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Das Wesen des Christentums/Zweite Vorlesung

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[13]
Zweite Vorlesung.




Wir handeln im ersten Abschnitte unserer Darlegung von der Verkündigung Jesu nach ihren Grundzügen. Zu diesen Grundzügen gehört auch die Form, wie er das verkündet hat, was er lehrte. Wir werden sehen, ein wie wesentlicher Teil seiner Eigenart hier zu Tage getreten ist; „denn er predigte gewaltig, nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer“[WS 1]. Doch bevor ich auf diese Grundzüge eingehe, halte ich mich für verpflichtet, Sie in kurzen Worten über die Quellen zu orientieren.

Unsere Quellen für die Verkündigung Jesu sind – einige wichtige Nachrichten bei dem Apostel Paulus abgerechnet – die drei ersten Evangelien. Alles übrige, was wir unabhängig von diesen Evangelien über die Geschichte und Predigt Jesu wissen, läßt sich bequem auf eine Quartseite schreiben, so gering an Umfang ist es. Insonderheit darf das vierte Evangelium, welches nicht von dem Apostel Johannes herrührt und herrühren will, als eine geschichtliche Quelle im gemeinen Sinn des Wortes nicht benutzt werden. Der Verfasser hat mit souveräner Freiheit gewaltet, Begebenheiten umgestellt und in ein fremdes Licht gerückt, die Reden selbstthätig komponiert und hohe Gedanken durch erdachte Situationen[AU 1] illustriert. Daher darf sein Werk, obgleich ihm eine wirkliche, wenn auch schwer erkennbare Überlieferung nicht ganz fehlt, als Quelle für die Geschichte Jesu kaum irgendwo in Anspruch genommen werden; nur weniges ist ihm, und mit Behutsamkeit, zu entnehmen. Dagegen ist es eine Quelle ersten Ranges für die Beantwortung der Frage, welche lebendige Anschauungen der[14] Person Jesu, welches Licht und welche Wärme das Evangelium entbunden hat.

Vor sechzig Jahren glaubte David Friedrich Strauß, die Geschichtlichkeit auch der drei ersten Evangelien fast in jeder Hinsicht aufgelöst zu haben. Es ist der historisch-kritischen Arbeit zweier Generationen gelungen, sie in großem Umfange[AU 2] wiederherzustellen. Allerdings, auch diese Evangelien sind nicht Geschichtswerke; sie sind nicht geschrieben, um einfach zu berichten, wie es gewesen, sondern sie sind Bücher für die Evangelisation. Ihre Absicht ist, Glauben an die Person und Mission Jesu Christi zu erwecken, und die Schilderung seiner Reden und Thaten sowie die Zurückbeziehung auf das Alte Testament dient diesem Zwecke. Dennoch sind sie als Geschichtsquellen nicht unbrauchbar, zumal da ihr Zweck kein von außen entlehnter ist, sondern mit den Absichten Jesu zum Teil zusammenfällt. Was man aber sonst noch als große leitende Tendenzen den Evangelisten zugeschrieben hat, hat sich samt und sonders nicht bewährt, wenn auch im einzelnen noch manche Nebenabsichten gewaltet haben mögen. Die Evangelien sind keine „Parteischriften“, und ferner, sie sind auch noch nicht durchgreifend von dem griechischen Geiste bestimmt. Sie gehören ihrem wesentlichen Inhalte nach noch der ersten, jüdischen Epoche des Christentums an, jener kurzen Epoche, die wir als die paläontologische bezeichnen können. Es ist eine der dankenswertesten Fügungen der Geschichte, daß wir noch Berichte aus dieser Zeit besitzen, wenn auch die Fassung und Niederschrift, wie sie in dem ersten und dritten Evangelium[AU 3] vorliegt, sekundär sind. Der einzigartige Charakter der Evangelien ist heute von der Kritik allgemein anerkannt. Vor allem heben sie sich durch die Art der Erzählung von aller nachfolgenden Schriftstellerei ab. Diese litterarische Gattung, teils nach Analogie der jüdischen Lehrer-Erzählungen, teils durch das katechetische Bedürfnis gestaltet, diese so einfache und eindrucksvolle Form der Darstellung konnte schon nach einigen Jahrzehnten nicht mehr rein reproduziert werden. Seitdem das Evangelium auf den weiten griechisch-römischen Boden übergetreten war, eignete es sich die litterarischen Formen der Griechen an, und man empfand nun den Evangelienstil als etwas Fremdes, aber Erhabenes. Liegt doch die griechische Sprache gleichsam nur wie ein durchsichtiger Schleier über diesen Schriften, deren Inhalt sich auch mit leichter Mühe in das Hebräische oder Aramäische zurückübertragen läßt. Daß[15] wir hier in der Hauptsache primäre Überlieferung[AU 4] vor uns haben, ist unverkennbar.

