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Das Iguanodon

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Textdaten
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Autor: Max Dauthendey
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Titel: Das Iguanodon
Untertitel:
aus: Geschichten aus den vier Winden, S. 281–359
Herausgeber:
Auflage: 4. und 5. Tausend
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1915
Verlag: Albert Langen
Drucker: Hesse & Becker
Erscheinungsort: München
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
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Das Iguanodon

In einem überheißen August kam ich über die Alpen durch Tirol an den Gardasee.

Ehe man in Torbole oder Riva aussteigt, hat der Zug hinter Mori ein ungeheueres, von einem vorzeitlichen Bergsturz verwüstetes Gesteintal durchklettert, darin ein grüner sterbender Seetümpel liegt. Dort an den zackigen Steinblöcken, die um den Tümpel liegen und zu Tausenden das Tal füllen, lebt auch noch im Sonnenschweigen vor deinem inneren Ohr das Gekrach und Gedröhn jener furchtbaren Minuten auf, als hier einst in grauester Vergangenheit ein Berg den anderen erschlagen wollte. Man glaubt, ein wahnwitziger Fluch sei damals ausgestoßen worden und habe rundum die Steine und die Bergwände in Bewegung gesetzt.

Die Legende erzählt, daß sich Dante hier den Eingang zur Hölle vorgestellt hätte, den er in der Göttlichen Komödie schildert. Wie ungeheuerliche, versteinerte Qualen, wie ein himmelragender steinerner Dornenkranz starrt das spitzige, verwitterte Gebirge, von Wolken umraucht, im Norden des Gardasees in den Himmel. Es sieht aus, als wären höllische Blitze und höllische Erdbeben die Baumeister dieser Bergungetüme gewesen.

Während im Süden der Gardasee sich in breiter sonniger Fläche dem heiteren Himmel Italiens und unendlicher Fruchtbarkeit entgegenstreckt, ragen im Norden die kahlen Alpenketten wie Ambosse der Götter in den Himmel, und es ist, als würden dort furchtbare Schicksale geschmiedet.

Freunde hatten mir geraten, in Torbole zu wohnen, wo viele Österreicher im Sommer baden, und wo am See ein lustiges Leben herrscht. Andere hatten mir das stillere Malcesine empfohlen, das am Fuß einer Burg bei schönen Gärten liegt.

Ich kannte den Gardasee noch nicht, und nachdem ich mir die beiden Orte angesehen, war mir der eine zu lebhaft, der andere zu langweilig schön. Und eines Morgens ließ ich mich von einem Schiffer auf die Seefläche segeln, um hier zwischen Himmel und Wasser zu überlegen und Entschlüsse zu fassen, wo ich bleiben wollte.

Ich hatte an diesem Morgen zuerst den Ponalewasserfall besucht, der unweit Riva, zwischen zwei Felsen eingeklemmt, aus Himmelhöhe gegen den See niederstürzt. Da kam mir der Gedanke, daß ich auf dem Weg nach Malcesine, auf der anderen Seeseite am Tag vorher, einen Ort hatte liegen gesehen, am Fuß senkrechter Felsenwände, und daß mir dort die schönen Reihen der weißen Pfeiler von Zitronengärten von weitem aufgefallen waren. Diese sahen in der Ferne aus wie die marmornen Tasten einer riesigen Orgel, und eine weihevolle Festlichkeit lag über diesen Hunderten von Säulen, die da, regelmäßig gereiht, die Felsenabhänge schmückten. Eine hübsche Kirche mit freistehendem Glockenstuhl und eine Schar dichtgedrängter hellgelber und rosenroter Häuser um einen kleinen Hafen, in welchem winzige italienische Motorboote lagen, waren mir noch gut in Erinnerung. Den Ort selbst hatte ich von meinen Bekannten nie nennen hören, und ich hatte ihn auch im Reisehandbuch übersehen. Ich bedeutete nun den Fischer, mich dorthin zu fahren.

Jeder, der in Riva einmal übernachtet hat oder in Torbole am Gardasee, weiß, daß ihn dort nachts, wenn die ersten Sterne heraufziehen, ein seltsames Blitzlicht in Erstaunen setzte, das wie ein Wetterleuchten weit draußen mitten in der Seefläche auftaucht und bis in die Fenster des Hotels hereinleuchtet und auch kalkweiß über die Gesichter derer hinstreicht, die am Seeufer im Dunkeln einen Abendweg machen.

Der Lichtstrahl sticht Nacht um Nacht an den beiden Seiten der Felsenwände hoch, die den See einschließen, und zeichnet für Sekunden scharf jeden Olivenbaum, jeden Ziegel der einsamsten Hütte am Felsengehäng und haut, wie ein weißes Schwert zertrennend, einen weißen Keil in die Finsternis. Ich mußte immer an das Flammenschwert denken, das den Eingang zum Paradies bewacht, wenn dieser Lichtstrahl unermüdlich Wasser und Gebirge bestrich in allen Stunden der Nacht.

Ich erfuhr dann, daß jenes spukhafte Licht von den Scheinwerfern der kleinen italienischen Wachtschiffe kam, die dort, wo die Grenze von Italien quer über den See geht, in jeder Nacht hin und her fuhren, die Bergscheide und das Wasser nach Schmugglern abzuleuchten. Denn Tabak und Zucker wurden gern zur Nachtzeit von Österreich nach Italien über die Grenze geschleppt.

Die Station dieser Nachtboote befand sich in jenem kleinen Ort, zu dem ich wollte, den die Dampfschiffe nur kurz bei der Rundfahrt um den See berühren, den nur manchmal einige Segelboote von Riva aus besuchen, und in dem sich noch kein Fremdengetriebe breit machte. Hart bei jenem Ort, ehe man um einen Felsenabhang segelte, zog sich, an Zitronengärten vorbei, die italienische Grenze hin.

Dieses berichtete mir der Schiffer während der Segelfahrt und nannte mir den Namen des Ortes, der Limone heißt, dahin er mich jetzt bringen sollte.

In der Seemitte packte plötzlich einer jener Sturmwinde unser Boot, die dort jählings ohne Vorboten einsetzen und den Segelnden gefährlich werden können.

Wir flogen in dem kleinen Kahn vor dem Stoßwind her, und der See begann zu knirschen; schäumende Wasserwalzen rollten schneller, als das Boot fliehen konnte, an uns vorbei; Seile und Segel ächzten und schienen zerreißen zu wollen. Der See lebte ungeheuerlich. Seine Wellen schienen eine wandernde Tierherde zu sein, die sich durcheinanderschob, und alle Wellentiere schienen nach einer Richtung fortzustürzen.

Knapp, ehe der Sturm seine Höhe erreichte, jagten wir mit dem Boot in das kleine Hafenviereck von Limone ein.

Der Wind klirrte und fegte draußen über das Wasser. Aber hier in der Bucht war es windstill, schwül und dunstig. Die Riesenmauern des Berghintergrundes hielten jeden Windatem ab, und die Zitronen konnten hier gut reifen, wie Eier in einem Brutkasten. Das dachte ich, als ich den Fuß ans Land setzte.

Land kann man zu dem Erdstreifchen dort nicht gut sagen, denn es ist nur spärlich Raum zwischen dem Felsengetürm eines ungeschlachten Berges und der Seefläche. Die einzige größere Gasse, die der Ort hat, ist so eng, daß sich die Leute von Haus zu Haus die Hände reichen können.

Es war Mittag, und ich begegnete nur einigen Marinesoldaten der Zollflottille. Die Handwerker arbeiteten, ohne aufzuschauen, unter ihren Türen. Ein Esel schrie an einer Straßenecke, und die hohe Bergwand drückte beengend die Luft in den Gassen zusammen, in denen es nach Fischen und Olivenöl roch.

Der Schiffer führte mich zum einzigen Gasthaus, das ein schmuckes altes Herrenhaus war und in einem Blumengarten gegen den See hin lag.

In der Weltverlorenheit dieses italienischen Nestes fühlte ich mich wohl. Es war nichts banal Schönes hier. Aber etwas Geheimnisvolles, das mich schon aus der Ferne an diesen Ort gelockt hatte, tat mir auch jetzt wohl. Es schien mich hier etwas zu erwarten, vielleicht ein ungeheurer Schrecken, mit darauffolgendem süßem Aufatmen. Jedenfalls spürte ich ein neugieriges und angenehmes Gruseln an diesem totenstillen Flecken, wo keine Fremdenschwärme, keine Gasthäuser das Dasein kindisch machten.

Es war mir zumute, wie wenn man nach langen eintönigen heißen Tagen ein Gewitter nahen fühlt, das mit seiner großen elektrischen Spannung die Welt auf den Kopf stellen, Totes lebendig machen und Leben in Tod verwandeln kann.

Ich lese gern in der feurigen Schrift der Blitze. Wenn sie ihre großen Aussprüche auf das sonst so leere Blatt des Himmels schreiben, so ist mir, als läse ich in den Augen alter Propheten, und Schrecken und Erschütterungen, die sie über der Alltagswelt verbreiten, machen mich fruchtbar. Gewitter stärken mein Herz.

Und unsichtbare Seelengewitter schienen hier in dem stillbrütenden, der Welt unbekannten kleinen Ort auf den Fremden zu lauern. Vom Augenblick an, da ich mich entschloß, durch den Schiffer, der mich hergesegelt, meinen Koffer aus Torbole holen zu lassen und hier in Limone zu bleiben, kam ich mir wie ein gewaltiger Unglücksucher vor. Wie einer, der in eine unterirdische Tropfsteinhöhle eingedrungen ist, die nur wenige vor ihm betreten haben, und die ihn in ein unheimliches Labyrinth lockt.

Zwei Dinge, die ich liebe, waren es, die mich bestimmten, in Limone zu bleiben. Das erste war meine Vorliebe für den Duft von Zitronen und Zitronenblüten, das zweite meine Sehnsucht nach brütender Wärme.

Von diesen beiden Genüssen wurde ich reichlich hier gesättigt. Aber ich erwartete mehr als nur Gefühlsbefriedigungen. Ich weiß, daß aus Hitze und Duft Gebilde im Menschenhirn entstehen, wie aus den verschiedenen Elektrizitäten zweier Wolken die Blitze.

Auch war es mir wunderbar, jetzt an dem Ort zu sein, von dem nachts das große flammende Schwert des Scheinwerfers auf den See hinausgesendet wurde. Hier im Hafen lagen die kleinen Eisenboote, die die Seewache hatten von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Und ich fühlte mich wohl dabei, daß ich mich nicht mehr zu dem Lichtschein, der mich in Torbole nachts immer aufschauen gemacht und in die Ferne gelockt hatte, hinsehnen mußte. Ich war jetzt dort, wo das nächtliche Feuer geboren wurde.

Der Wirt des Gasthauses, der zugleich Bürgermeister war, hatte ein langes Tiergesicht, und sein Körper war so sonderbar gebaut, daß er, wenn er vor mir stand, aussah, als stünde er bis zu den Knien im Erdboden.

Er war noch jung, einige dreißig Jahre alt, sah aber müde aus wie jene grauen nickenden Esel, die lange schweigen und plötzlich ohrenbetäubende Schreie ausstoßen können. Dieser Mann war aber sonst ein angenehmer, höflicher und sorgsamer Wirt und arbeitete tagsüber in seinem gutgepflegten Garten, in welchem Oleanderbäume, Bambus, Geranienbüsche, Rosen und Myrten zu Seiten eines langen beschatteten Weinlaubenweges standen. In diesem grün überwölbten Weg hingen dicke dunkle Trauben, und am Ende lag dicht vor der weißen Steinschwelle und den weißen Steinpfosten der Gartentür das blaue Wasser des Sees wie ein abgrundtiefer Himmel.

An der einen Seite des Gartens war eine überlaubte Spielbahn, wo nachmittags die italienischen Soldaten, Sizilianer, Neapolitaner, Genuesen, schwarzhaarige und braunhäutige Kerle, zwischen Vesper und Abendläuten mit viel Lachen und Witz ihr Boccia spielten.

Die Küche des Gasthauses war bescheiden, der Wein gut und feurig. Mein steingepflastertes Zimmer, sauber und geräumig, sah nach dem See und dem Berg Monte Alto. Die Tageszeiten in Limone wurden nicht bloß durch das viele Läuten der Kirche eingeteilt, sondern auch von dem dreimaligen Vorüberfahren der großen Passagierdampfer, die täglich die Rundreise um den See machten.

