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Das alte Serail in Konstantinopel

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Textdaten
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Autor: Ernst von Hesse-Wartegg
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Titel: Das alte Serail in Konstantinopel
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 242–247
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger G. m. b. H. in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[242]

Das alte Serail in Konstantinopel.

Von Ernst v. Hesse-Wartegg.
Mit Illustrationen nach photographischen Aufnahmen.

Die Pforte des Heils.

Auf der schmalen Halbinsel zwischen dem Bosporus und dem Goldenen Horn baut sich das alte Stambul in zauberhafter Schönheit auf. Hunderte großer Paläste, mächtiger Kuppeln und schlanker, zarter Minarets erheben sich über das weite Häusermeer der Türkenstadt und spiegeln sich in den blauen Fluten der Meeresstraßen wieder, die es umspülen.

In märchenhafter Pracht liegt dieses Konstantinopel mit seinen halb europäischen Vorstädten Pera und Galata vor den Augen des Beschauers, und der Weltfahrer wird in seiner Erinnerung vergeblich suchen, in welchem Weltteil, welchem Lande er ähnliche Pracht geschaut. Schon in vorchristlichen Zeiten galt dieses Stückchen Paradies zwischen Asien und Europa, zwischen dem Schwarzen und Mittelländischen Meere als der herrlichste Besitz; jahrhundertelang war es die glänzende Hauptstadt des großen byzantinischen Reiches, und etwa zur selben Zeit, als Kolumbus dem alten Europa eine neue Welt entdeckte, ging dieses herrlichste Kleinod Europas, Byzanz, an die asiatischen Eroberer verloren. Während viereinhalb Jahrhunderten ist es die Residenz der turkestanischen Fürsten geblieben, welche als Herrscher des osmanischen Reiches viele Generationen hindurch die halbe mohammedanische sowie die halbe christliche Welt bekriegten, welche die Reiche Europas von ihrem Schlosse aus in Bann hielten. Sie besiegten Kaiser und Könige, Schahs und Sultane und Republiken, und der Glanz ihres Hofes, die Macht ihrer Soldateska überstrahlte Jahrhunderte hindurch alles, was die Alte Welt bis zu ihrem Kommen gekannt hat.

Unwillkürlich sucht der Beschauer Konstantinopels zunächst die Residenz der langen Reihe von Großsultanen, welche seit Mohammed-el-Ghazy, dem Bezwinger von Byzanz, hier geherrscht haben. Er sucht zwischen den himmelragenden Moscheen und gewaltigen Ringmauern und Türmen und Palästen nach jenem Herrschersitze, auf welchem jahrhundertelang die Geschicke des östlichen Europas und des westlichen Asiens gelenkt wurden, er sucht nach einer Art Kreml oder Tower oder Alhambra, nach jenem alten Serail, dem Stolz und der Perle von Stambul. Aber er sucht vergeblich! Während die Alhambra im äußersten Südwesten Europas ein Schmuckkästlein maurischer Baukunst, der Kreml im Nordosten ein gewaltiges Schloß voll asiatischer Pracht und der Tower im Nordwesten eine mittelalterliche Zwingburg mit hohen Türmen und zinnengekrönten Mauern ist, zeigt sich der Sitz des glänzenden türkischen Fürstenhofes im äußersten Südosten Europas wie ein Lustgarten, in welchem Frauenlaunen einige zierliche Lusthäuser, Bäder, Kioske, Terrassen etc. erstehen ließen!

In solcher Weise erscheint wenigstens das alte Serail dem Beschauer vom Bosporus aus (vergl. Abbildung S. 245). Von dem ungeheuren Kuppelbau der Sophienmoschee senkt sich der Bergrücken, auf welchem Stambul liegt, allmählich in eine flache Spitze auslaufend, gegen die blaue Wasserfläche, und diese an drei Seiten von ihr umflutete Landzunge wird von großen Gärten eingenommen, zwischen deren dunklen Cypressen- und Myrtenbäumen und ungeheuren Platanen eine Reihe von verschiedenen Gebäuden hervorleuchtet, mit kleinen Kuppeln und Domen, und überhöht von einem Turm, der aussieht wie der Turm einer deutschen Dorfkirche.

Das Serail war einst die Wiege der Osmanen in Europa, es hat ihre Glanzepoche gesehen ebenso wie ihren Niedergang. Fünfundzwanzig Sultanen hat es als Residenz gedient, es war ein Palais, ein großes Feldlager, eine Festung und ein Heiligtum, der Mittelpunkt eines Weltreiches und einer Weltreligion.

