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Das Land der Seelen

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Das Land der Seelen
Untertitel: Ein Fragment
aus: Zerstreute Blätter (Sechste Sammlung) S. 95–142
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Erscheinungsdatum: 1797
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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Quelle: Google und Commons
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[95]
II.
Das Land der Seelen.
______
Ein Fragment.

[97] Es ist wohl keine Gegend, wohin unsere Untersuchung, Phantasie und Neugier einen kühneren Flug wagt, als das Land jenseit des Grabes. Um den Staub des Begrabenen ist alles so still: kein Laut, keine Stimme kommt jenseit her, auch wenn es das Herz dessen, der seine Geliebten dahinsandte, so sehnlich wünschet. Die Psyche, die sich dem Leichnam des Verstorbenen entwindet, der junge Phönix, der aus der Asche hervorgeht, sind unserm sterblichen [98] Auge unsichtbar. Die Vernunft, die nur aus Erfahrungen und nach der Analogie schließt, weiß an Data und Aehnlichkeiten dieses Lebens (etwa die einzige Entwickelung der Raupe zum Schmetterling) so wenig sichere Schlüsse über den künftigen Zustand der Erdebewohner zu heften, daß sie sich begnügen muß, aus allgemeinen Grundsätzen, die hie und da wirklich zu viel beweisen, oder noch kräftiger, aus der ganzen Gestalt unsrer Natur, aus der moralischen, hier ziemlich unbefriedigten oder unvollendeten Anlage des Menschen fortzuschließen. Zuletzt also, wenn sie keinen andern Wegweiser annehmen will, läßt sie Ahnungen und Wünsche für Hoffnungen gelten, die dem Gemüth des Verlangenden und dem moralischen Zweck dieses Lebens gnug sind, selten aber die Phantasie, die sich ihr Gemählde mit allen Farben ausmahlen möchte, befriedigt. Es ist daher kein Volk der Erde, das sich nicht nach seinen Wünschen und Lieblingsbegriffen dies Gemählde [99] ausgemahlt hätte; und da die Dichter dem geheimen Verlangen menschlicher Herzen gerne schmeicheln, so haben dichterische Völker auch den ganzen Schatz ihrer hier unerreichten Wünsche ins weite freie Land jenseit des Grabes verlegt, und nach Herzens Lust und Liebe daselbst entwickelt. Wir wollen einige dieser Meinungen und Dichtungen verschiedner Völker durchgehen, und am Ende daraus einige Schlüsse ziehen.

Ich lasse das Volk ganz dahin gestellt, dem eine Offenbahrung d. i. ausserordentliche Fakta der Vorsehung, nebst Entwicklung derselben von ihren Gottbegeisterten Weisen, seine Begriffe und Hoffnungen lenkte; die Untersuchung des Ganges dieser Lehre bei den Ebräern wird eines andern Orts seyn. Hier bleiben wir bei Völkern, die im Nebel ihrer Sinne, unter den Wolken des engen Horizonts, der sie einschloß, [100] umhergiengen, und fragen, was sie dachten? wie weit sie’s brachten?


I. Einige Morgenländische Völker.

Die Morgenländer, die ihre Todten begruben, scheinen der Idee des Grabes treugeblieben zu seyn. Das Grab war ihnen Wohnung der Todten, das bleibende Haus ihrer Ruhe; und sie bildeten dies Gemählde um so mehr aus, da sie die Ungewißheit und Flüchtigkeit dieses Lebens, das Unzuverläßige der Wohnungen, die wir jezt bewohnen, ihrer Sprache und Denkart nach, stark schilderten und innig fühlten. Einer von den Königen Korasans sah, in Sadi’s Dichtung, den langverstorbnen Sultan Mahmud im Traum. Sein ganzer Körper war Asche; nur seine Augen blickten unversehrt hell im Sarge umher. Er fragte die Weisen um des Traums Deutung und Einer von ihnen sagte: [101] „Er blickt auf dich aus seinem Grabe“ und spricht dir zu:

Einst hab’ ich diesen Pallast auch bewohnt,
Auf deinem goldnen Thron hab’ ich wie Du gethront.
Wie viele vor mir schon, die dort geglänzet haben,
Sind auch wie ich, zu Staube Staub, begraben.
Wir sind vergessen; nur Nuschirvan lebt,
Deß Namen keine Zeit begräbt.
Folg’ ihm, und tritt in seine Spur;
Was man der Menschheit that durch edle große Gaben,
Das bleibt im Tode nur –


Da die Araber die Gräber als Wohnungen ihrer Freunde und Vorfahren betrachteten, ehrten sie solche sehr, wässerten, kühlten und [102] bepflanzten sie mit Bäumen. Ihr Glaube war, daß sich auch die Asche der Todten an dieser Kühlung labe; daher in ihren Gedichten es ein oft wiederkommender Wunsch ist, daß Morgenwolken sie mit reichlichem Regen bethauen mögen:

Kommt, besuchet den Maan, und sprecht zu seinem Grabe:
Morgenwolken thauen auf dich, mit Regen auf Regen!
Höre, du Grab des Maan, du Erste Grube der Erde,
Des Freigebigen Bett, der Meer und Länder beglückte,
Höre, du Grab des Maan, die Milde schließest du in dich
Todt – denn lebte Sie, du schlößest, Grube, sie nicht ein,
Die weitherzige Brust, die keinem Freunde sich zuschloß.