Unter einem großen japanischen Mispelbaum im Garten bei der Haustreppe nahm ich meine Mahlzeiten ein. Und hier spielten sich auch die Szenen jenes inneren Gewitters ab, das ich beim Betreten jenes schwülen, scheu versteckten Ortes vorausgeahnt hatte.

Nach dem Mittagessen am Tage meiner Ankunft, nachdem ich auf meinem neuen Zimmer ausgeruht hatte, schlenderte ich in der Abenddämmerung durch den Ort. Als ich aus dem Garten auf die Straße trete, höre ich ein Gekicher, und an meiner Seite vorüber läuft ein zwergartiger Mann mit gewaltigen langen Armen, großem, höckerigem Kopf, wie ein Orangutang anzusehen, in eine Seitengasse hinein.

Ein paar Frauenzimmer, die vor einer Haustüre auf niedrigen Hockern kauerten, rieben sich mit der Handfläche Mund und Wangen ab und deuteten mir mit ihren Augen an, daß der Zwergmensch sie beide unversehens eben umarmt und geküßt hatte. Die eine, die Altere, drohte hinter ihm her mit ihrem Holzpantoffel, die andere hatte noch seine Mütze in der Hand, die sie ihm wahrscheinlich vom Kopf gerissen hatte, und sie schleuderte die Kappe dem Fortstürmenden mit einem kreischenden Zuruf nach.

Ich war verblüfft über die Häßlichkeit des Zwerggeschöpfes, das sich so männlich und so kindlich zu gleicher Zeit gebärden konnte, und das sich jetzt aus der Ferne umschaute, seine Mütze an sich riß und den Frauen die Zunge herausstreckte.

Ein wenig weiter fort begegnete ich einem kleinen verwachsenen Weib, das einen melonengroßen Kopf hatte. Die Frau reichte mir nicht bis zur Hüfte. Einen Krug trug sie in der Hand, den sie kaum schleppen konnte.

Überall sah ich ähnliche Wesen. Neben den gut gewachsenen Gestalten unter den Ladentüren und in den Werkstätten stand oder saß oder schabernakte ein koboldartiges Zwergwesen. Es schien mir, als sei jede Familie mit solch einem Geschenk der Hölle belastet.

Ich war bei meinem Weg durch die Gasse an alten eisernen kleinen Türen vorübergekommen. Die waren nur eine rostige Masse. Das verwitterte Eisen schälte sich wie die Rinde von Bäumen. Über die Türschlösser und Angeln und über das Gitter des Guckloches hingen verfilzte Spinnweben. Ganze Familien von großen Kreuzspinnen hausten da seit Jahrhunderten ungestört. Auch waren da ebenso zugesponnene und mit rostigen Gittern versehene, alte, erblindete Fenstervierecke. An die grauen Mauern dort waren mit Rötelstift und Kohle unflätige, brünstige Bilder mit ein paar Linien hingezeichnet, Bilder, wie sie nur in den Hirnen dieser ungebändigten und verwilderten Krüppelgestalten entstehen konnten.

Als ich in der Abenddämmerung vor den Ort hinaus unter alte Olivenbäume kam, die dort in verrenkten Stellungen, verkrümmt und verwachsen, in Scharen mit ihrem graunebeligen dünnen Laubwerk in den Bergfeldern stehen, war mir, als seien die Zwerggeschöpfe der Stadt aus jenen ungestalten gespenstigen Olivenstämmen geboren worden.

Als in der Dämmerung ein Esel, auf dem ein Weib und ein Knabe saßen, mit humpelndem Gang in dem unheimlichen Olivenhain, darin sich kein Blatt rührte, auftauchte, schauderte mich, weil ich in diesem zusammengepackten Tier- und Menschenhaufen wieder neue Verkrüppelungen zu sehen glaubte.

Unter dem schleierartigen dünnen Laubgewebe der Oliven, deren Zweige sich nicht wiegen, durch die der blasse Abendhimmel fein zerkritzelt zur Erde sieht, hatte ich das Gefühl, als ob ein Netz von unheimlichen Erregungen – das mich hier in Limone bald umgeben sollte – schon nah über mir hing.

Ich konnte nach kurzer Zeit in dem Hain nicht mehr weitergehen. Das stille Grauen in mir nahm so überhand, daß es mich forttrieb aus dem Kreise der grimassenreißenden Baumstämme, die umherstanden, gespalten und zerschlitzt, dreibeinig und zehnbeinig, mehr Tieren als Bäumen ähnlich.

Ich wollte lieber zu den krüppligen Menschen des Ortes zurückkehren, als hier länger bei den hölzernen Urvätern der Krüppel zu weilen, die trocken und herzlos wie halbtote Greise, in sich versunken und in sich gekrümmt, den Weg begleiteten, der Schar aller Mühseligkeiten ähnlich, die einem lang Lebenden begegnen können.

Zurückgekommen zum eisernen Gitter des Gasthausgartens sah ich gegenüber unter der trüben Petroleumlaterne, die als Straßenbeleuchtung an einer Hausecke hing, in einem kahlen Ladengelaß wieder einen Zwerg mit einem Stock stehen. Der Stock war ein Stück größer als der Zwerg, und es war doch nur ein gewöhnlicher Spazierstock. Mit diesem Stock deutete der Krüppel wichtig und sich höflich verneigend auf einen Tisch, an den er kaum mit der Nase hinaufreichen konnte. Dort lagen, sorgfältig nebeneinander gereiht, einzelne Birnen, große dicke Kochbirnen, die wir in Deutschland Katzenköpfe nennen. An der Tischkante stand eine brennende, flackernde Kerze, die in einem Zinnleuchter stak.

Der Laden war ganz kahl. Ich hatte beim Fortgehen vor einer Stunde diesen Fruchtverkäufer noch nicht bemerkt. Es schien mir, als habe er seinen Verkaufsstand eben erst eingerichtet, vielleicht weil er gehört hatte, daß ein Fremder ins Gasthaus eingezogen war, was ihn unternehmungslustig gemacht haben mochte.

Ein paar Schritte weiter bei einem Schuhmacher kauerte jener Zwerg, der vorhin die Weiber geküßt hatte; er glotzte in die beleuchtete Glaskugel des Schusters, bei deren grellem Blendlicht der Meister und seine Gesellen, auf dem Straßenpflaster hockend, arbeiteten.

Die Gassen hinter den beleuchteten Köpfen verschwanden in Gewinkel und Finsternis, manchmal geteilt von kleinen Lichtscheinen, die aus Türen oder Fensterluken auf das Pflaster fielen.

Auf der Mauer beim Gartentor meines Gasthauses hockten zwei andere Zwerge, die mich schweigend und argwöhnisch, wie zwei aneinanderhängende Affen, von der Mauerhöhe herunter beobachteten.

Ich war verblüfft über die Unzahl von Mißgeburten und auch ermüdet von den neuen Reiseeindrücken, so daß ich schweigend vorüberging und nur mit einem Kopfnicken die lauten feierlichen Grüße der Krüppel beantwortete.

Als ich dann in den Garten eingetreten war und mich zum Abendessen unter den Mispelbaum setzen wollte, unter eine wenig leuchtende Petroleumlampe, die in den Zweigen des Baumes hing, kam der Wirt zu mir und sagte mir, morgen würde das Zimmer neben dem meinigen besetzt. Er habe eben mit dem Abenddampfschiff einen Brief von einer Russin erhalten, die schon voriges Jahr den Herbst hier verbracht hatte. Die Dame habe zugleich geschrieben, daß ihr das Portemonnaie unterwegs gestohlen worden sei, und der Wirt hatte ihr noch mit dem selben Nachtschiff Geld nach Desenzano geschickt, wo sie übernachten wollte.

Ich dachte sofort an eine Nihilistin, denn einer wohlhabenden Russin konnte es wohl kaum einfallen, dieses weltentlegene Ufernest aufzusuchen und hier einen Herbst zuzubringen; aber später hörte ich, daß die Dame die Gattin eines Generals war.

Am nächsten Tag saß ich gegen Mittag auf dem Steinbalkon, der gegen den Garten hin vor dem Eßzimmer lag, unter dem sich die Küchenhalle befand. Ich schrieb Briefe und saß ohne Hut, und die Mittagssonne brannte auf meinem Kopf.

Als ich mich später in dem Speisesaal, dessen Decke mit bunten mittelalterlichen Malereien, Wappen und Blumen bemalt war, zu Tisch setzte, sah ich vor der Glastüre, die auf den Korridor führte, eine kleine ältere Dame stehen, die, während sie einen Schleier um ihren Kopf band, zwischen den Vorhängen an der Glasscheibe hindurchblinzelte. Dann trat sie ein, und der Wirt folgte ihr und stellte sie als die russische Dame vor.

Die Generalin hatte kleine, lebhafte, etwas belustigt zwinkernde Augen und machte viele kleine Bewegungen, die ihr etwas rührend Kindliches gaben. Als sie sich vor ihren Teller gesetzt hatte, begann sie sogleich mit mir eine lebhafte Unterhaltung und erzählte vom Comosee, von dem sie eben kam, und vom italienischen Dichter Fogazzaro, den sie dort in seiner Villa besucht hatte.

Sie forderte blindlings Interesse von mir, weil sie sich für Fogazzaro und den Comosee interessierte. Aber mein Kopf schmerzte mich. Er wurde schwer, als wollte er anschwellen wie ein Zwergenkopf, und ich fühlte bald, daß ich beim barhäuptigen Sitzen in der Mittagsonne einen Sonnenstich bekommen hatte.

Es wurde mir grau und weiß vor den Augen, und das ganze Zimmer mit der buntbemalten Decke und dem rotsteinernen Fußboden kreiselte um mich, als wäre es eine russische Schaukel.

Ich wollte vom Tisch aufstehen, aber ich fühlte, daß ich umfallen würde. Während die Russin immer weiter sprach und mir nichts anmerkte, wartete ich still ab, bis ich mich wieder so stark fühlen würde, daß ich mein Zimmer ohne Hilfe erreichen konnte. Ich sagte dann der Dame im Fortgehen, daß ich glaubte, ich sei von einem Sonnenstich unwohl geworden.

Ich legte mich auf mein Bett und ließ mir Eis bringen. Mir war bei jeder Bewegung sehr übel. Zugleich begann mich ein heftiges Fieber zu schütteln.

Nach einer Weile klopfte es an meiner Tür, und die Russin brachte mir ein großes Senfpflaster, das sollte ich auf meinen Rücken legen. Während sie noch im Zimmer war, klopfte es wieder, und ich hörte die Stimme einer jungen Dame, die draußen mit dem Dienstmädchen sprach. Sie sagte, sie hätte im Hotel in Torbole im Fremdenbuch meinen Namen gelesen, und es war ihr gesagt worden, daß ich nach Limone gezogen sei. Ich erkannte die Stimme einer jungen Bekannten, die ich seit einem Jahre nicht gesehen hatte. Die Neuangekommene wollte, daß ich ihr Limone zeigen sollte.

Ich ließ ihr sagen, daß ich halb im Sterben läge, und sie möchte entweder meinen Tod oder meine Genesung abwarten.

Sie ließ mir darauf zur Antwort geben, daß sie einige Tage im gleichen Gasthaus in Limone wohnen bliebe.

Den Sonnenstich im Kopf, ein Senfpflaster auf dem Rücken, einen Eisumschlag auf der Stirn und einen Herzchock in der Brust, hervorgebracht durch das bevorstehende Wiedersehen mit einem seltsamen, reizend schönen Mädchen, an das ich lange nicht mehr gedacht hatte, – so lag ich auf meinem Bett und mußte mich gedulden, bis die Sonne untergegangen war und in der kühleren Abendluft, bei den weit geöffneten Fenstern, der Blutandrang zum Gehirn schwächer wurde, und ich mich allmählich wieder gesund werden fühlte.

Ulrike, die junge Dame, die mich so plötzlich besuchte, war Studentin der Chemie, und ich kannte sie aus Freiburg, wo sie studierte. Sie war eine jener schönen rothaarigen Frauen, die jetzt in Deutschland so selten werden. Sie hatte jene milchweiße Hautfarbe, mit leichtem rosa Hauch, die wie eine sanfte Kamelienblüte unter blauem Himmel leuchtet.