Wie fest der Form nach diese Überlieferung war, das bezeugt uns das dritte Evangelium. Es ist, wahrscheinlich in der Zeit Domitian’s,[AU 5] von einem Griechen geschrieben, und in dem zweiten Teile seines Werkes, der Apostelgeschichte, – übrigens schon in der Vorrede zum ersten – beweist er uns, daß ihm die Büchersprache seines Volkes vertraut war, und er ein vortrefflicher Stilist gewesen ist. Aber in der evangelischen Erzählung hat er nicht gewagt, den ihm überlieferten Typus zu verlassen: er erzählt in der Sprache, der Satzverbindung, dem Kolorit, ja in vielem Detail genau so wie Marcus und Matthäus; nur die gröbsten, dem gebildeten Geschmack anstößigen Wendungen und Worte hat er mit schonender Hand korrigiert. Aber noch etwas ist uns in seinem Evangelium bemerkenswert: er versichert im Eingang, daß er „allem genau“ nachgegangen sei und viele Darstellungen eingesehen habe. Prüfen wir ihn aber auf seine Quellen, so finden wir, daß er sich hauptsächlich an das Marcusevangelium und an eine Quelle, die wir auch im Matthäusevangelium wieder finden, gehalten hat. Diese beiden Schriften schienen ihm, dem respektablen Geschichtschreiber, als die vorzüglichsten in der Menge der übrigen. Das bietet eine gute Gewähr für sie. Der Historiker hat diese Überlieferung durch keine andere zu ersetzen für möglich oder für nötig befunden.

Und noch eines – diese Überlieferung ist, abgesehen von der Leidensgeschichte, nahezu ausschließlich galiläisch. Wenn dieser geographische Horizont nicht wirklich der beherrschende in der Geschichte der öffentlichen Wirksamkeit Jesu gewesen wäre, hätte die Überlieferung nicht so berichten können; denn jede stilisierte Geschichtserzählung hätte ihn hauptsächlich in Jerusalem thätig sein lassen. So hat auch das vierte Evangelium erzählt. Daß unsre drei ersten Evangelien von Jerusalem fast ganz absehen, erweckt ein gutes Vorurteil für sie.

Allerdings, gemessen mit dem Maßstab der „Übereinstimmung, Inspiration und Vollständigkeit“, lassen diese Schriften sehr viel zu wünschen übrig, und auch nach einem menschlicheren Maßstab beurteilt, leiden sie an nicht wenigen Unvollkommenheiten. Zwar grobe Eintragungen aus einer späteren Zeit finden sich nicht – es wird immer denkwürdig bleiben, daß wiederum nur das vierte Evangelium Griechen nach Jesus fragen läßt –, aber hin und[16] her spiegeln sich doch auch in ihnen die Verhältnisse der Urgemeinde und die Erfahrungen, die sie in späterer Zeit gemacht hat. Doch ist man heute schneller mit solchen Ausdeutungen bei der Hand als nötig ist. Ferner hat die Überzeugung, daß sich in der Geschichte Jesu die alttestamentliche Weissagung erfüllt habe, trübend auf die Überlieferung gewirkt. Endlich erscheint das wunderbare Element in manchen Erzählungen offenbar gesteigert. Dagegen hat sich die Behauptung von Strauß, die Evangelien enthielten sehr viel „Mythisches“, nicht bewahrheitet, selbst wenn man den sehr unbestimmten und fehlerhaften Begriff des Mythischen, den Strauß in Anwendung bringt, gelten läßt. Fast nur in der Kindheitsgeschichte, und auch da nur spärlich, läßt es sich nachweisen. Alle diese Trübungen reichen nicht bis in das Innerste der Berichte hinein; nicht wenige von ihnen korrigieren sich für den Betrachtenden leicht, teils durch Vergleichung der Evangelien untereinander, teils durch das gesunde, an geschichtlichem Studium gereifte Urteil.

