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Das Tagebuch (Gedicht von Goethe)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Johann Wolfgang von Goethe
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Titel: Das Tagebuch
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Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: vollendet 30. April 1810
Erscheinungsdatum: sekretiert, erstmals 1861 als Raubdruck
Verlag:
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Originalherkunft:
Quelle: „Das Tagebuch“ Goethes und Rilkes „Sieben Gedichte“, Insel-Bücherei Nr. 1000, nach der Textfassung der Artemis-Gedenkausgabe, hrsg. v. Siegfried Unseld, Frankfurt 1978 (Commons)
Kurzbeschreibung:
Fassung der Riemerschen Handschrift mit Korrekturen Goethes; insbesondere zu Zeile 135 finden sich in zahlreichen Drucken des 20. Jh. Auslassungen oder andere Versionen. Das Motto entstammt Tibull I, 5., V. 39/40.
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[2]
- aliam tenui, sed iam quum gaudia adirem,
Admonuit dominae deseruitque Venus.

Wir hören’s oft und glauben’s wohl am Ende:
Das Menschenherz sei ewig unergründlich,
Und wie man auch sich hin und wider wende,
So sei der Christe wie der Heide sündlich.

5
Das Beste bleibt, wir geben uns die Hände

Und nehmen’s mit der Lehre nicht empfindlich;
Denn zeigt sich auch ein Dämon, uns versuchend,
So waltet was, gerettet ist die Tugend.

Von meiner Trauten lange Zeit entfernet,

10
Wie’s öfters geht, nach irdischem Gewinne,

Und was ich auch gewonnen und gelernet,
So hatt ich doch nur immer Sie im Sinne;
Und wie zu Nacht der Himmel erst sich sternet,
Erinnrung uns umleuchtet ferner Minne:

15
So ward im Federzug des Tags Ereignis

Mit süßen Worten ihr ein freundlich Gleichnis.

Ich eilte nun zurück. Zerbrochen sollte
Mein Wagen mich noch eine Nacht verspäten;
Schon dacht ich mich, wie ich zu Hause rollte,

20
Allein da war Geduld und Werk vonnöten.

[3] Und wie ich auch mit Schmied und Wagner tollte,
Sie hämmerten, verschmähten viel zu reden.
Ein jedes Handwerk hat nun seine Schnurren.
Was blieb mir nun? Zu weilen und zu murren.

25
So stand ich nun. Der Stern des nächsten Schildes

Berief mich hin, die Wohnung schien erträglich.
Ein Mädchen kam, des seltensten Gebildes,
Das Licht erleuchtend. Mir ward gleich behäglich.
Hausflur und Treppe sah ich als ein Mildes,

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Die Zimmerchen erfreuten mich unsäglich.

Den sündigen Menschen der im Freien schwebet –
Die Schönheit spinnt, sie ist’s die ihn umwebet.

Nun setzt ich mich zu meiner Tasch und Briefen
Und meines Tagebuchs Genauigkeiten,

35
Um so wie sonst, wenn alle Menschen schliefen,

Mir und der Trauten Freude zu bereiten;
Doch weiß ich nicht, die Tintenworte liefen
Nicht so wie sonst in alle Kleinigkeiten:
Das Mädchen kam, des Abendessens Bürde

40
Verteilte sie gewandt mit Gruß und Würde.


Sie geht und kommt; ich spreche, sie erwidert;
Mit jedem Wort erscheint sie mir geschmückter.
Und wie sie leicht mir nun das Huhn zergliedert,
Bewegend Hand und Arm, geschickt, geschickter –

45
Was auch das tolle Zeug in uns befiedert –

Genug ich bin verworrner, bin verrückter,
Den Stuhl umwerfend spring ich auf und fasse
Das schöne Kind; sie lispelt: »Lasse, lasse!

