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Das berliner Voigtland

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Textdaten
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Autor: Eduard Schmidt
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Titel: Das berliner Voigtland
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50, S. 669–670
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[669] Das berliner Voigtland. Es ist etwa hundert Jahre her, als der alte Fritz sich den Plan von Berlin geben ließ und mit dem Krückstock dem Kammerdiener drohte, als dieser bei der Uebergabe sagte, daß Se. Majestät Residenz just die Form eines Schweinekopfes habe.

„Selbst Schweinekopf, versteht Er,“ sagte der König und nahm eine Prise; „wenn es Ihm Spaß macht, sollen daran Eselsohren kommen.“

Diese Eselsohren malte denn auch der alte Fritz mit Rothstift auf den Plan von Berlin – sie bezeichneten die Kolonie der aus dem sächsischen Voigtlande herbeigerufenen Handwerker, die ihre Freiwohnungen vor dem hamburger und rosenthaler Thore erhielten.

In kurzer Zeit war diese Kolonie von mehreren tausend Handwerkern bewohnt und die stolzen Berliner rümpften die Nase, sobald sie vom Voigtlande sprechen hörten, welches bald als Heimath der Prostitution und solider Rippenbrecher galt und dem ganzen berliner Charakter eine gewisse Rohheit im Auslande beilegte, die doch nur lediglich dem Voigtlande angehörte.

Heute ist im Verlauf von etwa zehn bis funfzehn Jahren eine großartige Metamorphose auch mit dem elendesten und armseligsten, ja verrufensten Stadttheil von Berlin vor sich gegangen; aber noch immer herrscht dort die Armuth und das Elend, doch jenes vererbte Elend des Proletariats, welches eine große Klasse von Menschen bedrückt, die arbeiten in dem Schweiße ihres Angesichts und alltäglich den Himmel darum bitten:

„Gieb uns unser täglich Brot!“

Dieses Jahrhundert hat schon Viel erlebt, und seine Erfahrungen haben die Menschen aus der Romantik in die Philosophie und aus der Philosophie in die Industrie geworfen. Die Industrie ist heute die Königin, der Alles huldigt, und ihr großes Reich hat ein Proletariat geschaffen, edler wie sonst, aber auch ärmer wie je. Die Industrie, die Alles beherrscht, hat eine Legion von Kindern, die sie hungernd verehren.

Das berliner Voigtland ist, wie früher der Heimathboden des Lasters, des Elends und des Proletariats, heute die Welt einer stets summenden Arbeit, eines von der Noth erfüllten Lebens und einer Gesellschaft geworden, die mit der Metamorphose ihres Stadttheils gleichen Schritt gehalten hat. Die elenden Baracken und wirklich unsauberen Häuser sind allmälig dort verschwunden und luftige Straßen, große, oft elegante Häuser haben sich dort erhoben und ein majestätischer Kranz von dampfenden Fabrikschloten umgiebt dieses Stadtviertel, in welchem der Fremde vergeblich noch Spuren jener berüchtigten Voigtländerei sucht, die mit dem ewig prasselnden Feuer der Essen und dem Singen des Ambos dort verschwunden ist. Eine imposante Perspektive bietet sich ihm statt dessen dar, die ihm ganz unwillkürlich eine Hochachtung vor der Majestät der Arbeit abnöthigt und mit Bewunderung jene zahllosen Arbeiter in Blousen und mit rußigem Gesicht betrachten läßt, die jenen Stadttheil jetzt ausschließlich bewohnen.

Noch vegetirt, der Ausdruck paßt vollkommen, dort jene unglückselige Klasse von Menschen, die mit Resignation empfinden, wie sie plötzlich zu Parias der Gesellschaft und zu Parias der Industrie geworden sind. Das ist die Klasse der Weber, jener thätigen, an Elend reichen Klasse, die auch dort von der lärmenden Industrie mehr und mehr in die entferntesten und ödesten Theile des Voigtlandes gedrängt, um unbejammert und unbeweint ein trostloses Dasein ihrer Thätigkeit auszuhauchen. Es muß uns ganz unwillkürlich das Mitleid in dem Herzen erwachen, wenn wir jener vom Fluch des Schicksals verfolgten Klasse gedenken, die, so thätig und emsig, immer mehr von dem Hammer und dem Kolben der Maschinen erschlagen wird und das Mark ihres Lebens mit hinein in die Stoffe webt, welche später eine vornehme Frau lächelnd und stolz über ihre alabasternen Schultern legt, weil sie noch schöner sind, wie diese. Möchten diese, vom Schicksal so begünstigten Frauen, die als Diamant ihrer Tugenden das Mitleid tragen sollen, doch jener Unglücklichen gedenken, die sie förmlich mit ihrem Elende voller Scham in die finstersten Ecken der Welt verbergen. Auch hier im Voigtlande haben sie ihr ausgedörrtes, von der Noth vergiftetes Leben in die Familienhäuser gepfercht, in denen oft zwei und selbst drei Familien eine Stube bewohnen und anscheinend von jenem Dunst der Armuth leben, den dort oft sechs bis neun Menschen verbreiten; es ist vielleicht möglich, daß diese ausgemergelten Weber sterben würden, wenn sie in eine Luft von größerer Reinheit kämen! Ist es möglich, kann man fragen, daß diese Menschen leben, wo der Preis ihrer Arbeit so gestellt ist, daß sie z. B. für 74 Ellen Thibet, an welchem 12 Tage ununterbrochen gearbeitet werden muß, vier Thaler erhalten? Kann man es wohl Leben nennen, solches Dasein, wobei das Brot vielleicht noch erworben werden kann, aber das Salz mangelt? Diese armen Weber, die mit ihrem Fleiß wie mit ihrer Arbeit verflucht, hier einen Stamm des Voigtlandes bilden, der jene unglückseligen Kinder hat, die mit zwanzig Jahren so aussehen wie mit funfzig, weil sie das Elend mehr als das Alter zu Greisen macht – diese armen Weber hat man zu Parias gemacht, und die Welt hat selbst nicht mehr Mitleid mit ihnen, obgleich sie es so sehr verdienen.