Aber das Wunderbare, alle diese Wunderberichte! Nicht nur Strauß, sondern auch viele andere haben sich durch sie so abschrecken lassen, daß sie ihretwegen die Glaubwürdigkeit der Evangelien rund verneint haben. Wiederum ist es ein großer Fortschritt, den die geschichtliche Wissenschaft im letzten Menschenalter gemacht hat, daß sie jene Erzählungen verständnisvoller und wohlwollender zu beurteilen gelernt hat und daher auch Wunderberichte als geschichtliche Quellen zu würdigen und zu verwerten vermag. Ich bin es Ihnen und der Sache schuldig, die Stellung, welche die geschichtliche Wissenschaft heute zu jenen Berichten einnimmt, kurz zu präzisieren.

Erstlich, wir wissen, daß die Evangelien aus einer Zeit stammen, in welcher Wunder, man darf sagen, fast etwas Alltägliches waren. Man fühlte und sah sich von Wundern umgeben – keineswegs nur in der Sphäre der Religion. Wir sind heute, abgesehen von einigen Spiritisten, gewohnt, die Wunderfrage ausschließlich mit der Religionsfrage in Beziehung zu setzen. In jener Zeit war es anders. Der Quellen, aus denen Wunder sprudelten, gab es viele. Irgend eine Gottheit wurde allerdings wohl bei jedem als wirksam vermutet – der Gott thut das Mirakel –; aber nicht zu jedem Gott stand man in einem religiösen Verhältnis. Den strengen Begriff ferner, den wir mit dem Worte Wunder verbinden, kannte man damals noch nicht; erst mit der Erkenntnis von Naturgesetzen und ihrer Geltung hat er sich[17] eingestellt. Bis dahin gab es keine sichere Einsicht in das, was möglich und unmöglich, was Regel und was Ausnahme sei. Wo darüber aber Unklarheit herrscht, bezw. wo diese Frage überhaupt noch nicht scharf gestellt wird, da giebt es keine Wunder im strengen Sinn des Worts. Eine Durchbrechung des Naturzusammenhangs kann von niemandem empfunden werden, der noch nicht weiß, was Naturzusammenhang ist. So konnten die Mirakel für jene Zeit gar nicht die Bedeutung haben, die sie für uns hätten, wenn es welche gäbe. Für sie waren alle Wunder eigentlich nur außerordentliche Ereignisse, und bildeten sie auch eine Welt für sich, so stand es eben fest, daß diese andere Welt an unzähligen Stellen in die unsrige geheimnisvoll eingreift. Nicht nur Götterboten, sondern auch Magier und Charlatane beherrschen einen Teil der wunderbaren Kräfte. Welche Bedeutung „Wunderthaten“ haben, war daher eine Kontroverse, die nie zur Ruhe kam: bald wertete man sie sehr hoch und verknüpfte sie auch mit dem Kern der Religion, bald sprach man geringschätzig von ihnen.

Zweitens, wir wissen jetzt, daß von hervorragenden Personen Wunder berichtet worden sind nicht erst lange nach ihrem Tode, auch nicht erst nach mehreren Jahren, sondern sofort, oft schon am nächsten Tage. Berichte lediglich deshalb als ganz unbrauchbar zu verwerfen oder in eine spätere Zeit zu rücken, weil sie auch Wundererzählungen enthalten, entspringt einem Vorurteil.