[103]

Doch sie lebet, sie lebet im Ruhm dankbarer Genossen,
Wie der wässernde Strom reichblühende Auen zurückläßt.

Wie sie hier das Grab ansprechen, reden sie oft den Todten selbst an, und glauben, seine dumpfe murmelnde Stimme, die sie das Echo der Gräber nannten, zu hören. Diese Stimme der Gräber war eine gemeine Meinung, und die Dichter haben sich ihrer vielfach bedienet. So spricht z. E. der Geliebte zu seiner Geliebten:

Wenn im Grabe wir liegen, und nun sich unsere Stimmen
     Dumpf begegnen, wie sich Schatte mit Schatte bespricht,
Laila, bin ich auch Staub; mein Staub wird wallen und hüpfend
     Echo werden dem Laut, der deine Stimme mir bringt.

[104] In einer andern Elegie auf den Tod eines Freundes, spricht dieser seinen verlassenen Gehülfen aus seinem Grabe Muth zu.


 Elegie auf Said.

Euch beneid’ ich anjezt, des Staubes stille Bewohner,
     Glückliche Todten! es wohnt Said nun unter euch auch!
Mir entrissen, und jetzt! da unter Mengen der Feinde
     Said allein mir half, Said statt Aller mir war.
Wehrlos steh ich, wie dem die Spitze des Schwerdtes geraubt ist,
     Und ein gieriger Dolch rächend die Seite durchstößt. – –
Wir besuchten den Sterbenden; ach! mit Speise des Schmerzes,
     Mit durchsäuertem Gram sättigte sterbend er uns.

[105]

Stumm verließen wir ihn; die Saat des heißen Verlangens
     Streut’ er in unsere Brust: wässert, o Thränen, die Saat!
Lasset sein Erb’ uns theilen – ein reiches Erbe des Freundes!
     Seinen herrlichen Ruhm, Freunde, den ließ er uns nach,
Aus der Stille der Gruft spricht Er, ein mächtiger Redner!
     Jetzt, im Staube verstummt, spricht er am lautesten uns.

Ein andres, späteres Grabgedicht, das sich auf die Idee bezieht: „der Mensch gehe in seinen Ursprung zurück, in den Schoos der Mutter, aus dem er kam“ ist das Lob einer stillen, verschwiegnen Tugend, und gewiß auch eine Perle des Lobes:


 Die zurückgenommene Perle.

Hin bist du, Naami! du edle Perle. Der Himmel
     Schuf zum Schmuck der Welt Dich aus dem reinesten Thau;

[106]

Aber sie kannte dich nicht in deinem Glanze; der Himmel
     Legt mit Neide dich jetzt sanft in die Muschel zurück.


Es ist bekannt, daß Muhammed die Auferstehung der Todten, das Gericht, Belohnung und Strafe jenseit des Grabes in seinem Koran sehr eingeschärft, und als einen Hauptartikel zu glauben verordnet hat. Züge davon fand er in der Tradition seines Volks, die ganze Einfassung nahm er von Juden und Christen; nur daß er sie nach den Lieblingsbegriffen seiner Nation und etwa nach den Affekten seines eignen Herzens modificirte. Wenn ein Leichnam ins Grab gelegt wird, spricht seine Sekte, wird er von einem Engel aufgehoben, und von zween andern über sein Leben gefragt. Besteht er wohl, so lassen sie ihn bis zur Zeit der Erweckung in Friede ruhn, und ein kühler Wind [107] aus dem Paradiese kommt täglich seine Asche zu kühlen. Bestehet er übel, so leidet er die Schmerzen des Grabes. Mit eisernem Stabe werden ihm die Glieder zerschlagen, und seine Sünden, in Gestalt der Würme, nagen seinen Leichnam. Nach einer andern Tradition bleibt die Seele des Menschen eine Zeitlang am Grabe schweben, mit der Freiheit hinzugehen, wohin es ihr gefällt. (Ohne Zweifel war dies die alte Meinung, die Muhammed vorfand und aufnahm. Jene grausere Vorstellung war Rabbinisch. – Er soll die Seelen der Vorfahren fleißig bei den Gräbern gegrüßt haben, denn der alte Gebrauch, die Gräber der Anverwandten zu besuchen, ließ sich nicht gern stören.) Oder sie giengen in eine Art mittlern Zustandes und kosteten, wenn sie gut gewesen, zuerst als schöne grüne Vögel von den Früchten des Paradieses; dahingegen die Seelen der Bösen in eine Grube geworfen wurden. Nur wenige Heilige und Gerechte steigen sogleich ins Paradies, wo [108] Muhammed sie, auf seiner berühmten Nachtreise in den Himmel, zur Rechten und Linken der Seele Adams sahe.

