geburtstag. Der Reiz der ganzen Festlichkeit, eine billige und angenehme Reisegelegenheit, die Anziehungskraft einer herrlichen, culturhistorisch und weltgeschichtlich bedeutsamen Gegend, der herzliche Festgruß einer gastlichen Großstadt, Alles vereinigte sich, um ein in allen Theilen gelungenes Fest zu versprechen. So regten sich denn schon mehrere tausend fleißige Hände seit Beginn des Frühjahres nicht nur in der Feststadt, auf dem Festplatze, nein auch im weiten Deutschland auf allen Turnplätzen und in allen Hallen.
Es wurde geturnt, gespart und verhandelt, Pläne und Führer für Frankfurt wurden studirt und wohl auch weitere Ausflüge nach dem Rhein, in den Taunus und nach Lothringen mit in das Programm aufgenommen.
Die Excutormarken, soll heißen die roth-weißen runden Festabzeichen, trafen in der letzten Woche vor dem Feste ein. Mehr als acht Extrazüge beförderte fast an einem Tage aus allen Himmelsgegenden Tausende von Turnern nach dem einen großen Brennpunkt. Während des Empfangstages, Sonnabend den 24. Juli, hatten die Mitglieder der Unterausschüsse vollauf am Ostbahnhofe, wie an den Westbahnhöfen und in Sachsenhausen zu thun, um die ankommenden Festgenossen zu begrüßen, mit Musik in die Stadt zu geleiten und in die Quartiere zu führen. Aber nicht nur in der Feststadt war alles in freudiger Aufregung, schon auf allen dem Festorte mehr oder minder nahegelegenen Stationen Thüringens, Hessens, Sachsens herrschte eine begeisterte Stimmung.
Während noch immer neue Schwärme von Turnern herangezogen kamen, mußte man schon an den Beginn der Abwickelung des Programmes denken. Abends acht Uhr fand die Begrüßung der Turner auf dem Festplatze und die Ueberreichung der Bundesfahne statt, die der deutschen Turnerschaft von Frankfurter Frauen und Jungfrauen gestiftet ist als ein Symbol der lange erstrebten, jetzt erreichten Zusammengehörigkeit. Die Fahne, in Form einer Kirchenfahne nach dem preisgekrönten Entwurfe des Herrn O. Lindheimer durch die Firma Staudt und Jung ausgeführt, zeigt auf der Vorderseite im Mittelfelde den Reichsadler von einem Eichenkranze umgeben, während die rothseidenen übrigen Felder und die blaue Friese von Sammet mit reicher stillvoller Goldverzierung bedeckt sind. Die Rückseite zeigt im Mittelfelde das Turnerwappen.
Leider war es nicht Allen vergönnt, an diesem Theile des Festes theilzunehmen, doch sah man die neue Bundesfahne im Festzuge erglänzen.
Der 25. Juli brach an, ein Sonntag. Es lachte ein heiterer Morgen, was nicht wenig dazu beitrug, die festliche Stimmung zu erhöhen.
Sonnenschein, Festesfreude und Zufriedenheit mit den Leistungen des Wohnungsausschusses harmonirten prächtig. Der erste Morgenimbiß am Kaffeetisch der Frankfurter Familie machte den Fremdling heimisch, und [573] froh eilte der Turner am Morgen um 8 Uhr hinaus, um rechtzeitig den Sammelplatz seines Kreises zu erreichen. Da sah man Schwaben, Sachsen, Baiern, freudig sich begrüßend, in kleineren und größeren Trupps durch die Straßen ziehen; auf den großen Plätzen der Stadt wimmelte es von Turnern, von denen einige sich erst jetzt ihr Fest- und ihr Ortsabzeichen auf der Brust befestigten. Aus langem Hin- und Herwogen gestaltete sich in der Zeit bis 10 Uhr einer der glänzendsten Festzüge, die Deutschland je gesehen hat. Seine Aufstellung in Sachsenhausen, am Affenthor, nahm verhältnißmäßig nur geringe Zeit in Anspruch. Muntere Knaben, die mit Stolz die Vereinstafeln trugen, dienten Vielen zur Richtschnur, und es war fast auffällig, mit welcher Schnelligkeit und Gewandtheit sich eine Zugmasse in die andere einschob und einordnete.