Wohl aber hat kein anderer Ort der Erde so viel von den schlimmsten Leidenschaften der Menschen gesehen, von Neid und Eifersucht, Ehrgeiz und Habsucht, in keinem sind so zahlreiche Verbrechen und Morde begangen worden, Morde zwischen Brüdern, zwischen Vater und Sohn, zwischen Mann und Frau, zwischen Herrn und Diener! Die ganze Geschichte des osmanischen Reiches ist von hier aus geleitet worden, die Laune einer Odaliske hat ganze Provinzen in Armut gestürzt, auf den Wunsch eines schönen Mädchens wurden blutige Kriege gefochten, und das alte Serail ist heute der Friedhof nicht nur einer ganzen Reihe fremder Völkerschaften, sondern auch der einstigen Größe des osmanischen Reiches und seiner Fürstenherrlichkeit!

Selbst als Residenz der Sultane dient es nicht mehr, denn die furchtbaren Tragödien, welche der Thronbesteigung Mahmuds II im Jahre 1808 vorausgegangen waren, veranlaßten diesen Fürsten, den Palast von Tscheragan, am Bosporus gelegen, zu seinem Wohnsitz zu machen. Sein Nachfolger Abdul-Medschid erbaute den feenhaften Palast von Dolmabagdsche, und der jetzt regierende Abdul-Hamid verlegte seine Residenz noch weiter weg von Stambul, nach dem Yildiz-Kiosk, der auf den Höhen östlich von Pera inmitten ausgedehnter Palastanlagen versteckt ist. Heute wohnen im alten Serail nur die Witwen der Sultane.

Aber die wichtigsten und geschichtlich interessantesten Gebäude des alten Serails sind doch stehen geblieben. Sie werden heute von Palastwachen, schwarzen und weißen Eunuchen, noch gerade so streng bewacht wie zur Zeit der früheren Sultane, und nur ganz bevorzugte Reisende erhalten mittels kaiserlichen Firmans die ungemein schwer zu erwirkende Bewilligung, das Serail zu besichtigen.

Die meisten werden bei der Durchwanderung des alten Sultanssitzes enttäuscht, ernüchtert, denn auch um die drei großen Höfe desselben erheben sich nicht stolze Paläste in anspruchsvoller, reicher Architektur oder Gebäude von besonderer Zierlichkeit und Eleganz, sondern nur weitläufige, niedrige, höchstens einstöckige Bauten in großer Zahl, als wären sie die zu Stein gewordenen Zelte eines großen Feldlagers, wie es die Vorfahren der osmanischen Dynastie in früheren Zeiten besaßen, als sie noch die Häuptlinge eines turkestanischen Nomadenstammes waren. Und doch wurde ich hier mehr gefesselt, mehr erschüttert als in den reichsten Palästen des fernen Orients, in Indien, Siam, China, Japan – nicht der traurigen Gegenwart, sondern der aller Beschreibung spottenden gewaltigen, erdrückenden Vergangenheit wegen.

Gleich das erste und äußerste Thor, das Bab-Humayun, der berühmten Fontäne vom Sultan Achmet und der Sophienmoschee gegenüber gelegen, ruft diese Vergangenheit zurück, denn zu beiden Seiten dieses im halb arabischen, halb persischen Stil aus schwarzem und weißem Marmor erbauten Thores zeigen sich noch die Nischen, in welchen am Morgen die blutigen Kopfe jener Staatsmänner oder Hofwürdenträger aufgehängt wurden, die in der vorhergehenden Nacht gefallen waren. Auf den Vorplatz aber wurden die Leichname der Gehenkten geworfen, und zwischen diesen hindurch begaben sich die glänzenden, farbenprächtigen, goldstrotzenden Reihen von Ministern, Generalen, Garden täglich nach dem Serail an den Hof des Sultans! Die Pforte, an der heute einfache türkische Soldaten stehen, wurde damals von [243] Kapidschis bewacht, einer Leibgarde, aus Söhnen von Paschas und Beis zusammengesetzt, die in reichen Uniformen prangten. Ringsum standen die Massen des türkischen Volkes, bewundernd, erwartungsvoll, erschrocken, oder passierten, ein Gebet für den Padischah murmelnd, die Pforte, um scheu einen Blick in das Innere des weiten Hofes zu werfen, welchen nur Bevorzugte betreten durften.

