Das Maltesergäßchen
Das Maltesergäßchen.
Die große, jetzt endlich in’s Werk gesetzte Pontus-Expedition der Westmächte stand bereits in Aussicht, die Wellen des schwarzen Meeres rollten sich schäumend gegen die Mauern der Festung Varna, als wollten sie den französischen Marschall herausfordern, dessen Zinnen den Hafen der Festung beherrschten und der von hier aus die Russen mit gewaltigen Worten zu schlagen suchte. Die Flotte der Westmächte sonnte sich noch in Baltschik, auf die Zelte der französischen, englischen, türkischen und ägyptischen Lager brannte die Sonne mit versengender Gluth herab und in der Stadt selbst wogte der große militärische Jahrmarkt der Nationen in einer Atmosphäre, die schon damals den Saamen zu jener entsetzlichen Ernte ausstreute, welche wenige Wochen später der Tod dort hielt.
Es war in der Mitte des Monat Juli, als ich von Schumla aus in diesen tausendfarbigen und tausendzüngigen Wirrwar gerieth, und obgleich schon ziemlich mürbe gemacht durch ein viermonatliches Abenteuern am Kriegsschauplatze der Donau, mich doch mit frischer Courage in den Strudel dieser äußersten und isolirten Station des Abendlandes hineinwarf, um mich von hier nach Konstantinopel und wenn es Zeit und Umstände gestatteten, noch nach dem asiatischen Kriegsschauplatze zu begeben. Hier war ich nicht mehr „der Giaur“, mit welchem Epitheton mich das Türkenthum bisher verächtlich oder mitleidig titulirt hatte, hier war ich ein Giaur unter lauter Giaurs und mit einer gewissen humoristischen Genugthuung sah ich die alten türkischen Philister in die Vorstadt wanken, sich vor die Brust schlagen und sagen: „Allah, ich danke dir, daß ich nicht bin wie Jene!“ – Seltsames Paradoxon: als ich in Varna einritt und vor dem Kaffeehause hielt, das von einer Gesellschaft singender und trinkender Franzosen umlagert war, trat gerade der Hodscha auf die Gallerie der gegenüber stehenden Minarets und rief in die Welt hinein: „Es ist nur ein Gott und Mahomet ist sein Prophet!“ – „Mein Herr, das ist nicht wahr!“ rief einer der Franzosen lachend dem Hodscha zu, „ich werde Ihnen die Wahrheit sagen, es giebt nur einen Gott und dieser Gott ist unser Gott, der gute Gott!“ – Unwillkürlich mußte ich über diese religiöse Naivetät lachen, aber sie traf doch den Nagel auf den Kopf. Der Franzose und der Türke hatten Beide ihren aparten Gott, und jeder von ihnen hielt den seinen für den richtigen. Der Hodscha seinerseits ließ sich nicht irre machen, er schrie sein Glaubensbekenntniß in alle Himmelsgegenden hinaus, und in allen Himmelsgegenden dachte man: das ist nicht wahr!
In der That galten in Varna weniger die Propheten als vielmehr die Moneten, und selbst für letztere war kaum ein Obdach zu erhalten; ich theilte daher meine Nächte in das dunkle Loch, für welches ich täglich 20 Piaster zahlen mußte, und in eine harte Bank im Speisezimmer des „restaurant des officiers“, bei welchem man einzig und allein ein anständiges Mahl für unanständig hohe Bezahlung fand. Dort auch war es, wo eines Abends, als die Gäste sich verzogen hatten, ich mich zum Schlafen auf die Bank streckte und mich, da ich den Mantel nicht bei mir hatte, mit einem großen Tischlaken zudeckte, sich ein Gast neben mich auf die Bank legte. Unwillig beschaute ich mir den Schlafgenossen, während dieser auch mich mit seinen großen schwarzen Augen maß. „Ah, monsieur, c’est vous!“ rief er lachend; „geben Sie mir die Hälfte von Ihrer Decke!“ Mit diesen Worten wickelte er sich in die andere Hälfte des Tischlakens, und machte sich das Lager so bequem, wie es eben die harte Pritsche gestatten wollte.
