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Das Wesen des Christentums/Zwölfte Vorlesung

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Das Wesen des Christentums
Dreizehnte Vorlesung »
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[131]
Zwölfte Vorlesung.




Wer die innere Lage der Christenheit am Anfang des dritten Jahrhunderts mit der vergleicht, in der sie sich 120 Jahre zuvor befunden hat, wird von konträren Empfindungen und Urteilen bewegt. Einerseits steht er bewundernd vor der kraftvollen Leistung, die sich in der Schöpfung der katholischen Kirche darstellt, bewundernd auch vor der Energie, mit der sich diese Kirche nach allen Seiten ausgebaut und bethätigt hat, andererseits vermißt er mit Teilnahme so vieles Unmittelbare, Freie, aber innerlich Gebundene, was die älteste Zeit besaß. Er muß dankbar konstatieren, daß diese Kirche alle Versuche, die christliche Religion einfach in die Zeitvorstellungen zerfließen zu lassen, abgewehrt und daß sie sich wider die „akute Hellenisierung“ geschützt hat; aber er kann doch nicht verkennen, daß sie einen hohen Preis für ihre Selbstbehauptung bezahlen mußte. Wir wollen die Veränderung, die sich an ihr vollzogen hat und die wir schon berührt haben, noch etwas genauer feststellen:

1. Im Vordergrund steht die Gefährdung der Freiheit und Selbständigkeit in der Religion. Keiner soll sich als Christ, d. h. als Gotteskind, fühlen und beurteilen dürfen, der nicht zuvor seine religiöse Erfahrung und Erkenntnis der Kontrolle des kirchlichen Bekenntnisses unterworfen hat. Dem „Geist“ sind die engsten Schranken gezogen, und es wird ihm verboten, zu wirken wo und wie er will. Ja noch mehr, der einzelne soll, besondere Fälle abgerechnet, nicht nur mit der Unmündigkeit und dem kirchlichen Gehorsam anfangen, er soll auch nie ganz mündig werden, d. h. er soll die Abhängigkeit von der Lehre, dem Priester, dem Kultus und[132] dem „Buch“ niemals verlieren. Was wir noch heute spezifisch-katholische Frömmigkeit im Unterschied von evangelischer nennen, hat damals seinen Ursprung genommen. Die Unmittelbarkeit der Religion hat einen Sprung bekommen, und dem einzelnen ist es außerordentlich schwer gemacht, sie für sich wieder herzustellen.

2. Die akute Hellenisierung wurde abgewehrt, aber der griechisch-philosophische Gedanke, daß die wahre Religion in erster Linie „Lehre“ sei und zwar Lehre, die sich über den gesamten Kreis des Wissens erstrecke, fand immer mehr Eingang in die Christenheit. Es lag gewiß darin ein Beweis für die innere Kraft der christlichen Religion, daß dieser Glaube „der Sklaven und alten Weiber“ die ganze griechische Gott-Welt-Philosophie an sich zog und als seinen eigenen Inhalt umzuschmelzen und mit der Predigt von Jesus Christus zu vereinigen unternahm; aber eine Verschiebung des Grundinteresses der Religion und eine ungeheure Belastung mußten die Folge sein. Die Frage: „Was muß ich thun, daß ich selig werde“[WS 1], die Jesus Christus und die Apostel noch sehr kurz zu beantworten vermochten, erhielt nun eine sehr weitläufige Antwort, und mochten auch die Laien noch mit kürzeren Antworten bedacht werden – in dem Maße galten sie als die Unvollkommenen, die auf den Gehorsam den Wissenden gegenüber angewiesen seien. Die christliche Religion hat schon damals jene Richtung auf den Intellektualismus erhalten, die ihr in der Folgezeit geblieben ist. Wenn sie sich aber als ein „lang, breit ausgestreckt Ding“ darstellt, als eine schwierige und weitschichtige Lehre, so ist sie nicht nur belastet, sondern ihr Ernst droht auch zu schwinden; dieser haftet daran, daß das erschütternde und das beseligende Element unmittelbar zugänglich erhalten wird. Gewiß hat diese Religion den Trieb in sich, sich mit allen Erkenntnissen und mit dem gesamten geistigen Leben auseinanderzusetzen, aber wenn das, was hier gewonnen wird – vorausgesetzt selbst, es entspräche stets der Wirklichkeit und Wahrheit –, für gleich verbindlich gilt wie die evangelische Botschaft oder gar für ihre Voraussetzung, so leidet die Religion Schaden. Dieser Schade ist bereits am Anfang des 3. Jahrhunderts unverkennbar.