Ganz wie früher zeigt dieser „Janitscharenhof“ genannte Platz einzelne Baumgruppen und nahe der in ein Arsenal verwandelten altgriechischen Kirche der heiligen Irene auch jene ungeheure Platane, unter welcher die Enthauptungen stattgefunden haben (vergl. die untenstehende Abbildung). Ihr kaum von zehn Männern zu umspannender Stamm ist gespalten, und sie mag aus der Zeit des griechischen Kaiserreichs stammen, aber ihre Krone ist frisch und reichbelaubt. Ist doch der Boden, auf dem sie steht, mit so viel Blut gedüngt worden!

Neben der ehrwürdigen alten Irenenkirche befindet sich die kaiserliche Münze, und früher erhoben sich rings um den heute verwahrlosten, einsamen Hof die kaiserlichen Stallungen, in welchen Hunderte der prachtvollsten Rosse aus silbernen Krippen fraßen; die Bäckerei mit zweihundert Bäckern, welche das Brot für die Tausende von Hofangestellten bereiten mußten; die Wohnungen für die Sklaven, das Hospital des Serail und die Kasernen der wachthabenden Janitscharen. Den ganzen Tag über herrschte hier das regste Leben, ein fortwährendes Kommen und Gehen, vom frühen Morgen an, da zweiunddreißig in reiche Gewänder gehüllte Muezzins auf den Minarets des Serails das Allah il Allah sangen, bis zum späten Abend, da die prächtigen Janitscharenwachen die Thorschlüssel den Offizieren überbrachten. An der gegenüberlegenden kahlen niedrigen Mauer des Janitscharenhofes zeigen zwei feste Türme die Pforte an, welche in den zweiten Hof des Serails führt und, wie früher so auch noch heute, nur jenen offen steht, die mit einem kaiserlichen Firman versehen sind. Von Hausoffizieren und Adjutanten des Großsultans empfangen, durchschritt ich das von Militärwachen besetzte Thor, das Jahrhunderte hindurch so viele Minister und Großwürdenträger des Reiches erbeben machte (vergl. Abbildung S. 242). Bab-el-Salaam, „Pforte des Heils“, wird es genannt; aber fürwahr, von den Tausenden und aber Tausenden, die es durchschritten haben, ist nur den wenigsten wirklich Heil widerfahren. Die Hände in den weiten Aermeln versteckt, gesenkten Hauptes, stumm und zitternd begaben sich an den großen Diwantagen die zu den Ministern oder zum Padischah Befohlenen durch diese Pforte, wußten sie doch nicht, ob sie dieselbe wieder lebend verlassen würden!

Der Janitscharenbaum.

Hier an dieser Pforte befand sich auch die Wohnung des Scharfrichters und gleichzeitig eine geheime Richtstätte. Heute noch bildet sie eine Art Tunnel, dessen Ausgänge auf beiden Seiten durch schwere Thore geschlossen werden, und unter dem Thorweg befindet sich ein mit einer Fallthüre bedecktes Verließ, das durch einen unterirdischen Gang mit dem Diwanssaal in Verbindung steht. Häufig wurden Persönlichkeiten, die bei den Mächtigen in Ungnade gefallen waren, hier beim Verlassen des Diwans festgenommen; die beiden Thore fielen in das Schloß, in der Dunkelheit fühlten die Gefangenen plötzlich eine Schnur um den Hals und binnen wenigen Augenblicken waren sie ins Jenseits befördert, ohne daß ihr Leichnam jemals zum Vorschein kam. Die Gesandten und Hofchargen und Offiziere, welche draußen angsterfüllt warteten, bis sie zur Audienz befohlen wurden, hörten wohl die Angstrufe der Sterbenden, aller Augen wendeten sich nach den geheimnisvoll geschlossenen Thoren, aber wenn diese wieder geöffnet wurden, war alles vorbei.