Aber es ging nicht die Kühle der Blüte von diesem schönen Geschöpf aus. Das leuchtende Milchfleisch ihrer Wangen und ihres Nackens neben dem dumpfroten Haar war von einer leuchtenden Lüsternheit verklärt. Man hätte das junge Mädchen nie unverschleiert gehen lassen dürfen, da ihre Reize so stark waren, daß ihr Gesicht, ihre Hände und ihr Nacken beinahe schamlos wirkten, wie enthüllte Blößen.

Im Mittelalter wurden solche verwirrend schöne Frauen den Folterknechten als Hexen hingegeben, und die Männerfäuste schlugen mit Wollust Wunden in dieses allzu aufreizende Frauenfleisch.

So war Ulrike, die hier plötzlich auftauchte in jener Luft, in der ich seit Stunden das Herannahen ereignisschwangerer Augenblicke vorausgefühlt hatte.

„Was suchen Sie hier?“ fragte ich sie hundertmal in meinem Herzen, während meine Tür geschlossen war und ich den Besuch noch nicht gesehen hatte. Und Ulrikes Geist antwortete mir: „Ich suche Unruhe, Fieber. Ich suche, wenn es nicht Glück sein kann, Unglück, Vernichtung, wie du, wie ihr alle.“

Als ich dann, des Fragens müde, erschöpft eingeschlafen war, weckten mich Mandolinenmusik und italienischer Gesang aus dem Garten.

Ich stand auf. Es war Nacht geworden. Es mußte neun oder zehn Uhr sein. Ich fühlte mich ganz gesund. Draußen auf dem See suchte der Scheinwerfer des Wachbootes die Berge ab und schoß ab und zu in den Garten unten, wie ein Eindringling, zwischen die Bäume, und mir war, als müßte es jedesmal einen schrillen Laut in den Blättern geben, wenn der Lichtpfeil durch das schlafende Laub schoß, das dann wie Metallschlacken hell und dunkel aufglänzte.

Wahrscheinlich hatte Ulrike schon den ganzen Ort zu Freunden. Während der paar Stunden, in denen ich schlief, und in denen die Russin, die fließend italienisch sprach, sie spazieren führte, hatte sie, das wußte ich gewiß, blendender als jener Lichtstrahl, der da ruckweise vom See in den Garten fegte, schon alle Männer des Ortes geblendet.

Als ich im großen steinernen Treppenhause von meinem Zimmer in den unteren Stock hinabstieg, schallte mir einzig Ulrikes Stimme entgegen. Sie hielt einen Vortrag über Politik, über die Notwendigkeit, daß Italien zu Deutschland aufschaue, da es von Deutschland viel zu lernen hätte.

Sie sagte in ihrer unverfrorenen norddeutschen Art, daß die Italiener lügen, betrügen, daß sie falsch seien und faul, kurz, sie sagte alle diese ungerechten Aussprüche, die unwissende Deutsche immer schnell bereit haben, wenn über Italien geredet wird.

Ulrike erlaubte sich, da sie immer nur anbetenden Männeraugen begegnete, alles das in die Luft zu schreien, was man bei einigem Überlegen taktvoll zu verschweigen hat. Aber wahrscheinlich reizte es sie, daß alle Männer Honig aus ihrer Schönheit sogen, und sie wollte Widersprüche erwecken. Denn da ihr Gesicht Süße austeilte, wollte ihre Seele Bitternisse in die Seelen der anderen träufeln, damit nicht das Leben um sie vor lauter Anbetung verstummte.

Ich stand im halbdämmerigen Hausflur und beobachtete durch die offenstehende Haustüre die Gesellschaft im tiefer gelegenen Garten, die dort an einem länglichen Tisch unter dem Mispelbaum saß, mit der Hängelampe über den Köpfen und vom weißen Tischtuch beleuchtet.

An der Spitze des Tisches saß wie eine immer bewegte, surrende, graue Spindel die silberhaarige Generalin, in Mäntel, Schals und Reisedecken eingemummt; und nur ihr kleines, blasses Gesicht mit dem einen geschlossenen Auge und mit dem andern zwinkernden Auge sah belustigt und mit sich selbst vergnügt von einem zum andern.

Neben ihr an der Tischecke auf einem Stuhl, den sie hintüber hin und her bewegte, schaukelte mit übereinandergeschlagenen Beinen Ulrike und hielt sich dabei mit der einen Hand an der Lehne des Stuhles der Russin fest.

An derselben Längsseite des Tisches, nicht weit von ihr, saßen zwei junge Männer. Der eine war ein blasser italienischer Student, auf seine Art ebenso schön wie Ulrike. Er war aber eine jener altmodisch schmachtenden Jünglingsschönheiten, wie man sie bei jungen Heiligen auf glasgemalten italienischen Kirchenbildern des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts findet. Ein elastischer Jünglingskörper, von einem schwärmerischen Geist wie von einer blauen Flamme durchwallt. An ihm war nichts von der durch Sport und Gedankenzucht straffen Jungemännerschönheit, die jetzt im nördlichen Europa den altmodischen, altchristlichen Schönheitstypus verdrängt.

Es war rührend zu sehen, wie der junge, schwarzgekleidete, schmale Mensch jetzt eben ein Lied zu singen anhob, einen gewöhnlichen italienischen Gassenhauer, den er sicher noch nie in anständiger Gesellschaft gesungen hatte, und den er mit einer einfältigen Andacht vortrug, als handele es sich um eine Heldensage. Und dies alles nur deshalb, weil Ulrike den jungen Mann bereits entgeistert hatte. In seinem Herzen sang er sicher ein hohes Lied festlicher Liebesanbetung vor ihr. Davon trug sein Gesicht den andächtigen Ausdruck. Aber sein Mund mußte einen Gassenhauer hinsingen, weil die ungeduldige Ulrike nur Straßenkunst hören wollte.

Neben dem jetzt singenden Studenten spielte ein anderer junger Mann eine Mandoline, die er auf dem einen Knie hielt, bei der er tief gebückt saß, und deren Saiten er so innig zärtlich zupfte, als wären sie aus dem verführerischen roten Haar der jungen Deutschen gesponnen. Denn Ulrike machte sein alltägliches, reizloses Gesicht blutrot aufleuchten, wenn er zufällig beim Mandolinenspiel zu ihr hinübersah.

Der Spieler hatte grobe Hände, die tagsüber in einem Drogenladen im Ort, der ihm gehörte, Leinöl und Petroleum in Krüge füllte und Farbstoffe auf einer Wagschale wog, wovon seine Nägelränder noch bläulich, rötlich und gelblich schimmerten. Er schlug trotz aller Innigkeit grob und derb die Saiten. Er war nicht viel älter als der Student, aber er tat laut erzählend sich etwas darauf zugut, bereister zu sein als jener, und er versuchte, aus Notwehr gegen Ulrikes auffallendes verführerisches Frauenfleisch, sich mit einer Grobheit zu panzern, die ihn kaltblütig erscheinen lassen sollte.

Ich hatte gehört, wie er vorhin, kurz ehe das Lied anhob, Ulrike ins Gesicht gesagt hatte, er hasse alle Österreicher, und er gab an, daß jene die Eigenschaften hätten, die die Deutschen den Italienern zuschieben.

Ulrike war keine Österreicherin. Darum hörte sie auf seinen Haß gar nicht hin, sondern forderte ein neues Lied. Sie wußte wahrscheinlich auch, daß ihre weiße Hand, die sich an die Stuhllehne der Russin hielt, aufmerksam, ebenso wie ihr Nacken, von einem Zolloffizier beobachtet wurde, der hinter ihr an einem kleinen, runden gedeckten Tisch saß, wo er zu Abend gespeist hatte, und wo er jetzt seinen Kaffee trank, mit einer Zeitung rasselte und seine Zigarette rauchte.

Vor dem Offizier brannte ein Windlicht auf dem Tisch, sein Lichtkreis traf noch Ulrikes roten Haarknoten und ihren weißen Nacken, dessen Biegung sich dem Offizier hinhielt, als wollte dieser Nacken gestreichelt und geküßt werden.

Am Stamm des Mispelbaumes lehnte der junge Wirt mit seinem langen, schmalen Tiergesicht. Seine Augen schienen ganz verblödet zu sein vom langen Hinstieren auf Ulrike. Er stand dort ziemlich unbemerkt im Schatten und war nur von den Knien abwärts beleuchtet.

Über ihm im weiten Geäst des schlangenartig geformten Baumes kauerten die Hauskatzen. Es hockten dort drei, vier Katzen und Kater wie buckelige Auswüchse auf den glatten, ausgestreckten Ästen, und manchmal jagte ein Tier das andere, und sie flohen höher in die dunkle Laubkrone. Dann sah Ulrike hinauf und rief: „Miau“. Gleich standen die Katzen still und kauerten sich nieder, denn der Katzenlaut, den das junge Mädchen rief, war verblüffend naturgetreu.

Von meinem erhöhten Standpunkt im Hausflur sah ich auch ein Stück vom Gittertor neben der Gartenmauer, und dort kauerten, aufgereiht wie Kürbisse zum Trocknen, die mumienhaften, großgesichtigen Köpfe jener Zwerge, denen ich vorher auf der Straße begegnet war.

Die Zwerge entdeckte ich aber erst, als der Scheinwerfer vom See für Augenblicke seinen Lichtstrahl in die Gartentiefe hereinwarf.

Daß hier ein Unglück wucherte und in irgendeiner Gestalt aufstehen würde, fühlte ich an der seltsamen Gruppierung der Menschen, der Tiere und der Dinge, die alle von dem magnetischen Wesen Ulrikes angezogen waren. Die Spannung und die Unsicherheit, die diese junge Dame um sich verbreitete, machte, daß alles, was im Garten anwesend war, wie auf einer dünnen Eisfläche lebte, die jeden Augenblick irgendwo einbrechen und irgendeinem der Anwesenden tödlich verhängnisvoll werden konnte. Aber sie schienen alle das Unglück begierig zu suchen.

Ich trat jetzt vom Haus hinaus auf die Treppe, die zum Garten hinunterführte. Bei meinem Schritt sah ich niemand als Ulrike an. Aber sie schien sich nicht klarmachen zu können, von welcher Seite das Geräusch der Schritte kam, und so sah sie zuerst unwillkürlich nach dem Gartentor und der Gartenmauer. Im selben Augenblick erhellte ein neuer Lichtstrahl des Scheinwerfers die Köpfe der ungeheuerlichen Mißgestalten der Zwerge, die dort lauschten.

Ulrike schnellt empor, läuft von ihrem Stuhl fort und schlägt unter der Mauer ein fröhliches und fast kindliches Gelächter auf, aber wendet den Kopf nach mir, und nachdem sie den Zwergen ein spöttisches „Guten Abend“ zugerufen, kommt sie zu mir gelaufen und begrüßt mich in ihrer sprudelnden Sprechweise.

„Welchen abenteuerlichen Ort haben Sie da aufgesucht!“ rief sie mir zu. „Welch ein Talent Sie haben, schauerliche Szenerien zu entdecken!“ Und mit einer Geste, mit einer stummen, aber höhnenden Geste, deutet sie über den andächtig singenden Studenten, über den Baum, in dem die Katzen sprangen, und nach dem Gartentor, wo jetzt die Zwerge im Dunkel beieinander hockten, und auf den Scheinwerfer, der jetzt hoch im Himmel den Monte Alto grell aufhellte.

Sie hatte recht. Wo sang man sonst Gassenhauer wie Kirchenlieder, während Katzen in den Bäumen buhlten, Zwergköpfe auf der Mauer wuchsen und dazu ein irrsinnig wandernder Lichtstrahl aus dem Dunkel Berge vom Himmel fallen ließ.

An diesem Abend geschah nichts weiter, er war nur der Auftakt für die nächsten Ereignisse. Der Student lud, als er und sein Freund, der Drogenhändler, aufbrachen, Ulrike und mich zum nächsten Morgen in den Weingarten seines Freundes ein, wo beide täglich mit Leimruten Singvögel einfingen, da die Zeit des Durchzuges der nordischen Singvögel war. Aber auch der Zolloffizier ließ uns durch den Wirt sagen, wenn wir das Scheinwerferboot nachts besuchen wollten, sollten wir es ihn wissen lassen.

Die Zwerge aber stießen kreischende Pfiffe aus und riefen zur Verabschiedung Ulrike ein geheultes „Guten Abend“ zu.