Nach der Auferstehung und dem Gericht hatten die Araber, wie andre Völker, die Brücke al Sirat zu durchgehen, auf der man ins Paradies gelangte. Sie ist fein wie ein Haar und schärfer als die Schneide des Schwerdts; unter ihr und auf beiden Seiten ist Abgrund. Die Frommen gehen leicht wie die Luft hinüber: die Bösen stürzen hinunter; und wer sich z. E. eines unversöhnten Feindes, eines nicht erstatteten Unrechts bewußt ist, muß an der Brücke warten bis sein Feind kommt, und sich mit ihm versöhnen, oder Mittel der Erstattung suchen, eh er hinüber könnte. Die geglaubte Dichtung scheint bei den Morgenländern nicht ohne moralischen Nutzen gewesen zu seyn, da sie, so wie auch die Dichtung von der großen Waage des Weltgerichts, vorzüglich auf Friedfertigkeit, [109] Billigkeit, Wiedererstattung drang – die nothwendigsten Tugenden zum geselligen Leben der Menschen. Als Muhammed sterben wollte, ließ er Alle zusammen rufen und fragte: ob jemand sich über ihn zu beschweren habe? Es fand sich Einer, und ihm geschah Erstattung. –

Das Muhammedanische Paradies endlich ist so bekannt, daß es unnütz wäre, seine Schilderung zu wiederholen. Ein Tropfen Wassers aus dem Paradiese erweckt die Todten; das Eintauchen in den Fluß des Lebens nimmt alle Flecken weg und wäscht weißer als Perlen. Der Baum der Glückseligkeit schattet über einem daurenden Freudenmahl, und giebt Jedem Früchte nach der Lust seines Herzens. Die Mädchen des Paradieses mit großen schwarzen Augen, erschienen bekanntermaaßen oft der Einbildung der Streiter für Muhammed in den ersten Zeiten des Eifers der neuen Religion. Sie winkten ihnen hinüber, trockneten ihre [110] Wunden und kühlten ihre Stirn – kurz, sie waren mit an dem Heldenmuth Ursach, der in jenen Zeiten so viel Länder erobert hat: weil jeder der für den Einen Gott und für seinen Propheten Muhammed stritt, gerad ins Paradies zu gehen gewiß war. – Die Dichter nutzten diese Phantasie auf andere Weise, und kleideten ihre Freude und Liebe in Bilder des Paradieses. Fast kein Liebesgedicht der Morgenländer, insonderheit der Perser, giebt es, wo die Geliebte nicht bald eine Quelle des Lebens, bald eine Rose und Cypresse im heiligen Garten wird, voll ewigblühender Reize, voll unverwelklicher Schönheit. Die Moralisten endlich zogen daraus trefliche Sprüche, z. B. „das Gebet führe auf den Weg zum Paradiese: Fasten und Mäßigkeit öffne die Pforte, die Gutthätigkeit führe hinein.“ – Offenbar ists, daß das Clima der Morgenländer, ihr Hang zur Ruhe und sinnlichen Liebe, ihr Gefallen an Schatten, Quellen und schönen Gegenden, vielleicht [111] auch ihre Opiumträume dazu beigetragen, mehrere dergleichen aus der Tradition benachbarter Völker empfangene Ideen vom Paradiese so zu bilden und zu gebrauchen.


II. Celten.

Von den Arabern gehen wir, des Contrasts wegen, zu den – Celten. Jene setzten das Reich der Verstorbenen in den frühesten Zeiten unter die Erde; diese in die Wolken, und haben es, z. B. in Oßians Gedichten, schön ausgebildet. Proben mögen auch hier reden, und uns das Todtenreich der Galen in den luftigen Wolken des Himmels selbst zeigen. Oßians Sterbelied, womit er sich zu seinen Vätern hinüber singet, fange an. Er hat die Thaten seiner Jugend gesungen, und fährt fort:

[112]

     So waren meine Thaten, Sohn Alpins,
Als stark war meiner Jugend Arm.
So waren Toscars Thaten,
Des Krieggebohrnen Konloch-Sohns.

      Aber Toscar ist auf seiner fliegenden Wolke,
Und ich in Lutha jetzt allein.
Meine Stimme gleicht dem letzten Hauche des Windes
Wenn er den Wald verläßt.

     Doch Oßian bleibt nicht lange mehr allein,
Er sieht die Wolke schon, zu empfangen seinen Geist.
Er sieht den Nebel, der sein Kleid wird seyn,
Wenn er auf Hügeln erscheint.

     Die Söhne der kleinen Menschen[1] schauen dann hinauf,
Bewundernd die Gestalt der Führer alter Tage:
Sie kriechen in ihre Hölen hinein
Und schaun zum Himmel, erschreckt.


[113]

     Dann werden meine Schritte in Wolken seyn,
Und Dunkelheit wird rollen um mich her.

     Sohn Alpins, leite, leite
Den alten Barden zu seinem Hain.
Die Wind’ erheben sich,
Die dunkle Woge des Sees ertönt;
Beugt dort nicht ein Baum vom Mora sich nieder
Und seine Aeste sind entlaubt?
Er beugt sich, Sohn Alpins, im rauschenden Windeshauch;
Meine Harfe hängt am dürren Ast,
Und traurig ist der Klang aus ihren Saiten. –

     Harfe, rühret dich der Wind?
Oder ists vorübergehend ein Geist? –
Es ist Malvinens Hand! [2]
Bringe die Harfe mir, du Sohn Alpins!
Ein anderer Gesang soll steigen auf,

[114]

Mein Geist soll scheiden in dem Gesang’,
Meine Väter sollen ihn hören in ihrer luftigen Hall’.
Ihr dämmernd Antlitz wird sich niederneigen,
Von ihren Wolken werden sie freudig schaun,
Und ihre Hand empfangen ihren Sohn.


               Der Sterbegesang fängt an:

Die alte Eiche neigt sich über den Strom:
Mit allem ihrem Moose seufzet sie.
Das welke Farrenkraut rauscht näher mir
Und mischt sich, wie es webt, mit Oßians Haar.