Kurz nach zehn Uhr setzte sich die unabsehbare Menge, geführt von dem Ausschuß für den Festzug, in Bewegung, und durchschritt die Ehrenpforte bei dem Affenthor. Zweiundzwanzig Musiker ritten an der Spitze, ihnen folgten ungefähr vierzig Herrenreiter, dann ein hochbeladener Fulder Erntewagen, von vier Pferden gezogen; auf ihm saß oben ein Michel in scharlachrothem Kittel, und neben ihm marschirten verlegenen Antlitzes sieben Fulderinnen; den Frankfurter und Bornheimer Schützen schritten drei „Zeiger“ in blutrothem enganliegendem Costüm voraus.
Der nun folgende Kern des Festzuges war im Allgemeinen so geordnet, daß die fremden Turner und Ehrengäste voranschritten und hinter der neuen Bundesfahne der Ausschuß der deutschen Turnerschaft und der Central-Ausschuß des Festes folgten. Daran schlossen sich in der Reihenfolge, die durch das Loos bestimmt war, die Turner der siebenzehn Kreise, getrennt durch Unter-Ausschüsse und nichtturnerische Vereine Frankfurts; dabei waren im Ganzen vierzehn Musikcorps thätig. Am zahlreichsten waren von den Ausländern vertreten die Amerikaner, durch siebenzig Turner mit zwei Sternenbannern und zwei Tafeln: Gut Heil California; Gut Heil Baltimore; dann die Engländer, Holländer, Italiener und Schweizer. Von akademischen Turnvereinen waren vertreten Göttingen, Gratz, Breslau, Tübingen; der Berliner „Akademische Turnverein“ hatte allein fünfundzwanzig Mann entsendet. Den Beschluß des turnerischen
Theils im Zuge machten mit mehr als hundert Fahnen die Mitglieder des turnerischen „Mittelrheinkreises“, die Gastgeber, worunter die Frankfurter und Sachsenhäuser Turner die Hauptmasse ausmachten. Den Turnern folgten die Frankfurter Gesangvereine, zuletzt Frankfurter Feuerwehr.
Man hat die Anzahl der Theilnehmer auf 16,000 berechnet und ungefähr 450 Fahnen gezählt, unter denen wenige die Jahreszahlen 1848 und 1849 trugen, die meisten aus der Zeit nach 1860 datirten. Unter den nicht turnerischen Vereinen fuhren die Rudergesellschaft „Germania“ und der Frankfurter „Ruderverein“ ihre auf einem staffelförmigen Postament ausgestellten Preise, die sie früher gewonnen, und letzterer ein zweimastiges Segelboot auf großen prachtvoll decorirten Rollwagen einher.
Die Ausschmückung der Straßen war eine planmäßige und wirkte mehr durch die Fülle gleichartiger Dinge, wie Fahnen und Guirlanden, als durch die Mannigfaltigkeit der Einzelnheiten. Es gab Strecken in einigen der engeren Straßen, wo man auf einige Zeit buchstäblich den Himmel vor Fahnenschmuck nicht sehen konnte. Wer sein Haus nicht durch eine mächtige Fahne bemerkbar gemacht hatte, suchte den Eindruck durch gleichartige Ausschmückung sämmtlicher Fenster mit Fähnlein und Kränzen hervorzurufen. Gartenzäune, Mauerzinnen, Thorwege mußten Raum zu fliegenden Tribünen abgeben. Mehrfach aber ist hervorgehoben worden, daß der beste Schmuck der Fenster in den freudestrahlenden Mienen der schönen Frankfurterinnen im Feierkleide bestanden habe. Oft schien uns die Wirkung solcher malerisch geordneten Gruppen in Fensternischen und auf Balcons beabsichtigt. Hier und da verschenkten die Schönen Blumen, mit denen sie sich selbst geschmückt hatten. Wer nicht Kränze gab und Blumen, der reichte Bier und Wein, ja sogar – der selige Turnsenior Marggraff würde sich freuen – Milch. Als der Vorrath an frischen Blumen und Kränzen zu Ende gegangen war, löste man die Kränze von den Guirlanden an den Fenstern und überreichte sie den Fahnenjunkern, die sie erfreut auf die Spitze ihrer Fahne steckten. Es ist zweifelhaft, wer mehr turnerische Ausdauer gezeigt hat beim Festzuge, ein Fahnenträger, der vierthalb Stunden in der Sonnenhitze die Fahne getragen hat und oft durch einen Trunk gestärkt wurde, oder Damen, die in der gleichen [574] Zeit ihre Tücher geschwenkt und angesichts der uniformen, in strammem Schritt einherschreitenden Turner unaufhörlich: „Gut Heil!“ gerufen haben. Es war wohl natürlich, daß Turner, an deren Land irgend welche nationale Erinnerungen geknüpft wurden und die sich durch ihre stramme Haltung oder durch die große Zahl der Vertreter auszeichneten, besonders freudig begrüßt wurden. Die Landsleute Frankfurts, die leutseligen Sachsen, die Schwaben, die lustigen Berliner, die Deutsch-Oesterreicher, die freien Schweizer und die befreiten Lothringer erfreuten sich einer allgemeinen Aufmerksamkeit. Der etwas massive Klang unseres dreifachen „Gut Heil!“ als Gruß und Glückwunsch war Vielen befremdlich und wird sich erst noch in den Herzen der Volksangehörigen Bürgerrecht erwerben müssen. Die beiden schweren Silben wirken entschieden markiger und drastischer, als das aufhüpfende, jubelnd emporsteigende „Hurrah“ mit angehängtem, lang austönendem â.