Die Muhme drunten lauscht, ein alter Drache,

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Sie zählt bedächtig des Geschäfts Minute;

Sie denkt sich unten, was ich oben mache,
Bei jedem Zögern schwenkt sie frisch die Rute.
Doch schließe deine Türe nicht und wache,
So kommt die Mitternacht uns wohl zu Gute.«

55
Rasch meinem Arm entwindet sie die Glieder,

Und eilet fort und kommt nur dienend wieder;

Doch blickend auch! So daß aus jedem Blicke
Sich himmlisches Versprechen mir entfaltet.
Den stillen Seufzer drängt sie nicht zurücke,

60
Der ihren Busen herrlicher gestaltet.

Ich sehe, daß am Ohr, um Hals und Gnicke
Der flüchtigen Röte Liebesblüte waltet,
Und da sie nichts zu leisten weiter findet,
Geht sie und zögert, sieht sich um, verschwindet.

65
Der Mitternacht gehören Haus und Straßen,

Mir ist ein weites Lager aufgebreitet,
Wovon den kleinsten Teil mir anzumaßen
Die Liebe rät, die alles wohl bereitet;
Ich zaudre noch, die Kerzen auszublasen,

70
Nun hör ich sie, wie leise sie auch gleitet,

[4] Mit gierigem Blick die Hochgestalt umschweif ich,
Sie senkt sich her, die Wohlgestalt ergreif ich.

Sie macht sich los: »Vergönne daß ich rede,
Damit ich dir nicht völlig fremd gehöre.

75
Der Schein ist wider mich, sonst war ich blöde,

Stets gegen Männer setzt ich mich zur Wehre.
Mich nennt die Stadt, mich nennt die Gegend spröde;
Nun aber weiß ich, wie das Herz sich kehre:
Du bist mein Sieger, laß dich’s nicht verdrießen,

80
Ich sah, ich liebte, schwur dich zu genießen.


Du hast mich rein, und wenn ich’s besser wüßte,
So gäb ich’s dir; ich tue was ich sage.«
So schließt sie mich an ihre süßen Brüste,
Als ob ihr nur an meiner Brust behage.

85
Und wie ich Mund und Aug und Stirne küßte,

So war ich doch in wunderbarer Lage:
Denn der so hitzig sonst den Meister spielet,
Weicht schülerhaft zurück und abgekühlet.

Ihr scheint ein süßes Wort, ein Kuß zu gnügen,

90
Als wär es alles was ihr Herz begehrte.

Wie keusch sie mir, mit liebevollem Fügen,
Des süßen Körpers Fülleform gewährte!
Entzückt und froh in allen ihren Zügen
Und ruhig dann, als wenn sie nichts entbehrte.

95
So ruht ich auch, gefällig sie beschauend,

Noch auf den Meister hoffend und vertrauend.

Doch als ich länger mein Geschick bedachte,
Von tausend Flüchen mir die Seele kochte,
Mich selbst verwünschend, grinsend mich belachte,

100
Nichts besser ward, wie ich auch zaudern mochte,

Da lag sie schlafend, schöner als sie wachte;
Die Lichter dämmerten mit langem Dochte.
Der Tages-Arbeit, jugendlicher Mühe
Gesellt sich gern der Schlaf und nie zu frühe.

105
So lag sie himmlisch an bequemer Stelle,

Als wenn das Lager ihr allein gehörte,
Und an die Wand gedrückt, gequetscht zur Hölle,
Ohnmächtig jener, dem sie nichts verwehrte.
Vom Schlangenbisse fällt zunächst der Quelle

110
Ein Wandrer so, den schon der Durst verzehrte.

Sie atmet lieblich holdem Traum entgegen;
Er hält den Atem, sie nicht aufzuregen.

Gefaßt bei dem, was ihm noch nie begegnet,
Spricht er zu sich: So mußt du doch erfahren,

115
Warum der Bräutigam sich kreuzt und segnet,

Vor Nestelknüpfen scheu sich zu bewahren.
Weit lieber da, wo’s Hellebarden regnet,
Als hier im Schimpf! So war es nicht vor Jahren,
Als deine Herrin dir zum ersten Male

120
Vors Auge trat im prachterhellten Saale.


Da quoll dein Herz, da quollen deine Sinnen,
So daß der ganze Mensch entzückt sich regte.
[5] Zum raschen Tanze trugst du sie von hinnen,
Die kaum der Arm und schon der Busen hegte,

125
Als wolltest du dir selbst sie abgewinnen;

Vervielfacht war, was sich für sie bewegte:
Verstand und Witz und alle Lebensgeister
Und rascher als die andern jener Meister.