Jenseit des Bab-el-Salaam dehnt sich der zweite Hof des Serails aus, heute ebenso einsam und verlassen wie der erste; ein breiter, von ungeheuren alten Cypressen beschatteter Weg durchschneidet die weiten Rasenbeete und führt in gerader Linie zu dem dritten Thore, dem Bab-es-Seadet, „Thor der Glückseligkeit“. Rings um den weiten Platz ziehen sich Bogengalerien mit Säulen aus weißem Marmor und überhöht von einer Reihe kleiner Kuppeln. Einige Thüren in diesen zierlichen, mit Mosaik und Malereien reich geschmückten Galerien führen zu weitläufigen, aber niedrigen Gebäuden, in welchen sich früher die Archive, die Depots für die Ceremonientrachten, die Zelte und Waffen, sowie die Wohnung des schwarzen Großeunuchen befanden. Zur Rechten gewahrte ich den Eingang zu den kaiserlichen Küchen, in welchen heute noch die Mahlzeiten für die Harems der verstorbenen Sultane bereitet werden. Im Hofe selbst steht nur noch ein geräumiger Pavillon, welcher den Diwanssaal, d. h. den Sitzungssaal des obersten Staatsrats, enthält.

Welche Scenen hat dieser Diwanssaal nicht noch vor einigen Jahrzehnten gesehen! Noch ist heute dort alles so wie damals. Derselbe Diwan zieht sich die Wände dieses mit vergoldeten Arabesken geschmückten Saales entlang, und über dem Sitz des Großveziers gewahrte ich in der Dämmerung das kleine vergitterte Fenster, an welchem Soliman der Große und nach ihm die ganze Reihe von Padischahs die Verhandlungen ihrer Minister anhörten. Ein geheimer Gang führte von dort nach den kaiserlichen Gemächern.

Der Diwan wurde hier fünfmal in jeder Woche mit echt orientalischem Pomp abgehalten. Um den Großvezier nahmen die anderen Minister und Staatsräte Platz, während hinter ihnen Sekretäre und die Scharfrichter standen, die bei keiner dieser Gelegenheiten fehlen durften – alle waren in ebenso malerische wie kostbare Gewänder gehüllt, mit gewaltigen weißen Turbanen auf den Köpfen und reichgeschmückten Säbeln oder Dolchen im Gürtel. Die Verhandlungen dieses schrecklichen Tribunals wurden mit leiser, einförmiger Stimme geführt, niemand wagte eine Bewegung, und selbst dem Unschuldigsten, der in diesen halbdunklen Saal vor seine Richter geführt wurde, mußte bei dem Anblick dieser ernsten, starren Gestalten unter dem Kreuzfeuer von hundert Augen der Mut sinken. Das Verhör war kurz, und obschon das Todesurteil ebenso leise gesprochen wurde, fiel es häufig doch wie ein Donnerschlag auf die Anwesenden. Ein Zeichen, und die Schergen stürzten sich wie der Blitz auf die Opfer – Janitscharenagas und Spahigenerale, Kaimakans und Emire fielen unter den Dolchstichen ihrer Mörder oder zuckten unter dem Würgen mit seidenen Schnüren, während die Minister ruhig und unbeweglich das schreckliche Schauspiel mit ansahen. Die Leichname wurden auf den Vorplatz geschleppt, das Blut abgewaschen, die Schergen traten wieder auf ihre Posten, der [244] nächste Beschuldigte wurde vor die grausamen Richter geführt. Aber während sie hier scheinbar gleichgültig mit Leben und Tod spielten, erbebten sie bis in die Seele, denn, unsichtbar für sie, lauschte über ihnen der Großherr selbst, und die geringste Unzufriedenheit, das Spiel einer Laune, konnte im nächsten Augenblick ihren eigenen Kopf kosten.

Der persische Goldthron in der Schatzkammer des alten Serails.