3. Das Kircheninstitut erhielt einen besonderen, selbständigen Wert; es wurde zu einer religiösen Größe. Ursprünglich lediglich Ausgestaltung der Brudergemeinde, Stätte und Form für die gemeinsame Gottesverehrung, und geheimnisvolle Abschattung der[133] himmlischen Kirche, wurde es nun als Institut zu etwas Unumgänglichem in der Religion. In dieses Institut, so lehrte man, hat der Geist Christi alles hineingelegt, was der einzelne bedarf; er ist deshalb nicht nur in der Liebe, sondern auch im Glauben ganz an dasselbe gebunden; der Geist wirkt nur hier, und alle seine Gnadengaben sind daher nur hier zu finden. Daß in der Regel der einzelne Christ, der sich nicht dem kirchlichen Institut unterordnete, ins Heidentum zurückfiel, in schlimme Irrlehren geriet oder unsittlich wurde, war freilich eine Thatsache. Sie hatte im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Gnostiker die Wirkung, daß jenes Institut samt allen seinen Einrichtungen und Formen mehr und mehr mit der „Braut Christi“[WS 2], dem „wahren Jerusalem“ u. s. w. identifiziert wurde und sich demgemäß selbst als die unantastbare Schöpfung Gottes und als die irreformable Anstalt des heiligen Geistes proklamierte. Folgerecht begann es, alle seine Anordnungen für gleich heilig auszugeben. Welche Belastung die Freiheit der Religion dadurch erlitt, braucht nicht ausgeführt zu werden.

4. Endlich – es ist im zweiten Jahrhundert das Evangelium nicht mit derselben Kraft wie im ersten als frohe Botschaft verkündet worden. Die Gründe dafür sind mannigfacher Art gewesen, teils war das eigene Erlebnis nicht so stark, wie es ein Paulus und wie es der Verfasser des vierten Evangeliums empfunden hat, teils blieb die vorherrschende eschatologische Erwartung, die jene Lehrer durch eine tiefere Predigt beschränkt hatten, durchschlagend. Furcht und Hoffnung treten in dem Christentum des zweiten Jahrhunderts stärker hervor als bei Paulus, und nur scheinbar steht jenes damit den Sprüchen Jesu näher als dieses; denn in der Verkündigung Jesu ist, wie wir gesehen haben, die Predigt von Gott als dem Vater das Hauptstück. Das ist aber, wie Röm. 8 beweist, eben die Erkenntnis, die Paulus in seiner Verkündigung vom Glauben zum Ausdruck gebracht hat. Indem nun in dem Christentum des zweiten Jahrhunderts die Furcht einen größeren Spielraum erhielt – und dieser Spielraum erweiterte sich, je mehr sich die ursprüngliche Lebendigkeit abstumpfte und die Weltförmigkeit stärker um sich griff –, wurde die Ethik unfreier, gesetzlicher und rigoristischer. Der Rigorismus ist ja stets die Kehrseite der Weltlichkeit. Da es aber unmöglich erschien, eine rigoristische Ethik allen zuzumuten, so stellte sich schon in dem werdenden Katholizismus die Unterscheidung einer vollkommenen und einer[134] eben noch ausreichenden Sittlichkeit ein. Daß die Wurzeln dieser Unterscheidung noch weiter zurückreichen, kann hier auf sich beruhen bleiben; verhängnisvoll ist sie erst gegen Ende des zweiten Jahrhunderts geworden. Aus der Not geboren und zur Tugend gemacht, wurde sie bald so wichtig, daß die Existenz des Christentums als katholischer Kirche von ihr abhing. Die Einheitlichkeit des christlichen Ideals wurde durch sie verwirrt und eine quantitative Betrachtung der sittlichen Leistung nahe gelegt, die das Evangelium nicht kennt. Wohl unterscheidet es starken und schwachen Glauben und größere und geringere sittliche Leistung, aber der Geringste im Reiche Gottes kann in seiner Art vollkommen sein.