     Rühre die Harf’ und erhebe Gesang!
Seyd nah, mit allen euren Schwingen, ihr Winde!
Traget hinweg den traurigen Schall,
Zu Fingals luftiger Halle.

     Zu Fingals Halle traget ihn empor,
Daß der noch höre die Stimme seines Sohns,
Die Stimme deß, der einst den Mächtigen pries.

[115]

     Der Nordhauch öffnet deine Thor’, o König,
Auf Wolken seh’ ich sitzen dich,
Dämmrig glänzend
In deinem Waffenschmuck.

     Zwar ist deine Gestalt des Tapfern Schrecke nicht mehr;
Er gleicht der Wasserwolke,
Wenn wir die Sterne hinter ihr schaun
Mit ihren weinenden Augen – –

     Dein Schild ist gleich dem bejahrten Mond,
Dein Schwerdt ein Dunst mit Feuer halbdurchglüht:
Dämmrig-schwach ist jetzt der Führer,
Der vorschritt einst im Glanz.

     Aber auf Winden der Wüste ist dein Tritt
Und Sterne dunkeln in deiner Hand.
Du nimmst die Sonn’ in deinem Zorn
Und birgst sie in die Wolken.

[116]

Die Söhne der kleinen Männer sind erschreckt
Und tausend Regengüsse steigen nieder. –

     Und trittst du wieder in deiner Mild’ hervor;
So spielt das Morgenlüftchen vor dir her;
Die Sonne lacht in ihren blauen Feldern;
Der graue Strom schleicht fort in seinem Thal;
Die Büsche schütteln ihre grünen Häupter:
Die Rehe springen der Wüste zu. – –

     Welch Murmeln auf der Haide dort?
Die stürmigen Winde haben sich gelegt – –
– – Ich höre Fingals Stimme!
Lang’ war sie ferne meinem Ohr.

     „Komm, Oßian, komm! spricht Er,
Fingal hat empfangen seinen Ruhm.
Wir schwanden weg gleich flüchtigen Flammen,
Doch Ruhmvoll schieden wir.


[117]

     Sind unsrer Schlachten Gefilde dunkel gleich und schweigend;
Vier graue Steine sind unser Ruhm.
Die Stimme Oßians sang;
Die Harfe klang in Selma.
Komm, Oßian, komm, spricht Er,
Mit deinen Vätern fleuch’ in Wolken auch Du!“ –

     Und kommen will ich, du König der Männer:
Das Leben Oßians sinkt.
Ich schwind’ hinweg auf Kona.
In Selma sieht man meinen Schritt nicht mehr.

     An Mora’s Steine schlafen werd’ ich nun,
Die Winde, rauschend in mein graues Haar,
Erwecken mich nicht mehr.

     Geh hin auf deinen Schwingen, o Wind,
Du störest nicht des Barden Ruh’.
Die Nacht ist lang – doch schwer sind seine Augen;
Geh hin, du rauschender Hauch.

[118]

     Aber warum so traurig, Fingals Sohn?
Warum wölkt deine Seele sich ein?
Die Führer anderer Zeiten schieden auch;
Sie gingen hinweg mit ihrem Ruhm.
Die Söhne künftiger Jahre werden scheiden;
Ein ander Geschlecht kommt auf.

     Das Volk ist gleich den Wogen des Meers,
Dem Laube des waldigen Morvens gleich,
Es schwindet im rauschenden Windeshauch,
Und andere Blätter erheben ihr grünes Haupt.

     War deine Schönheit daurend, Kyno?
Bestand des Streitgebohrnen Oscars Kraft?[3]
Fingal selber ging hinweg;
Der Väter Halle vergaß auch seinen Tritt.
Und solltest du rückbleiben, alter Barde,
Und Helden sanken hin?


[119]

     Aber es bleibt mein Ruhm!
Er wächst wie die Eich’ auf Morven;
Sie hebt ihr breites Haupt dem Sturm,
Und jauchzt im Laufe des Windes.

So war das Abscheiden Oßians, des Sohnes und Sängers der Helden; anders scheidet Malvina, die Gattin seines in der Schlacht gebliebenen Sohns. Der Sänger hebt an, indem er sich im schönen Thal Lutha gleichsam seine Grabstätte aussucht, und von Malvinens Tode noch nichts weiß.

     Wend’, o wende dich, blauer Strom,
Um Lutha’s enge Ebene winde dich.
Daß die grünen Wälder von Bergen sich über sie hinneigen.
Und nur die Sonn’ am Mittag sie beglänzt.

     Die Distel auf ihrem Fels,
Schüttelt dem Wind’ ihr Haar;

[120]

Die Blume hängt ihr schweres Haupt,
Webend dem Lüftchen zu.

     Als spräche sie dem Lüftchen: „was weckst du mich?
Von Tropfen des Himmels bin ich schwer.
Nah ist meines Welkens Zeit,
Nahe der Hauch, zu entblättern mich.

     Morgen wird der Wanderer kommen,
Er, der in meiner Schöne mich sah,
Sein’ Auge durchsucht das Feld;
Mich findet es nicht mehr.“

     So werden sie suchen auch einst die Stimme von Kona,
Die verhallt ist im Gefild’.
Der Jäger kommt am Morgen früh;
Die Stimme meiner Harfe schweigt.
„Wo ist der Sohn des Streitgebohrnen Fingals?“ spricht er,
Und seine Wange thränt.

