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Das Lauterbrunnenthal in den Berner Alpen (Schweiz)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
CCCLXXXVIII. Das britische Parlament Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band (1842) von Joseph Meyer
CCCLXXXIX. Das Lauterbrunnenthal in den Berner Alpen (Schweiz)
CCCXC. Der Zuger See in der Schweiz
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LAUTERBRUNNENTHAL
in der Schweiz

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CCCLXXXIX. Das Lauterbrunnenthal in den Berner Alpen (Schweiz).




„Lauterbrunn, Thal des Lieblichen und wundervollen, des Schauerlichen und Erhabenen, wer dich nicht selbst gesehen hat, wage es nicht, dich zu beschreiben! –“ – so mahnt Matthisson. Auch ich sah dich nicht, und so folge ich gern der Schilderung eines Freundes, den du vergangenes Jahr entzückt hast.

„Es war ein warmer, heiterer Juniabend, als ich auf der kleinen Terrasse vor dem gastfreien Lauterbrunner Pfarrhause saß, versunken in den Anblick der glühenden Gletscher und der alle Firnen und Hörner des Gebirgs überragenden Jungfrau, welche ihr ewig starres Haupt 13,000 Fuß hoch in den blauen Aether hebt. Halb im Schatten ruhte unter mir, still und verborgen wie manche gute That, das Dörfchen Lauterbrunn mit seinen zerstreuten Hütten und lichtgrünen Wiesen und Weiden. Unzählige Quellen durchrieseln und beleben das enge Thal, und von den himmelhohen Felswänden herab stürzen sich, in Dunst aufgelöst, brausende Bergbäche. Einer derselben ist der berühmte Staubbach, einer der schönsten und merkwürdigsten Wasserfälle der Schweiz. Weiter im Thale hinauf bricht sich ein anderer berühmter Wassersturz, der des Trümmelbachs, mit furchtbarem Getöse, über und durch den hohen Mönch den Weg zum Abgrund. Unersteigliche Berge, mit ewigem Schnee bedeckt, schließen das Thal und zwingen den Wanderer zur Umkehr.“

„Die Umgebung Lauterbrunns ist nicht weniger romantisch, als das Thal selbst, und jeder, der herkommt, pflegt deshalb einen oder ein paar Tage da zu verweilen.“

„Den nächsten Morgen in aller Frühe bestieg ich, in Begleitung eines Führers, zuerst die kleine Scheideck, welche das Lauterbrunnerthal vom Grindelwald scheidet und am Fuße der Jungfrau liegt. Auf dem Sattel ergötzt die imposanteste Ansicht des Grindelwalds mit seinen beiden colossalen Gletschern, und im Hintergrunde steigt die große Scheideck auf, über welche der Weg nach dem Rosenlaui-Gletscher, dem Reichenbach und nach Meyringen führt. – Wir setzten, den stachelbewaffneten Alpenstock in der Hand, über mehre Klafter dicke, festgefrorne Schneefelder, an Abgründen hin und über Schluchten und Spalten. Wie von Edelsteinen übersäet, so blitzte und flimmerte vielfarbig in der Morgensonne die Schneedecke. Rund um mich her ragten weit über die bewohnbare Welt hinaus die Eisgebirge. Ich bewunderte; doch mit viel größerer Bewunderung vor der eigenen Natur wurde ich erfüllt, als mein Führer auf die Stelle an einer fernen Gletscherwand hindeutete, wo Agassiz [50] mit seinen Freunden Bohrversuche und Beobachtungen veranstalten, um das Wesen der Gletscher und ihr räthselhaftes, selbstthätiges Wirken im Erdenhaushalte zu erforschen.“