Die Wohnung des Großherrn befand sich im dritten Hofe, jenseit der Heiligen Pforte, Bab-es-Seadet, die vier Jahrhunderte lang jedem Christen, ausgenommen souveränen Fürsten und Botschaftern, verschlossen war und die das Volk nur leise flüsternd, von geheimer Furcht erfüllt, nannte; vergeblich pochten Tausende von hochstehenden und mächtigen Reisenden an dieses Thor des „Königs der Könige“, hinter welchem der ganze Glanz und Reichtum dieses märchenumwobenen Hofes ihre Augen geblendet hätte, wo Hunderte der schönsten Frauen des Erdballs den Launen des mächtigsten Fürsten der Alten Welt dienten, und wo Festlichkeiten oder entsetzliche Greuelthaten miteinander abwechselten, so erhaben oder so erbärmlich, daß sie die Sagen von Tausend und einer Nacht im Vergleich zu ihnen verblassen machen. Dort schwang der Padischah selbst sein juwelenbesetztes Schwert, und das Schwert allein war sein Recht. Aber auch diese willkürlichen und blutdürstigen Despoten zitterten vor der Macht der Janitscharen, die manchmal mit ihren Schwertern und Morgensternen wuterfüllt sich den Weg bis zum Heiligen Thore bahnten, und gerade der Platz vor demselben, wo heute in der sonnigen Einsamkeit Eidechsen umherrascheln, war der Schauplatz der schrecklichsten Blutscenen. All die Kreaturen des Machthabers, die Haremsfrauen und schönen Sklavinnen, die Prinzen und Pagen und Minister, zitterten, wenn sie zur Nachtzeit die Keulenschläge hörten, mit welchen die zügellosen Janitscharen die ersten zwei Thore zertrümmerten, und wenn ihr wütendes Geschrei irgend ein Opfer verlangte, um an diesem ein vermeintliches Unrecht zu rächen. Und die Umgebung ihres Padischah, dieses mächtigsten Herrn, dieses „Bruders der Sonne“, war ohnmächtig gegen seine Janitscharen. Vergeblich wurden mit Geld gefüllte Säcke unter die heulenden Aufrührer geworfen, vergeblich flehten, versprachen, drohten Scheichs und Minister, Generale und Ulemas, vergeblich zeigten ihnen die auf den Tod erschreckten Sultanas ihre unschuldigen, weinenden Kinder. Selbst die Großherren erschienen in eigener Person vor diesen Wütenden, um für ihre Beamten Gnade zu begehren, aber auch vergeblich: sie verlangten ihre Opfer, um sie auf ihre Lanzen zu spießen, mit ihren Schwertern zu zerhauen; und in ihrer Ohnmacht, um sich selbst zu retten, mußten die Padischahs nachgeben. Die Thorflügel der Heiligen Pforte öffneten sich, und mit schlotternden Knien erschienen die mächtigsten Minister, die liebsten Günstlinge der Sultane, um von den Janitscharen in Stücke gehauen zu werden. Hier vor dem Bab-es-Seadet war es, wo Murad III seinen Liebling Mehemmet unter tausend Schwerthieben fallen sah, wo Murad IV seinen Großvezier Hafiz den Dolchen der Janitscharen preisgab und Selim III gezwungen wurde, seinen ganzen Diwan zu opfern!

Und diese Pforte heißt „Pforte der Glückseligkeit“! Mir graute es bei der Erinnerung an all diese Unthaten, als ich zwischen den Reihen von schwarzen und weißen Eunuchen hindurchschritt, welche noch heute die Thorwache besorgen. Ich befand mich nun im Herzen des alten Serails, im dritten Hofe, aber statt der orientalischen Pracht, statt reich ornamentierter Paläste mit Balkonen und Veranden sah ich auch hier nur kleine einstöckige, geradezu ärmliche Gebäude ganz unregelmäßig in dem weiten begrasten Hofe verstreut, wo sie eben die Tageslaune der Padischahs entstehen ließ. Selbst der Thronsaal, in welchen ich zunächst geführt wurde, ist unansehnlich, wohl der kleinste, den ich in den Fürstenschlössern der verschiedenen Erdteile gesehen habe. Kaum über den Erdboden erhöht, zeigt er an seinen Wänden herrlichen Mosaikschmuck und vergoldete Arabesken, und zu den Seiten der Eingangspforte stehen zwei schöne Fontänen.

Der Bagdad-Kiosk.

Ihr gegenüber erhebt sich der Thron der Sultane in der Form eines Bettes, auf welchem die Fürsten mit untergeschlagenen Beinen Platz nehmen. Ueber dem Throne wölbt sich auf vier leichten Säulen aus vergoldeter Bronze und mit Edelsteinen geschmückt der Baldachin. An den vier Ecken prangen goldene Kugeln mit goldenen Halbmonden darüber, während von ihnen Roßschweife, das Symbol der militärischen Oberhoheit der Sultane, herabhängen. Sonst ist der kleine Raum leer, nur im Hintergründe gewahrte ich in dem farbigen Dämmerlichte, das die mit Glasmalereien bedeckten hohen Fenster spenden, einen reizenden Kamin, von einer vergoldeten, reich geschmückten Kuppel überhöht. Der ganze Thronsaal würde den Besucher kalt lassen, wenn nicht so große und blutige Ereignisse mit ihm verknüpft wären, und schaudernd dachte ich an die blutenden Leichen der siebzehn Brüder Mahommet’ III, die dieser hier vor seinen Augen abschlachten ließ! Groß und klein, vom erwachsenen Mann bis zum zarten Säugling, wurden sie hergebracht, um dem Blutdurst ihres ältesten Bruders zum Opfer zu fallen, und ich glaubte, in den Nischen, in dem Gewirr der zarten Arabesken, in dem Dunkelrot des Mosaiks noch ihr Blut kleben zu sehen! Wie viele Köpfe von Großvezieren, wie viele Leichen von Provinzgouverneuren, Walis, Agas und Generalen haben auf dem Marmorboden zu Füßen der grausamen Großherren gelegen!