Drittens,[AU 6] wir sind der unerschütterlichen Überzeugung, daß, was in Raum und Zeit geschieht, den allgemeinen Gesetzen der Bewegung unterliegt, daß es also in diesem Sinn, d. h. als Durchbrechung des Naturzusammenhangs, keine Wunder geben kann. Aber wir erkennen auch, daß der religiöse Mensch – wenn ihn wirklich die Religion durchdringt und er nicht nur an die Religion anderer glaubt –, dessen gewiß ist, daß er nicht eingeschlossen ist in einen blinden und brutalen Naturlauf, sondern daß dieser Naturlauf höheren Zwecken dient, bezw. daß man ihm durch eine innere, göttliche Kraft so zu begegnen vermag, daß „alles zum Besten dienen muß“[WS 2]. Diese Erfahrung – ich möchte sie in das Wort zusammenfassen: wir können frei werden von der Macht und vom Dienst des vergänglichen Wesens – wird an den einzelnen Erlebnissen immer wieder wie ein Wunder empfunden werden; sie ist von jeder höheren Religion unabtrennlich: diese würde zusammenstürzen, wenn sie sie aufgäbe. Jene Erfahrung gilt aber ebenso[18] für das Leben des einzelnen wie für den großen Gang der Menschheitsgeschichte. Wie streng und klar muß aber dann das Denken eines religiösen Menschen sein, wenn er trotzdem an der Erkenntnis der Unverbrüchlichkeit des raumzeitlichen Geschehens festhält! Wer kann sich wundern, daß selbst hohe Geister die Gebiete nicht rein zu scheiden vermögen? Und da wir alle in erster Linie nicht in Begriffen, sondern in Anschauungen leben und in einer Bildersprache – wie läßt es sich vermeiden, daß wir das Göttliche und das, was zur Freiheit führt, auffassen als eine mächtige Kraft, die in den Naturzusammenhang eingreift, ihn durchbricht oder aufhebt? Diese Vorstellung, obgleich sie nur der Phantasie angehört und bildlich ist, wird, so scheint es, bleiben, so lange es Religion giebt.

Viertens endlich, der Naturzusammenhang ist unverbrüchlich; aber die Kräfte, die in ihm thätig sind und mit anderen Kräften in Wechselwirkung stehen, kennen wir längst noch nicht alle. Wir kennen noch nicht einmal die materiellen Kräfte lückenlos und den Spielraum ihrer Wirkungen; wir wissen aber noch viel weniger von den psychischen Kräften. Wir sehen, daß ein fester Wille und ein überzeugter Glaube einwirken auch auf das leibliche Leben und Erscheinungen hervorrufen, die uns wie Wunder anmuten. Wer hat hier bisher den Bereich des Möglichen und Wirklichen sicher abgemessen? Niemand. Wer kann sagen, wie weit die Einwirkungen der Seele auf die Seele und der Seele auf den Körper reichen? Niemand. Wer darf noch behaupten, daß all das, was auf diesem Gebiete an Auffallendem zu Tage tritt, nur auf Täuschung und Irrtum beruht? Gewiß, es geschehen keine Wunder, aber des Wunderbaren und Unerklärlichen giebt es genug. Weil wir das heute wissen, sind wir auch vorsichtiger und im Urteil zurückhaltender geworden gegenüber Wunderberichten aus dem Altertum. Daß die Erde in ihrem Lauf je stille gestanden, daß eine Eselin gesprochen hat, ein Seesturm durch ein Wort gestillt worden ist, glauben wir nicht und werden es nie wieder glauben; aber daß Lahme gingen, Blinde sahen und Taube hörten, werden wir nicht kurzer Hand als Illusion abweisen.

Aus diesen Andeutungen mögen Sie selbst die richtige Stellung zu den evangelischen Wunderberichten entwickeln und das Facit ziehen. Im einzelnen, d. h. bei der Anwendung auf die konkreten Wundererzählungen, wird immer eine gewisse Unsicherheit nachbleiben. Soviel ich sehe, lassen sich hier folgende Gruppen[19] bilden: 1. Wunderberichte, die aus Steigerungen natürlicher, eindrucksvoller Vorgänge entstanden sind, 2. Wunderberichte, die aus Reden und Gleichnissen oder aus der Projektion innerer Vorgänge in die Außenwelt entstanden sind, 3. solche, die dem Interesse, alttestamentliche Berichte erfüllt zu sehen, entstammt sind, 4. von der geistigen Kraft Jesu gewirkte, überraschende Heilungen, 5. Undurchdringliches. Sehr beachtenswert ist es aber, daß Jesus selbst auf seine Wunderthaten nicht das entscheidende Gewicht gelegt hat, welches schon der Evangelist Marcus und die anderen alle ihnen beilegen. Hat er doch klagend und anklagend ausgerufen: „Wenn ihr nicht Zeichen und Wunder seht, so glaubt ihr nicht!“[WS 3] Wer diese Worte gesprochen hat, kann nicht der Meinung gewesen sein, der Glaube an seine Wunder sei die rechte oder gar die einzige Brücke zur Anerkennung seiner Person und seiner Mission; er muß vielmehr über sie wesentlich anders gedacht haben als seine Evangelisten. Und die merkwürdige Thatsache, die eben diese Evangelisten, ohne ihre Tragweite zu würdigen, überliefert haben: „Jesus konnte daselbst kein Wunder thun; denn sie glaubten ihm nicht“[WS 4], zeigt noch von einer anderen Seite her, wie vorsichtig wir die Wundererzählungen aufzunehmen und in welche Sphäre wir sie zu rücken haben.