„Wie kühn ist doch der menschliche Geist in Beseitigung der Hindernisse seiner wissenschaftlichen Ausbildung, und wie eben so unersättlich als ehrwürdig ist der Durst nach höherer Erkenntniß, welcher die Edelsten durchdringt! Hoch über dem Bohrthurm kreiste ein Steinadler still und einsam, und knüpfte gleichsam des Menschen Trachten an den Himmel. Lange ruhete mein Blick auf dem Punkt im Aether, wo der Adler schwebte. Andacht kam in meine Seele, und ich sah hinan, wie der Gläubige einer Vorsehung aus den Weltstürmen zum Himmel sieht, und fand Trost und Kraft, zu überwinden. – – – Die Stimme meines ungeduldigen Führers störte mich aus meiner Betrachtung und gab mich der Erde zurück. Ich schaute umher; welche Herrlichkeit! Die ganze Kette des Hochgebirgs mit seinen Jöchern und Gräten, den hochanstrebenden Hörnern und Zacken – über alle das gewaltige Schreckhorn und das finstere Aarhorn – lag vor mir aufgedeckt. Ich hörte die dumpfen Töne fern-stürzender Lawinen, wie Rollen des Donners, und lauschte unheimlichem Geflüster und Knistern in der Tiefe, zuweilen aufgeschreckt vom Krachen berstender Eismassen oder zusammenbrechender Schneegewölbe fast unter meinen Füßen. Ueberall offenbarte sich das Walten verborgener Kräfte und unsichtbares Leben. – Nach langem Zaudern folgte ich dem mahnenden Führer zur Heimkehr. Wir nahmen einen andern Weg über einer Reihe grüner Alpenmatten, auf welchen jodelnde Hirten ihre Heerden weideten. Mehre Sennhütten lagen zerstreut am Pfade. Nach meiner Gewohnheit ging ich an keiner vorüber, ohne einzusprechen. In allen traf ich jene biedern, unverdorbenen Menschen, die rechten Angehörigen eines hochsinnigen Volks, welches so nahe dem Himmel zu wohnen verdient, und unter allem Wandel der Zeiten deutsche Art und Kraft, in Fleisch und Geist, treu und unversehrt bewahrt hat.“

„Eine andere und eine der schönsten Partien um Lauterbrunn wurde mein nächstes Wanderziel: – der Rosenlaui- Gletscher, der sich mit seinen ungeheuern, blauweißen Krystallen und Würfeln bis tief herunter in’s wilde Bergthal von Reichenbach herabzieht. Dicht am Fuße des Eisbergs liegen die Gebäude des Rosenlaui-Bads, ein zweites Gastein, nur noch romantisch-wilder als jener berühmte Kurort Tyrols.“

„In naturwissenschaftlicher Beziehung gehört das Lauterbrunnenthal und dessen Gegend zu den interessantesten in der ganzen Schweiz. Vorzüglich wird es von Geognosten häufig besucht. Welche mannichfaltige Aufgaben stellen aber auch diese Gebirge der Forschung! Die Formationen sind von dem verschiedensten Alter, und ihre aufeinandergethürmten oder gestürzten Massen sind entweder redende Zeugen von urplötzlichen Umwälzungen, oder jenes Neugestaltens, welches Millionen Jahre lang die arbeitenden Naturkräfte beschäftigt. Und wie inhaltsschwer sind diese Jahrbücher für den kundigen Beobachter, diese Felsen, an denen Aeonen gebildet [51] und zertrümmert haben, diese Rümpfe und Ruinen von ganzen Gebirgen, welche umgestürzt wurden und nun die Thäler und Abgründe mit ihrem Staube füllen, über die sie herrschten! – Ernst mahnen diese Gräber der Alpen an die Vergänglichkeit alles Hohen und Festen auf Erden; wenn wir aber ihre grünen Decken sehen und die neuen, oft so schönen Bergformen, die aus dem Schutte der alten entstanden: so predigen sie zugleich die Ewigkeit des waltenden und gestaltenden Geistes, dessen unvergänglicher Hauch alles Geschaffene durchdringt. Erkenntniß kehrt dann in der Seele ein, ihre Zweifel schwinden und klar wird, daß alles untergehen ein Wiederaufgehen bedingt, eben so, wie Sonnenaufgang von Sonnenuntergang bedingt ist. In jedem fallenden Stäubchen sehe ich dann das Streben zum Neugestalten, und jeder sterbende Wurm beweist mir meine Unsterblichkeit. Ja, überall, in Allem, was mich umgibt, lese ich die Worte des Dichters:

Und hat der Geist die Erdenbahn vollendet,
Schwingt er sich auf, zum ew’gen Licht gewendet.