Mein Schlafnachbar war ein junger französischer Offizier von der Linie, mit dem ich vorgestern zum ersten Male zusammengetroffen war, als ich in einer der französischen Boutiquen saß, und in Gesellschaft mehrer Offiziere aus freier Faust ein Stück Käse und Wurst als Frühstück verzehrte, wie dies in Varna eine lobenswerthe Sitte war. Wir wurden schnell bekannt, blieben beisammen und stiegen am Nachmittag zu dem „Grand café d’Orient“ hinauf, einer Baracke, die etwa unsern heimischen Dorfschenken ähnlich. Dort erzählte mir mein neuer Bekannter, er habe soeben auf vierzehn Tage Urlaub genommen, und denke über Burgas nach Constantinopel zu gehen. Heitere, unbändige Temperamente wie das dieses jungen Offiziers sind mir immer unschätzbar, wir tauschten unsere Karten. Ich las auf der seinigen „Mr. Edouard de Carmond“ und theilte ihm mit, daß auch ich mit dem nächsten Postdampfer, der aber erst in sechs Tagen gehen sollte, meine Reise nach Konstantinopel fortsetzen werde. „C’est à ravir, je vous trouverai à Constantinople!“ rief er, mir die Hände drückend, und von da ab waren wir die besten Freunde.
An jenem Abend, wo ich mit ihm unter einer Tischdecke lag, erzählte er mir, er habe soeben das Lager verlassen und werde morgen vor Tagesanbruch mit einer französischen Dampfcorvette nach Burgas gehen. An Schlummer war bei einem so lebendigen Nachbarn gar nicht zu denken; er erzählte mir hunderterlei dumme Geschichten, schilderte mir, wie er heute einer wunderschönen Türkin begegnet sei, diese bis zu ihrem Hause in der Vorstadt verfolgt, und als man ihn nicht habe in’s Haus lassen wollen, sich vor die Thür desselben auf die Schwelle gesetzt habe, bis man ihm endlich ein paar Kavassen auf den Hals geschickt und ihn in die Flucht geschlagen habe. – Endlich, nachdem er so ein paar Stunden verplaudert, erklärte er, das Ungeziefer peinige ihn auf dieser Bank, er könne nicht schlafen, er wolle den Kellner wecken und mit mir noch ein paar Flaschen Bordeaux trinken, bis er auf’s Schiff müsse. Zwischen einer schlaflosen Nacht auf der Pritsche und einer schlaflosen Nacht bei der Weinflasche, wählte ich das kleinste Uebel, und so sah uns denn das erste Morgengrauen noch am Tische sitzen. Carmond sagte mir Adieu und ich legte mich auf meine Pritsche, um wenigstens noch einige Stunden Schlummer zu suchen.
Sechs Tage später befand ich mich an Bord des „Ferdinando primo“, der am Freitage, dem türkischen Sonntag, nach Konstantinopel abging, und auf dem ich zum ersten Male die auf den levantinischen Schiffen übliche strenge Trennung beider Geschlechter durch eine Achtung gebietende Barriere erblickte. Da saßen auf der einen Seite des Verdecks erster Klasse ein paar von Kopf bis zu Füßen schneeweiß gekleidete Engländer mit kostbaren Tschibucks und dem unvermeidlichen weißen Shawl um den hellen Filzhut; da kokettirte die niedliche junge Frau des ersten Capitains im [473] schwarzen Atlaskleide mit ihren schelmischen Augen und den blendend weißen, nackten Armen auf dem Verdeck herum und hatte für jeden der sie anredenden Herren irgend ein freundliches Wort bei der Hand. Dicht nebenan hingegen, auf der andern Seite der Barriere saßen oder lagen ein Dutzend orientalischer Weiber in ihren weiten farbigen Mänteln auf den Teppichen, das Gesicht in den Jaschmack gehüllt, der nur den großen, geisterhaften, schwarzen Augen freien Spielraum ließ. Neben diesen, wiederum durch eine Barriere abgesperrt, lagen Türken, Griechen, Armenier und Gott weiß, was sonst für phantastisch gekleidete Gestalten auf den Teppichen, und speisten ihre