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Das Heimweh (Die Gartenlaube 1853)

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Textdaten
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Titel: Das Heimweh (Die Gartenlaube 1853)
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 427–428
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[427] Das Heimweh. Das Prutz’sche Museum brachte vor Kurzem einen interessanten Artikel von Clemens über jenes eigenthümliche Leiden: das Heimweh, das in unserer materiellen Zeit immer seltener und seltener wird. Es ist ein schöner herzlicher Zug am Menschen, daß er nur da sich recht wohl zu befinden pflegt, wo er geboren ist. Und merkwürdig, je ärmlicher das Land, je einfacher die Sitten, je härter die Entbehrungen, die ihm Natur und Verhältnisse auferlegen, desto inniger und unauflöslicher sind die Bande, welche den Menschen an den vaterländischen Boden fesseln. Von allen andern Gemüthskrankheiten unterscheidet sich auch das Heimweh durch die an’s Wunderbare gränzende Schnelligkeit der Genesung, sobald eine nahe Rückkehr in’s Vaterland in Aussicht gestellt ist.

Ich hatte einst ein Dienstmädchen aus dem ärmsten Theile des Erzgebirges. Mit Thränen im Auge erzählte sie oft, wie sie in der Heimath trotz angestrengter Arbeit mit ihren Geschwistern gehungert und ohne warme Kleidung und Holz den Winter durchfroren habe. Sie war glücklich, diesem Elend entrissen zu sein und sehr dankbar dafür. Nach einem Jahre aber ward das sonst so lustige Mädchen stiller und stiller; sie fing an zu kränkeln und eines Tages trat sie ins Zimmer und weinte und bat, ich möge ihr nicht böse sein, aber sie könne es nicht mehr aushalten im schönen Leipzig, sie müsse fort „in’s Gebirg“ – nach der Heimath. Und als ich ihr vorstellte, wie sie da oben nur mehr Arbeit und Noth und Elend erwarte, nickte sie nur bejahend mit dem Kopf und sah still zur Erde. „Ich weiß es – ich weiß es,“ sagte sie dann. Sie werden mich undankbar schelten, aber es drückt mir das Herz ab, wenn ich nicht „derheime“ komme.“ So gab ich ihr denn die Erlaubniß, nach vier Wochen abzureisen. Von Stund’ ab kehrte ihre alte Heiterkeit zurück, sie blühte sichtbar wieder auf und unter Thränen und Lachen nahm sie endlich Abschied, um zurück nach ihrem Dörfchen zu gehen, wo sie vielleicht jetzt schon im Elend verkommen ist.

So war es auch mit einem Kameraden im Regiment, der auf dem armen poesielosen Eichsfeld zu Hause war. Der Sohn eines Fabrikarbeiters, der mit all’ seinen Kindern kaum die wenigen Kartoffeln erschwingen konnte, die der Hausstand brauchte, war er in Noth und Elend aufgewachsen und hatte erst als Soldat das Glück einer warmen Kleidung und eines gesättigten Magens kennen gelernt. Sein sonst so bleiches Antlitz war einem gesunden Vollmondsgesichte gewichen. Als „proprer“ Soldat ward ihm vom Regiment das Anerbieten gemacht, die Unteroffizierstresse anzunehmen, wodurch seine Zukunft für immer gesichert war. Er lehnte Alles ab, „und wenn er verhungern solle,“ sagte er, „er müsse zurück nach seinem Dorfe, zu den Andern.“ Auf dem Marsche und beim Exerciren erzählte er mir oft von den Schönheiten seiner Heimath, deren traurigen Zustand ich nur zu gut kannte. Als ihm später nach zwei Jahren Dienstzeit der damals übliche Urlaub verweigert ward, fiel er sichtlich zusammen, sein sonst so musterhaftes Aeußere unterlag täglich mehr dem Tadel des Hauptmanns, sein Gang ward schleppend und träge, bis ihn endlich das Fieber auf das Lazarethbett warf, auf dem er stets nur von seinem Dörfchen phantasirte. Dort brachte ihm eines Tages der Regimentsarzt die Nachricht, der längst erwartete Urlaub sei eingetroffen und in acht Tagen könne er sein Bündel schnüren. War das ein Jubel! Drei Tage später war der Kranke schon aus dem Bette und nach acht Tagen wanderte der kerngesunde Bursche lachend und singend zum Festungsthore hinaus, dem heimathlichen Dorfe zu, der Noth und dem Elend entgegen.

Ja, ’s ist wohl ein eigen Ding um die Heimath! Es war an einem der schönen Augusttage dieses Jahres, als ich von Kehl aus über den sogenannten freien deutschen Rhein nach Straßburg wanderte. Ein Kehler Bürger, ein kräftig-hochgewachsener Fünfziger, dem schon einige weiße Haare verräterisch die Stirn umspielten, begleitete mich. Mit dem ersten Schritte auf der Brücke blieb er stehen. „Herr,“ sagte er und nahm meine Hand, „wenn ich jetzt über den Rhein gehe, wird mir’s immer recht wehmüthig um’s Herz. Es war in ganz Deutschland eine traurige Zeit im Jahre 1849, aber hier war’s am traurigsten. Und sehen Sie dort die paar hundert Schritte weiter, dort am andern Ende der Brücke auf der französischen Seite, da war’s erst recht traurig! Dort standen Tag für Tag die armen Flüchtlinge, oft sechzig und achtzig an der Zahl, und schauten herüber nach deutscher Erde. Das war keine brühweiche Sentimentalität, die meisten dieser Leute hatten ihren starken Muth auf dem Schlachtfelde bewiesen, aber hier brach ihnen das Herz zusammen. Da drüben das Elend, die fremde Sprache, die fremden Leute, keine milde, freundliche Hand, die über die wilde Stirn, über das trotzige Herz gestrichen hätte, wie das wohl jeder Mensch einmal haben muß, wenn er nicht untergehen soll, keine Freude drüben – keine, und das schöne Vaterland so nahe – Herr, das muß den Menschen wohl packen und wenn er noch so fest wäre. Jeden Abend sind sie aus Straßburg herausgekommen [428] und haben sich drüben am Ufer hingesetzt und herüber nach den deutschen Feldern geschaut, wo trotz Verfolgung und Hohn ihr ganzes Herz geblieben war. Später haben’s uns die Douaniers im französischen Zollhause wohl erzählt. Wenn am badischen Ufer ein deutsches Lied erklungen ist: „Wenn i komm, wenn i komm, wenn i wieder komm,“ da ist selbst dem Stärksten das Herz weich geworden, und still und bekümmert, die hervorquellende Thräne verbergend, ist er wieder hin nach der fremden Stadt gezogen, immer die Worte wiederholend: Wenn i komm, wenn i wieder komm. Aber es ist keiner wieder gekommen – keiner, und Manchem dadrüben ist das Herz gebrochen.“

Ja die Heimath – die liebe Heimath!