Das Kind (Friedrich Herman Semmig)
Ich kann den Blick nicht von Dir wenden,
Du, mein geliebtes, süßes Kind,
Wie Du, mit still gefalt’nen Händen,
Im Bettchen schlummerst leis und lind.
Der heil’ge Zauber Deiner Züge
Hat mich in seinen Bann gethan;
Aus jedem Deiner Athemzüge
Weht es wie Gottes Hauch mich an.
Die ew’ge Seele, deren Weben
Den Stoff belebt, den Geist beschwingt,
Die mit allgegenwärt’gem Leben
Staubkorn wie Sonnenball durchdringt,
Die sich verhaucht in Blumendüfte,
Und die den Aar in stolzem Flug
Im Sturme trägt durch alle Lüfte,
Lebt auch in Deinem Athemzug.
Ein Ich, ein Glied im Ring der Wesen,
Deß End’ und Anfang Niemand mißt,
Bist Du und bist doch nicht gewesen,
Du warst noch eben nicht und bist.
Ich stand vereinsamt und verlassen,
Und plötzlich lacht mich hold und mild
– Wer kann das süße Räthsel fassen? –
In Dir mich an mein eigen Bild.
Geheimnißvolles Geistertauschen!
Nun bist Du ich und ich bin Du;
Dem eignen Laut glaub’ ich zu lauschen,
Hör’ Deiner Stimme Klang ich zu.
O Glück, drum mich die Engel neiden!
Was frag’ ich länger, wie’s geschah?
Ich will mich fromm und still bescheiden,
Dein Lächeln sagt ja: „ich bin da!“
Ja, wie die Rose sich erschlossen
Nach träum’risch sel’ger Frühlingsnacht,
So bist auch Du zum Licht ersprossen,
Bei’m Kuß der Liebe Du erwacht.
Gleichwie aus stillem Heiligthume,
Aus Deiner Mutter keuschem Schooß,
Rangst Du, o schöne Menschenblume,
Zum holden Sonnenlicht Dich los.
O, zaub’risch wundervolle Spende,
Die Gott in Dir mir hat gethan!
Ich falte dankend meine Hände
Und forsche nicht und schau’ Dich an.
Denn ob ich jedes Räthsel löste,
Hier steh’ ich offnen Auges blind;
Von allen Wundern bleibt das größte,
Das schönste, heiligste das Kind.