rohen Gurken, ihre Wassermelonen oder ihren Knoblauch, der eine mir verhaßte Atmosphäre auf dem Schiffe verbreitete. Und endlich unten in einer der Kabinen saßen drei junge türkische Weiber eingeschlossen, die von einem Kavassen oder Eunuchen irgendwo hin transportirt werden sollten und von denen ich weiter nichtzu sehen bekommen habe, als den Zipfel eines weißen Mantels und den Blitz eines funkelnden schwarzen Auges, das sich unverkennbar nach einer Freiheit sehnte, die ihm nicht beschieden war. Eine ganze Welt lag zwischen dieser auf dem Verdeck tändelnden jungen Frau und den armen hier unten eingesperrten Weibern! – Wie mir der Capitain später sagte, waren diese Gefangenen die Frauen eines reichen Türken in Varna, die jetzt nach Konstantinopel geschickt wurden und ihre Versetzung jedenfalls dem Unfuge verdankten, welcher vor einigen Tagen von einem Trupp junger Franzosen verübt worden, als diese sich mit Gewalt den Eingang in irgend ein Haus zu erzwingen versuchten, in welchem sie mehre junge Weiber vermutheten. – Der arme Gatte, er war seines eignen türkischen Ehestandes nicht mehr sicher, und mußte sie nach Stambul schicken, um sie vor den Giaurs zu retten! – –
Es war Abend, als wir in die Bucht von Burgas einliefen. – Ich habe daheim in mancher schönen Sternennacht geweltschmerzt; ich habe an den Ufern des Torneå und an den Felsen des Nordkap den Schein des Nordlichtes beobachtet; ich habe vor Kurzem noch in stillen Nächten vor den Zelten der Türkenlager zur Sternenwelt hinaufgeschaut und beim Geplauder der Donauwogen an die Heimath gedacht, von wo mir keine Post eine Botschaft daher tragen konnte – ich hatte mit einem Wort den Zauber der orientalischen Nächte genossen, die schönste aber sollte ich hier erleben. Mit einer leisen, bläulichen Tinte überzogen, streckte sich das hohe Ufer von Burgas in einem Halbkreis vor mir aus; in kurzer Entfernung schimmerten die Lichter des Ortes durch den Nebelschleier, der sich in Aetherwolken über die schwarze Wasserfläche rollte und von dem Schein des Vollmondes, gleichsam mit Flitteratomen durchwebt wurde. Dort hinter uns lag das „Monaster“, ein Kloster, das als drohendes Fort die Bucht beherrschte, und von dem die Sage erzählt, daß in seinen unterirdischen Räumen unermeßliche Schätze aufgethürmt und von drei großen, gespensterischen Hunden bewacht seien. Unsre junge Italienerin, die Frau des Capitains, fand den Himmel „mirabile“ und ich meinerseits fand den Himmel sowohl wie die junge Frau mirabile, denn wie sie in ihrem schwarzen Atlaskleide mit dem blendenden Teint und den schneeweißen Armen dastand, war sie wirklich „mirabile“.
Allmälig belebte sich unser Bild. Wir sahen mehre schwarze Punkte auf den Wasserspiegel näher kommen, und in wenigen Minuten waren wir von einer ganzen Flotille türkischer Böte umgeben. Ich besitze nicht viel mehr Romantik, als eben zum Hausbedarf nothwendig ist, aber als ich diese abenteuerlich bunt kostümirte Besatzung der Böte, diese griechischen und türkischen Kostüme, dazwischen blitzende Waffen und verbrannte, theilverwitterte Gesichter erblickte, als ich diese Flotille in einem dicken Knäuel an unserm Schiffe liegen, als ich diese Menschen, die in ihrer Faulheit nichts vornehmen können, ohne ein gewaltiges Geschrei anzustimmen, sich lärmend und keuchend um unser Schiff bewegen sah, war’s mir unwillkürlich, als seien wir von einer Anzahl griechischer Piraten umgeben. Es waren Handelsleute und Kaikschi’s, die an und auf dem Schiffe zu thun hatten und deren Treiben ich, über die Reling gelehnt, mit Vergnügen zusah.