[121]

Dann komm’ o Du Malvina,
Mit allem deinem Wohllaut komm!
Leg’ Oßian in die Ebene Lutha’s hin,
Sein Grab laß steigen im lieblichen Gefild.

     Malvina! wo bist, wo bist du mit deinem Gesang?
Mit deiner Tritte sanftem Laut?
Sohn Alpins, bist du nah?
Wo ist die Tochter Toscars? –

     „Ich ging vorbei, Sohn Fingals, bey Torkutha’s moosiger Wand;
Der Rauch der Halle war nicht mehr
Schweigen war im Haine des Hügels,
Die Stimme der Jagden schwieg.

     Ich sah die Töchter des Bogens und fragte nach Malvina,
Doch sie antworteten nicht.

[122]

Sie wandten ihr Antlitz weg,
Ein dünner Nebel bedeckte ihre Schöne.
Sie waren wie Sterne zu Nacht auf einem Regenhügel,
Wenn jeder schwach durch seine Wolke blickt.“

     Sanft[4] sei deine Ruhe, lieblicher Strahl!
Bald bist du untergegangen auf unsern Hügeln.
Die Schritte deines Scheidens waren schön,
Wie der Mond auf blauen zitternden Wogen sinkt.

     Aber uns hast du gelassen in Dunkelheit,
Erste der Mädchen in Lutha.
Wir sitzen auf dem Felsen; es kommt kein Laut.
Kein Licht ist dort als das Feur des Meteors.
Bald bist du untergegangen, o Malvina,
Tochter des edlen Toscar.

     Doch du gehst auf, wie der Strahl des Osts,
In Mitte der Geister deiner Freunde auf,

[123]

Dort, wo sie sitzen in ihren stürmigen Hallen,
In den Kammern des Donnerlauts. – –

     – – Eine Wolke hängt auf Kona dort:
Ihre blauen krausen Seiten stehen hoch:
Die Winde mit ihren Schwingen sind unter ihr:
In ihr ist Fingals Wohnung.
Da sitzt der Held im Dunkel,
Den luftgen Speer in seiner Hand:
Sein Schild, mit Wolken halb bedeckt,
Ist gleich dem dunkeln Mond,
Wenn Eine Hälfte noch in Wogen schwebt
Und die andre kränklich blickt aufs Feld.

     Seine Freund’ auf Wolken, rings um den König her,
Sie hören Ullins Gesang:
Halb unsichtbar die Harfe, rührt er sie,
Und erhebt die schwache Stimme.
Die kleinern Helden mit tausend Meteoren
Erleuchten die luftige Hall.


[124]

     Malvina steigt in ihrer Mitt’ hinauf,
Die Wange hold beschämt.
Sie sieht die unbekannten Antlitz’ ihrer Väter
Und kehrt hinweg den nassen Blick.
„Bist du so bald gekommen? ist Fingals Wort,
Tochter des edlen Toscar.
Trauer wohnt nun in den Hallen von Lutha,
Traurig ist mein bejahrter Sohn.“

     Ich höre das Lüftchen von Kona,
Das sonst mit deiner schweren Locke spielte.
Es kommt zur Halle; doch du bist nicht da,
Es rauschet traurig unter den Waffen deiner Väter.
Geh hin, o Lüftchen, mit deiner rauschenden Schwinge,
Und seufze auf Malvinens Grab.
Es hebt sich unter jenen Felsen dort
An Lutha’s blauem Strom.
Die Mädchen sind hinweg an ihren Ort,
Und du allein, o Lüftchen, traurest da.


[125]

     Aber wer kommt dort aus dem dunkeln West,
Gestüzt auf eine Wolke?
Ein Lächeln ist auf seinem grauen Antlitz,
Seine Nebellocken fliegen im Wind’ empor.
Er beugt sich vor, auf seinem luftgen Speer –
Dein Vater ists, Malvina.
Warum, spricht er, erscheinest du so bald
Auf unsern Wolken, Lutha’s lieblich Licht?
Doch du warst traurig, meine Tochter,
Denn deine Freunde waren hinweg.
Die Söhne der kleinen Männer waren in der Halle,
Von Helden war niemand, als Oßian. – u. f.