Ulrike war müde und zog sich schon bald auf ihr Zimmer zurück, nachdem wir nur noch ein wenig geplaudert hatten. Ich blieb bei der Russin sitzen, die aus ihren Schals und Mänteln wie aus einer gepolsterten Loge hervorsah, von der aus sie den Anfang eines Dramas gespannt verfolgte.

„Sie ist für die Männer, was der Baldrian für die Katzen ist“, sagte die Russin, als Ulrike gegangen war. Sie wiegte sich in ihren Decken. „Welch eine Sippe hat sich hier zusammengefunden! Wo ich hinkomme, ist aber auch immer etwas Unheimliches los. So war es immer, so lange ich lebe. Zwar brechen durch mich nicht Ereignisse herein. Aber ich habe eine im Blut liegende Witterung für aufregende Zeiten, Menschen und Gegenden, und werde wahrscheinlich unsichtbar angezogen von Zuständen, bei denen eine gewisse Spannung in der Luft liegt.

Als Sie heute bei Tisch so blaß wurden und den Sonnenstich fühlten, dachte ich bei mir: Da bist du ja gerade recht gekommen, um gleich ein Unglück vorzufinden und helfen zu können. In den meisten Fällen aber kann ich nicht helfen. Da muß ich nur Zuschauer sein und muß froh sein, wenn ich nicht selbst dabei den Kopf verliere. Denn sehen Sie, einen leichten Schlaganfall habe ich schon einmal gehabt. Den erhielt ich infolge eines Schreckens, als ich Mann, Kind und Vermögen in einem Augenblick verlor.“

Und dann erzählte die russische Dame mir ihr Leben. Sie stammte von deutschen Eltern, war aber in Rußland geboren und hatte einen Russen geheiratet. Ihr Mann war Leutnant, als sie Hochzeit machten. Aber sie waren nur wenige Wochen vermählt gewesen, da brach der Krimkrieg aus, und die junge Frau wußte, daß ihr Mann fort von ihrer Seite in den Krieg und vielleicht in den Tod ziehen mußte.

Sie machte sich auf, besuchte seinen General und bat ihn, daß sie als Krankenschwester dem Regiment ihres Mannes folgen dürfte. Das wurde ihr gewährt.

Ihren Mann, der in den Schlachten war, sah sie natürlich nur selten, und wenn sie mit den anderen Rotekreuzschwestern nach den Kämpfen die Verwundeten in den Feldern aufsuchte, dann zitterte ihr Herz jedesmal, wenn sie einem am Boden Liegenden den Kopf umwendete und das Gesicht zu sehen suchte, denn sie vermeinte immer, ihren Mann zu finden.

Und eines Tages wurde sie auch zu ihm gerufen. Er lag verwundet in einem Schanzgraben. Nur sein Bursche war bei ihm. Die junge Frau brachte wochenlang in dem Schanzloch zu und hütete und pflegte ihren Mann.

Von dieser Kriegszeit her, die sie bei Blut, Grausen und Ängsten auf schmerzdurchkreischten Schlachtfeldern durchgemacht hatte, war ihr ein schwaches Herz geblieben.

Nach vielen Jahren, als sie schon einen großen Sohn, einen hübschen Knaben hatte, traf sie aber ein viel schlimmeres Weh, als jener Krieg ihr antun konnte. Ihr Knabe wurde am Meer von einer Dampferlandungsbrücke durch eine Sturmwelle ins Wasser gerissen, und ihr Mann sprang rasch entschlossen hinter seinem Kinde her, um es zu retten. Aber das Meer gab sie nicht mehr zurück. Beide ertranken. Außerdem hatte der General gerade an diesem Tage seine Wertpapiere, die er auf eine Bank bringen sollte, in der Brusttasche. So waren der Russin in einer Sekunde Mann, Sohn und Vermögen entrissen worden.

Seit jener Zeit beobachtete sie, daß sie einen Instinkt für Unglück hatte.

Als sie zum erstenmal zum italienischen Schriftsteller Fogazzaro kam, war diesem eben sein Kind ertrunken. Als sie vor Jahren zum erstenmal an den Gardasee kam, geschah dort das größte Unglück, das der See je erlebt hatte. Durch Platzen des Dampfkessels eines Vergnügungsdampfers verloren Hunderte von Menschen ihr Leben. Und so wußte sie noch viele Fälle zu berichten. Und sie war gar nicht verwundert, als ich heute den Sonnenstich erlitt. Sie hatte immer eine ganze Hausapotheke bei sich, da sie ja die Begleiterin hundertfacher Unglücke gewesen war.

„Es ist besser,“ sagte ich ihr, „wenn Ulrike bald wieder abreist. Der junge Student ist schon ganz blaß verliebt in sie und sieht krank aus, als ob er in ihrer Nähe ein betäubendes Gas eingeatmet hätte. Und die andern, der Offizier und der Drogist, stolpern über ihre eigenen Beine vor Verwirrtheit, wenn sie sich vor der schönen Ulrike verbeugen sollen. Sie wird auch noch die Zwerge und die Katzen in sich vernarrt machen, die Berge werden umfallen wollen, um zu ihr zu kommen, und der See wird wandern wollen, um ihr nachzulaufen.“

„Daran ist nichts zu ändern,“ sagte die Russin. „Es kann sogar sein, daß wir auch Schaden nehmen dabei. Denn wo ein Unglückswirbel einsetzt, reißt er auch Fernstehende um. Heute, als Sie schliefen und oben in Ihrem Zimmer krank lagen, spielte Ulrike Boccia hier im Garten mit den italienischen Zollsoldaten. Die Männer bekamen fast eine Schlägerei, denn jeder wollte ihr zuerst den Ball zureichen dürfen. Und auf der Straße, als Ulrike einem Zwerg eine Zigarette schenkte, entriß der andere Zwerg dem ersten das Geschenk und verbarg die Zigarette an seinem Herzen. Der Beraubte zog dann sein Taschenmesser und wollte auf den Rivalen losstechen. Der aber zog auch ein Messer und stach wieder zurück. Und wenn die Soldaten die beiden Krüppel nicht getrennt hätten, würden sie sich in Stücke zerschnitten haben. Ich bin gespannt, wie es morgen wird“, setzte die Russin hinzu. „Der Wirt, der Bürgermeister, hat mir heute schon gesagt, er wolle sich eine deutsche Grammatik anschaffen, damit er Fräulein Ulrike schreiben könne, wenn sie wieder in Deutschland sein würde. Und im Winter wollte er dann eine Reise nach Deutschland machen. Alle sind in Ulrike vernarrt wie die Fliegen in ein Stück Zucker. Sie hat wie ein roter Blitz hier in den Ort eingeschlagen.“

* * *

Am nächsten Morgen früh, als die Wiesen am See und ihre gelben Dotterblumen noch taufeucht waren, stand ich am Fenster, kurz nachdem das erste Dampfschiff getutet hatte. Da hörte ich, daß im Garten unten Neuangekommene nach Zimmern fragten. Es war jetzt Anfang September, und der Wirt hier hatte im September doch einige immer wiederkehrende Gäste in seinem Hause, denn der Herbst ist die Jahreszeit, in der auch jeder entlegenste Winkel des Gardasees von Naturschwärmern aufgesucht wird.

Als ich mich rasiert hatte, sah ich wieder vom Fenster hinunter in den Garten, und da saß eine seltsame Gesellschaft um einen Tisch auf dem weiten Steinbalkon, auf dem ich mir gestern den Sonnenstich geholt hatte. Zwei Vettern des Wirtes, die ein paar hübsche Fischerburschen waren, hatten ein Ehepaar an einen Tisch geleitet. Sie setzten sich soeben alle nieder. Ein älterer Mann von fünfzig Jahren und eine dreißigjährige Frau.

Der Mann schien nicht ganz bei Verstand zu sein. Ich sah ihm zu, wie er Dutzende von Chenilleäffchen verschiedener Größen aus einer Handtasche auspackte und zu gleicher Zeit kleine Bändchen und Fähnchen. Und nun begannen die Burschen, die Frau und der Mann, die Affenpuppen mit Bändern zu schmücken, und alle vier spielten kindisch mit ihnen und kitzelten sich gegenseitig am Gesicht und am Hals mit den Äffchen. Dabei hatte der Mann ein katholisches Traktätchen, eine gedruckte Zeitschrift, neben sich liegen, in welcher Heilige abgebildet waren, aus welcher er gern ab und zu Erbauungsgebete vorlas.

Ich hatte bereits von Annunziata, dem Dienstmädchen, gehört, daß ein ganz verrücktes Ehepaar erwartet würde. Das Mädchen war nicht sehr erbaut von seiner Ankunft, denn die Frau, sagte sie, wäre verliebt in die beiden Fischerburschen, denen sie im Winter, und überhaupt vom Tag ihrer Abreise an bis zu ihrer Wiederkunft, fast täglich die zärtlichsten Briefe schriebe. Aber Annunziata selbst liebte den einen Burschen und fand es abscheulich, daß, so lange das Ehepaar im Gasthaus wohnte, sie auf ihre Liebe verzichten sollte.

Ich hatte in meinem Leben vorher nie etwas Widerlicheres gesehen, als diesen mageren, bebrillten, greisenhaften, kichernden Mann und seine schwammige, übel aufgeputzte Frau. Sie lehnte mit ihrem Kinn auf ihrem üppigen Busen, der in eine Seidenbluse eingespannt war, und er grinste über seine schmale Hakennase und über die Brillenränder zu den Burschen hin, wenn seine Frau die Burschen mit den Chenilleäffchen hinter die offenen Hemdkragen kitzelte.

Der eine Bursche hielt einen Leierkasten unter dem Arm, in welchen Platten eingelegt wurden, und auf dem man wahrscheinlich bald Musik machen wollte.

Der Wirt hatte mir erzählt, das Ehepaar habe eine Seidenblumenfabrik in Norddeutschland.

Ich sah mit einem Blick: wenn der Leierkasten spielen und die Chenilleaffen tanzen würden, wenn die Zwerge, die Marinesoldaten, der Student, der Drogist, der Zolloffizier sich untereinander Duelle wünschen und die Russin wie eine Unke neues Unglück prophezeien würde, wäre meines Bleibens hier nicht lange, und ich würde bald von diesem Ort fortflüchten müssen. Das wäre vielleicht das einzige Unglück, das mir passieren könnte. Denn ich hatte ein keimendes Abenteuer im Herzen, von dem ich mich nicht gern eher getrennt hätte, als bis es erlebt war.

Das Haus, in welchem sich der Gasthof befand, war halbiert. Der vorige Besitzer hatte das Anwesen in zwei Hälften verkaufen müssen. In der Mitte waren durch das Haus, durch die Prunksäle, Wände durchgezogen worden. Dahinter in der zweiten Hälfte hauste jetzt der einzige Briefträger des Ortes mit einer Unzahl von Kindern. Auf dem Balkon aber hielt seine älteste Tochter, eine bleiche Italienerin, jeden Morgen Nähstunden ab für ihre jüngeren Geschwister und ihre Freundinnen. Im Saal, neben meinem Zimmer, wo, dem Schall nach zu urteilen, sich kein einziges Möbelstück befand als ein alter Flügel, ließ der Briefträger den ganzen Tag seine Hände galoppieren und braute Melodien, zu denen die Geister aller Komponisten Europas zitiert wurden.

Niemals war mir vorher ein so entsetzlich musikalischer Briefträger begegnet. Er hatte nur dreimal am Tage, wenn die Dampfschiffe kamen, Post auszutragen, und diese Botengänge waren nur kurz; da die Gassen des kleinen Ortes kurz waren und die Leute hier nur wenig mit der Außenwelt in Verbindung standen, so blieb ihm viel Zeit zum rasenden Spiel.

Die Frau des Briefträgers war bei der Geburt des letzten Kindes gestorben, und die zwanzigjährige Tochter mußte die zwölf jüngeren Geschwister erziehen. Der Vater aber wies, so sagte man, jedem Freier, der, angelockt von der Madonnenschönheit der Zwanzigjährigen, sich über die Schwelle wagen wollte, brüsk die Tür.

