Das Local von Goethe’s Wahlverwandtschaften
[615] Das Local von Goethe’s Wahlverwandtschaften. Nicht Vielen, selbst der genaueren Kenner Goethe’s, dürfte es bekannt sein, daß Goethe bei der Erfindung des Locales seiner „Wahlverwandtschaften“ eine bestimmte, leicht auffindbare Oertlichkeit vor Augen hatte, deren wesentlichste und charakteristischste Motive er in sein Landschaftsbild aufnahm und gerade für die bedeutendsten Momente des Romans verwerthete. Schon vor mehreren Jahren ist dies vom Professor Weiße in Leipzig entdeckt und bisher nur unter der Hand verbreitet worden, die frappanteste Bestätigung der Einzelheiten fand sich im Frühjahre 1865, als der Unterzeichnete mit mehreren anderen Freunden den – jetzt leider vor Kurzem verstorbenen – Professor Weiße auf Ausflügen in der Umgegend von Eisenach begleitete.
Der Ort ist Wilhelmsthal bei Eisenach, bekanntlich ein großherzogliches Lustschloß mit Parkanlagen, an deren Einrichtung Goethe thätigen Antheil nahm. Sofort überzeugend, daß Ottiliens tragisches Geschick hier und nirgend anders sich vollzog, wirkt der Blick auf die drei Teiche – das Bett des hintersten fanden wir trocken –, welche, durch Dämme von einander geschieden, die Thalsohle einnehmen. Hier auf dem vordern Damme stand das zuschauende Volk während jenes unglücklichen Festes, an welchem dort auf dem mittleren Damme das Feuerwerk abgebrannt wurde. Dort hebt sich auch der runde, von schlanken Bäumen umpflanzte Platz mit der Ruhebank hervor, Ottiliens Lieblingsplatz, zu dem sie so gern hinüberruderte und von welchem man zu Wasser schneller, als auf dem Fußwege, zum Schlosse gelangte. Nach kurzem Umhergehen haben wir die vollkommene Illusion, als wandelten wir gleichsam im Romane selbst umher und als müßten wir hinter der nächsten Ecke Eduard und den Hauptmann mit Messungen beschäftigt und unter Berathungen über eine wichtige Veränderung der Anlagen antreffen. Hier liegt der Kahn und wartet seiner Führerin. Charlotte scheint den Ort des neuen Hausbaues aufzusuchen, denn wir finden sie nicht im Thal. Aber wo stand das neue Haus? Professor Weiße fand es auf dem Hirschstein, und in der That hat man von dort einen schönen Blick auf die Teiche, wenn man das inzwischen emporgeschossene Gesträuch hinwegdenkt. Ein Dorf mit Kirche und Kirchhof hat [616] der Dichter nach Bedürfniß aus der Nachbarschaft hereingezogen; in der Wirklichkeit finden wir nur zwei oder drei Häuser hinter dem Gasthofe; die Felspartien hat er gleichfalls verlegt, den Wald beträchtlich vermindert. Aber sollte er die idyllische und verhängnißvolle Mühle erfunden haben, zu der die Liebenden unvermuthet vom Schlosse aus ein versteckter Waldweg führte? Wir fragen im Gasthofe nach einer etwa eine Viertelstunde vom Schlosse entfernten Mühle. Man weist uns die Chaussee hinauf, die uns scheinbar von unserm Ziele entfernt; plötzlich hören wir jedoch das Rad: da ist die Mühle, alt und bäuerlich, dicht an dem vom Schlosse sich herziehenden Walde, so daß sie den von dort Kommenden bei dem ersten Schritte in’s Freie als willkommener und anmuthigster Ruhepunkt sich darbieten mußte, und da ist jene Laube, wie mit Absicht unverändert gelassen, seitdem sie die stille Neigung des holdesten und besten Mädchens verrathen! Eine junge Müllerin „von der guten und zuthätigen Art“ – um mit unserm Altmeister zu sprechen – berichtet uns, daß die Mühle seit ihrem Urahnherrn in den Händen ihrer Familie gewesen, daß sie seit undenklicher Zeit nicht verändert worden, daß vor vielen Jahren ein „Promenadenweg“ von da bis zum Schlosse durch den Wald gehauen worden. Wir gingen den Promenadenweg zurück nach dem Schlosse und überzeugten uns hier und da von der Gefahr, welche, ehe der Weg gebahnt war, Ottilien bei schroffem Abstieg von ihrem Medaillon drohen mußte. Als endlich Prof. Weiße jenseits der Mühle an der Chaussee das Terrain nach seinen Erinnerungen an den Roman zu wenig bewaldet fand, eilte Einer von uns zur Müllerin zurück und kehrte mit der frohen Botschaft wieder, daß dort erst vor einigen Jahren geholzt worden sei.
So durften wir die Acten schließen und wurden einig, unsere Resultate und Forschungen zu veröffentlichen, welches denn hiermit, zwar erst nach länger als einem Jahre, aber wohl nicht zu spät und nicht unwillkommen, geschehen sein möge.