Plötzlich lenkte ein Gegenstand meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf sich; es war ein rother Soldatenfeß, an welchen genialer Weise, zum Schutz vor der Sonne, ein kleiner schwarzer Schirm genäht war. Diesen Feß kannte ich, denn dieser existirte nur einmal: „Monsieur de Carmond!“ rief ich, als ich meinen Freund im Begriff sah, aus einem der Böte auf’s Schiff zu steigen. – Carmond kam an Bord, war höchst erfreut, mich zu finden und verwünschte das langweilige Nest, das Burgas, in welchem er vier Tage zu verweilen genöthigt gewesen, da die Corvette ihre Fahrt nach Constantinopel erst in nächster Woche machen konnte.
Am andern Morgen um neun Uhr lag unser Schiff vor der Seraispitze von Constantinopel, der Stadt, die „von Feen erdacht und von Elfen erbaut,“ und von der ich wünschte, daß sie nur erdacht und nicht erbaut wäre, damit das Letztere den Zauber des Erstern nicht störe.
Schon während der ersten Tage meiner Anwesenheit ging dieser Zauber für mich zum Theil verloren und war nur wieder zu gewinnen, wenn ich im goldnen Horn, im Bosporus oder im Marmor-Meer schiffte und mich satt sah, an der Stelle, von welcher aus „man die Erde betrachten möchte, wenn Einem nur ein einziger Blick auf dieselbe gestattet wäre.“ In Schumla nämlich war mir von einem meiner Freunde, der soeben aus Constantinopel gekommen, ein Hotel in Galata empfohlen worden, in welchem ich für einen billigern Preis als in den Pera-Hotels dieselben Leistungen aber eine aufmerksamere Begegnung von Seiten des Wirths, eines Deutschen, finden würde. Carmond wollte wissen, in welchem Hotel ich logiren werde, damit er, der bei einem im Verpflegungs-Bureau beschäftigten Verwandten wohnen müsse, mich finden könne; ich nannte ihm das „Hotel de Mediterranée“, so nämlich nannte sich dieses Haus in sehr wunderlichem Französisch. Carmond paßte dies vortrefflich, da auch er, wie er sagte, in Galata wohnen sollte. Hätte ich früher die Lokalität Constantinopels gekannt, ich würde nicht in diesem Hotel logirt haben, und zwar aus Gründen, die ich weiter unten erzähle.
Zu den scheußlichsten Wohlthaten, für welche sich nämlich Constantinopel bei dem englischen Gouverneur in Malta zu bedanken hat, gehört die große Anzahl von Verbrechern und Taugenichtsen, welche von Malta verbannt, ihr Domizil in Constantinopel nimmt und dort eine Bande von Gaunern und Meuchelmördern bildet, der man, wenn es einmal auf uns gemünzt ist, vergeblich aus dem Wege zu gehen suchen würde. Sprüchwörtlich ist die Verrufenheit der Malteser in Constantinopel; Alles, was den Strick verdient hätte, heißt daselbst Malteser, gleich viel, ob von dort stammend oder nicht. Unter dem Schatten der ohnmächtigen Polizei in Constantinopel war es diesen Strolchen möglich, schon seit langer Zeit ihr Gewerbe frank und frei auf den Straßen zu üben, ja es gab sogar noch kürzlich eine Zeit, wo es unmöglich war, Abends ohne Lebensgefahr sich von einer Straße zur andern zu begeben. Das hauptsächlichste Standquartier (denn Schlupfwinkel darf man es nicht nennen) dieser Banditen war und ist heute noch das berüchtigte Maltesergäßchen, eine enge, auf eine Hauptstraße Galata’s auslaufende Gasse, deren Nähe man bisher scheute wie eine Räuberhöhle, die sie denn auch in Wirklichkeit ist.