In diesen Momenten zusammen sind die wesentlichen Veränderungen bezeichnet, welche die christliche Religion bis zum Anfang des dritten Jahrhunderts erlebt hat und durch welche sie modifiziert worden ist. Hat sich das Evangelium dennoch behauptet, und wie läßt sich das konstatieren? Nun, man vermag auf eine ganze Reihe von Urkunden zu verweisen, die, soweit geschriebenes Wort ein Zeugnis vom inneren, wahrhaft christlichen Leben ablegen kann, dieses aufs reinste und in ergreifender Weise bekunden. In Märtyrerakten wie die der Perpetua und Felicitas[WS 3], oder in Gemeindebriefen wie der von Lyon nach Kleinasien[WS 4], spricht sich der christliche Glaube und die Kraft und Zartheit der sittlichen Empfindung so herrlich aus wie nur in den Tagen der Grundlegung; alles das aber, was sich seitdem in der äußeren Ausgestaltung der Kirche vollzogen hatte, kommt gar nicht zum Ausdruck. Der Weg zu Gott ist sicher gefunden, und die Einfalt des inneren Lebens erscheint nicht verwirrt oder belastet. Nehmen wir ferner einen Schriftsteller wie den christlichen Religionsphilosophen <span title="Titus Flavius Clemens, griech. Klemes Alexandreus, Κλήμης Ἀλεξανδρεύς (* um 150 in Athen; † um 215 in Kappadokien), heute als „Clemens von Alexandria“ (Clemens Alexandrinus) bekannt, war ein griechischer Theologe und Kirchenschriftsteller." class="anno" style="color: #00AA00;;">Clemens Alexandrinus, der um d. J. 200 gelebt hat. An seinen Schriften empfinden wir noch jetzt: dieser Gelehrte – obgleich ganz eingetaucht in Spekulationen und als Denker die christliche Religion in ein uferloses Meer von „Lehren“ verwandelnd, Hellene bis in die letzte Faser – hat doch an dem Evangelium Friede und Freude gewonnen, und er vermag auch auszusprechen, was er gewonnen hat, und kann zeugen von der Kraft des lebendigen Gottes. Er erscheint als ein neuer Mensch und ist durch alle Philosophie, durch Autorität und Spekulation, durch die ganze äußere Religion hindurchgedrungen zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Alles, sein Vorsehungsglaube, sein Glaube an Christus, seine Freiheitslehre, seine Ethik, ist in Worten ausgedrückt,[135] die den Griechen zeigen, und alles ist doch neu und wahrhaft christlich. Vergleicht man ihn aber weiter mit einem Christen ganz anderen Schlages, nämlich mit seinem Zeitgenossen Tertullian, so ist leicht zu zeigen: was ihnen in der Religion gemeinsam ist, ist das, was sie am Evangelium erfahren haben, ja ist das Evangelium selbst. Und wenn man Tertullian’s Auslegung des Vaterunser liest und überdenkt, so erkennt man, daß dieser heißblütige Afrikaner, dieser strenge Ketzerbestreiter, dieser entschlossene Vertreter der „auctoritas“ und „ratio“, dieser rechthaberische Advokat, dieser Kirchenmann und Enthusiast zugleich – doch ein tiefes Gefühl für die Hauptsache im Evangelium und auch eine gute Erkenntnis desselben besessen hat. Diese altkatholische Kirche hat das Evangelium wahrlich noch nicht erdrückt!

Weiter, sie hat auch noch den entscheidenden Gedanken, daß sich die christliche Gemeinschaft als werkthätiger Bruderbund darstellen müsse, in Kraft erhalten und in einer die folgenden Generationen in der Kirche beschämenden Weise zum Ausdruck gebracht.

Endlich, darüber kann kein Zweifel sein, und ein so wahrheitsliebender Mann wie Origenes bestätigt es uns, aber auch heidnische Schriftsteller, wie Lucian, bezeugen es: die Hoffnung eines ewigen Lebens, das volle Vertrauen auf Christus, Opferwilligkeit und Sittenreinheit, trotz aller Schwächen, die auch hier nicht fehlten, waren noch immer die wirklichen Merkmale dieses Bundes. Origenes kann seine heidnischen Gegner auffordern, sie mögen doch irgend eine Stadtgemeinde mit einer Christengemeinde vergleichen und urteilen, wo die größere sittliche Tüchtigkeit zu finden ist. Gewiß, um diese Religion hatten sich bereits eine Schale und ein Mantel gebildet; es war schwerer geworden, zu ihr selbst durchzudringen und den Kern zu erfassen; sie hatte auch manches von ihrem ursprünglichen Leben eingebüßt. Aber die Gaben und Aufgaben des Evangeliums wurden noch immer in Kraft erhalten, und der Aufbau, den die Kirche um diese gezimmert hatte, diente doch auch Manchem als Stufen, auf denen er zur Sache selbst gelangte. –

Wir gehen weiter und betrachten nun

Die christliche Religion im griechischen Katholizismus.