Doch genug! sofern ich auch noch vom Todtenlied Oscars und der Komala noch eine Probe gäbe. Man siehet, die einsamen Bewohner der neblichten stürmigen Berge und Thale des alten Galenlandes wußten ihren Vorfahren kein andres Elysium zu geben, als den Wolkenhimmel, der sie umgab. Da sie ihre Väter liebten, und gleichsam ohne sie nicht seyn konnten, [126] so mußten diese, auch abgeschieden, um sie oder über ihnen seyn. Da sie kein andres Vergnügen, als Kampf, Liebe und die Wehmuth des Gesanges kannten, so mußten ihre Väter auch auf den Wolken, wo sie mit ihren luftigen Waffen selbst nicht mehr streiten konnten, sich wenigstens an den Thaten ihrer Söhne erfreun, diesen hie und da, insonderheit vorm Unglück und dem Tode, in Träumen erscheinen, und sich auch in ihrem Nebel an des abgeschiednen Ullins lustiger Harfe noch die Stunden kürzen. – Zwar wird in den Werken der Kaledonischen Barden auch an eine Insel des Friedens Flathinnis gedacht, wo die Sonne schläft, und die tapfersten Helden nahe und mit ihr in Spielen sich ergötzen, indeß die schlechtern Menschen an die Enden derselben verbannt seyn. In Oßians Gedichten aber erinnere ich mich keiner Spur dieses Elysiums seiner abgeschiednen Väter, ob es gleich natürlich scheint, zu denken, daß wo der schöne Jüngling des Himmels, [127] die Sonne, seine Ruhestäte und sein Land hat, ers auch mit den Edlen und Guten theile. – Uns, in unsrer christlich-Deutschen Denkart, ist vielleicht nichts fremder, als die luftige Halle Fingals; setzet man sich aber in die Einsamkeit weniger, von der Natur abgeschlossener, sich einander treuer und rüstiger Stämme, so kann man sich den Glauben dieser Dichtung leicht erklären. In der Einsamkeit wird die Seele gleichsam horchender: ein Gemüth voll zarter Leidenschaft, das nur wenig Ideen hat, und an diesen desto fester hanget, kann also bald dahin kommen, die Gestalt seines Geliebten im Schatten, im Nebel, in der Wolke zu sehn, und seine Stimme im vorbeigehenden Lüftchen zu hören. Da nun die Naturscenen des Landes, das diese Geschlechter bewohnten, so abwechselnd, sonderbar und kühn sind, daß die kälteste Einbildungskraft neuerer pure pute gelehrter Reisenden selbst, durch sie hie und da erwärmt wurde: so konnten Sitten

[128]
und Neigungen, wie die sind, die Oßian im Leben seiner Freunde schildert, auch nach ihrem Tode dem Ueberbleibenden leicht ein so einfaches, ihn nah angrenzendes Reich der Geister gewähren. Der Leib lag unter vier grauen Steinen: der Lebensruhm des Hingegangnen schwebte auf der Harfe der Wehmuth, und wohnte tief im Herzen der Nachgelassenen. Der Seele blieb nichts, als, da man sie selbst als Hauch dachte, die Region des Hauchs der Winde, wo sie Andenken an ihre verlebte Thaten den Thaten ihrer nachgelassenen, allmählig auch emporsteigenden Nachkommenschaft zusah. Hier liegen sie, sagt der alte Annir,

Hier ruhn in Dunkel die Kinder meiner Jugend,
Der Stein ist Ruro’s Gruft:
Der Baum schallt über Argons Grabe.
Hört ihr meine Stimme, meine Söhne,
In eurem engen Hause?
Oder sprecht ihr in diesem rauschenden Laube,
Wenn der Wind der Wüste sich erhebt?


[129] Ein aufsteigender Nebel scheint gleichsam ein aufsteigender Helden- und Riesengeist, und die mancherlei Gestalten der schwarzen, goldgerändeten, vom Winde hie und dahin getriebnen Wolke konnten dem Auge der Phantasie bald den Anblick verschaffen, den sie zu finden geneigt war. – Wir kommen zum eigentlichen Lande der Seelen. – –


III. Land der Seelen.

Den meisten Völkern, die wir Wilde nennen, ist das Reich der Seelen ihr Elysium jenseit des Grabes. Eine schöngezierte Kabane, fröhlicher Tanz auf einer immer grünenden Aue, und eine angenehme Fortsetzung der Geschäfte, an die sie im Leben gewöhnt waren, ist daselbst ihr Vergnügen; ein Vergnügen, das sie mit den Freuden dieser Erde in keine Vergleichung stellen. Lafiteau erzählt ein Mährchen von [130] einem jungen Amerikaner, der, über den Tod seiner einzigen geliebten Schwester untröstlich, den Entschluß faßte, sie im Lande der Geister selbst aufzusuchen. Ein Zauberer wies ihm den Weg dahin, und gab ihm ein Behältniß, worin er die Seele der Verstorbenen einschließen könnte. Nach unsäglicher Gefahr und Mühe langte er an. Der König der Seelen nahm ihn in Schutz gegen die Proserpina dieses Reichs, der die weibliche Seele eigentlich zugehörte. Er bekam sie im Tanz zu sehen, wollte sie umarmen, und sie verschwand vor ihm, wie dem Aeneas seine Kreusa; noch weniger wollte sie zurück ins Land der Lebendigen. Endlich gewann er Mittel, sie in sein Behältniß einzuschließen. Freudig wanderte er zurück. Die angenehme Stunde kam, da er durch Hülfe des Zauberers die erbeutete Seele mit ihrem Körper vereinigen wollte: vor Ungeduld der Liebe öffnete er seinen Schatz zu früh, und die wieder befreyete Seele entfloh auf ewig. Sei dies Mährchen

[131]

Dann komm’ o Du Malvina,
Mit allem deinem Wohllaut komm!
Leg’ Oßian in die Ebene Lutha’s hin,
Sein Grab laß steigen im lieblichen Gefild.

     Malvina! wo bist, wo bist du mit deinem Gesang?
Mit deiner Tritte sanftem Laut?
Sohn Alpins, bist du nah?
Wo ist die Tochter Toscars? –

     „Ich ging vorbei, Sohn Fingals, bey Torkutha’s moosiger Wand;
Der Rauch der Halle war nicht mehr
Schweigen war im Haine des Hügels,
Die Stimme der Jagden schwieg.

     Ich sah die Töchter des Bogens und fragte nach Malvina,
Doch sie antworteten nicht.