In neuester Zeit freilich, als dieses Gesindel sein Handwerk, von dem feigen Griechenthum unterstützt, so offen und frech trieb, daß besonders die fremden Gesandtschaften auf Grund mehrer Attentate auf das Leben ihrer Schutzbefohlenen, bei der türkischen Regierung eine Säuberung der Straßen von Pera und Galata verlangten, sah sich die letztere veranlaßt, Polizeimaßregeln zu ergreifen, die aber von wenig Bedeutung sind. Das Nachtwächterthum wurde mehr ausgebildet; diese guten Leute durchzogen in größerer Anzahl die Straßen, aber da es ihre Gewohnheit ist, bei jedem Schritte mit ihrer großen, eisenbeschlagenen Keule auf das Steinpflaster zu klopfen, so weiß ihnen natürlich jeder aus dem Wege zu gehen, der nichts mit ihnen zu thun haben will. Gleichgültig vor sich hintappend, glauben diese guten Leute, ihr ganzer Beruf bestehe darin, möglichst viel Lärm mit ihrer Keule zu machen und dies thun sie redlich in dem Maße, daß sie Alle aus dem Schlafe wecken, die nicht an ihren Rumor gewohnt sind. Auch Kavassen-Patrouillen wurden angeordnet und wirklich in’s Werk gesetzt; die Kavassen aber treten ihre Patrouillen von ihren resp. Wachlokalen an, setzen sich in irgend ein Kaffeehaus, so lange diese geöffnet sind, und erfüllen ihre schwere Polizeipflicht in stumpfsinnigem Rauchen ihrer Tschibuks und im Kaffeetrinken. Zu halben Dutzenden sah ich diese patrouillirenden Polizeidiener an Sommerabenden auf dem „piccolo campo“, dem Promenadenort der feinen Welt von Pera sitzen, und vor den Kaffehäusern den Fremden die Plätze wegnehmen. – Das nennt man türkisches Polizeiwesen.
[474] Schon bei meinem ersten Gange vom Hotel nach dem österreichischen Consulat in Pera machte mich der Wirth, mein Führer, mit diesem Maltesergäßchen bekannt, und zu meinem eben nicht angenehmen Erstaunen sah ich, daß dasselbe gerade in die Straße meines Hotels mündete und sich höchstens 150 Schritte von diesem befand.
„Sehr angenehm für Ihre Gäste, diese Nachbarschaft,“ sagte ich zum Wirth.
„O, es hat nichts zu bedeuten, meinte dieser, „am Tage ist diese Gasse ja unschädlich und Abends gehen meine Gäste wenig aus; übrigens ist seit Kurzem ein Nachtwächterposten diesem Gäßchen gegenüber aufgestellt.“
„Erlauben Sie mir die Bemerkung, Herr M.,“ antwortete ich auf diese naive Aeußerung, „daß ich gerade des Abends auszugehen pflege und in so fern also eine Ausnahme von Ihren übrigen Gästen machen werde. Uebrigens hat diese Nachbarschaft, was mich betrifft, wirklich nichts zu bedeuten, sie ist mir im Gegentheil ganz interessant.“
Nichtsdestoweniger war ich mit dieser Nachbarschaft bald doch nicht so einverstanden, wie ich vorgegeben hatte; mein Weg führte mich stets nach Pera hinauf, und ebenso war es eine meiner liebsten Zerstreuungen, die Abende auf dem piccolo campo, auf der Höhe von Pera, zu verbringen und von dort über den sich tief hinabgehenden Kirchhof mit seinen geheimnißvollen dunklen Cypressen und über das im Mondenschein glitzernde goldne Horn nach Stambul hinabzuschauen, das sich dann wie eine im Mondlicht gehüllte vielgestaltige Masse vor mir ausbreitete. Mein Weg nach Galata zurück war in später Nacht kein angenehmer, zumal ich in der Regel meine Papierlaterne nicht bei mir zu haben pflegte. Die nach Galata steil hinabführende, kaum fünf Fuß breite Straße war schon bei Tage halsbrechend genug, bei Nacht aber, wenn die niedrigen Vordächer der Häuser keinen Schimmer des Mondes hereinließen, war sie kaum zu passiren; mühsam muß man an den Häusern hinabtappen und jeden Augenblick riskiren, über einen schlafenden Hund oder einen Kothhaufen zu stolpern. Noch wenig orientirt in den engen Gassen, welche sich in Galata unten nach beiden Seiten hinziehen, war es dann in der Regel mein Schicksal, mich in denselben zu verlaufen; zwei-, dreimal riefen mich türkische Wachen oder Nachtwächter an, denen ich (ohne Laterne) Rede stehen mußte, und wenn ich dann endlich meine Straße erreicht, hatte ich nicht ohne einiges Unbehagen an dem Maltesergäßchen vorbei zu gehen, das mir auf Grund von allerlei albernen oder vernünftigen Erzählungen ziemlich unheimlich geworden war. Die Gassen eines Dorfes können Nachts nicht so todt und finster sein, wie diese riesige Weltstadt, die sich schon nach Sonnenuntergang zu entvölkern beginnt und in der man am späten Abend keiner sterblichen Seele begegnet.