Es folgt aus alledem, daß wir uns nicht hinter die evangelischen Wunderberichte verschanzen dürfen, um dem Evangelium zu entfliehen. Trotz jener Erzählungen, ja zum Teil auch in ihnen tritt uns hier eine Wirklichkeit entgegen, die auf unsere Teilnahme Anspruch erhebt. Studieren Sie sie und lassen Sie sich nicht abschrecken durch diese oder jene Wundergeschichte, die Sie fremd und frostig berührt. Was Ihnen hier unverständlich ist, das schieben Sie ruhig beiseite. Vielleicht müssen Sie es für immer unbeachtet lassen, vielleicht geht es Ihnen später in einer ungeahnten Bedeutung auf. Noch einmal sei es gesagt: lassen Sie sich nicht abschrecken! Die Wunderfrage ist etwas relativ Gleichgültiges gegenüber allem anderen, was in den Evangelien steht. Nicht um Mirakel handelt es sich, sondern um die entscheidende Frage, ob wir hilflos eingespannt sind in eine unerbittliche Notwendigkeit, oder ob es einen Gott giebt, der im Regimente sitzt und dessen naturbezwingende Kraft erbeten und erlebt werden kann.


Unsere Evangelien erzählen uns bekanntlich keine Entwicklungs-[20] geschichte Jesu; sie berichten nur von seiner öffentlichen Wirksamkeit. Zwei Evangelien enthalten allerdings eine Vorgeschichte (Geburtsgeschichte), aber wir dürfen sie unbeachtet lassen; denn selbst wenn sie Glaubwürdigeres enthielte als sie wirklich enthält, wäre sie für unsere Zwecke so gut wie bedeutungslos. Die Evangelisten selbst nämlich weisen niemals auf sie zurück oder lassen Jesum selbst sich auf jene Vorgänge zurückbeziehen. Im Gegenteil – sie erzählen, daß die Mutter und Geschwister Jesu von seinem Auftreten völlig überrascht gewesen seien und sich nicht in dasselbe zu finden vermocht haben. Auch Paulus schweigt, so daß wir gewiß sein können, daß die älteste Überlieferung die Geburtsgeschichten nicht gekannt hat.

Wir wissen nichts von der Geschichte Jesu in den ersten dreißig Jahren seines Lebens. Ist das nicht eine schreckliche Ungewißheit? Was bleibt uns, wenn wir unsere Aufgabe mit dem Eingeständnis beginnen müssen, daß wir kein Leben Jesu zu schreiben vermögen? Wie können wir aber die Geschichte eines Mannes schreiben, von dessen Entwickelung wir gar nichts wissen, und von dessen Leben uns nur ein oder zwei Jahre bekannt sind? Nun, so gewiß unsre Quellen für eine „Biographie“ nicht ausreichen, so inhaltsreich sind sie doch in anderer Beziehung, und auch ihr Schweigen über die ersten dreißig Jahre lehrt uns etwas. Inhaltsreich sind sie, weil sie uns über drei wichtige Punkte Aufschluß geben; denn sie bieten uns erstlich ein anschauliches Bild von der Predigt Jesu, sowohl in Hinsicht der Grundzüge als der Anwendung im einzelnen; sie berichten zweitens den Ausgang seines Lebens im Dienste seines Berufs, und sie schildern uns drittens den Eindruck, den er auf seine Jünger gemacht hat und den sie fortgepflanzt haben.

Das sind in der That drei bedeutende, ja es sind die entscheidenden Punkte. Weil wir hier klar sehen, ist es möglich, ein Charakterbild Jesu zu zeichnen oder – bescheidener gesprochen: der Versuch ist nicht aussichtslos, zu erkennen, was er gewollt hat, wie er gewesen ist und was er uns bedeutet.