Ich muß sie auffordern, sofort mit mir um viele Jahrhunderte hinunterzusteigen und die griechische Kirche zu betrachten, wie[136] sie heute ist und wie sie sich schon seit mehr als einem Jahrtausend wesentlich unverändert behauptet. Wir sehen zwischen dem dritten und dem neunzehnten Jahrhundert in der Kirchengeschichte des Orients nirgendwo einen tiefen Einschnitt. Eben deshalb dürfen wir unsern Standort in der Gegenwart nehmen. Wir stellen aber wiederum folgende drei Fragen:

Was hat dieser griechische Katholizismus geleistet?

Wodurch ist er charakterisiert?

Wie ist das Evangelium in ihm modifiziert worden, und wie hat es sich behauptet?

1. Was hat dieser griechische Katholizismus geleistet? Man darf hier auf ein Doppeltes verweisen: Erstlich, er hat in dem großen Gebiete, welches er einnimmt, in den Ländern des östlichen Mittelmeers und hinauf bis ans Eismeer, dem Heidentum und dem Polytheismus überhaupt ein Ende gemacht. Der entscheidende Sieg hat sich vom 3. bis zum 6. Jahrhundert vollzogen und so vollzogen, daß die Götter Griechenlands wirklich untergegangen sind, sang- und klanglos untergegangen. Nicht in einer großen Katastrophe, sondern ohne einen erheblichen Widerstand zu leisten, sind sie an Entkräftung gestorben. Daß sie einen beträchtlichen Teil ihrer Kraft vorher den kirchlichen Heiligen abgegeben haben, mag hier nur angedeutet sein. Mit den Göttern, und das will mehr sagen, ist aber auch der Neuplatonismus, die letzte große Hervorbringung des griechischen philosophischen Geistes, überwunden worden. Die kirchliche Religionsphilosophie erwies sich stärker als diese. Der Sieg über den Hellenismus ist eine Großthat der östlichen Kirche, von der sie noch immer zehrt. Zweitens, diese Kirche hat es verstanden, sich mit den einzelnen Völkern, die sie in sich hineingezogen hat, so zu verschmelzen, daß ihnen Religion und Kirche zu nationalen Palladien geworden sind, ja zu den Palladien. Gehen Sie zu den Griechen, zu den Russen, zu den Armeniern etc. – überall werden Sie finden, daß Kirche und Volkstum nicht zu trennen sind, und daß das eine Element nur in und mit dem anderen existiert. Für ihre Kirche lassen sich die Angehörigen dieser Nationen, wenn es sein muß, in Stücke hauen. Das ist nicht nur die Folge des Druckes der feindlichen Macht des Islam; auch bei den Russen, die doch nicht unter diesem Drucke stehen, ist es nicht anders. Wie innig und fest das Verhältnis zwischen Kirche und Volk bei ihnen ist, trotz der „Sekten“, welche auch hier nicht fehlen, lehrt nicht etwa nur die moskowitische[137] Presse; man muß – um ein Beispiel herauszugreifen – die „Dorfgeschichten“ Tolstoi’s lesen, um sich davon zu überzeugen. Wahrhaft ergreifend tritt dem Leser hier entgegen, wie tief die Kirche mit ihrer Predigt vom Ewigen, von der Selbstaufopferung, dem Mitleiden und der Brüderlichkeit in die Volksseele eingedrungen ist. Die niedrige Stufe, auf welcher der Klerus steht, und die Mißachtung, mit der ihm vielfach begegnet wird, dürfen darüber nicht täuschen, daß er als Repräsentant der Kirche eine unvergleichlich hohe Stellung einnimmt, und das Ideal des Mönchtums haftet tief in der Seele der östlichen Völker.

