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Das Neujahrsgeschenk

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Titel: Das Neujahrsgeschenk
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 96
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[95] Das Neujahrsgeschenk, welches bekanntlich in Paris eine große Rolle spielt, ist merkwürdigerweise weniger den Verhältnissen des Gebers als vielmehr denen des Empfängers angemessen.

Ist es einem jungen Manne gelungen, sich einigermaßen in einer Familie einzubürgern, d. h. erhält er zu den verschiedenen Soiréen regelmäßige Einladungen, erweist ihm der Herr Papa die Ehre, ihn als ergänzenden vierten Mann an den Whisttisch zu schmieden, versagt ihm Fräulein Tochter die neunte Quadrille nicht, so zählt er zu den Intimen und muß diese Ehre am ersten Januar mit einer, resp. zwei Schachteln Bonbons für Fräulein Tochter, oder selbst Mutter und Tochter, bezahlen. Natürlicherweise muß dies Geschenk den unverkennbaren Stempel eines renommirten Hauses tragen. Unter den unzähligen Bonbonhändlern haben eigentlich nur vier oder fünf bedeutenden Ruf. Boissier, Gouache, Marquis (für Chocoladenbonbons) und jetzt auch Giraudin, der Exvaudevillist, der dem attischen Salz seiner lustigen Schwänke jetzt die Süßigkeiten des materiellen Geldverdienens vorzieht. Einer einigermaßen anständigen Dame kann man nur ein aus einem der erwähnten Häuser bezogenes Geschenk anbieten. Die Herren Lieferanten, die diese Nothwendigkeit wenigstens ebenso genau kennen, als die Käufer, lassen sich ihren Ruf gehörig bezahlen. Ihre Preise liegen außer dem bescheidenen Horizonte eines guten deutschen Unterthanenverstandes. Wie gewöhnlich wird auch hier auf das Aeußere mehr Werth gelegt als auf den Inhalt. Das kleine, geschmackvolle Kistchen mit dem Namen des Fabrikanten ist die Hauptsache, der Inhalt, die Bonbons selber, nur eine angenehme Nebensache.

Daher kommt es, daß folgender unschuldige Betrug sich sehr verbreitet hat. Junge Leute, die beschenkte Personen in ihrer Verwandtschaft haben, Schwestern oder freundliche Cousinen, lassen sich einige der geleerten Kistchen, wenn die Festlichkeiten vorüber sind, schenken (manchmal für Geld und gute Worte). Beim nächsten Neujahr gehen sie zum simplen Materialwaarenhändler und kaufen für ein paar Franken Bonbons, die dann unter der wohlgesehenen Etiquette eines Boissier einer andern Dame als echte Wann angeschmuggelt werden. Ich habe ein und dieselbe Kiste in Zeit von vier Jahren, zu meinem großen Erstaunen, bei vier verschiedenen Damen meiner Bekanntschaft am 1. Januar auf dem Salontisch paradiren sehen.

Die Conditors, die in den letzten zehn Tagen des Jahres mehr Geschäfte machen, als in den vorhergehenden 355, sind um diese Zeit freigebig, wie zufriedene Leute. Sie gestatten dem Käufer, von allen Bonbons zu naschen, wonach ihm der Gaumen steht, ganz nach Discretion. Daß es da nicht an indiscreten Schwerenöthern fehlt, ist um so erklärlicher, als das scheidende Jahr dem armen jungen Teufel das Leben recht vergällt und er deshalb keine Gelegenheit vorübergehen läßt, sich einige Stunden etwas zu versüßen. So giebt es elegante Stutzer, die für zehn Sous Pfefferminzkuchen kaufen und für fünf Franken Erdbeerbonbons gratis verzehren. „Die Menge muß es bringen,“ trösten sich die Conditors und werden zu reichen Leuten. In sehr bescheidenen Kreisen werden die Bonbons durch wohlfeile Apfelsinen ersetzt.

Außer dem ceremoniösen Neujahrsgeschenk der Bonbons tragen noch alle anderen verkaufbaren und schenkbaren Waaren im letzten Monat des Jahres den verlockenden Namen: „Charmantes Etrennes!“ Spielzeug für die Kinder, Möbel für junge Chambre-garni-Bewohner, Bücher für „die reifere Jugend“, Modeartikel für die sittige Hausfrau, Alles in einem Worte wird im Schaufenster der Verkäufer, als „passende“ oder „reizende Neujahrsgeschenke“ angekündigt. Als solche figuriren z. B. bei den Apothekern Salmiak für Gichtleidende, Krähenaugenpflaster und andere reizende Ueberraschungen.