„Sie hat Pflichten,“ rief er jedem mit italienischem Pathos zu, „Pflichten gegen ihren Vater und ihre zwölf Schwestern, und ich erwürge den mit meinen zehn Fingern, der es wagen sollte, meine Tochter diesen ihren Pflichten abspenstig zu machen.“

Er selbst aber schien keine anderen Pflichten für seine Familie zu fühlen als die, das mutterlose leere Haus mit seinem Klaviergetöse anzufüllen. Er kam sich gewiß wie ein Ritter der Musik vor. Die adligen Räume, die er zufällig, mit seiner ganzen Ärmlichkeit, bewohnen mußte, schienen es ihm angetan zu haben. Die altitalienischen Wappen an den Decken, die griechischen Götter, die dort auf abendroten Wolken saßen, grell hingemalt in Perspektiven an den Deckenkalk, so daß der arme Briefträger kein ruhiges Dach über seinem Schädel hatte, der gemalte Regenbogen über seinem Kopf, auf dem die neun Musen samt Apollo saßen und ihre wohlgeformten nackten Beine über den alten Klavierkasten herunterhängen ließen, – das alles schien den Mann in Ekstasen zu versetzen, die ihn fähig machten, stundenlang bei Trillern und Läufen am Tastenwerk auszuhalten. Dazwischen stieß er gegen seine Kinder Flüche und Drohungen aus, die von Blut und Mordgedanken trieften.

Ich hörte täglich den Musiklärm und seine fluchende Stimme nah wie durch eine Papierwand. Im Treppenhaus war eine verriegelte Verbindungstür zwischen den zwei Haushälften. Diese stand einmal zufällig offen, und ich hatte einen Augenblick im Vorübergehen den schrecklich bunten Apollosaal für einige Sekunden bewundern können.

Die Tochter des Musikgespenstes grüßte öfters mit einem leisen Lächeln im Gesicht zu mir herüber, wenn ich ans Fenster trat, indessen ihr Vater drinnen fluchte oder musizierte. Dieser Gruß war, als wollte sie um Vergebung bitten für den unaufhörlichen Lärm, an dem sie sich doch schuldlos fühlte.

Ich hatte mir den Spaß gemacht und manchmal den Kindern drüben in Stanniol gewickelte Schokoladestückchen zugeworfen. Nun kannten sie mich alle und sahen erwartungsvoll nach mir, wie kleine Vögel, die man vom Fenster aus füttert.

Am letzten Nachmittag war ich der ältesten Tochter begegnet, am Seeufer, das hart vor dem Garten lag. Sie stand bei den Weibern, die dort am Wasser knieten und wuschen, und sie hatte einige ihrer Geschwister um sich und nähte wie immer, – sie nähte auch, während sie spazieren ging. Aber mit den Weibern am Ufer Wäsche waschen, das durfte sie nicht. Das wäre zu erniedrigend gewesen für die Tochter des wichtigen Staatsbeamten, für den sich der Briefträger hielt.

Bei dieser Begegnung war mir der Gedanke gekommen, das schöne Geschöpf zu fragen, ob sie nicht in der Mondnacht mit mir eine kleine Kahnfahrt auf dem See machen wollte. Aber der Wind rauschte in den großen Silberpappeln am Ufer, und ich hätte laut schreien müssen, um diese Frage zu stellen, und die waschenden Weiber hätten dann ihre Köpfe gewendet und große Augen gemacht. Darum unterdrückte ich den Wunsch, der auch nicht heftig genug war, um sich gegen alle Widerstände durchzusetzen.

Aber heute abend, wenn Ulrike auf das Scheinwerferboot gehen würde, vom Zolloffizier eingeladen und vom singenden Studenten und dem die Gitarre spielenden Drogisten begleitet, dann wollte ich, dem Briefträger zum Trotz, das schöne Mädchen zu einer Nacht- und Nebelfahrt auffordern.

Während ich noch dieses träumte, erschien unten im Garten Ulrikes roter Kopf und stand gegen den blauen See wie eine große dunkelrote Geranienblüte. Sie beschattete mit den immer lebendigen Fingern ihre Augen, sah zu mir herauf und rief mir zu, sie sei fertig angekleidet, um mit mir in jenen Weingarten der Italiener zu gehen, wo die Leimruten für den Vogelfang aufgestellt wären.

Jetzt im Morgen schien mir Ulrike nicht mehr wie der Brennpunkt alles Lebenden zu sein. Wohl stand sie rotleuchtend im Garten, aber ihr helles Gesicht und ihre Hände blitzten kühl und blank wie die Seewellen draußen. Und es fiel mir auf, daß ihre Schönheit, beim starken Tageslicht besehen, beim frischen Morgenwellenschlag des Sees, unterm unendlichen silberblauen Morgenhimmel, bei dem die mächtigen Berge wie alte tausendjährige Propheten saßen, eigentlich nicht mehr Kraft ausstrahlte als die silberne Flaumfeder einer Seemöwe, die zwischen ihr und mir jetzt eben in der Gartenluft vorüberschwebte.

Freilich, gestern in der Rembrandtbeleuchtung des nächtlichen Gartens, wo die Welt rundum schwarz ausgelöscht war, lebte ihr weißes Fleisch magnetisch im Kreis der Männer. Und heute Abend, das wußte ich, würde es wieder mit gleicher Kraft seine Anziehung ausstrahlen. Der Tag aber wollte Gegenwart, lebende Wirklichkeit. Die Nacht nur ist wie von Vergangenheit ausgefüllt, und alle Dinge wachsen dann in Jahrtausende zurück, machen eine Rückentwickelung durch, vergrößern sich im Finstern und nehmen Gestalten der Urzeit an, Gestalten vorsündflutlicher, ausgestorbener Geschlechter. Es ist, als würden dann in der Finsternis jene Formen wieder lebendig, von denen wir Menschen nur Ahnungen aus den Gesteinschichten bekommen, wenn wir die Abdrücke versunkener Riesengeschlechter, gigantischer Farren und gigantischer Amphibien finden, – Gestalten, von denen wir kaum feststellen können, ob sie dem Luft-, dem Erd- oder dem Wasserreich angehörten.

Von solch ungewissen, grauenhaften Ungeheuern schien mir der Garten gestern Abend angefüllt gewesen zu sein. Jeder war da im Dunkeln über sich hinausgewachsen, die Menschen, die Zwerge, die Musik, die Lampe, der Mispelbaum, die Katzen und die vom Scheinwerfer ruckweise belichtete Seelandschaft.

Harmlos war das alles jetzt am Morgen, und der Morgen selbst unschuldig wie ein Ei, das eine Henne ins Stroh fallen ließ, unschuldig wie die Milch der Kühe, unschuldig klar wie frisches Wasser in einem Glas, und ich atmete jetzt auf und verbannte im hellen Morgen die Schrecken, die ich gestern Nacht gefürchtet, leicht von mir, wie man den Rauch einer Zigarette rasch von sich bläst.

Ulrike und ich hatten nicht weit zu gehen, keine fünf Minuten vom Gasthaus durch die höckerige Straße, die dort anstieg und sich hinaus in den Olivenhain verlor. Dort hinter den Mauern, die am Ende der Häuser noch eine Weile den Weg einengten, lagen alte Weingärten. Hier und da war eine Pforte oder eine Nische mit einem verstaubten Madonnenbild in den Mauern; und an den Mauerflächen huschten graublaue winzige Eidechsen hin. Verschlungene Feigenbäume streckten ihre Fünffingerblätter aus und ließen schwarzblaue Früchte reifen. Niemand begegnete uns als spielende Kinder und ein paar meckernde Ziegen, und weißer wirbelnder Staub flog am Wege hinter uns her.

Auch hier waren am Morgen keine Gespenster mehr am Wege, und als uns einer der orangutangähnlichen Zwerge einholte, der für uns den Klöppel am Gartentor anschlug, in das wir eintreten sollten, da sah auch der arme verwachsene Kerl dürftig und unschädlich aus wie ein humpelnder Hase, schreckhaft und ängstlich.

Ulrike stellte sich etwas wunderbar Lustiges unter dem Vogelfang vor. Sie dachte, man fängt die Vögel mit der Hand wie Schmetterlinge von den Blumen. Und sie dachte, es müßte ein so hübsches Geschäft sein wie Gärtnerei oder Mandolinenspiel.

Drinnen aber im Weingarten stockte uns beiden der Atem. Mit etwas bleichen, übernächtigen Gesichtern fanden wir dort den Studenten und den Drogisten bei ihrer Henkerarbeit.

Am Ende des Gartens, der zum See abfiel, lag eine Wiese, und dort in einem Mauerwinkel, auf einer breiten Böschung, saß der Student, nur mit Hose und Hemd bekleidet wie ein Cowboy. Die Andacht und der Schmelz, mit dem er gestern Abend gesungen, waren aus seinem Gesicht wie fortgeblasen. Er war nur voll Eifer beim mörderischen Vogelfang, durchdrungen vom Ernst eines Sachkenners. Man durfte nicht laut sprechen, man durfte nicht laut auftreten. Man mußte wie bei Wegelagerern im Hinterhalt lauern.

Zwischen den nächsten Büschen waren lange, dünne Ruten gesteckt. Die waren mit klebrigem Leim bestrichen, der nicht trocknete.

In seinem Mauerwinkel lugte der Student durch eine Art Schießscharte nach seinen Ruten und pfiff ab und zu auf einer kleinen silbernen Vogelpfeife. Die gab einen leisen zwitschernden Laut. Der Lockruf wurde manchesmal von einem Baum oder aus den Büschen beantwortet.

An einigen Rutenspitzen waren auch ein paar winzige Vögelchen angebunden. Die flatterten und versuchten vergeblich, sich loszumachen. Die in der Luft vorüberziehenden Vögel glaubten, von jenen käme das Gezwitscher, und ab und zu kam ein Vöglein vom nächsten Baum oder aus der Luft herbei und setzte sich auf eine der Leimruten, um zu erfragen, warum die Flatternden nicht fortfliegen wollten, und warum sie riefen.

Bald aber mußte der Neugierige dann seine Freiheit lassen. Sein Brustflaum klebte an der Rute fest, ebenso seine feinen Krallen. Allmählich hafteten auch seine Flügel, mit denen er um sich schlug, an dem Klebstoff der Rute. Und wie eine Fliege im Sirup, so quälte sich der kleine Vogel vergebens loszukommen. Andere flogen dann auf das jammernde Gepieps der Kameraden herbei. Auch sie blieben haften. Und die Ruten schaukelten unter dem Gezappel der jämmerlich verstörten und zu Tode geängstigten Tierchen heftig in der Luft hin und her. Und immer neue kamen neugierig und hilfsbereit und umflatterten mitleidig die piepsenden Gefangenen, die sich trotz aller Anstrengung nicht von den Leimruten befreien konnten.

Das gestern so andächtige Auge des schmächtigen Studenten glitzerte jetzt wie ein Wieselauge, und auch sein Rücken bewegte sich unruhig und lauernd, wenn er durch die Mauerscharte spähte. Ab und zu flüsterte er uns die sich steigernde Zahl der an den Leimruten zappelnden Opfer zu.

„Vier, sieben, zehn, hui, – vierzehn!“ stieß er begierig hervor. Dann sprang er plötzlich aus seinem Versteck, war mit drei, vier Sätzen bei den Ruten, griff mit langen Armen und großen Händen in die Luft über die Büsche und pflückte die Vögel von den Ruten ab. Er stopfte die Vögel in seine Tasche, wo sie, vom Leim besudelt, alle aneinanderklebten und bald nur noch ermattet zuckten. Dann stellte der junge Mann schleunigst mit frischem Leim angestrichene Ruten in die Büsche. Es geschah geschäftig und blitzartig, als wäre jede Minute seiner Handlung kostbar für die Weltgeschichte.

Nachdem er wieder zu uns in das Versteck zurückgekehrt war, holte er Stück um Stück der Vögel aus seiner Tasche und zerdrückte jedem zappelnden Tierchen zwischen seinem Daumen und dem Zeigefinger das Köpfchen. Dann warf er den blutenden Vogelbalg zu dem Beutehaufen ins Gras, wo bereits dreißig bis fünfzig Stück, die er in diesen Morgenstunden gefangen, als tote Klumpen beieinander lagen.

Ulrike wurde blaß und wendete sich ab. Aber der Student grinste und sagte achselzuckend: „Das ist Jagd.“ Aber es war mir, wie er grinste, als wäre sein Gesicht schwarz wie das eines menschenfressenden Negers geworden. Schwarz vor Schuld, Scham und Verlegenheit, – so sah ich ihn für einen Augenblick vor meinem inneren Auge.