Was aber jene dreißig Jahre des Schweigens betrifft, so entnehmen wir unseren Evangelien, daß Jesus nicht für nötig befunden hat, seinen Jüngern darüber etwas mitzuteilen. Aber negativ vermögen wir hier doch manches zu sagen. Erstlich, es ist sehr unwahrscheinlich, daß er durch die Schulen der Rabbinen gegangen[21] ist; nirgendwo spricht er wie einer, der sich technisch-theologische Bildung und die Kunst gelehrter Exegese angeeignet hat. Wie deutlich erkennt man dagegen aus den Briefen des Apostels Paulus, daß er zu den Füßen theologischer Lehrer gesessen! Bei Jesus finden wir nichts hiervon, es machte daher Aufsehen, daß er überhaupt in den Schulen auftrat und lehrte. In der heiligen Schrift lebte und webte er, aber nicht wie ein berufsmäßiger Lehrer.

Ferner, zu den Essenern, einem merkwürdigen jüdischen Mönchsorden, kann er keine Beziehungen gehabt haben. Hätte er ja welche besessen, so wäre er einer jener Schüler gewesen, die die Abhängigkeit von ihren Meistern dadurch bewähren, daß sie das Gegenteil von dem verkündigen und thun, was sie gelernt haben. Die Essener hielten auf gesetzliche Reinheit bis zum Äußersten und schlossen sich strenge nicht nur gegen die Unreinen, sondern auch gegen die Laxeren ab. Ihre peinliche Absonderung, das Wohnen in bestimmten Ortschaften, ihre täglichen zahlreichen Waschungen lassen sich nur von hier aus verstehen. Bei Jesus finden wir den vollen Gegensatz zu dieser Lebensweise: er sucht die Sünder auf und ißt mit ihnen. Schon dieser fundamentale Unterschied macht es sicher, daß er den Essenern ganz fern gestanden hat. In den Zielen und Mitteln ist er von ihnen geschieden. Wenn er in manchen Einzelanweisungen an seine Jünger mit ihnen zusammenzutreffen scheint, so sind das zufällige Berührungen; denn die Motive waren völlig andere.

Weiter, wenn nicht alles trügt, liegen hinter der uns offenbaren Zeit des Lebens Jesu keine gewaltigen Krisen und Stürme, kein Bruch mit seiner Vergangenheit. Nirgendwo in seinen Sprüchen und Reden, mag er drohen und strafen oder freundlich locken und rufen, mag er von seinem Verhältnis zum Vater oder zur Welt sprechen, bemerkt man überstandene innere Umwälzungen oder die Narben eines furchtbaren Kampfes. Wie selbstverständlich, als könnte es nicht anders sein, strömt alles bei ihm hervor – so bricht der Quell aus den Tiefen der Erde, klar und ungehemmt. Nun zeige man uns den Menschen, der mit dreißig Jahren so sprechen kann, wenn er heiße Kämpfe hinter sich hat, Seelenkämpfe, in denen er schließlich das verbrannt hat, was er einst angebetet, und das angebetet, was er verbrannt hat! Man zeige uns den Menschen, der mit seiner Vergangenheit gebrochen hat, um dann auch die anderen zur Buße zu rufen, der aber dabei von seiner[22] eigenen Buße niemals spricht! Diese Beobachtung schließt es aus, daß sein Leben in inneren Kontrasten verlaufen ist, mag es auch an tiefen Bewegungen, an Versuchungen und Zweifeln nicht gefehlt haben.