Mit Schrecken wandte ich mich von dieser Folterkammer, in

[245]

Das alte Serail in Konstantinopel.
Nach einer Photographie gezeichnet von W. Hoffmann.

[246] welcher die Sultane ihren Thron errichtet haben, nach dem auf der anderen Seite des Hofes gelegenen Gebäude, welches das Interessanteste des alten Serails, die Schatzkammer, birgt. Unter den Kolonnaden dieses ansehnlichen Baues prangen kostbare Waffen der verschiedensten Art, deren Beschreibung allein ein Buch füllen würde. Der ganze Stab des Hofmarschallamtes, etwa dreißig Sekretäre und Adjutanten, scheint bei fremden Besuchen der Schatzkammer aufgeboten zu werden. Staunen erfaßte mich, als ich den durch beide Stockwerke reichenden, mittleren Saal betrat, denn er ist bis an das Dach hinauf mit den kostbarsten Schätzen gefüllt, wie sie Aladin mit seiner Wunderlampe kaum schöner und reicher gesehen hat. Die mächtigen Glaskästen strotzen von den herrlichsten Goldgefäßen, Schmucksachen, Schwertgriffen, Waffen, Geschirren, Dosen, Vasen, Kästchen, Statuen, Decken, Sätteln, Turbanen, Spiegeln und tausenderlei Gegenständen, die alle mit den wundervollsten Edelsteinen bedeckt sind. Rubine und Saphire von der Größe der Taubeneier, Diamanten, Perlen und Smaragde liegen in kleinen Häuflein zusammengeworfen, Decken von mehr als zwei Quadratmetern Größe sind mit den schönsten Perlen besät, daß man kaum den Stoff unter ihnen erkennen kann, an Dolchen prangen Handgriffe, aus einem einzigen Smaragd bestehend, fingerlange Figürchen besitzen als Rumpf eine einzige Perle, aus faustgroßen Türkisen wurden Trinkgefäße geschnitten, die hier neben goldnen Wasserkrügen stehen, so dicht mit Rubinen besetzt, daß sie, aus einiger Entfernung betrachtet, ganz rot erscheinen. Dabei ein Glühen und Blitzen und Funkeln und Strahlen überall, daß das Auge geblendet wird! Das kostbarste Stück dieser Sammlung dürfte der von den Persern erbeutete Thron sein, der ganz aus reinem Golde besteht und mit den herrlichsten Edelsteinen bedeckt ist (vergl. Abbildung S. 244). Wohin man sich auch wenden mag, in die Nebensäle, auf die Galerien, überall blitzen die kostbarsten Geschmeide im Werte von vielen Millionen! Sie bilden aber nur einen Teil des Juwelenschatzes des Sultans; denn mehr noch von den gleißenden Geschmeiden blitzen an den Nacken und Armen der Haremsdamen in den Gärten jenseit des Goldenen Horns, im Yildiz-Kiosk.

Die Wohnung der kaiserlichen Witwen.

Für die Mohammedaner enthält das alte Serail jedoch einen noch größeren Schatz als all diese hier in Gold und Edelgestein aufgestapelten, nutzlosen, toten, kalten Millionen. Als ich verwirrt und geblendet aus der Schatzkammer trat, zeigte man mir auf der gegenüberliegenden Seite des Hofes den Pavillon Hirka-Scherif-Odassi, in welchem das größte Heiligtum des Islam, die heilige Fahne des Propheten und sein Mantel, aufbewahrt wird. Einmal im Jahre, am fünfzehnten Tage des Rhamadanfestes, werden diese Gegenstände unter dem denkbar größten Ceremoniell in Gegenwart des Sultans aus ihren kostbaren Hüllen genommen und dadurch geehrt, daß der Sultan sowie alle Hofwürdenträger und Großen des Reiches den Saum des Mantels küssen. Nach jedem Kusse wird der Mantel mit kostbaren Seidentüchern abgewischt, und diese selbst bleiben den Teilnehmern an dieser Ceremonie zur Erinnerung. Möge die heilige Fahne des Propheten noch lange Jahre in ihren vierzig seidenen Umhüllungen bleiben, denn ein furchtbarer, fanatischer Glaubenskrieg würde entbrennen, wenn sie jemals wieder entfaltet werden sollte!

