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Das Urbild der Schleppe

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Textdaten
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Autor: C. Horst
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Titel: Das Urbild der Schleppe
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 443–444
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1895
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Das Urbild der Schleppe.


Alljährlich, wenn die schöne Jahreszeit der Ausflüge und Spaziergänge gekommen ist, erhebt sich in den Zeitungen ein Entrüstungsruf gegen die Schleppe, die auf Promenaden und in Parkanlagen Staubwolken aufwirbelt und den Genuß frischer Luft unmöglich macht. Trotzdem verschwindet die Schleppe nicht. Kein Wunder, denn sie ist zu alt, um durch Angriffe oder Schmähschriften aus ihrer Ruhe aufgerüttelt zu werden; sie hat schon manchen schlimmeren Sturm ausgehalten!

In der Kleidung der europäische Frauen kam die Schleppe gegen Ende des 13. Jahrhunderts zum Vorschein und erreichte in wenigen Jahrzehnten eine solche Länge, daß die Damen ihre Schleppen sich nachtragen ließen. Die Mode kam aus Frankreich und breitete sich über alle Länder aus. Die Entrüstung der damaligen Sittenrichter über die „geschwänzten Röcke“ war ungemein groß und es wurde alles mögliche in Bewegung gesetzt, um die Schleppkleider abzuschaffen. Schmähschriften erschienen, die Frauen lasen sie und lachten. Da beschränkten die Behörden wenigstens das Uebermaß der Schleppen. So war in Modena nur eine Schleppe von einer Elle Länge erlaubt und auf dem Markte befand sich ein in Stein gehauenes öffentlich aufgestelltes Schleppenmaß, daran man die verdächtigen Schleppen messen konnte. Fürsten erließen Verordnungen, was für Standesfrauen Schleppen von bestimmter Länge tragen durften. Auf das Ueberschreiten der Verbote wurden Strafen gesetzt – die Frauen zahlten die Strafen und trugen Schleppen, die ihnen gerade gefielen. Selbst die Kirche eiferte gegen diese Tracht. In Predigten wurde die Schleppe eine Erfindung des Teufels genannt und im Jahre 1435 erwirkten die Franziskaner vom Papste Eugen IV. die Erlaubnis, allen Weibern, die Schleppen trugen, und denen, die sie anfertigten, die Absolution zu verweigern. Doch auch diesen Gegnern hielt die Schleppe stand. Sie wurde zwar bald länger, bald kürzer, aber sie folgte in diesen ihren Wandlungen lediglich den Gesetzen der Mode. Selbst als die Krinoline auftauchte, verzichtete man nicht auf den schleppenden Schmuck. Man befestigte Streifen Zeug an der Taille oder an den Schultern und ließ sie als Schleppen herabwallen.

Schleppende Gewänder dienen auch in anderen Kulturwelten zum Frauenschmuck ... und dieser Staat ist auch den afrikanischen Völkern nicht unbekannt.

Gustav Nachtigal schildert in seinem Werke „Sahara und Sudan“ ausführlich die Frauentracht in dem schwer zugängigen Reiche Wadai. Zu dem Anzuge der Wadaischönen gehören außer dem Frauengürtel, welcher, mit Korallen, Glas- oder Thonperlen geschmückt, häufig aus 40 bis 50 Perlschnüren bestehend, als dicker Wulst um die Hüften getragen wird, der große Hüftenshawl und der Schulter- und Kopfshawl. Der Hüftenshawl ist der kleinere von beiden, umhüllt Hüften und Beine und reicht bis auf den Boden hinab. Auch hier hat der Luxus die ursprüngliche Länge desselben von etwa 3 Ellen mit der Zeit auf 12 Ellen gegebracht, und diese lang auf dem Boden schleppenden Shawls heißen „Firde Endurki“, werden begreiflicherweise nur von Vornehmen getragen und dementsprechend von feinem Baumwollstoff, Kattun, Halbseide und Seide gefertigt. In Dar-Zijud und Dar-Said sieht man nicht selten die Frauen von kleinen Sklaven begleitet, welche ihnen die luxuriöse Schleppe der „Firde Endurki“ tragen. Auch das Kopf- und Schultertuch ist durch den gesteigerten Luxus von seiner ursprünglichen Länge von 4 bis 8 Ellen zu einer Länge von 16 Ellen angewachsen und bildet eine große Schleppe.