Der Festzug bewegte sich über die Wall- und Schulstraße in Sachsenhausen, aber den Schaumainquai und die neue Unter-Mainbrücke, über die neue Mainzerstraße nach dem Bodenheimer Thor, durch die Bodenheimergasse über den Goethe-Platz und Roßmarkt, durch die Kaiserstraße bis zur Kühlung spendenden Fontaine des Herrn von Erlanger. Hier fand zu großer Freude der Betheiligten ein freilich nicht langer Gegenzug statt, sodaß Jeder seine nächsten Vorder- und Hintermänner begrüßen konnte. Der an der Fontaine vor dem „Frankfurter Hofe“ angebrachte Denkspruch ist werth hier verzeichnet zu werden:
„Das Wasser macht die Menschen dumm,
Die Jungen und die Alten,
Drum geht der Zug hier drum herum.
Wenn’s Wein wär’, blieb er halten.“
Sodann ging es wieder zum Roßmarkt, die Zeit, die Fahrgasse, Brückhof-, Fischerfeld- und Langestraße hinab, weiter die Allerheiligen-, große Friedberger- und Altegasse entlang.
Die engen alten Straßen, Großmütter gegenüber den neuen stattlichen Landstraßen, hatten durchschnittlich ein bescheideneres Gewand angelegt, aber meinten es nicht minder herzlich.
Am Triumphbogen der Alten Gasse stand:
„Wo freie deutsche Herzen walten,
Da läßt’s die Altegass’ beim Alten;
Wird Friede alle Welt erfreuen,
Hält’s auch die Alt’gass’ mit dem Neuen.“
Durch die Bleichstraße gelangte man zum Friedbergerthor, und durch die Friedberger Landstraße nach der „dicken Oede“ des Barons M. E. von Rothschild und nach dem Festplatze.
Nun, kein Frankfurter kann sich darüber beklagen, daß ihm nicht hinreichende Gelegenheit geboten worden sei, den Festzug zu sehen. Ja, es haben ihn alle Frankfurter so gut gesehen, daß die Tribüne auf dem Festplatze als überflüssig – leer stehen blieb.