Über unseren Köpfen waren hier bei der Mauer Stangen auf Backsteinpfeiler gelegt. Sie trugen ein Rebengewirr, durch dessen Laub die Sonne grün leuchtete. Und große Trauben, goldgelbe und dunkelblaue, hingen darin zum Greifen nah.

Trotzdem der italienische Student die Verstimmung deutlich merkte, die sein grauenhafter Jagdsport in unseren deutschen Gemütern anrichtete, bewahrte er seine südlich lässige Höflichkeit und lud uns ein, von den Trauben zu pflücken. Und der Zwerg, der dabei stand, kletterte behend an einem Pfeiler hoch und riß ein paar Trauben ab, die er uns hinreichte.

Mir aber saß noch das Herz im Hals von der Vogelmetzelei, die ich hier gesehen hatte, hier im harmlosen blauen Morgen, den die Wiesenblumen und das Vogelgezirp schmücken sollten, und wo man unter den laubigen Traubengängen keine Verräter und Mörder der Morgenunschuld vermuten konnte.

Ich mochte keine Traube anrühren, und auch Ulrike legte die ihr zugereichte Traube, ganz beklommen dankend, neben sich ins Gras.

Sie sagte mir leise, sie wolle gehen. Der Student verstand es und sagte, er wolle uns noch in den Weingarten führen, wo sein Freund viele Netze aufgespannt hätte und die Vögel in einer anderen Weise einfinge als er.

Im Garten droben nahm uns dann der Drogist in Empfang. Er führte uns durch die dichten Laubengänge, in denen hohe Rebenstocke standen, die an Drähten ausgebreitet wuchsen und hohe Korridore bildeten. In diesen Gängen, an den Traubenwänden entlang, waren große haardünne Netze aufgespannt. In ihnen verfingen sich die kleinen Vögel im Durchfliegen. Sie zappelten hier in den Maschen wie die anderen vorhin an den Leimruten. Aber das Erschütterndste hier waren nicht die Netze, es war nicht die Fangart, sondern die Lockweise. Es waren da eine Reihe Käfige an der Wand. In denen hielt sich der Drogist geblendete Nachtigallen. Den Nachtigallen, die er gefangen hatte, hatte er die Augen ausgestochen, damit sie in ewiger Finsternis besser singen sollten. Die armen Tiere waren also doppelt gefangen, doppelt geängstigt, und ihre Klagen wurden doppelt schmelzend, doppelt sehnsüchtig.

„Das haben Sie getan?“ fragte Ulrike unbefangen, aber zugleich blieb sie wie erstarrt vor einer blinden Nachtigall stehen. Sie konnte es noch gar nicht begreifen, daß es schändliche Wirklichkeit war, was sie sah. Und der Drogist grinste. Aber er hatte eine seltsame Art, über die Köpfe der Menschen fortzusprechen. Was er nicht hören wollte, übersprach er. Nur sein Blut, das ihm leicht zu Kopf stieg, zeigte, daß er gehört hatte.

Auch mir grauste es jetzt vor diesem Garten, der da am See hinter hohen Mauern eingeschlossen wie eine große Mördergrube lag. Von außen hätte man der harmlosen Mauer nicht ansehen können, daß dahinter die freiesten Geschöpfe der Erde, die kleinen, dem Menschenherzen so wohlgefälligen Nachtigallen und andere Singvögel, lebenslängliche Folterqualen und Tausende von ihnen einen gräßlichen Tod erleiden mußten.

Also dieses war das Grauen, dachte ich, als ich mit Ulrike den Garten verlassen hatte, das ich durch die Mauern gefühlt habe, als ich am ersten Abend durch den kleinen, brütend schwülen Ort hinaus zu den grimassenschneidenden Olivenhainen am Bergabhang gewandert war.

„Ich will keine Musik mehr von diesen beiden hören und kein Lied“, sagte Ulrike ganz erschüttert. „Pfui! Wenn ich das gestern abend gewußt hätte, daß die beiden solche Scheusale sind!“

„Sie werden aber heute abend doch mit den jungen Leuten auf das Scheinwerferboot gehen und über den See kreuzen, wozu Sie gestern abend der Offizier eingeladen hat.“

„Nein, nein,“ rief sie heftig. „Ich habe den beiden eben gesagt, sie sollten lieber elende Schmuggler werden. Denn besser als die Vogeltöterei ist dann doch das Schmuggeln. Sie haben natürlich verstanden, daß ich sie nicht mehr sehen will, und wurden beide blaß und rot.“

Im Gasthaus mußte ich ein kräftiges Glas Wein trinken, um die Übelkeit herunterzuspülen und das Grauen, das mich befiel, wenn ich an die Vogelfänger zurückdachte.

Ulrike, in ihrer lebhaften Art, sagte, sie hätte am liebsten beiden die Augen eigenhändig ausgestochen und die Frevler lebenslänglich mit den Leimruten gepeitscht.

Der Tag wurde dann sehr heiß. Die Russin, Ulrike und ich saßen im Garten umher oder im kühlen Speisesaal, lesend oder schreibend. Nach dem Mittagessen war die Glut aufs höchste gestiegen, und der See draußen leuchtete mit seinen Lichtflammen brennend in die Zimmer herein. Nirgends war Schutz vor der Hitze.

Die Damen hatten sich zum Schlafen zurückgezogen. Ich lag in einer Hängematte unter dem Mispelbaum, und mir schwand bald das Bewußtsein, aber Schlaf war es nicht, denn ich wachte und erlebte Seltsames dabei.

Die Hitze betäubte meinen Verstand, aber meine Augen und Ohren wurden unendlich wach und hatten ein Gesicht, das kein Traum war.

Ich schaute durch den Laubengang hindurch hinaus auf die lichtüberrieselte Seefläche, und dort sah ich ein Tier aufsteigen. Das hatte den Kopf einer Eidechse, den Hals einer Giraffe, den Bauch einer watschelnden Ente und den langen Schweif eines Krokodils.

Mitten im See hob es sich, grüngrau, wie aus tausendjährigem Schlamm geboren. Seine Haut hatte menschenkopfgroße Warzen.

Das Tier nickte mit seinem langen Hals wie ein Vogel Strauß. Das glitzernde Wasser rieselte in Bächlein an ihm nieder, und Büschel von großen Seepflanzen wuchsen dem Tier auf dem Rücken. Es sah aus, als habe es jahrhundertelang in der Seetiefe geschlafen und richtete sich jetzt auf, um Umschau zu halten, ehe es weiterschlief.

Ich erinnerte mich, ich hatte dieses Tier in einer lebensgroßen Nachahmung aus Stein im Zoologischen Garten in Berlin, an der Freitreppe zum Aquariumhaus gesehen, und wußte auch, daß auf einer Tafel darunter „Iguanodon“ stand, und „seit zwanzig Millionen Jahren auf der Erde ausgestorben“. Es war eines jener vorsündflutlichen Tiere, an die ich gestern abend gedacht hatte, als Ulrike den Garten verhexte mit ihrer über alle menschlichen Begriffe starken Anziehungskraft, die die Zwerge, die Katzen und alle Männer entzündete. Vor meinem inneren Blick war Ulrike da in ein Fabelwesen verwandelt worden, für das man keine gewohnten Maßstäbe findet. Und nun sah ich am hellen, heißen Nachmittag ein Iguanodon seinen zwanzig Millionen Jahre langen Schlaf unterbrechen und mitten im See aufsteigen und Rundschau nach den Ufern halten, als wollte sich die langhalsige Gestalt mit einem ebenbürtigen Feinde messen, der es heraufgerufen und zum Zweikampf herausgefordert hätte.

Und seltsam, – ich erkannte plötzlich die Berge, die sonst Erde und Stein waren, auf dem anderen Seeufer und über meinen Häuptern und hinter den Hausdächern des am Berg hinaufkletternden Ortes nicht mehr. Diese einzelnen Berge schienen die Stümpfe von Urweltbäumen zu sein, deren jeder ein paar Meilen im Durchmesser maß. Und gegen diese riesigen Baumstümpfe wirkte das haushohe Iguanodon wie eine winzige Ameise. Die vorsündflutliche Welt, in der der Mensch weniger als ein Infusionstierchen in einem Tropfen Wasser war, erschreckte mich nicht; sie stand schrecklich schön im Sonnenschein vor mir. Und auch als das Iguanodon eine pfeilartige weiße Zunge, wie eine lange dünne Röhre, ausstreckte, die es langsam anwachsen ließ, erschrak ich noch nicht. Erst als die Zunge wie ein dünner Sauger die Ufer, die Berge und endlich die einzelnen Häuserflächen, die nach dem Wasser sahen, von der Mitte des Sees aus abtastete, da packte mich ein panischer Schrecken. Denn der weiße Strahl der Zunge zog sich, wenn er ein Haus berührt hatte, wie ein langer Schneckenfühler wieder zu dem Tier zurück.

Mit einem Male hörte ich Geschrei, ein Angstgezirp, ähnlich dem, das die zappelnden Vögel an den Leimruten im Morgen gezirpt hatten. Ich sah mit Entsetzen, daß die Zunge des vorsündflutlichen Tieres jedesmal, wenn sie ein Haus berührte, ein Fenster oder einen Laden eindrückte und sich einen Menschen aus den Zimmern holte, und der Geraubte verschwand angeklebt mit der eingezogenen Zunge im Schnabelrachen des Tieres.

Das Iguanodon, das ich hier sah, war wohl zwanzigmal größer als die Abbildung, die ich einmal in Stein, von einem Bildhauer gearbeitet, in Berlin gesehen hatte. Den Menschen, den die Riesenbestie verschluckte, sah man im langen dünnen Tierhals nicht hinabgleiten, denn der Hautbehang des Halses schien fest und dick zu sein wie Panzerplatten.

Mein Grauen wuchs. Jetzt stürzten unter der Gartentür vom See her in den Garten herein die Weiber, die am Ufer gewaschen hatten, und viel Volk ihnen nach, das vor der Zunge des Tieres flüchtete. Ich fühlte aber, daß ich mich mit den Fußspitzen und meinen Armen in dem Maschennetz der Hängematte verwickelt hatte, so daß ich mich nicht zur Flucht aufrichten konnte. Nur meinen Kopf konnte ich hin und her bewegen.

Ich sah, wie auf den Lärm im Garten der Wirt, die russische Generalin, das heute morgen angekommene Ehepaar und die zwei Fischerknaben, letztere mit den Chenilleaffen und der Drehorgel bepackt, aus dem Hause kamen und nach der Kellertür strömten, die der Wirt öffnete, und wohin alles, was im Garten war, dem Wirt nachdrängte, der dann, als alle in den Keller geflohen waren, behutsam die Kellertür von innen schloß. Ich hörte, wie der Wirt zuriegelte, und wie die Leute drinnen erst alle durcheinanderschwatzten, und wie es dann atemlos still wurde und sie alle zu horchen schienen. Jetzt war die Zunge des Tieres, glänzend weiß wie der Lichtstrahl eines Scheinwerfers und pfeifend über die Krone des Baumes, unter dem ich in der Hängematte gefesselt lag, auf das Gasthaus zugeschossen und hatte die Glastür im Speisesaal eingedrückt, deren Scherben laut klingend auf den steingepflasterten Fußboden fielen.

Alle Leute im Keller waren in Sicherheit. Auch die Tochter des Briefträgers war vorhin mit den Menschen dort hinuntergeflüchtet, und ich staunte nachträglich noch, wie furchtlos sie eigentlich gewesen war. Das junge Ding schien nur vom Strom der Flüchtlinge mitgerissen worden zu sein. Denn sie nähte, während sie in den Keller stieg, ruhig an ihrer Arbeit weiter.

Nur Ulrike hatte ich nicht aus dem Haus fliehen sehen. Aber ich wußte doch, daß sie in ihrem Zimmer oben war und Siesta hielt. Plötzlich zog sich die Tierzunge, die dünne, tastende und saugende Zungenspitze des Iguanodons, vom Hause zurück und schnellte wie eine zurückgeworfene Leimrute hoch in die Luft, gleichsam, als sei das vorsündflutliche Tier draußen im See tief erschreckt worden.

Mich schüttelten Frost und Kälte. Wie leicht konnte die Zunge jetzt pfeilschnell durch das Geäst des Baumes wieder zurückschießen und mich aus der Hängematte ziehen!