In diesen beiden Momenten ist aber auch erschöpft, was sich über die Leistungen dieser Kirche sagen läßt. Wenn man hinzufügt, sie habe eine gewisse Bildung verbreitet, so muß man schon einen sehr geringen Maßstab anlegen. Auch ist ihr dem Islam gegenüber das nicht mehr gelungen, was sie dem Polytheismus gegenüber erreicht hat und noch immer erreicht. Diesen überwinden die Missionen der russischen Kirche auch heute noch; an den Islam aber sind große Gebiete verloren gegangen, und die Kirche hat sie nicht wieder erobert. Der Islam ist siegreich bis an das adriatische Meer und nach Bosnien vorgedrungen; er hat zahlreiche albanesische und slavische Stämme, die einst christlich waren, für sich gewonnen. Er zeigt sich dieser Kirche gegenüber mindestens gewachsen, wenn auch nicht vergessen werden darf, daß im Herzen seines Gebietes christliche Nationen ihr Bekenntnis festgehalten haben.

2. Wodurch ist diese Kirche charakterisiert? Die Antwort ist nicht leicht; denn diese Kirche ist, wie sie sich dem Beschauer darstellt, ein höchst kompliziertes Gebilde. Die Empfindungen, die Superstitionen, die Erkenntnisse und die Kultusweisheit von Jahrhunderten, ja von Jahrtausenden sind in sie eingebaut. Aber weiter, wer diese Kirche von außen betrachtet mit ihrem Kultus, ihrem feierlichen Ritual, der Fülle ihrer Zeremonien, ihren Reliquien, Bildern, Priestern, Mönchen und ihrer Mysterienweisheit, und sie dann einerseits mit der Kirche des 1. Jahrhunderts, andererseits mit den hellenischen Kulten in der Zeit des Neuplatonismus vergleicht – der muß urteilen, daß sie nicht zu jener, sondern zu diesen gehört. Sie erscheint nicht als eine christliche Schöpfung mit einem griechischen Einschlag, sondern als eine griechische Schöpfung mit einem christlichen Einschlag. Die Christen des ersten Jahrhunderts würden sie ebenso bekämpft haben, wie sie[138] den Kultus der Magna Mater und des Zeus Soter bekämpften. Für unzählige Elemente in dieser Kirche, die ebenso heilig erachtet werden wie das Evangelium, giebt es in dem ältesten Christentum nicht einmal einen Ansatzpunkt. Mit dem ganzen Vollzug des Hauptgottesdienstes, ja selbst mit vielen dogmatischen Lehren steht es schließlich nicht anders: man streiche einige Worte, wie „Christus“ etc. heraus, und nichts erinnert mehr an das Ursprüngliche. Diese Kirche ist als Gesamterscheinung nach außen lediglich eine Fortsetzung der griechischen Religionsgeschichte unter dem fremden Einfluß des Christentums, wie ja so viel Fremdes auf sie eingewirkt hat. Man könnte auch sagen: diese Kirche ist als äußere Kirche das Naturprodukt der Verbindung des selbst schon orientalisch zersetzten Griechentums mit der christlichen Predigt; sie ist das, was die Geschichte auf „natürlichem“ Wege aus einer Religion macht, bezw. was sie zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert aus ihr machen mußte – in diesem Sinne ist sie natürliche Religion. Unter diesem Begriff kann ein Doppeltes verstanden werden: gewöhnlich versteht man unter ihm etwas Abstraktes, nämlich die Summe der elementaren Empfindungen und Vorgänge, welche in allen Religionen nachweisbar sind. Es ist indes fraglich, ob es solche giebt, bezw. ob sie so deutlich und fest sind, daß sie zusammengefaßt werden können. Besser gebraucht man den Begriff „natürliche Religion“ für das Endprodukt einer Religion, welches entstanden ist, nachdem die „natürlichen“ Kräfte der Geschichte ihr Ziel an ihr beendigt haben. Diese sind überall im letzten Grunde dieselben, wenn auch in den Aufzügen verschieden, und sie bilden sich die Religion, bis sie ihnen bequem liegt: Heiliges, Ehrfurchtgebietendes und dergleichen stoßen sie nicht aus, aber sie weisen ihnen den Platz und den Spielraum an, den sie für den richtigen halten, und sie tauchen alles in ein einheitliches Medium, jenes Medium, welches wie die Luft die erste Bedingung ihrer „natürlichen“ Existenz ist. In diesem Sinne nun ist die griechische Kirche natürliche Religion: kein Prophet, kein Reformator, kein Genius hat in ihrer Geschichte seit dem 3. Jahrhundert den natürlichen Ablauf der Einbürgerung der Religion in die gemeine Geschichte gestört. Dieser Ablauf war im 6. Jahrhundert beendigt und behauptete sich im 8. und 9. Jahrhundert gegen starke Angriffe siegreich. Seitdem ist Ruhe eingetreten, und der damals erreichte Zustand ist nicht wesentlich, ja nicht einmal unwesentlich mehr geändert worden.[139] Augenscheinlich haben die Völker, welche dieser Kirche angehören, seitdem nichts erlebt, was sie ihnen unerträglich und reformbedürftig erscheinen ließe. Sie verharren daher noch immer bei dieser „natürlichen“ Religion des 6. Jahrhunderts.