Nach etwa dreieinhalbstündigem Marsche traf gegen zwei Uhr der Zug auf dem Festplatze ein und wurde von dem Centralausschuß und den Behörden begrüßt. Nachdem die Spitze des Zuges den Uebungsplatz bis zur Festhalle, vor der Bundesfahne vorbeidefilirend, umzogen hatte, ordneten sich die Freiübungsturner zu Achterreihen, welche bis an den Eingang zu dem Freiübungsplatze geführt wurde. Vermittelst der aufgestellten Richtfähnchen gelangten die 2016 Freiübungsturner in 311/2 Reihen von je 64 Mann zur Aufstellung. Als die Reihen gerichtet waren, übergab der Vorsitzende des Festausschusses, Franz Fabricius, den Festplatz den Turnern mit folgende Worten, die laut und vernehmbar vom Steigerthurm erklangen:
„Deutsche Turner, Gäste und Freunde aus dem Auslande! Willkommen, herzlich willkommen, alle Ihr Brüder! Euch deutschen Turnern mag wohl jetzt das Herz höher schlagen in dem Bewußtsein, daß das Auge der gesammten Nation nicht allein auf Euch ruht, sondern daß die Blicke des ganzen Auslandes, das den gleichen Bestrebungen huldigt, wie Ihr, auf Euch gerichtet sind. Nun denn, Ihr Turner, in diesem Bewußtsein thut Euer Bestes! Tretet frisch heran zum Wettkampf! Seid fromm und blickt ohne Neid auf den Sieger, gebt keinem andern Gedanken in Eurem Herzen Raum, als dem: ‚Ich will mir Mühe gebe, es ebenso gut zu machen suche, wie Du!‘ Seid fröhlich, daß es Euch vergönnt ist, an einem solchen nationalen Feste theilzunehmen, und daß Ihr hier Euren Freunden aus dem Auslande die Bruderhand drücken könnt. Wenn Ihr diese drei Worte Eures Wahlspruches wahr macht, Ihr Freunde, dann könnt Ihr frei vor Jeden hintreten, die Hand auf’s Herz legen und sagen: Ich bin stolz darauf, ein Turner zu sein. Und so denn, Ihr Männer, so denn, Ihr Turner, übergebe ich Euch im Namen des Centralausschusses diese Stätte zum schönsten Wettkampfe. Tretet an, kämpft dem Vaterland zur Freude, der gesammten Turnerschaft zur Ehre! Und daß dieses Fest gelinge, daß wir unseren Zweck erreichen und dadurch die Turnerschaft immer mehr zur Ehre und Anerkennung bringen, Ihr Brüder, darauf bringt ein dreifaches Gut Heil!“
Nach diesen mit jubelndem Einstimmen aufgenommenen Worten übernahm der Festturnwart Gottlob Danneberg das Commando für die sechszehn mit vier größeren Pausen auszuführenden Freiübungen. Zweimaliges Läuten mit dem um den Freiübungsraum gelegten elektrische Apparat verkündete Anfang und Ende einer größern Pause. Die Ausführung der Freiübungen wurde durch Fahnenschwenken und durch einfache Glockenschläge geregelt. Trotz einiger Schwankungen erscholl mehrfach von den Lippen der ringsum gelagerten Zuschauer ein allgemeines Bravo. Es wird stets ein überwältigender Anblick sein, Tausende augenblicklich dem Winke eines Einzigen folgen zu sehen.
Der Himmel war diesem Theile des Programms günstig. Ein Gewitter, das im Anzuge war, hatte sich verzogen. Ein scharfer Nordwest wehte, und der Himmel war mit schwarzen Wolken bedeckt, aber es kam vorläufig nicht zu störendem Regen.
Den Schluß der Freiübungen verkündete ein Böllerschuß. Der Abmarsch der Freiübungsturner erfolgte Arm in Arm durch Umzug in Achtercolonne vom rechten Flügel. Freudig stimmten die Turner ein in den Gesang des Liedes: „Deutschland, Deutschland über Alles“, vollendeten den Abmarsch und eilten, die Reihen auflösend, den Erquickung spendenden Hallen zu.
Die Uebungen der Musterriegen in Kreisen, Vereinen und Gauen begannen am Sonntag bald nach den Freiuebungen, wurden aber des Regenwetters wegen eingestellt und erst am Montag Morgen um acht Uhr wieder aufgenommen.
In den spätesten Nachmittagsstunden des Montags führte eine Riege aus Birmingham auf dem für die auswärtigen Gäste abgesteckten Raum das Keuleschwingen vor und legte darin eine solche Fertigkeit an den Tag, daß allgemeiner Beifall sie belohnte. Die birkenen, drei Fuß lange Keulen haben die Gestalt von Flaschen, deren ausgezogener Hals die Länge des Bauches hat.
Ein dichter Kreis von Zuschauern endlich, den zu durchbrechen selbst Kampfrichtern und Obmännern mit Mühe nur vermöge ihrer Amtsinsignien gelang, umgab diejenigen englischen Turner, welche den deutschen Genossen ein Probestück ihres nationalen Sports, des Boxens, vorzeigen wollten. In enganschließender wollener Bekleidung traten die Gegner paarweise auf, die Fäuste bewaffnet mit dicken, weichledernen, fettgepolsterte Handschuhen, und die regste Aufmerksamkeit verfolgte ihre Uebungen.