Am vierten Tage meiner Anwesenheit in Constantinopel kehrte ich schon um neun Uhr Abends mit Carmond vom piccolo campo zurück; unser Weg führte uns in der steilen Galata-Straße an der „London-Tavern“ vorbei, in welcher Carmond vorzüglichen Wein entdeckt, und in welcher er gern einzukehren pflegte. An zu Bette gehen wurde von uns noch nicht gedacht, wir traten in diese Taverne und fanden in dem Zelt im Hofe eine kleine Gesellschaft von Männern der verschiedensten Nationen, welche mit dem edlen Hazardspiel beschäftigt war. Eh’ ich mich dessen versah, hatte Carmond an demselben Theil genommen und seine mit englischen Lires gefüllte Börse vor sich auf den Tisch gelegt. Ich schaute mit Vergnügen zu; Carmond schien Glück zu haben und blieb im Glück, bis ich mich von ihm trennte, um noch einem hannöverschen jungen Arzte im Hotel Adieu zu sagen, der am andern Morgen zur anatolischen Armee abgehen sollte. Es war elf Uhr, als ich das Hotel erreichte, auch Carmond’s Weg nach Hause war kein weiter, da er in einer der angrenzenden Gassen wohnte.
Eine Stunde saß ich mit dem Dr. L. auf der Veranda im Hofe des Hotels, als wir hastig und stark mit dem Klopfer der Hausthür lärmen und einen lebhaften, abgebrochenen Wortwechsel auf der Straße hörten. Der Hausknecht und der Cameriera eilten hinab, um zu öffnen, denn sie waren die einzigen, die außer uns noch im Hotel wachten – Carmond wankte athemlos in die Veranda und warf sich neben uns auf die Bank: er war bleich, ohne Kopfbedeckung und preßte die Hand krampfhaft in die Hüfte. Ich glaube, ich war bleicher als er, als ich meinen sonst so aufgeräumten Freund in dieser Verfassung sah, und bestürmte ihn mit Fragen. Er nahm die Hand von der Hüfte, sie war blutig. Jetzt sprang auch Dr. L. auf; da Carmond so athemlos war, daß er nicht sprechen konnte und nach Luft schnappte, so untersuchte L. schweigend seine Hüfte und zeigte mir einen Messerstich, den Carmon hinterrücks zwischen der letzten Rippe und dem Hüftknochen erhalten, der jedoch nur die Oberfläche des Fleisches gestreift hatte. Carmond litt offenbar mehr an den Folgen seines panischen Schrecks als an heftigem Schmerz, da die Wunde nicht gefährlich sein konnte.