Da aber hörte ich, daß sich ein Fenster im Zimmer Ulrikes öffnete, und ich wollte dem schönen Mädchen zurufen, sie solle fliehen und sich verbergen, als ich sah, wie ein eben solcher Tierkopf, nur viel kleiner als der des Ungeheuers auf dem See draußen, sich aus dem Fenster reckte. Sein Hals wuchs und stand wie eine lange ungeheure Fahnenstange aus der Fensteröffnung. Seine Zunge schoß aus dem Rachen und züngelte lebhaft. Aber statt der Warzen hatte dieses neue Tier rote lockige Haarbüschel an seinem Giraffenhals, Haare, so rot wie Ulrikes Haar. Zugleich aber sah ich, daß die Zunge, die dieses Tier ausstreckte, keine lange Saugröhre war, sondern daß elektrische Flammen, elektrische Strahlenbündel, die viel schneller und viel gewaltiger waren als die Zunge des anderen Tieres, weit auf den See hinaussprühten und furchtbare Schläge ins Wasser austeilten. Und wo dieses Tieres Elektrizität hinschlug, schien der See bis in die Tiefe zu kochen.

Das Iguanodon draußen in der Seemitte hatte seine Zunge eingezogen, legte seinen Hals flach wie einen schwimmenden Baumstamm aufs Wasser, und es schien mir, als überlege es, ob es den Kampf mit der Nebenbuhlerin am Ufer aufnehmen, oder ob es wieder versinken sollte in sein jahrtausendealtes Wassergrab.

Plötzlich aber dröhnte die Erde. Der Baum, an dem meine Hängematte hing, zitterte und schüttelte sich, als wenn ihn ein Schauder durchführe. Zwischen den hohen vorweltlichen Baumstümpfen, die die Höhe des Monte Alto hatten, flog eine Herde blutfarbener Drachen auf. Die hatten mächtige Fledermausflügel aus roten Häuten. Der Himmel verfinsterte sich blutrot. Und die Drachen zeigten gelbe Bäuche und grünliche Brüste, hinter denen ich einen dunkelblauen Herzwulst pochen sah.

Im See aber tauchte lautlos das Iguanodon unter. Auch das Tier im Hause hörte auf, Blitze zu werfen, und zog seinen langen Hals in das Fenster zurück und verschwand. Die roten Drachen aber füllten die ganze Luft und wurden zu Millionen Drachen.

Ich sah eine Weile noch den Sonnenschein, der die vielen ausgespannten Drachenflügel rot durchleuchtete. Und von dieser Röte wurde auch der Baumstamm, unter dem ich lag, rot beschienen und ebenso Äste und Blätter. Der rote Stamm sah wie die blutige Gurgelröhre aus, die man einem mächtigen Tier ausgenommen hat. Und der Baum begann zu sprechen, und seine Äste begannen sich im Wind zu ballen wie Fäuste, und sie wuchsen und schlugen an die verschlossene Kellertüre, dahinter sich die Menschen des Hauses geflüchtet hatten. Und der Baum schrie zuletzt auf, und ich verstand jedes Wort, und mich schauderte, als er mich in der Hängematte hin und her schleuderte. Des Baumes Stimme aber rief:

„So lange ihr Menschengezücht euch höher dünkt und gewaltiger als das Höhenreich und das Unterreich, so lange sollt ihr keinen Frieden haben, da ihr keinen Frieden geben wollt. Ihr sollt nicht sicher sein in euren Häusern, nicht sicher in euren Betten, nicht sicher unter uns Bäumen. Wir werden immer wieder zu euch hereinbrechen, wir aus dem Unterreich und aus dem Höhenreich, deren Leben ihr erloschen glaubt. Und ihr werdet kämpfen müssen, so lange ihr Kampf wollt. Die roten Drachen, sie werden über euch geschickt, sie werden euch immer wieder besiegen, auch wenn eure Kämpfer elektrisches Feuer speien. Die roten Drachen, die aus dem Urblut aufstiegen, aus dem auch ihr gezeugt wurdet, sie sind es, die euch züchtigen sollen.“

Nachdem der Baum also dröhnend gesprochen hatte, wurde es still. Die rote Dunkelheit, die die Landschaft und alles um mich entrückt hatte, wich allmählich, und es wurde hell wie vorher. Der erhitzte Garten im Nachmittagslicht, voll blühender roter Nelken und roter Geranien, lag am See, trocken und scharf beleuchtet. Niemand sprach. Nichts Ungewöhnliches war zu sehen. Im Hause schien noch alles zu schlafen. Gerade vor mir an der Gartenmauer reckten sich einige blaugrüne, tierähnliche Kakteenstauden. Auf den fleischigen, gepanzerten Pflanzen sonnten sich grünschillernde Fliegen, und neben ihnen züngelte eine kleine Eidechse.

Meine Füße waren ein wenig in der Hängematte verwickelt. Ich konnte aber doch leicht aufstehen, ging zum Tisch und setzte mich in einen Strohsessel im Schatten des Hauses und dachte über das sonderbare vorsündflutliche Gesicht nach, das ich zwischen Wachen und Träumen eben erlebt hatte.

Später kamen die Damen zur Kaffeestunde aus ihren Zimmern in den Garten, und wie wir da zusammen unter dem Mispelbaum saßen, wollte ich ihnen mein Traumgesicht beschreiben. Aber als ich den Mund zum Sprechen öffnen wollte, tauchten mir ganz andere Bilder auf. Ein innerer Wille zwang mich, ganz andere Worte zu sprechen als die, die ich hätte sagen wollen. Es war von jenem Gesicht her eine unerklärliche Angst in mir geblieben, die mir ergab, daß ich neuen Schrecken, der sich hier entwickeln konnte, dadurch im voraus Einhalt tun könnte, daß ich die Zukunft den Damen so schilderte, als wäre sie bereits Ereignis gewesen.

Und ich erzählte:

„Vorhin war es Nacht hier im Garten und draußen auf dem See. Die Lampe unterm Mispelbaum brannte, und auf Ihrem Stuhl hier saßen Sie, gnädige Frau“ – und ich verneigte mich leicht gegen die russische Dame. „Zu Ihren Füßen lagerten alle Katzen des Hauses, graue und schwarze nebeneinander, scheinbar schlafend, aber eigentlich mit Ihnen in die Dunkelheit horchend. Um den Tisch herum saßen alle Zwerge des Ortes. Der eine Zwerg hatte eine Kappe voll Birnen vor sich liegen, der andere Zwerg seine Kappe voll Trauben, der dritte seine Kappe voll getöteter Singvögel. Die anderen Zwerge, die neben Ihnen saßen, hatten leere Kappen, aber sie warteten, so schien es mir, jeder einen unbewachten Augenblick ab, um aus den drei gefüllten Kappen etwas zu stehlen. Aber die drei Zwerge mit den gefüllten Kappen horchten mit Ihnen und den Katzen gegen den See hin, wo eben nach dem Abendläuten das Scheinwerferboot tutete, das dann das kleine Hafenbassin von Limone verließ und seine Nachtwache an dem Ufer entlang antrat.“

Die um den Tisch Sitzenden mußten angestrengt horchen, da tief im Hause, in einem der letzten Zimmer, der Drehorgelkasten gespielt wurde. Der am Morgen angekommene alte Herr spielte das kreischende Instrument, während seine Frau mit den beiden Fischerbuben schlurchend über den Steinboden tanzte.

„Ich selbst befand mich auf dem See in einem Nachen und ruderte. Am Ende des Bootes saß die schöne Tochter des Briefträgers. Sie hatte den neuen Vollmond vor sich auf dem Schoß liegen wie ein Stück Weißzeug. Der Mond war entzweigerissen, und sie nähte mit einer großen goldenen Nadel seine Risse zusammen.

Alles Unnatürliche in meinem Traum war so selbstverständlich, wie wir jetzt hier sitzen und Kaffee trinken. Ich konnte überall zu gleicher Zeit sein, im Garten, im Haus, im Kahn und auf dem Scheinwerferboot“, erzählte ich weiter.

„Auf dem Zollboot, das wie ein langer schmaler Walfisch aus Eisen, nur wenig erhöht, über die Wasserfläche hinschoß, sah ich, umgeben von Zolloffizieren und Matrosen, Ulrike stehen. Es unterhielt sie besonders, einem Manne zuzusehen, der den Scheinwerfer handhabte. Vom Boot war über dem Wasser nichts zu sehen als nur ein kleiner Schornstein, der Lichtapparat des Scheinwerfers und ein dünnes Eisengeländer, das um das längliche Verdeck lief. In der Form einer Zigarre, und einem Wasserkäfer ähnlich, eilte das Boot auf der Seefläche hin und kreuzte pfeilartig von Ufer zu Ufer. Die Offiziere rauchten Zigaretten und freuten sich über Ulrike und über ihr rotleuchtendes Haar, das in der Nacht noch stark mit seiner Feuerfarbe lockte.

Plötzlich kam Bewegung unter die Matrosen. Ein Offizier neben dem Scheinwerfermann gab leise Befehle, und alle andern Offiziere drängten sich zu ihm heran, und jeder sah durch ein neben dem Scheinwerfer angebrachtes Fernrohr eifrig und lebhaft erregt hinauf ans Ufer.

Man hatte Schmuggler entdeckt. Ich aber wußte, da ich auch zugleich oben auf dem Berg sein konnte, daß die vom Fernrohr entdeckten Gestalten im weißen Lichtstrahl des Scheinwerfers dort oben keine Schmuggler waren, sondern der Student und der Drogist, die der Aufforderung Ulrikes nachgekommen waren und die Schmuggler spielten, nur um die Abendfahrt für Ulrike auf dem Scheinwerferboot unterhaltender zu machen.

Die Offiziere aber sagten Ulrike nicht, daß sie Schmuggler entdeckt hätten. Einer bot ihr den Arm und führte sie auf den Wink der andern in die Kajüte, wo er ihr einen Spiegel zeigte, in welchem man nicht sich, sondern sein vorsündflutliches Urbild sehen konnte. Ulrike lachte herzlich, als sie sich in dem Spiegelglas als eine Art Iguanodon erkannte.

Im selben Augenblick hörte Ulrike ein Tuten, und es wurden Befehle durch ein Sprachrohr an die Bergwand hinauf zu den Schmugglern gerufen: ‚Stillgestanden! Oder wir geben Feuer!‘

Ulrike wandte sich vom Spiegel ab und zeigte dem Offizier ihr schönes Mädchengesicht und sagte:

‚Ihr werdet doch nicht auf den Studenten und auf den Drogisten schießen, die nur zum Spaß die Schmuggler machen?‘

Im selben Augenblick krachten aber fünf Schüsse knapp hintereinander aus einem Maschinengewehr, das am Kiel des Bootes angeschraubt war. Vom Berg hörte man ein Niederrasseln von Steinen. Nach ein paar Augenblicken rauschte das Seewasser vom Fall zweier Körper schäumend auf.

‚Ihr habt zwei Menschen getötet,‘ schrie Ulrike.

Die Schüsse aber in der Nacht wurden zu hundert Echos in den Bergen. Und in den Häusern von Limone erhellten sich viele Fenster. Viele Leute kamen aufgestört mit Lichtern und Laternen an den Strand, und viele Frauen warfen sich am Wasser händeringend auf den Boden und riefen: ‚Man hat uns unsere Männer getötet!‘ Denn diese waren Schmuggler und befanden sich in dieser Nacht auf den Paßwegen mit Waren beladen, die sie im Finstern über die Grenze schleppen sollten.

Zugleich rannte der Briefträger kreischend am Ufer entlang und schrie: ‚Meine Tochter ist verschwunden! Mit diesen meinen Händen werde ich den erwürgen, der sie entführt hat.‘

In der allgemeinen Aufregung gellte noch die Stimme Annunziatas, des Dienstmädchens im Gasthause. Die rief einem alten Herrn, der sie schüttelte, ins Gesicht:

‚Jawohl, ich habe dem Mann die Frau vergiftet, weil sie immer mit meinem Geliebten tanzt und nicht genug an einem Mann und einem Geliebten hat, sondern einen Mann und zwei Geliebte haben will.‘

Der Wirt des Gasthauses aber verwandelte sich in einen Esel, stand an einer Straßenecke auf vier gespreizten Beinen und wehklagte in die Nacht.