Endlich noch eines – das Lebensbild und die Reden Jesu zeigen kein Verhältnis zum Griechentum. Fast muß man sich darüber wundern; denn Galiläa war voll von Griechen, und griechisch wurde damals in vielen seiner Städte gesprochen, etwa wie heute in Finnland schwedisch. Griechische Lehrer und Philosophen gab es daselbst, und es ist kaum denkbar, daß Jesus ihrer Sprache ganz unkundig gewesen ist. Aber daß er irgendwie von ihnen beeinflußt worden, daß die Gedanken Plato’s oder der Stoa, sei es auch nur in irgend welcher populären Umbildung, an ihn gekommen sind, läßt sich schlechterdings nicht behaupten. Freilich, wenn der religiöse Individualismus, Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott, wenn der Subjektivismus, wenn die volle Selbstverantwortlichkeit des einzelnen, wenn die Loslösung des Religiösen von dem Politischen – wenn das alles nur griechisch ist, dann steht auch Jesus in dem Zusammenhang der griechischen Entwicklung, dann hat auch er reine griechische Luft geatmet und aus den Quellen der Griechen getrunken. Aber es läßt sich nicht nachweisen, daß nur auf dieser Linie, nur im Volke der Hellenen, diese Entwicklung stattgefunden hat; das Gegenteil läßt sich vielmehr zeigen: auch andere Nationen sind zu ähnlichen Erkenntnissen und Stimmungen fortgeschritten – fortgeschritten allerdings in der Regel erst, nachdem Alexander der Große die Schlagbäume und Zäune, welche die Völker trennten, niedergerissen hatte. Das griechische Element ist gewiß in der Mehrzahl der Fälle der befreiende und fördernde Faktor auch für sie gewesen. Aber ich glaube nicht, daß der Psalmist, der die Worte gesprochen hat: „Herr, wenn ich nur Dich habe, frage ich nicht nach Himmel und Erde“[WS 5] – je etwas von Sokrates oder von Plato gehört hat.

Genug, aus dem Schweigen über die dreißig ersten Jahre Jesu und aus dem, was die Evangelien von der Zeit seiner Berufswirksamkeit nicht berichten, läßt sich Wichtiges lernen.


Er lebte in der Religion, und sie war ihm Atmen in der Furcht Gottes; sein ganzes Leben, all sein Fühlen und Denken, war in das Verhältnis zu Gott aufgenommen, und doch – er hat nicht[23] gesprochen wie ein Schwärmer und Fanatiker, der nur einen rotglühenden Punkt sieht und dem die Welt und alles, was in ihr ist, deshalb verschwindet. Er hat seine Predigten gesprochen und in die Welt geschaut mit dem frischen und hellen Auge für das große und kleine Leben, das ihn umgab. Er verkündigte, daß der Gewinn der ganzen Welt nichts bedeute, wenn die Seele Schaden nähme, und er ist doch herzlich und teilnehmend geblieben für alles Lebendige. Das ist das Erstaunlichste und Größte! Seine Rede, gewöhnlich in Gleichnisse und Sprüche gefaßt, zeigt alle Grade menschlicher Rede und die ganze Stufenleiter der Affekte. Die härtesten Töne leidenschaftlicher Anklage und zornigen Gerichts, ja selbst die Ironie, verschmäht er nicht; aber sie müssen doch die Ausnahme gebildet haben. Eine stille, gleichmäßige Sammlung, alles auf ein Ziel gerichtet, beherrscht ihn. In der Ekstase spricht er niemals,[AU 7] und den Ton aufgeregter Prophetenrede findet man selten. Mit der größten Mission betraut, bleibt sein Auge und Ohr für jeden Eindruck des Lebens um ihn offen – ein Beweis intensiver Ruhe und geschlossener Sicherheit. „Trauern und Weinen, Lachen und Hüpfen, Reichtum und Armut, Hunger und Durst, Gesundheit und Krankheit, Kinderspiel und Politik, Sammeln und Zerstreuen, Abreise vom Haus, Herberge und Heimkehr, Hochzeit und Totentrauer, der Luxusbau der Lebenden und das Grabmal des Toten, der Säemann und der Schnitter auf dem Felde, der Winzer in den Reben, die müßigen Arbeiter auf den Märkten, der suchende Hirt auf dem Felde, der Perlen handelnde Kaufmann auf der See und wieder daheim die Sorge des Weibes um Weizenmehl und Sauerteig oder um eine verlorene Drachme, die Klage der Witwe vor dem mürrischen Amtmann, die irdische Speise und ihr Vergehen, das geistige Verhältnis von Lehrer und Schüler; hier Königsglanz und Herrschsucht der Machthaber, dort Kindesunschuld und Dienerfleiß – all diese Bilder beleben seine Reden und machen sie anschaulich auch für Kinder am Geist.“[WS 6] Sie sagen mehr als nur dies, daß er in Bildern und Gleichnissen gesprochen hat. Sie zeigen eine innere Freiheit und Heiterkeit der Seele inmitten der höchsten Anspannung, wie sie kein Prophet vor ihm besessen hat. Sein Auge weilt freundlich auf den Blumen und Kindern, auf der Lilie des Feldes – Salomo in aller seiner Pracht ist nicht also bekleidet gewesen – auf den Vögeln unter dem Himmel und den Sperlingen auf dem Dach. Das Überweltliche, in dem er lebte,[24] zerstörte ihm diese Welt nicht; nein, alles in ihr bezog er auf den Gott, den er kannte, und sah es in ihm geschützt und bewahrt: „Euer Vater im Himmel ernährt sie.“[WS 7] Die Gleichnisrede ist ihm die Vertrauteste. Unmerklich aber gehen Gleichnis und Teilnahme ineinander über. Er, der nicht hatte, da er sein Haupt hinlegte, spricht doch nicht wie einer, der mit allem gebrochen hat, nicht wie ein heroischer Büßer, nicht wie ein ekstatischer Prophet, sondern wie ein Mann, der Ruhe und Friede hat für seine Seele, und der andere zu erquicken vermag. Er schlägt die gewaltigsten Töne an; er stellt den Menschen vor eine unerbittliche Entscheidung; er läßt ihm keinen Ausweg, und wiederum – das Erschütterndste ist ihm wie selbstverständlich, und er spricht es wie das Selbstverständliche aus; er kleidet es in die Sprache, in der eine Mutter zu ihrem Kinde spricht.