Aber mit Bedacht habe ich von der Kirche in ihrer äußeren Erscheinung gesprochen. Es gehört mit zu ihrem komplizierten Charakter, daß man aus dem Äußeren nicht einfach auf das Innere schließen kann. Es genügt daher nicht, die richtige Beobachtung auszusprechen, diese Kirche gehöre in die griechische Religionsgeschichte. Sie übt doch Wirkungen aus, die nicht leicht von hier aus verstanden werden können. Wir müssen, um sie richtig zu würdigen, näher auf die Elemente eingehen, die sie charakterisieren.

Zuerst begegnen uns hier die Tradition und der Gehorsam gegen sie. Das Heilige, das Göttliche ist nicht in freien Wirkungen vorhanden – welche Einschränkungen dieser Satz erleidet, werden wir später sehen –, sondern es ist aufgespeichert in Form eines ungeheuren Kapitals. Aus diesem Kapital ist alles zu entnehmen, und es will genau so ausgemünzt sein, wie die Väter es ausgemünzt haben. Einen gewissen Ansatzpunkt für diesen Gedanken bietet allerdings schon die älteste Zeit. Wir lesen in der Apostelgeschichte: „Sie blieben in der Apostel Lehre.“[WS 5] Was aber ist aus dieser Übung und Verpflichtung geworden? Erstlich, es ist alles als „apostolisch“ bezeichnet worden, was sich im Laufe der nächsten Jahrhunderte hier angesetzt hat; oder vielmehr: was die Kirche nötig zu haben glaubte, um sich der geschichtlichen Lage anzupassen, das nannte sie apostolisch, weil sie ohne dasselbe nicht existieren zu können meinte, und – was für die Existenz der Kirche notwendig ist, muß eben apostolisch sein. Zweitens, es ist als unverbrüchliche Erkenntnis festgestellt worden, daß das „Bleiben“ im Apostolischen sich in erster Linie auf die pünktliche Befolgung aller rituellen Anweisungen bezieht; das Heilige haftet an dem Wortlaut und der Form. Beides ist nun durchaus antik gedacht. Daß das Göttliche sozusagen dinglich aufgespeichert ist, und daß die Gottheit vor allem die pünktliche Einhaltung eines Rituals verlangt, war in der Antike der geläufigste und sicherste Gedanke. Die Tradition und die Zeremonie sind die Bedingungen, unter denen das Heilige allein existierte und zugänglich war. Gehorsam, Respekt, Pietät waren die wichtigsten Religionsempfindungen; gewiß sind sie der Religion unveräußerlich, aber nur als Begleiterscheinungen einer lebendigen[140] Empfindung ganz anderer Art haben sie einen religiösen Wert, und dabei ist noch vorausgesetzt, daß das Objekt ein würdiges ist. Der Traditionalismus und der mit ihr eng verbundene Ritualismus charakterisieren die griechische Kirche in hervorragendem Maße, aber eben daraus geht hervor, wie sehr sie sich von dem Evangelium entfernt hat.