Der Boulevard hat sein garstiges Sonntagskleid angelegt, das ihm gar nicht steht. Auf beiden Trottoirs ziehen sich zwei lange Reihen häßlicher Buben, vom Bastillenplatze bis zur Madeleine, hin. Kreischende Krämer bieten ihre „reizenden“ Waaren aus, bedrängte Schenker machen ihre Einkäufe. Alles schreit und tobt und jagt durcheinander und längs der Häuser lungert das gräßliche, bleiche Elend, der zerlumpte Bettler, der furchtbar entstellte Krüppel, der die melancholischen Töne seiner verstimmten Leier in den allgemeinen Tumult mischt. Das ist das Weihnachtsgeschenk, das die Pariser Municipalbehörden der Armuth und dem Gebrechen machen: die Freiheit, die öffentliche Gleichgültigkeit mit ihrem oft Abscheu erregenden Elend zu erschüttern. Aber jede Freiheit hat hier zu Lande Geldeswerth. –

Kleine Kinder, die Affen ähnlich in eine Zuavenuniform gesteckt sind, trippeln selig hinter dem Regenschirme ihres Vaters her. Die Actien der Zuaven sind jedoch diesmal etwas gefallen. Speculanten, die den Zeitverhältnissen Rechnung tragen, haben die bunte Uniform der afrikanischen Garde durch das rothe Hemde des italienischen Dictator vortheilhaft ersetzt. Ich bin wenigstens einem Dutzend kleinen Garibaldi’s, mit einer feuchten Nase, rothem Hemde, langem Schleppsäbel und einem schwarzen Filzhute mit wallender schwarzer Feder begegnet, außerdem trugen die armen, kleinen Bälge graue, leinene Hosen, bei drei Grad Kälte! Da Alles, was um und an dem Soldatenstande hängt, den kleinen Kindern am meisten Spaß macht, sind die Buden mit Trommeln und Trompeten, Gewehren und Kanonen, klirrenden Säbeln und rasselnden Cürassen, in großer Mehrzahl vertreten, lauter geräuschvolle Zerstreuungen, die im Verein mit dem allgemeinen Skandal den Boulevard zu einer wahren Verdipartitur machen. Zwei dieser Spielsachen haben dies Jahr [96] ein besonderes Glück: die Garibaldi-Knallbüchse, die den quiekenden Ballon-Tamberlick mit Heidenknall verdrängt hat und als „Freude der Kinder, Ruhe der Familien!“ (sic) von den ambulanten Händlern ausgeschrieen wird, und eine große Puppe, die den kaiserlichen Prinzen als kleinen Grenadier mit einer Bärmütze und dem Großkreuze der Ehrenlegion darstellt. Eine neue Art von Propaganda für den Patriotismus. Die zeitgemäßen Umstände haben an einem dritten Spielzeug eine abermalige Metamorphose vorgenommen: es ist dies ein dicker, wohlgenährter Zuave, der, wenn man an einem Schnürchen zieht, zufrieden lächelnd einen elenden, grämlichen Mandarin, der vor ihm kniet, mit Sack und Pack verschlingt. Heuer ist es ein Chinese, im vorigen Jahre war es ein Oesterreicher, 1855 ein Russe, im nächsten Frühling wird es vielleicht ein Landsmann Arndt’s sein!

Gelegenheit macht Diebe! Daß es bei diesem Volksauflaufe, Gedränge und Gestoße nicht an ehrlichen Spitzbuben fehlt, ist offenbar. Das Haus Giroux allein, das bedeutendste Spielwaarenlager in Paris, schätzt die rechtlichen Entwendungen im Monat December auf 20,000 Franken Verlust.

Die dritte Kategorie der Geschenke bilden die Trinkgelder. Der Hausmeister, der uns im Regen und Schnee eine halbe Stunde vergeblich hat läuten lassen; der Tambour der Nationalgarde, der uns mit seiner Trommel das Trommelfell gesprengt; der Briefträger, der unsere recommandirten Briefe acht Tage im Sack herumgeschleppt hat; der Kellner im Café, der unsere mühsam culottirte Pfeife zerbrochen; der beim Restauranten, der die Suppe über unsere funkelnagelneuen, noch nicht bezahlten Beinkleider gegossen; der Barbiergehülfe, der, wie Jean Paul sagt, „sein Andenken in unsere Backen, wie in eine Birkenrinde geschnitten“ etc., kurz alle diejenigen, die wir 364 Tage gut bezahlt haben, um uns schlecht zu bedienen, verlangen am ersten Lage des jungen Jahres eine außergewöhnliche Gratification zur Aufmunterung und Besserung. Die Gesammtausgabe dieser Trinkgelder ist für den einfachsten, bedürfnißlosesten jungen Mann eine Börsenerleichterung von wenigstens 40–50 Franken. Ueberschreitet man die Grenze der äußersten Bescheidenheit um eine Spanne breit, so verdreifacht sich dieser Posten.

Leuten, denen man keine persönliche Neujahrsvisite schuldig ist, bringt man nur eine Visitenkarte; steht man ihnen noch ferner, so kann man dieselbe unter Enveloppe per Stadtpost befördern lassen. Nur verlangt der gute Ton, das Couvert mit der grünen Freimarke von einem Sou zu versehen. –

P. L.