Zu allgemeiner Befriedigung verlief das erste große Feuerwerk am Montag Abend, veranstaltet von dem königlichen Hofkunstfeuerwerker Bidacowich aus Höchst. Noch größeren Eindruck machte und von ergreifender Wirkung war das dem Feuerwerk vorangehende Nachtmanöver der freiwilligen Feuerwehr an dem drei Stockwerke hohen Steigerthurme. Fingirt war für die Uebung die Unbenutzbarkeit der Treppe bis zum zweiten Stocke in Folge eines ausgebrochenen Feuers.
Das Festbanket am Montag für die beinahe dreitausend Personen hat der gewaltigste Despot, der Hunger, und die Macht der Elemente, die das Gebild der Menschenhand hassen und das Dach der Festhalle zu durchbrechen drohten, leider nicht so glänzend verlaufen lassen, wie es sicherlich angelegt und vorbereitet war. Eine große Anzahl von Gästen konnte nicht bedient werden, weil noch vor Thoresschluß, das heißt wenige Stunden vor dem Beginn des Festmahles, aus Nachgiebigkeit des Comités Anmeldungen in Menge angenommen worden waren, trotz der Ankündigung, daß am Vorabend die Theilnehmerliste geschlossen werden sollte. Während eines grausen Gewirrs von Messerklappern, Gläserklingen, Trompetenstößen erhob sich ein Nordoststurm, der einen wahren Wolkenbruch mit sich brachte. Der Regen ergoß sich in Strömen durch die Fugen des Daches auch in die Gläser auf den Tischen. Da bewahrte nebst manchen anderen fröhlichen Leuten der akademische Turnverein aus Berlin eine wünschenswerthe Kaltblütigkeit und sang, was der Festausschuß durchzusetzen nicht im Stande war, zwar nicht an seiner Tafel, aber um einen Hallenpfeiler gedrängt, zur Freude aller Umstehenden die programmmäßigen Tischlieder ab.
[575] Die ersten Redner wurden noch allgemein verstanden. Kaiser Wilhelm, welchem nach einem dreifachen Hoch ein Telegramm nach Gastein gesendet ward, antwortete mit seinem Dank und einem Wunsch für das fröhliche Gedeihen „des mit der körperlichen Bildung zugleich den nationalen Sinn belebenden Turnwesens“. Eine persönliche Theilnahme am Feste hatten er sowohl, wie der Kronprinz, Fürst von Bismarck und die Minister des Innern und des Krieges unter Danksagung abgelehnt.
Am Dienstag Morgen gegen zehn Uhr begann das Wettturnen der sechs Riegen zu je fünfzig Mann, des Regens wegen in zwei Hallen. So konnte leider des beschränkten Raums halber an ein Zuschauen von Turnfreunden nicht gedacht werden.
Beim Stabhochspringen nahm der Turner Meller aus Bockenheim ohne Sprungbrett die übernormale Höhe von zwei Meter achtzig Centimeter. Auch an den Geräthen wurde, besonders in den Kürübungen, Vortreffliches geleistet. Je zwei Pflichtübungen und eine Kürübung (das heißt zwei vorgeschriebene Uebungen und eine solche, bei der die Wahl freistand) am Reck, am Barren und am Pferd waren gefordert, dazu Betheiligung am Stabhochsprung, am Steinstoßen und am Weitsprung. Bis Mittwoch Mittag wurde das Wettturnen in den Hallen und theilweise aus dem Festplatze fortgesetzt, während der Berechnungsausschuß tapfer arbeitete und innerhalb weniger Stunden von mehr als dreihundert Turnern zwanzigtausend Resultate zu constatiren, zuzustellen und zu berechnen hatte.
Das Schaufechten (Säbelschlagen) von beinahe hundert Personen, am Dienstag mehrmals durch das Unwetter gestört, wurde am Mittwoch nach neun Uhr fortgesetzt. Am Ringkampf, der darauf Nachmittags gegen fünf Uhr begann, betheiligten sich über fünfzig Paare.
