Zum Inhalt springen

Das Lampenfieber

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Walther Kabel
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Das Lampenfieber
Untertitel:
aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1914, Fünfter Band, Seite 223–224
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[223] Das Lampenfieber, dieser oft ins Lächerliche gezogene Erregungszustand mancher Künstler und der meisten anderen Sterblichen vor einem öffentlichen Auftreten, ist, wie der Turiner Professor Mosso durch langjährige Beobachtungen und verschiedene Versuche festgestellt hat, tatsächlich als eine besondere Krankheitsform anzusehen, die durch Störungen im Blutkreislauf entsteht und in ihren Einzelerscheinungen einem wirklichen Fieberanfall vollständig gleichkommt.

In einer Turiner Theaterschule fand der genannte Gelehrte die beste Gelegenheit, die Schüler bei den Aufführungen auf ihr jeweiliges körperliches Befinden zu untersuchen. Bei den meisten Anfängern stellte er schon vor der Vorstellung eine Vermehrung der Pulsschläge um etwa ein Drittel fest. Sofort nach der Vorstellung hatte der Puls der meisten eine Frequenz von über 130 Schlägen in der Minute, ebenso war auch die Körpertemperatur regelmäßig bis auf 38 Grad gestiegen. Im Verein mit der trockenen Haut und der unnatürlichen Rötung des Gesichts ergab dies das vollständige Bild leichter Fiebererkrankungen.

Erst nach häufigem Auftreten verloren sich diese Erscheinungen bei einem Teil der Schüler vollständig, während durchschnittlich zwei Drittel das Lampenfieber niemals überwanden. Bei einigen steigerte es sich sogar von Aufführung zu Aufführung derart, daß sich infolge der wachsenden Erregungszustände Gedankenflucht, Stottern und sogar gänzliches Versagen des Gedächtnisses einstellten.

Der Gelehrte ging noch weiter und beauftragte einige seiner Schüler, an seiner Stelle die Vorlesungen abzuhalten. Hierbei fand er, daß einer dieser jungen Leute schon vor dem Betreten des Hörsaals 116 Pulsschläge, nach Abhalten der Vorlesung sogar 139 hatte. Ein zweiter hatte eine Minute vor seinem ersten öffentlichen Vortrag Fieber mit 136 Pulsschlägen und 37,8 Grad Körperwärme, nach Beendigung 160 Schläge und 38,7 Grad.

Umgekehrt konnte Professor Mosso aber auch konstatieren, daß bei Leuten, die keine Neigung zu Lampenfieber zeigen, sogar eine Abnahme der Pulsschläge zu beobachten ist. Das [224] beste Beispiel hierfür bietet der italienische Abgeordnete Ferri, der vor, während und nach einer Parlamentsrede nur 36 bis 58 Pulsschlage gegen 68 bis 73 seiner normalen Anzahl hatte. Dabei macht der berühmte Redner auf der Tribüne stets den Eindruck, als ob jedes seiner Worte einem leidenschaftlich erregten Geiste entspränge. Erinnert sei hier daran, daß schon Professor Schweninger, der Leibarzt Bismarcks, ähnliches bei diesem feststellte. Bismarck hatte eine außergewöhnlich hohe Pulszahl, 83 bis 85, die sich jedoch bei großer geistiger Anspannung, so hauptsächlich während sehr lebhafter Parlamentsdebatten und längerer Reden, bis auf 73, die normale Durchschnittszahl jedes erwachsenen Mannes, verringerte.

Auch bei Napoleon I., der ohnehin nur die anormal niedrige Pulsfrequenz von 45 bis 48 Schlägen in der Minute hatte, wurde von seinem Leibarzt Hervieux ähnliches beobachtet. So schrieb Hervieux: „Wie seltsam die Herztätigkeit des Kaisers von starken Aufregungen beeinflußt wurde, zeigte sich mir am deutlichsten nach der verlorenen Schlacht bei Leipzig. Als Napoleon die Nachricht von dem Eindringen der Verbündeten in die Mauern der heiß umkämpften Stadt erhielt und er nun einsah, daß er das ungeheure, tagelange Ringen verloren hatte, überlief ein minutenlanges Zittern seine Gestalt. Wir standen damals auf einem Hügel, von wo aus deutlich die Flammen der brennenden Vorstädte sichtbar waren. Der Kaiser wies mit der Hand in jener Richtung hin und sagte dumpfen Tones: ‚Alles vergeblich!‘ Dann ließ er sich sein Pferd vorführen und stieg in den Sattel. Ich merkte, daß sein ganzer Körper wiederum von einer furchtbaren Erregung hin und her geschüttelt wurde. Ängstlich geworden bat ich ihn, ihm den Puls fühlen zu dürfen. Er streckte mir die Rechte hin, wobei ein Lächeln über sein Gesicht glitt. ‚Es wird nicht anders sein als sonst,‘ meinte er. Wirklich hatte er auch in diesem Augenblick, wo er seinen Thron zum ersten Male erschüttert sah, nur 39 Pulsschläge.“

W. K.