[132] In einigen Strichen dieser Länder haben sich Meinungen, Sagen, abergläubische Gebräuche dieser alten Zeit noch unter dem Landvolk erhalten, die desto geheimer und heiliger fortgeerbt werden, eben weil man sie nicht äußern darf, und weil sie so innig an der Sprache und Liebe ihrer Vorfahren haften. Im Jahr 1763. also hatte ein vierzehnjähriges Bauernmädchen in Liefland einen Traum, der sie in das Land der Seelen zu ihren abgeschiednen Vorfahren versetzte: es war ihr daselbst so wohl, sie genoß ein so neues Vergnügen, daß sie sehnlich wünschte, immer da zu bleiben. Eine der verstorbnen Seelen gab ihr den Rath, sich, vom Umgange der Menschen weg, in einen Wald zu begeben, da ohne Speise und Trank, an einen Baum gelehnt, zu warten; so werde sie, ohne Tod, zu ihrem Wunsche gelangen, mit den abgeschiednen Seelen sprechen, umgehen, und sich vergnügen können bis an den jüngsten Tag. – Das erwachte Mädchen, ganz dieses [133] Traumes voll, setzte ihn in der Einsamkeit, weil sie das Vieh hütete, fort, bis man sie, nach lebhaften Aeußerungen darüber, einschloß, da sie dann natürlich – bei der ersten Gelegenheit entwischte. Nach drei Wochen fand man sie in der Tiefe eines Waldes, mit niedergelassenen Händen und tiefgesenkten Haupt unter einem Baum stehend und an ihn gelehnt. Ihre Augen waren verschlossen, ihr Gesicht todtenfarb, aber munter. Man brachte sie zurück, und zwang sie (sie thats sehr ungern und nur aus Furcht grausamer Strafe) zur Speise. Sie nahm zwar gern ihre vorige Stellung an, fing aber, aus Furcht oder in Hofnung wieder zu entwischen, mit der Zeit an zu sprechen, bis sie, bey der ersten Gelegenheit, weiterhin in eine andre Gegend des Waldes entkam; wo man sie endlich, zwei Meilen vom Hause ihrer Mutter, in eben der Stellung fand, matt, ausgetrocknet. – Als man sie angrif, verschied sie in den Armen ihres Bruders, und ging [134] also wirklich ins Reich der Seelen über. –


Beides, der lebhafte Traum sowohl als die Wirkungen desselben lassen sich ohne dämonische Dazwischenkunft erklären. Je mehr ein Glaube dieser Art, (die einzige überbliebne Nationalglückseligkeit eines unterdrückten Volks,) der an Sprache, Sitten und Sagen der Väter haftet, verboten wird; desto wärmer wird er im Stillen fortgepflanzt. Die Ideen der Jugend heften sich daran; die Einsamkeit, zumal unter freiem Himmel, in Auen und Hainen, brütet sie aus; und in den Jahren, wo die Natur erwacht, wo sie bey gehemmtem oder aufwallendem Blut sich im Himmel oder auf der Erde Gegenstände sucht, an welche sie ihre düsteren oder blumichten Empfindungen hefte, sind Träume der Art, wachend und schlafend, bis zur Täuschung lebhaft. Es wären hievon sonderbare Beispiele des Enthusiasmus anzuführen; [135] wir begnügen uns aber, von dieser gedrückten einsamen Kreatur einen Schluß auf Zeiten zu machen, wo die Ideen vom Seelenreich mit allem Ansehen der Vaterwürde und mit jeder Wärme des Enthusiasmus in Gesängen und Thaten eingeprägt wurden. – Allerdings konnten sie da die lebhaften Bilder gewähren, die wir bey Oßian von der Versammlung der Väter, bey den Arabern vom Paradiese, und bey den nördlichen Deutschen von der Walhalla finden.


Ohne Zweifel ist dies geglaubte Reich der Seelen mit eine Ursache, warum die Wilden auch außer dem Kriege mit solcher Gleichmuth dem Tode entgegen gehen. Wenn der todte Körper angekleidet ist, und mit bemahltem Gesicht, die Waffen neben ihm, in seiner Hütte sitzet, wird von den Lebenden, die im Kreise umhersitzen, sein Lob gepriesen, und von jedem das Bekenntniß des Seelenreichs erneuert; wovon [136] ich aus einer interessanten Reisebeschreibung[5] theils eine Rede an einen verstorbnen Krieger, theils die Geschichte und Klage einer Mutter über ihr verstorbnes Kind hersetzen will. Die Natur des herzlichen Affekts voll Einfalt und Würde ist mehr werth, als die Kunst mancher Fictionen und erzwungenen Leichengedichte. –


Anrede an einen verstorbenen Krieger.