Nicht weit von diesem Kiosk erhebt sich ein zweiter, ohne Fenster und mit einer eisernen Thür verschlossen. Er ist der berüchtigte Vogelkäfig, in welchen die Sultane ihre Brüder und Vettern einsperrten, um ihnen so die Möglichkeit zu nehmen, nach ihrem Thron zu trachten. Dort weilten sie wie Lebendigbegrabene, bis der Ruf der aufständischen Janitscharen sie zu Sultanen machte, oder – bis der Scharfrichter sie aus dem Wege räumte. Hier war auch Sultan Abd-ul-Aziz eingesperrt während der wenigen Tage, die zwischen seiner Thronentsetzung 1876 und seinem tragischen Tode lagen. Er war der letzte Sultan, der diesen Kiosk bewohnte. Wer mag ihm in Zukunft noch folgen? Hier war es auch, daß Ibrahim der Schreckliche 1648 seinen Tod fand. Seiner Blutthaten müde, rissen seine Agas ihn von dem Thron und zerrten ihn in dieses Gefängnis. Hier ließen sie ihn in Gegenwart von zweien seiner Frauen und seines ganzen Hofes erdrosseln!

Rings um diesen Kiosk schreitend, gelangte ich in den reizendsten und intimsten Teil des alten Serails, in jenen Blumengarten, darinnen die Privatwohnungen der Sultane,der kaiserlichen Prinzen und der Haremsdamen gelegen sind. Eine ganze Reihe von geheimnisvollen Kiosken in verschiedenen Stilarten, mit bedeckten Veranden, mit verhängten Fenstern und verschlossenen Thüren erhebt sich dort im Schatten uralter Platanen und Cypressen, umgeben von üppigen Blumenbeeten, von Marmorterrassen und Springbrunnen, heute verlassen, aber noch vor einem Menschenalter der Schauplatz so üppigen, glänzenden und reichen Wohllebens, wie wohl nirgend anders im weiten farbenprächtigen Orient. Hier in diesen Miniaturpalästen wohnten Hunderte der schönsten Frauen, welche das große türkische Reich aufzuweisen hatte. Aus allen Provinzen bis weit hinein nach Asien und Afrika wurden die Schönsten der Schönen, die begehrenswertesten, reizendsten, geistreichsten ausgesucht als Spielzeug und Zeitvertreib des Großherrn. Hier hauste die Sultana Valide, die Mutter des Padischah, mit ihrem Hof von Hunderten von Ustas (Hofdamen) als angesehenste und oberste des ganzen Harems; hier besaß jede der vier Kadina (offizielle Frauen des Padischah) ihren entzückenden Kiosk mit einem Heer von Intendanten und Sklavinnen; hier wohnten die Unterfrauen oder Gediklu, von denen die zwölf schönsten den Dienst beim Sultan verrichteten, mit hundert Schagirt oder Novizen, welche von eigenen Lehrern in Musik und Tanz und Märchenerzählen unterrichtet wurden. Inmitten dieser üppigen weiblichen Welt, umgeben von allem Glanz, allen Genüssen, welche das Herz sich nur wünschen konnte, lebte der Großherr wie in einem Garten der Hesperiden. Aber je mehr diesen Sultanen von allen weltlichen Freuden zu Gebote stand, desto unzufriedener, unglücklicher waren sie, und selbst bis in diese geheimsten Stätten der Hofhaltung drangen die Intriguen und hatten Verbrechen der schrecklichsten Art im Gefolge. Viele von den Palästen und Kiosken sind längst verschwunden, und von den berühmten Schönheiten, den armenischen oder georgischen oder griechischen Odalisken, deren Launen den Sultan und durch ihn [247] ein gutes Stück der Alten Welt regierten, ist kein Stäubchen mehr übrig. Nur einer der Kioske ist noch in seiner ganzen Pracht erhalten, der von Murad erbaute Bagdad-Kiosk (vergl. Abbildung S. 244), in dessen entzückenden Räumen ich mir im Geiste die Herrlichkeiten und Reize der verschwundenen Haremswelt vor Augen zaubern konnte. Ganz im türkisch-persischen Stile gehalten und ebenso eingerichtet wie zur Zeit der großen Sultane, als hätten sie und ihre Favoritinnen ihn erst gestern bewohnt, führt er das einstige Hofleben des alten Serails viel lebhafter vor Augen als der letzte Kiosk, der mir gezeigt wurde, jener von Abd-ul-Medschid. Dieser schon von der abendländischen Kultur beeinflußte Sultan ließ ihn in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts ganz nach dem Muster unserer modernen Sommerpaläste erbauen und mit reichen französischen Möbeln einrichten. Hier in diesen modernen Räumen wurden uns auf Befehl des Sultans in goldenen juwelenbesetzten Tassen Kaffee und Fruchtwässer dargeboten, und, kaiserliche Cigaretten rauchend, konnten wir auf der Terrasse des Kiosks das wunderbare Panorama von Konstantinopel genießen, das sich von keinem Aussichtspunkte so schön zeigt wie von hier.