Das ganze Haus wurde nun wach getrommelt, L. legte dem jungen Franzosen einen leichten Verband an und dieser kam wieder zu sich. War die Sache nicht gefährlich, so war sie doch äußerst interessant; das ganze Ereigniß war Folgendes: Carmond hatte mit anhaltendem ziemlichem Glück gespielt und etwa zwanzig Lires gewonnen. Die Gesellschaft hatte sich um halb zwölf Uhr aufgelöst und Carmond hatte mit einem der Herren, der sich für einen Syrioten ausgegeben und sehr elegant gekleidet war, zusammen den Weg nach Galata hinab eingeschlagen, auch dessen weitere Gesellschaft gern angenommen, als er auf die Frage des Syrioten geantwortet, daß er seine Straße zwar nicht genau kenne, sie jedoch zu finden hoffe. Unten angekommen hatte der Fremde, in demselben Moment, wo sie die Keule des Nachtwächters nach der entgegengesetzten Richtung, also sich entfernend, auf dem Pflaster gehört, Carmond plötzlich an der Ecke aufgehalten und ihm eine kurze Anekdote in der Dunkelheit erzählt. Der Nachtwächter hatte sich entfernt und beide waren um die Ecke in die Straße eingebogen, in welcher mein Hotel sich befand, was aber Carmond nicht beobachtet hatte, da er über seine Straße bereits hinaus war. Plötzlich war sein Begleiter ihm von der Seite verschwunden, Carmond stand einen Augenblick da, um sich zu orientiren, und sah dann in dem Gäßchen, vor welchem er stand, einen Schatten, in welchem er seinen Begleiter zu erkennen glaubte. Er eilte ihm nach in die Gasse und rief ihn an, um von ihm, der sich so ungalant entfernt, wenigstens zu erfahren, wohin er selbst sich jetzt wenden müsse. Der Schatten war ihm vor den Augen verschwunden, in demselben Moment aber erhielt er hinterrücks den Stich und wurde durch diesen zu Boden geworfen. Ein schneller Gedanke fuhr ihm durch den Kopf, der Gedanke an das Maltesergäßchen, von dem noch heute zufällig bei Gelegenheit eines an einem Engländer verübten Mordes die Rede gewesen. Gewandt wie er war, raffte er sich auf, stürzte aus der Gasse, lief die Straße hinab und wurde hier von einem aus dem Dunkel hervortretenden Nachtwächter angehalten, der ihm die Keule vor die Füße setzte und zu wissen verlangte, wer er sei. Hier hatte sich denn, als Carmond dem Nachtwächter französisch antwortete und dieser ihn hartnäckig nicht verstehen wollte, endlich ein Wortwechsel entsponnen, der Carmond vollends außer Athem brachte und damit endete, daß er den Nachtwächter bei Seite schob, auf das Hotel zu sprang, dessen bis mitten auf die Straße Hangendes Schild er erkannt, und heftig mit dem Klopfer lärmte. „Sacre nom de Dieu, Monsieur, laissez moi et saisez vos meurtriers!“ schrie Carmond, als ihn der Nachtwächter auch dahin verfolgte, und fing von neuem an, mit dem Klopfer Sturm zu läuten. Jetzt war der Cameriera in der Hausthür erschienen, hatte dem Nachtwächter erklärt, daß der Herr in diesem Hotel wohne, und somit war Carmond salvirt – seine Börse aber war verschwunden und wahrscheinlich während der Anekdotenerzählung ihm von seinem Begleiter, dem Syrioten, aus der Tasche escamotirt worden. Wie sich die Sache mit dem Schatten verhielt, dem Carmond nachgelaufen, das blieb räthselhaft; Carmond behauptete, es sei der Syriote gewesen und er und kein Anderer habe ihm den bewußten Stahlstich versetzt. Während der Nacht, die er in meinem Zimmer verbrachte, fluchte er ein „sacristi“ nach dem Andern über den Syrioten und schwor, daß er den Kerl wiederfinden wolle und sollte er ihn auch am andern Ende der Welt suchen; ebenso wollte er am andern Morgen auf eine polizeiliche Untersuchung des Vorfalls dringen. Kluge Leute aber riethen ihm erstens: den Syrioten ruhig laufen zu lassen, ja ihm sogar aus dem Wege zu gehen, wo er ihn finde, damit er sich nicht neuen Verfolgungen aussetze; und zweitens: die Sache nicht anhängig zu machen, da Alles, was in der Türkei ohne Zeugen geschehe, überhaupt gar nicht geschehen ist. – Carmond hatte übrigens sowohl seine unbedeutende Wunde als seine Börse bald [475] verschmerzt, und sein größter Kummer blieb, daß er sich nicht mehr mit der Unbefangenheit amusiren könne, mit welcher er in Konstantinopel angelangt; eben deshalb verließ er die Stadt noch ehe sein Urlaub abgelaufen, begab sich nach Varna zurück und wird in diesem Augenblick wohl im Begriff sein, vor Sebastopol Wunder der Tapferkeit zu verrichten. – Was mich betrifft, so fand ich in dem obigen Abenteuer einen sehr willkommenen Vorwand, das Hotel in Galata zu verlassen und nach Pera zu ziehen.