Anmerkungen des Autors (1908)

  1. „erdachte Situationen“ – das ist vielleicht zuviel gesagt; streng beweisen läßt es sich nicht, daß irgendeine Situation im Buche vom Verfasser selbst erdacht ist, aber bei einigen liegt die Annahme doch sehr nahe.
  2. „in großem Umfange“ – ist mißverständlich, wenn es rein quantitativ verstanden wird; aber in der dem Matthäus und dem Lukas gemeinsamen Quelle sowie in zahlreichen Abschnitten des Markus besitzen wir allerdings umfangreiche und wesentlich zuverlässige Sammlungen von Sprüchen und Taten Jesu (s. meine Schrift über die Sprüche und Reden Jesu, Leipzig, 1907).
  3. „in dem ersten und dritten Evangelium“ – auch das zweite Evangelium kann man hier hinzufügen, sofern sein Verfasser zwar wahrscheinlich eine bekannte jerusalemische Persönlichkeit des apostolischen Zeitalters gewesen ist, aber kein Augenzeuge des Lebens Jesu. Er hat auch keineswegs nur apostolische Erinnerungen wiedergegeben, sondern in größerem Umfang aus einer bereits kurrenten Überlieferung geschöpft.
  4. „in der Hauptsache primäre Überlieferung“ – aber die primäre Überlieferung ist auch nicht reine Überlieferung, sondern bereits durch das Medium der Glaubensanschauungen und -urteile gegangen. Statt „in der Hauptsache“ ist „in zahlreichen Abschnitten“ zu sagen.
  5. „wahrscheinlich in der Zeit Domitians“ – besser: spätestens in der Zeit Domitians.
  6. Was hier in dem letzten Abschnitt und in dem ersten auf S. 18 (unter „Viertens“) ausgeführt worden ist, ist von einigen lauernden Kritikern so mißverstanden worden, als ließe ich durch die Hintertür doch das Wunder zu. Ich vermag mir das Mißverständnis nicht zu erklären und kann an den Worten nichts ändern.
  7. „in der Ekstase spricht er niemals“ – aber ein visionäres Element ist nicht auszuschließen, wenn die Erzählung von der Versuchung auf Jesu selbst zurückzuführen ist, s. auch Luk. 10,18; aber dieser für sich allein stehende Spruch ist schwerlich echt, und die Versuchungsgeschichte kann auch anders entstanden sein.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 7,29.
  2. Röm 8,28.
  3. Joh 4,48.
  4. Mt 13,58; Mk 6,6. Das Zitat wird in späteren Ausgaben indirekt formuliert: „... haben, Jesus habe in Nazareth deshalb kein Wunder thun können, weil die Leute dort ungläubig waren, zeigt...“.
  5. Ps 73,25.
  6. Paul Wilhelm Schmidt (1845–1917), Die Geschichte Jesu, Freiburg 1899, S. 53 (mit kleinen unwesentlichen Änderungen zitiert).
  7. Mt 6,26.


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