Ringsum herrschte Ruhe, keine Seele zeigte sich auf den einsamen schattigen Wegen des weiten Gartens, in dessen Mitte wir uns befanden, aber dennoch lenkten sich meine Blicke unwillkürlich nach den verschiedenen Bosketts, um irgendwo den Arm, das Kleid einer Haremsdame zu entdecken, oder nach den verschlossenen Pavillons, ob sie nicht doch noch von schönen Odalisken bewohnt seien. In einem derselben, der in üppigem Grün versteckt ist (vergl. Abbildung S. 246), wohnen ja noch heute die Witwen der Sultane.

In Wirklichkeit ist das Los der Sultansfrauen traurig, ebenso wie das der Tausende und aber Tausende ihrer Vorgängerinnen, und würden sie die Geschichte dieser Räume kennen, die mit blutiger Schrift auf jeder Mauer, jedem Stein geschrieben steht, sie würden das größte Elend dem traurigen Prunke vorziehen, der sie jetzt umgiebt. In denselben Räumen verbargen vielleicht in vergangenen Zeiten Sultanas ihre thränenden Augen in goldstrotzenden Kissen, um nicht ihre in Blut schwimmenden Kinder zu sehen, die auf Gebot des Großherrn in ihrer Gegenwart getötet wurden; in denselben Räumen wüteten die Janitscharen, rissen die Sultansfrauen bei den Haaren aus ihren Verstecken und stießen ihnen das Schwert in den Leib; in denselben Räumen herrschte inmitten der Pracht nur Neid, Haß und Eifersucht, und ein Augenblick des Wahnes wurde mit einem Leben voll Bitterkeit und Unglück bezahlt, das auch die kostbarsten Geschmeide, die feinsten Gewänder und ein Heer von Dienern nicht gutmachen konnte. Mahmud II floh diese herrlichen, verfluchten Räume und Sultan Abd-ul-Hamid II verlegte, wie schon oben erwähnt, seinen Wohnsitz noch weiter weg, in neue Paläste, in ein neues Serail. Wollte er hier ein neues Leben beginnen? Die Geschichte der letzten Jahre, die Niedermetzlung der Armenier, die fragwürdigen Zustände am Hofe des Sultans geben die Antwort. Oder trägt er keine Schuld daran? Ist er nicht selbst vielleicht der Sklave seiner Umgebung, der Sklave der Ueberlieferungen? In der modernen Zeit sind diese Ueberlieferungen aus der alten despotischen Zeit nicht mehr zu halten, und wie lange wird es dauern, bis das alte Serail ebenso verschwunden sein wird wie der griechische Kaiserpalast, aus dessen Trümmern es gebaut wurde! Dieselben stummen, unvergänglichen Steine, die den Griechen und den Osmanen gedient haben, werden vielleicht in nicht zu ferner Zeit neuen, der Humanität gewidmeten Bauten dienen, und den fremden Touristen, welche die herrlichste aller Städte im kommenden Jahrhundert besuchen werden, wird man nur noch die Stelle zeigen können, wo das alte Serail, die Residenz von fünfundzwanzig Sultanen, einstens gestanden hat.