Das zweite Stück, welches die Eigenart dieser Kirche bestimmt, ist der Wert, den sie auf die Orthodoxie legt, auf die richtige Lehre. Sie hat diese Lehre aufs genaueste ausgebildet und umschrieben, und sie hat sie oft genug zum Schrecken andersgläubiger Menschen gemacht. Nur wer die richtige Lehre hat, kann selig werden, wer sie nicht hat, ist auszustoßen und soll aller Rechte verlustig gehen; ist er ein Volksgenosse, so soll er wie ein Aussätziger behandelt werden und jeden Zusammenhang mit seiner Nation verlieren. Dieser Fanatismus, der auch heute noch hier und dort in der griechischen Kirche emporlodert und prinzipiell nicht aufgegeben ist, ist nicht griechisch – obgleich eine gewisse Neigung nach dieser Seite den alten Griechen nicht gefehlt hat –, er ist noch weniger römisch-rechtlichen Ursprungs; er ist vielmehr das Produkt mehrerer Faktoren, die in unglücklicher Vereinigung auftraten. Als das römische Reich christlich wurde, war der schwere Existenzkampf der Kirche mit den Gnostikern noch nicht vergessen; noch weniger waren die letzten blutigen Verfolgungen der Kirche vergessen, die der Staat in einer Art von Verzweiflung verhängt hatte. Bereits diese beiden Momente erklären es, wie die Stimmung, ein Recht auf Repressalien zu haben und zugleich die Häretiker unterdrücken zu müssen, in der Kirche aufkam. Nun aber trat noch an höchster Stelle die orientalische absolutistische Auffassung von dem unbeschränkten Recht und der unbeschränkten Pflicht des Herrschers seinen „Unterthanen“ gegenüber seit Diokletian und Konstantin hinzu. Das war ja das Verhängnisvolle bei dem großen Umschwung der Dinge, daß der römische Kaiser damals gleichzeitig und fast in einem Moment christlicher Kaiser und orientalischer Despot geworden ist. Je gewissenhafter er nun war, desto intoleranter mußte er sein; denn ihm hat die Gottheit nicht nur die Leiber, sondern auch die Seelen übergeben. So entstand die aggressive und absorptive Orthodoxie des Staats und der Kirche oder vielmehr der Staatskirche; alttestamentliche Beispiele, die immer zur Hand sind, vollendeten den Prozeß und gaben ihm die Weihe.

[141] Die Intoleranz ist etwas Neues auf dem Boden der Griechen[AU 1] und kann ihnen nicht einfach zur Last gelegt werden; aber wie die Lehre ausgebildet wurde, nämlich als große Gott-Welt-Philosophie, das ist unter ihrem Einfluß geschehen, und daß die Religion überhaupt mit der Lehre geradezu identifiziert worden ist, ist ebenfalls ein Werk ihres Geistes. Alle Hinweise auf die Bedeutung, welche die Lehre schon im apostolischen Zeitalter besessen hat, und auf die Ansätze, sie in spekulative Form zu bringen, genügen hier nicht. Sie sind vielmehr, wie ich in den früheren Vorlesungen gezeigt zu haben hoffe, anders zu verstehen. Der Intellektualismus hebt erst im 2. Jahrhundert bei den Apologeten an und, unterstützt durch den Kampf gegen die Gnostiker und durch die alexandrinischen Religionsphilosophen der Kirche, setzt er sich durch.

Es genügt aber nicht, die Lehre der griechischen Kirche nur nach ihrer formalen Seite zu würdigen und zu konstatieren, in welcher Art und in welchem Umfang sie sich darstellt und wie hoch sie gewertet wird. Wir müssen auch sachlich auf sie eingehen; denn sie besitzt zwei Elemente, die ihr ganz eigentümlich sind und sie von der griechischen Religionsphilosophie unterscheiden – den Schöpfungsgedanken und die Lehre von der Gottmenschheit des Erlösers. Von ihnen werden wir in der nächsten Vorlesung handeln, ferner von den beiden anderen Elementen, welche die griechische Kirche neben der Tradition und der Lehre charakterisieren, nämlich dem Kultus- und dem Mönchtum.




Anmerkung des Autors (1908)

  1. „Die Intoleranz ist etwas Neues auf dem Boden der Griechen“ – doch s. die Einschränkung auf S. 140, Z. 17f., die noch kräftiger auszudrücken ist.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Mt 19,16.
  2. Vgl. Offb 21,9.
  3. Perpetua und Felicitas († 7. März 203 in Karthago) gehören zu den ersten Märtyrinnen, deren Schicksal zuverlässig überliefert ist. Nach noch erhaltenen frühchristlichen Augenzeugenberichten wurden Perpetua und ihre Sklavin Felicitas im Jahre 203 im römischen Karthago verhaftet und zum Tode verurteilt, weil sie sich auf die Taufe vorbereiteten und ihrem Glauben nicht abschwören wollten. Der Text findet sich in deutscher Übersetzung hier.
  4. Vgl. Euseb, Kirchengeschichte V 5,1.
  5. Apg 2,42.


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