Eine andere bewundernswerthe Klasse, die dort wohnt, ist die der Tagelöhner für Alles; die Stuhlflechter, die Topfflechter und Marktträger; die Straßenkehrer und Lumpensammler – genug, jene Unglücklichen, die des Morgens von ihrem elenden Lager sich erheben, vor Kälte zusammenschaudern und mit ihrer nicht mehr benutzten Hülle, die hagere Frau und die sanft schlummernden Kinder zudecken; die ruhig warten muß, bis Jemand kommt, der ihnen einige Groschen verdienen läßt, um ein aus Hafer oder Kartoffeln bestehendes Mittagsbrot zu erhalten, oder welche mit dem ersten Grauen des Tages nüchtern ihre Wohnung und ihre Familie verlassen, um Arbeit und Verdienst zu suchen, und des Abends der Frau die wenigen Groschen geben, die sie erwarben; – oftmals auch stillschweigend die Achseln zucken und hungrig ein Lager aufsuchen, das hart und kalt und mit Sorgen gepolstert ist – – o ja, man hungert noch auf der Welt und es ist keine Romantik, dies den Reichen zu sagen!

Aber, wie gesagt, das sind mit noch manchen anderen bloße Ueberbleibsel des alten Voigtlandes, die aussterben und als Erbe nichts hinterlassen werden, als ihre Noth und ihr Elend; die große Mehrheit der heutigen Bewohner des Voigtlandes bildet die Klasse der Maschinenarbeiter, der Fabrikarbeiter und Gesellen. Ihre kräftigen Gestalten sehen wohlthuender aus, als die vom Hunger gedörrten der Weber und Tagelöhner; ihre rußigen Gesichter blicken voller Mitleid in die von einem dumpfen, rothen Lichte erhellten Fenster der Unglücklicheren, die schon weben, wenn sie zur Argeit gehen und noch schnurren, wenn sie davon kommen. Das ist das Proletariat der Metamorphose, das sein tägliches Brot mit dem Schlagen der nervigen Arme verdient, oder befreit von dem betäubenden Gekrach der Maschinen dem in allen seinen Fibern angestrengten Körper Ruhe gönnt. Wohl verdienen sie, wenn sie Arbeit haben, ihre tägliche Nahrung für ihre Familie, aber sie bezahlen sie theuer mit ihrer Kraft und ihrem Schweiß in diesen Zeiten der Theuerung, die so unendlich schwer auf einer Klasse lastet, die nur einen stereotyp sich gleichbleibenden Verdienst hat und die jetzt schon viel weiter in die besser situirten Kreise des behaglichen Bürgerstandes greift. Das ist die große Majorität der Metamorphose des Voigtlandes – eine arbeitende, rechtliche und Achtung gebietende Menschenklasse, [670] die das harte Eisen zu biegen vermag und dem zarten Gefühl des Mitteids und der Theilnahme nicht fremd ist. Sie sind stolz auf ihre Arbeit, und die Sorgen der Lebenserhaltung, die sie drücken, verschließen sie in ihrer männlichen Brust; doch stählen sie die Arme damit und der Schlag sinkt kraftvoller auf den Ambos, das Feuer der Essen lodert prasselnder, die Maschinen ächzen lauter und ihre Kolben hämmern mitleidsloser – der Rauch ihres Schweißes steigt mit in die Luft durch den thurmhohen Schlot, bis er allmälig nachläßt wie das Feuer, dann endlich in der dunkeln Nacht verschwindet. Die Arbeit ruht – der Mensch und die Maschinen stehen still.

Das sind die Bewohner des heutigen Voigtlandes, welches eine großartige Fabrikstadt geworden ist, und der Industrie täglich Weihrauch spendet. Die Noth ist dort zu Hause und dort die Wiege des berliner Proletariats; aber die Majestät der Arbeit feiert dort ihre Triumphe.

Eduard Schmidt.