„Du sitzest noch unter uns, Bruder, dein Körper hat noch seine gewöhnliche Gestalt und ist dem unsrigen noch ähnlich, ohne sichtbare Abnahme, nur daß ihm das Vermögen zu handeln fehlet. Aber wohin ist der Athem geflohen, der noch vor etlichen Stunden Rauch zum großen Geiste empor blies? Warum schweigen jetzt diese Lippen, von denen wir erst kürzlich so nachdrückliche [137] und gefällige Reden hörten? Warum sind diese Füße ohne Bewegung, die noch vor einigen Tagen schneller waren, als das Reh auf jenen Gebürgen? Warum hängen diese Arme ohnmächtig, die die höchsten Baume hinaufklettern, und den härtesten Bogen spannen konnten? Ach! jeder Theil des Gebäudes, welches wir mit Bewunderung und Erstaunen ansahen, ist jetzt wieder eben so unbeseelt, als es vor dreihundert Wintern war. Wir wollen jedoch dich nicht betrauren, als wenn du für uns auf immer verlohren wärest, oder als wenn dein Name nie wieder gehört werden sollte; deine Seele lebt noch in dem großen Lande der Geister, bei den Seelen deiner Landsleute, die vor dir dahin gegangen sind. Wir sind zwar zurück geblieben, um deinen Ruhm zu erhalten, [138] aber auch wir werden dir eines Tages folgen. Beseelt von der Achtung, die wir bei deinen Lebzeiten für dich hatten, kommen wir jetzt, um dir den letzten Liebesdienst zu erzeigen. Damit dein Körper nicht auf der Ebene liegen bleibe, und den Thieren auf dem Felde oder den Vögeln in der Luft zur Beute werde, wollen wir ihn sorgfältig zu den Körpern deiner Vorgänger legen, in der Hofnung, daß dein Geist mit ihren Geistern speisen, und bereit seyn werde, den unsrigen zu empfangen, wenn auch wir in dem großen Lande der Seelen ankommen.“


In ähnlichen kurzen Reden erhebt jeder Anführer das Lob seines abgeschiednen Freundes.


„Als ich mich bei den Nadowessiern aufhielt, fährt der Reisende fort, so verlohren die Bewohner [139] eines benachbarten Zeltes ihren vierjährigen Sohn. Sie wurden über diesen Verlust so gerührt, daß der Vater durch seinen Kummer und den Verlust von Blut sich den Tod zuzog. So bald die Frau, die vorhin schon untröstlich war, ihren Mann sterben sah, so hörte sie auf einmal auf zu weinen, und ward völlig heiter und gelassen.


„Mir kam die schleunige Veränderung so sonderbar vor, daß ich nicht umhin konnte, sie darum zu befragen. Sie sagte mir, der Gedanke, daß ihr Kind seiner großen Jugend wegen im Lande der Geister sich seinen Unterhalt nicht würde verschaffen können, hätte ihren Mann und sie sehr beunruhigt: aber da ihr Mann eben dahin gegangen wäre, der sein Kind zärtlich liebte, und die Jagd sehr gut verstünde, so hätte sie aufgehört [140] zu trauren; denn jetzt wäre sie überzeugt, ihr Kind sei glücklich, und sie wünsche jetzt nichts mehr, als bei ihnen zu seyn.“


Sie ging nachher jeden Abend an den Baum, auf welchem ihr Mann und Sohn lagen, und schnitt eine Locke von ihrem Haar ab, welches sie auf die Erde streute, und betrauerte in einem schwermüthigen Liede ihr Schicksal. Ihre Lieblingsmaterie war, die Thaten herzurechnen, die ihr Sohn verrichtet haben würde, wenn er länger gelebt hätte: und so lange sie sich mit diesen Gedanken beschäftigte, schien ihr ganzer Schmerz aufzuhören.


Klage einer Mutter um ihren Sohn.

„Wärest du bei uns geblieben, mein lieber Sohn, wie sehr würde der Bogen deine Hand [141] geziert haben, und wie tödtlich würden deine Pfeile den Feinden unsers Stammes geworden seyn. Du würdest oft ihr Blut getrunken und ihr Fleisch gegessen haben[6], und zahlreiche Sklaven wären die Belohnung deiner Arbeit geworden. Mit starkem Arme würdest du den verwundeten Büffel niedergerissen, oder den wüthenden Bär bekämpft haben. Du hättest das fliegende Elendsthier eingeholt, und auf dem Gipfel der Gebürge dem schnellsten Rehe Trotz geboten. Was für Thaten würdest du nicht verrichtet haben, wenn du das Alter der Kraft erreicht hättest, und von deinem Vater in allen indischen Vollkommenheiten wärest unterrichtet worden.“

[142] In ähnlichen Ausdrücken beklagte diese ungebildete Indierinn den Verlust ihres Sohnes, und oft brachte sie den größten Theil der Nacht bei diesem rührenden Geschäft zu.“[7]


  1. Das künftige schwache Geschlecht der Nachkommen.
  2. Der verstorbenen Gattinn seines Sohns.
  3. Seine verstorbenen Söhne.
  4. Hier redet Oßian wieder.
  5. Neue Sammlung von Reisebeschreib. Th. I. Carvers Reisen, Hamburg 1780.
  6. Es ist dies der Ausdruck des Kriegs auch bei Nationen, die die Worte im eigentlichen Verstande gar nicht vollstrecken. Sie haben ihn beibehalten aus alten Zeiten.
  7. Diese Abhandlung sollte über mehrere Völker fortgesetzt werden, daher ihr erster Titel Hades und Elysium hieß. Auch die Walhalla unsrer Vorfahren gehört zum Lande der Seelen; nicht minder ihre Hela u. f. – Da aber über diese Gegenstände viel geschrieben ist, und wahrscheinlich noch geschrieben werden wird, so überspringen wir sie, und eilen zum östlichen Theil der Erde, wo man ausgezeichnet ganz etwas anders, als ein Elysium oder eine Walhalla oder ein Land der Seelen glaubte. Der Wink eines sehr scharfsinnigen Mannes führt uns dahin; jene Abhandlung mag indeß Fragment bleiben.