In Kuka, der afrikanischen Großstadt am Ufer des Tsadsees, ist der Kleiderluxus noch größer. Dort leben die Sudanneger noch im Zeitalter der alten Landsknechthosen. Man sieht dort auf der Straße keineswegs den sogenannten nackten Neger. Zwei, drei oder vier Gewänder aus schwerem Stoff sind den Bewohnern der Hauptstadt Bornus keine Last, sondern ein Stolz, ein Vergnügen. Der Reiche hat, wenn er zu Fuß durch die Stadt wandelt, einen würdevollen Gang, die Last der Kleider bewirkt es. Weite Beinkleider, in denen sich drei europäische Extremitätenpaare verlieren würden, fallen bis auf die Füße herab und nötigen ihm die breitspurige Gangart auf. Die Frauen und Mädchen der „besseren Stände“ stehen den Männern nicht nach. Da stolzieren die braunen Schönen hüftenwiegend und schulterndrehend einher. Auf dem Hinterkopfe ziert ein halbmondförmiger Silberschmuck das sorgfältig in kurzen Flechtchen geordnete Haar und ein Stückchen Edelkoralle prangt im rechten Nasenflügel. Den Oberkörper deckt ein kurzes Hemdchen, weiß oder blau, mit bunter Seide von oben bis unten in eigentümlichen Mustern gestickt. Und auch die Schleppe fehlt nicht. Der übliche Shawl wird um die Hüften so geschlungen, daß er zwischen den Füßen durch in Form einer langen Schleppe herabwallt. Die Damen lassen sich die Schleppen nachtragen, wenn der Boden naß und schmutzig ist, bei trockenem Wetter muß die Schleppe fegen, Staub aufwirbeln und Aufsehen erregen.

Es ließe sich die Zahl solcher Beispiele bedeutend vermehren. Wir [444] wollen jedoch nur noch einer afrikanischen Ballschleppe gedenken, wie sie z. B. bei den Balivölkern im Hinterlande von Kamerun üblich ist. Dort schlingen die sehr spärlich bekleideten Schönen gewöhnliches Baumwollzeug von der Breite eines Taschentuchs um die Hüften und lassen das eine Ende 4 bis 5 Meter lang auf dem Erdboden schleifen. Auch Männer versehen sich bisweilen mit einem solchen Ballschmuck. Auf dem Tanzboden wird nun die Schleppe nicht aufgehoben, sie flattert während des Tanzes in allerschönsten Schlangenwindungen hin und her, und es gehört zum dortigen guten Tone, daß keiner der Tänzer auf die Schleppen der Tänzerinnen tritt.

Aber selbst in Gegenden, in welchen Baumwollzeuge rar, Seide und ähnliche kostbare Stoffe unbekannt sind, verzichten die Afrikaner nicht immer auf den Staat der Schleppe. Die Natur hat dem Menschen im Gegensatz zu den Tieren den Schmuck des Schwanzes versagt, aber Naturvölker gefallen sich oft in ihm und binden sich von hinten allerlei Anhängsel an. Bald. besteht der Schmuck nur aus Erbsenstroh und Bananenblättern, muß aber bei festlichen Gelegenheiten doch bis auf die Erde herabwallen. Oft werden wirkliche Tierschwänze angehängt, und als besonders vornehm gelten die langen, die auf dem Boden schleppen. Dieser Schmuck, über dessen Verbreitung bei den Naturvölkern man früher nicht genauer unterrichtet war, gab ja den Anlaß zur Entstehung des Märchens von geschwänzten Menschenaffen, die in Urwäldern Afrikas und Asiens leben sollten. Dieser Putz zählt zweifellos zu den ältesten des Menschengeschlechtes, da wir ihm bei Völkern auf der niedrigsten Kulturstufe begegnen, und in ihm haben wir auch zweifellos das Urbild der Schleppe vor uns.

Doch die Menschheit schreitet fort und hoffentlich wird einmal die Zeit kommen, in welcher die civilisierten Frauen das Vergnügen, sich in Nachahmung des Tierschwanzes zu gefallen, großmütig ihren wilden und halbwilden Schwestern überlassen und eine Kleidung wählen, die mehr der Natur des Menschen entspricht. Dann wird auch unseren europäischen geschwänzten Röcken das letzte Stündlein schlagen. C. Horst.