Nach Abwickelung des officiellen Programms winkten dem Turner Genüsse aller Art. Er konnte auf einem der beiden Tanzsäle eine und die andere der vielen anerkannt schönen Frankfurterinnen zu Tanze führen; er konnte auf dem „Dultplatze“ sich den harmlosen Volksbelustigungen hingeben, vom Caroussel und Amboßschlagen bis zum Tauchen und zum Kasperltheater; er mußte wenigstens einmal gegen Vorzeigung der Festkarte die Sehenswürdigkeiten der Stadt in Augenschein nehmen, und schließlich stand ihm frei, auf dem Festplatze das Concert anzuhören, dessen wirksamsten Theil der mit bewundernswerther Reinheit und Sauberkeit vorgetragene Massengesang der vereinigten 1200 Sänger Frankfurts von der großen Tribüne aus unter Leitung des Capellmeisters Freund und des Musikdirectors Gellert bildete. Ein zweiter Theil des Concerts spielte sich in der Festhalle ab. Von privaten geselligen Zusammenkünften, welche sich an das Fest schlossen, erwähnen wir nur zwei. Am Sonntag Abend versammelten sich etwa 700 Personen aus Oesterreich-Ungarn im Saal des Cafés zur neuen Börse, am Mittwoch Mittag 200 Amerikaner in der Festhalle auf Anregung des amerikanischen Generalconsuls A. Lee.
Die Verkündigung der Sieger geschah durch den Vorsitzenden der deutschen Turnerschaft, Rechtsanwalt Th. Georgii, von den Stufen des siebenzehneinhalb Fuß hohen Kolossalstandbildes der Germania herab. Die Statue war von dem Frankfurter Bildhauer Anton Karl Rumpf in Gyps massiv modellirt und von den Herren Anton und Moritz Hahn dem Central-Ausschuß gestiftet. Es hat sich ergeben, daß der erste Preis von dem Frankfurter Turner Christian Meller mit 69,2 bei 75 möglichen Punkten errungen ist. Der letzte, zweiundzwanzigste Preis ist zufällig auf den Bruder des ersten Siegers, Michael Meller, dem siebenten Verein zu Nürnberg angehörig, mit 45 Punkten gefallen. Die acht Mann starke Riege aus Milwaukee nimmt sechs Turnpreise und einen Ringpreis mit über den Ocean zurück. München hat drei Turn- und einen Ringpreis erworben, Frankfurt drei Turn- und sieben Fechtpreise, Birmingham einen Turn- und einen Ringpreis. Die Berliner, sei es durch den Regen abgeschreckt, oder von Zeit und Ort des Wettturnens nicht genügend oder nicht rechtzeitig benachrichtigt, turnten größtentheils nicht mit, gingen daher leer aus und würden einen größeren Schmerz empfinden müssen, wenn sie nicht überzeugt sein dürften, daß sie in den Tagen zuvor beim Kür- und Musterturnen Vorzügliches gezeigt hätten. Uebrigens waren nach der neuen Turnfestordnung nur die besten Durchschnittsturner zu krönen; die höchsten Leistungen an den einzelnen Geräthen sind nicht zur Geltung gekommen.
Während die deutschen Fechtlehrer in der Adlerflychtschule saßen und das Wohl des Fechtens beriethen, strebte der bei weitem größere Theil der Festgenossen am Donnerstag in das Weite und betheiligte sich an den Turnfahrten, die nach dem Taunus, dem Rhein und nach der Bergstraße unter dem Schutze von Ausschußmitgliedern unternommen wurden. Noch acht Tage nach dem Feste erscholl von der Spitze des Lurleyfelsens, wie von der Brücke der Wartburg, vom Feldberge, wie vom Heidelberger Schlosse herab ein kräftiges: „Gut Heil!“
Wenn auch das beklagenswerte Unglück beim letzten Feuerwerk wie eine finstere Wolke den Glanz des Festes schließlich verdunkelt hat, so wird doch sonnenhell leuchtende Wahrheit bleiben, daß manche nationale Anregungen von der alten Krönungsstadt ausgegangen, internationale Freundschaften geschlossen sind, daß der patriotische Sinn belebt und durch das Fest ein neuer Markstein für die Geschichte des Turnwesens aufgerichtet worden ist.
Unvergeßlich aber wird es allen bleiben, mit welcher Opferwilligkeit Jung und Alt, Hoch und Niedrig in Frankfurt sich bemüht hat, das Fest zu verschönern mit welcher Freigebigkeit und Aufmerksamkeit Jedermann in den Häusern bewirthet und bedient ist, mit welcher Bereitwilligkeit der Frankfurter Bürger dem deutschen Turner Haus, Herz und Hand geöffnet hat. Länger als an den Anschlagsäulen in Frankfurt wird in allen Landen, deren Vertreter die schöne Mainstadt gesehen, in den Herzen der Betheiligten das aufrichtige Gefühl des Dankes und eine angenehme Erinnerung wach bleiben.
„Zierlich denken, süß erinnern
Ist das Leben im tiefsten Innern.“
Goethe.