Im Garten starrte die Generalin, die bei den Katzen und den Zwergen saß, wie entgeistert nach der Haustüre des Gasthofes, wo der alte Mann herauswankte, der den Drehorgelkasten gespielt hatte, und dessen Frau tot war. In ihm erkannte die Generalin plötzlich ihren vor Jahren ins Meer gestürzten Gemahl, dem damals im Schreck, als sein Sohn ertrank, das Erinnerungsvermögen geschwunden war, der sich aus dem Meer gerettet hatte, aber nicht mehr wußte, wer er war, und der damals nach Deutschland gereist war, eine künstliche Blumenfabrik gekauft und wieder geheiratet hatte.

Jetzt stürzte dieser Mann wie die andern nach dem Strand, wo ein allgemeines Geschrei und Gerufe durch die Nacht hallte.

Die Generalin erlitt vom Erkennungsschreck einen Schlaganfall. Sie sank einseitig gelähmt vom Stuhl. Die Katzen im Garten flohen alle in den offenen Keller, und auch die Zwerge erschraken und liefen hinter den Katzen in das Kellerversteck. Dort balgten sie sich um die Birnen, die Trauben und die toten Vögel.

Birnen und Trauben schmatzend und tote Vögel zerkauend, kamen die Zwerge nach einer Weile aus dem Keller vorsichtig hervorgekrochen. Sie zupften die umgefallene Generalin am Ohr und an der Nase und schleiften sie, mutig geworden, weil sie sich nicht rührte, am Mantel und an den Schalzipfeln den Garten hinunter an den See, wo sie sie unter Gekicher von der Landungsbrücke ins Wasser stießen.

Die Tochter des Briefträgers im Kahn hatte die Risse im Mond zusammengenäht und gab die Mondscheibe frei, die aus ihrem Schoß fort an den Himmel hinaufschwebte, wo sie im Zenit stehen blieb, und wo sie nun die Seelandschaft mit ihrem Licht wieder verklärend beleuchtete. Das Mädchen selbst aber sprang aus dem Boot, nachdem sie zu mir noch gesagt hatte: ‚Mein Vater ruft mich. Er darf mich nicht bei Ihnen finden. Dann sind Sie des Todes.‘ Dann war sie leicht über das Wasser fortgelaufen, als wäre der See eine Glasplatte, und sie kam heil an das Ufer, wo sie ihrem Hause zueilte.

Ich aber wollte nicht mehr nach Limone zurück. Ich hatte genug von dem abenteuerlichen Aufenthalt und wollte noch in der Nacht nach Torbole rudern. Da glitt das Scheinwerferschiff an mir vorbei, und mit dem verzweifelten Schrei: ‚Nehmen Sie mich auf!‘ sprang Ulrike vom Boot herunter zu mir in den Kahn. Dann ruderte ich aus Leibeskräften und schloß die Augen und ruderte, nur von dem Gedanken der Flucht angetrieben.

Ulrike aber hing mir an meinem Halse während ich ruderte, und die junge Dame flehte mich an, sie zu ihrem Bräutigam nach Freiburg zu rudern, da sie gewiß nie mehr einen anderen Mann ansehen wollte als ihn und kein Unglück mehr suchen wollte, sondern das Glück der Ehe, soweit das einem Iguanodon möglich sei.“

Also hatte ich gefabelt.

Ulrike, die längst ein Taschentuch vor den Mund gehalten und öfters während meiner Erzählung wiehernd aufgelacht hatte, stöhnte jetzt:

„Uff, uff, Sie haben recht. Ich werde heute noch nach Freiburg abreisen, um nicht all das Unglück anzustiften, das Sie mit solcher Wollust auf den Kaffeetisch malen. Es ist nur so schade, daß ich allein reisen soll, und daß ich Sie beide in dem stimmungsvollen Weltwinkel hier zurücklassen soll, während ich vor meiner Iguanodonseele fliehen muß.“

„Daß Sie mich aber auf so schreckliche Weise umbringen lassen! Ich soll im Wasser umkommen, nachdem ich meinen ertrunken geglaubten Mann wiedergesehen habe! Was habe ich Ihnen getan, daß Sie mir ein so fürchterliches Schicksal ausdenken?“ rief die Generalin, ihr Unglück genießend, aus.

„Sie haben nichts getan, als daß Sie sich immer in Ihrem Innersten dramatische Schicksale gewünscht haben. Sie dramatisieren mit Ihrer Sehnsucht zum Unglück Ihr eigenes Schicksal, da Sie Angst haben, daß es sich sonst friedlich wie ein Idyll entwickeln könnte,“ antwortete ich ihr.

„O, Sie haben eine sonderbare Art,“ sagte die Russin, „einem Aufklärungen über sich selbst beizubringen. Sie nehmen einem Unglücke vorweg, die man das Recht hatte, zu erwarten,“ fügte sie beinahe schmollend hinzu.

„Ich habe nichts anderes hier erwartet,“ rief Ulrike jetzt, gleichfalls schmollend. „Sie glauben, daß wir alle an Sonnenstichen leiden, und Sie legen uns eine Eiskompresse aufs Herz. Dafür bin ich Ihnen eigentlich doch dankbar. Sie leuchten wie ein Scheinwerfer in uns hinein und erzählen uns dann Märchen, die Sie in uns gesehen haben, wie ein Großpapa seinen Enkeln Gruseln macht. Und recht belehrende Märchen sind das, das muß ich sagen.“

Die Russin ereiferte sich aber und meinte:

„Jedenfalls ist die Gewitterstimmung hier zerstört. Ich bin dagegen, daß man die Menschen von ihren Handlungen, die sie tun müßten, durch solch haarsträubenden Anschauungsunterricht vom blinden Leidenschaftsweg abschreckt. Jetzt wird Ulrike sicherlich nicht heute Abend mit dem Offizier auf das Scheinwerferboot gehen wollen. Der Student und der Drogist sind durch Tod abgeschafft. Ich finde, der Erzähler solcher Märchen müßte jetzt wenigstens neue Menschen und neue Ereignisse herbeischaffen. Denn damit, daß eine erzählte Geschichte aus ist, ist doch nicht das Leben der Zuhörer aus. Wir leben weiter und wollen erleben.“

„Hier kommt schon neues Leben,“ rief Ulrike.

Mit dem Wirt traten zum Gartentor zwei fremde Herren in den Garten herein. Sie trugen kleine Handtaschen, und der Wirt stellte uns die Herren im Vorübergehen als zwei italienische Ärzte vor, die für einige Wochen hier bleiben sollten, und die soeben erst mit dem Dampfschiff angekommen wären.

Wir hörten nur noch, wie die Herren zum Wirt sagten, sie wollten nur rasch ihre Hände waschen, und dann die Wiese aufsuchen und den Platz bezeichnen, wo die Krankenzelte aufgeschlagen werden sollten.

„Ja, ist denn eine Epidemie ausgebrochen?“ rief die Generalin, mit ihrem einen Auge belustigt zwinkernd, und richtete sich aufgeräumt aus ihren Schals und Mänteln empor.

Die Herren waren aber schon mit dem Wirt ins Haus getreten und hatten beim Geräusch der Schritte die Frage überhört.

Wir sahen einander verwundert an. Ich erinnerte mich, in der Zeitung gelesen zu haben, daß in Venedig Cholerafälle vorgekommen seien. Aber ich verschwieg es, um die Damen nicht zu erschrecken.

Jetzt kam Annunziata, das Dienstmädchen. Sie hatte am Gartentor dem Briefträger die Post abgenommen und brachte uns Zeitungen und Briefe. Dabei sagte sie geheimnisvoll:

„Die Dame, die heute morgen angekommen ist, ist sehr krank. Der Wirt hat gesagt, die Krankheit könne Cholera sein.“

„Da haben wir es, das Unglück,“ rief die Russin begeistert aus. „Ich packe sofort meine Koffer.“

Ulrike und ich lachten, und Ulrike sagte:

„Jetzt bekomme ich es, wie ich es gewollt habe. Jetzt werden alle mit mir abreisen. Wie froh ich bin, daß sich doch etwas Allgemeines ereignet, und daß meine Abreise nicht allein das Tagesereignis sein muß.“

Ich hatte inzwischen rasch die neue Zeitung aufgeschlagen und las, daß verschiedene Cholerafälle in Venedig und auch am Gardasee gemeldet waren. Ich schlug dann den Damen vor, zusammen noch einen letzten Abschiedsspaziergang nach den Wiesen zu machen, was die Damen auch gerne taten. Draußen vor dem Ort, in der Nähe eines alten Pestfriedhofes, der jetzt wie ein harmloser Rosengarten zwischen prächtig düsteren Zypressen lag, trafen wir die beiden Ärzte, die den Arbeitern zusahen, welche dort ein großes vitriolgrünes Zelt errichteten.

Bei der Farbe des Zeltes mußte ich an das Haus des vorsündflutlichen Tieres denken, das sich in meinem Traum aus dem See gereckt hatte und mit seiner Zunge in die Häuser eingedrungen war, aus denen es die Menschen einzeln herausgezogen hatte, um sie zu verschlingen. Bald würden hier Tragbahren ankommen. Bald würden die Häuser des kleinen Ortes einzelne ihrer Bewohner als Opfer der Cholera in dieses Zelt dem unerbittlichen Choleragespenst hingeben müssen.

Während wir noch dastanden, wurde schon auf einer verhüllten Bahre die erste Kranke aus dem Gasthaus, in dem wir wohnten, gebracht, die Dame, die mit ihrem Mann heute morgen aus Venedig angekommen war. Der Wirt mit seinem demütigen Eselsgesicht stand neben mir und stöhnte laut und hörbar, denn er wußte, jetzt würden seine Gäste fortziehen und alle Bewohner des Ortes sein Haus meiden. Und wer wußte es denn, ob nicht er und alle, die hier standen, bereits vom geheimnisvollen Choleratod gezeichnet waren?

Es war aber gar nicht mehr so leicht, dem Ort des Schreckens zu entfliehen. Die Dampfschiffe weigerten sich, in Limone anzulegen, und das Schiff, das die Ärzte gebracht hatte, war das letzte gewesen, das die Landungsbrücke berühren wollte.

In der Nacht, als der Mond, von einer dünnen Wolke in zwei Teile geteilt, über dem See und dem Monte Alto hing, stießen geheimnisvoll zwei Boote bei der Gartentüre des Gasthauses ab. In dem einen saß ich und ruderte Ulrike und unsere Koffer, da wir uns keinem Bootsmann vertrauen wollten. Im anderen Boot saßen die russische Generalin und der Mann der vor zwei Stunden gestorbenen Frau, der eine heillose Angst hatte und nicht einmal die Beerdigung seines toten Weibes hatte abwarten wollen. Dieses Boot ruderten die beiden Fischerknaben, da es schwer und mit den großen Koffern der Generalin beladen war.

Während der ganzen Nacht ruderten die Boote lautlos Seite an Seite, und als wir die Bucht von Limone verlassen hatten, war in der Dunkelheit nichts mehr von diesem Ort bei uns als der säuerliche Duft der Zitronenfrüchte, der uns aus den Säulengärten in der milden Nacht über das Wasser noch nachkam, lockend und verführerisch, wie ein lebendes Wesen, das auf den Wellen wandern kann, ohne zu versinken.

Aber der Scheinwerfer des Wachtbootes, der sonst die Nacht so unruhig machte, war in der Mondhelle, in welcher keiner zu schmuggeln wagte, auf der anderen Seite des Sees tätig, und er streifte drüben mit seinem weißen Strahl die vom Mondschatten verdunkelten Bergwände ab.

Als wir einige Zeit gerudert hatten, riefen die Fischerknaben vom anderen Boot mir zu:

„Jetzt sind wir über die Grenze gekommen. Jetzt sind wir auf österreichischem Seegebiet.“

„Jetzt sind wir bald in Freiburg,“ lachte Ulrike. Sie war im Geist längst nicht mehr auf dem See, sondern weit über den Alpen bei ihrem Bräutigam.

Ich aber war froh, daß wir dem Abenteuerherd entrannen, den ich vom ersten Augenblick an, als ich im Sturmwind in das kleine Wasserbassin von Limone hineingefegt worden war, beim Betreten des Landes mit allen Sinnen gewittert hatte.

Aber die Russin meinte, Abenteuerherde müsse es überall geben, denn sonst wäre das Leben eine Einöde. Und sie suchte begierig nach neuem Unglück.