So immerfort wuchs Neigung und Begierde,

130
Brautleute wurden wir im frühen Jahre,

Sie selbst des Maien schönste Blum und Zierde;
Wie wuchs die Kraft zur Lust im jungen Paare!
Und als ich endlich sie zur Kirche führte,
Gesteh ich’s nur, vor Priester und Altare,

135
Vor deinem Jammerkreuz, blutrünstger Christe,

Verzeih mir’s Gott, es regte sich der Iste.

Und ihr, der Brautnacht reiche Bettgehänge,
Ihr Pfühle, die ihr euch so breit erstrecktet,
Ihr Teppiche, die Lieb und Lustgedränge

140
Mit euren seidnen Fittichen bedecktet!

Ihr Käfigvögel, die durch Zwitscher-Sänge
Zu neuer Lust und nie zu früh erwecktet!
Ihr kanntet uns, von eurem Schutz umfriedet,
Teilnehmend sie, mich immer unermüdet.

145
Und wie wir oft sodann im Raub genossen

Nach Buhlenart des Ehstands heilge Rechte,
Von reifer Saat umwogt, vom Rohr umschlossen,
An manchem Unort, wo ich’s mich erfrechte,
Wir waren augenblicklich, unverdrossen

150
Und wiederholt bedient vom braven Knechte!

Verfluchter Knecht, wie unerwecklich liegst du!
Und deinen Herrn ums schönste Glück betriegst du.

Doch Meister Iste hat nun seine Grillen
Und läßt sich nicht befehlen noch verachten,

155
Auf einmal ist er da, und ganz im stillen

Erhebt er sich zu allen seinen Prachten;
So steht es nun dem Wandrer ganz zu Willen,
Nicht lechzend mehr am Quell zu übernachten.
Er neigt sich hin, er will die Schläferin küssen,

160
Allein er stockt, er fühlt sich weggerissen.


Wer hat zur Kraft ihn wieder aufgestählet,
Als jenes Bild, das ihm auf ewig teuer,
Mit dem er sich in Jugendlust vermählet?
Dort leuchtet her ein frisch erquicklich Feuer,

165
Und wie er erst in Ohnmacht sich gequälet,

So wird nun hier dem Starken nicht geheuer;
Er schaudert weg, vorsichtig, leise, leise
Entzieht er sich dem holden Zauberkreise,

Sitzt, schreibt: »Ich nahte mich der heimischen Pforte,

170
Entfernen wollten mich die letzten Stunden,

Da hab ich nun, am sonderbarsten Orte,
Mein treues Herz aufs neue dir verbunden.
[6] Zum Schlusse findest du geheime Worte:
Die Krankheit erst bewähret den Gesunden.

175
Dies Büchlein soll dir manches Gute zeigen,

Das Beste nur muß ich zuletzt verschweigen.«

Da kräht der Hahn. Das Mädchen schnell entwindet
Der Decke sich und wirft sich rasch ins Mieder.
Und da sie sich so seltsam wiederfindet,

180
So stutzt sie, blickt und schlägt die Augen nieder;

Und da sie ihm zum letzten Mal verschwindet,
Im Auge bleiben ihm die schönen Glieder.
Das Posthorn tönt, er wirft sich in den Wagen
Und läßt getrost sich zu der Liebsten tragen.

185
Und weil zuletzt bei jeder Dichtungsweise

Moralien uns ernstlich fördern sollen,
So will auch ich in so beliebtem Gleise
Euch gern bekennen, was die Verse wollen:
Wir stolpern wohl auf unsrer Lebensreise,

190
Und doch vermögen in der Welt, der tollen,

Zwei Hebel viel aufs irdische Getriebe:
Sehr viel die Pflicht, unendlich mehr die Liebe!