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Das Berliner Verbrechertum. Der Mordprozeß Knitelius vor dem Schwurgericht zu Magdeburg

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Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Das Berliner Verbrechertum. Der Mordprozeß Knitelius vor dem Schwurgericht zu Magdeburg
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aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 6, Seite 1–69
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Erscheinungsdatum: 1912
Verlag: Hermann Barsdorf
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Google-USA*, Commons
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Das Berliner Verbrechertum.
Der Mordprozeß Knitelius vor dem Schwurgericht zu Magdeburg.

Das große Publikum geht den in Lumpen gehüllten Gestalten möglichst weit aus dem Wege. Es meidet, soweit es angänglich ist, die Vorstadtstraßen der Millionenstadt, in denen vielfach Armut, Not, Elend, Laster und Verbrechen ihre Heimstätte haben. Das große Publikum weiß wohl, daß es weit draußen in den Vorstädten Berlins ein städtisches Obdach, genannt: „Die Palme“ und die „Wiesenburg“, letzteres ein von edlen Menschenfreunden, wie Gustav Thölde, Paul Singer u. a., im Jahre 1869 errichtetes Asyl für Obdachlose gibt, in die jahraus jahrein allabendlich Männer, Frauen und Kinder in großen Scharen strömen, da sie weder ein Heim besitzen, noch ein Stückchen Brot zu essen haben. Allein, wo diese Stätten der Armut belegen sind, wissen zumeist selbst nicht die geborenen Berliner. Die in Lumpen gehüllten Stammgäste der Vorstadtkaschemmen und Nachtasyle sind aber keineswegs sämtlich Verbrecher oder Arbeitsscheue. Vielfach sind es Leute, die einstmals bessere Tage gesehen haben und gänzlich unverschuldet zu Bettlern herabgesunken sind. Es gibt unter diesen Unglücklichen auch viele, die gern arbeiten wollen, aber vergeblich nach Arbeit suchen. Wer die Hauptstraßen der Residenz durchschreitet und die prächtig dekorierten Schaufenster in Augenschein nimmt, der ahnt nicht, welch furchtbare Nachtseiten das prächtige Berlin in den entlegenen Vorstadtstraßen birgt. Allein die Verbrecher in Lumpen gehüllt, sind wenig gefährlich, man kann ihnen aus dem Wege gehen. Die Polizei hat auch ein scharfes Auge auf diese Leute. Das große Publikum ahnt aber zumeist nicht, daß die gefährlichen Verbrecher in elegantester Kleidung, mit durchaus weltstädtischen Manieren sich in den Hauptstraßen bewegen und Stammgäste der feinsten im Herzen Berlins belegenen Lokale sind. In der Straße Unter den Linden, und zwar an der Südseite, in allernächster Nähe des russischen Botschaftspalais, existierte viele Jahre das Café Westminster, ein hochelegantes Café, mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet. In diesem Café bestand die große Mehrzahl der ständigen Besucher aus notorischen Verbrechern gefährlichster Art. In Kreisen der Kundigen wurde dies Café das Verbrecher Café genannt. Man konnte dort Ringnepper, Pfandscheinschieber, Juwelenschieber, Einbrecher, Falschspieler, Taschendiebe, elegante Zuhälter ganz besonders nachmittags zur Kaffeezeit, aber auch in den Abend- und Nachtstunden in großer Zahl antreffen. Selbstverständlich fehlte auch die zu diesen Leuten gehörende „Damenwelt“ nicht. Diese Menschen, die aller ehrlichen Arbeit grundsätzlich aus dem Wege gehen, aber trotzdem ein zumeist geradezu schwelgerisches Leben führen, kennen sich vielfach untereinander und wissen womöglich auch die „Leistungsfähigkeit“ der einzelnen zu beurteilen. Der Unkundige, der ein solches Café besucht, hat jedoch gewöhnlich keine Ahnung, in welche Gesellschaft er geraten ist. Das Café Westminster ist seit einiger Zeit in ein solides Restaurant umgewandelt worden, es gibt aber in Berlin noch eine unendlich große Zahl anderer eleganter Cafés, in denen die feine Verbrecherwelt verkehrt. Auch zu Lebzeiten des Café Westminster gab es zahlreiche andere Cafés, in denen die Verbrecherwelt anzutreffen war. Diese Menschen beschränken ihre Tätigkeit keineswegs auf Berlin; die hauptstädtischen Gefilde sind dieser Art von Verbrechern bei weitem nicht ergiebig genug. Die Stammgäste der Berliner Verbrecherkaste sind oftmals plötzlich auf einige Zeit spurlos verschwunden. Wenn sie wieder in feinster Toilette in ihrem Berliner Stammcafé, womöglich am Arme einer hochelegant gekleideten, feschen jungen „Dame“ erscheinen, sich in schwellenden Polstersesseln wiegen und mit Grandezza ihren Mokka schlürfen, da liest man vielleicht: in irgendeiner Provinzstadt sei ein großer Einbruch oder gar ein Raubmord verübt worden. Der oder die Täter sind unerkannt entkommen. Der Unkundige ahnt nicht, daß der feine Herr mit dem goldenen Pincenez, der an der Seite einer hübschen jungen Dame ihm gegenüber auf dem Sofa sitzt, der Einbrecher oder gar der Mörder ist, von dessen ruchloser Tat er soeben durch die Zeitung Kenntnis erhalten hat.

Zu den Stammgästen des Café Westminster gehörte vor einigen Jahren ein netter junger Mann, namens Otto Knitelius. Sein einnehmendes Äußere war im höchsten Grade vertrauenerweckend. Oftmals erschien er am Arm einer bildschönen, schneidigen, äußerst schick gekleideten jungen Dame. Zu dem Paar gesellte sich vielfach ein sehr netter junger Mann, ebenfalls in eleganter Kleidung, namens Edwin Nitter. Knitelius und Nitter stammten aus guter Familie, sie waren aber beide geborene Verbrecher, die selbst vor einem Morde nicht zurückschreckten. Ihre Haupttätigkeit übten sie, wie viele andere ihres Schlages, in der Provinz aus. Knitelius, von Hause aus Kaufmann, war im Hauptberuf Juwelenschieber, im Nebenberuf aber Einbrecher. Nitter, ebenfalls ein junger Handlungsbeflissener, war in dem Grützmacherschen Detektivbureau in Berlin angestellt. Bisweilen bat er um einen längeren Urlaub. Dann verschwand er mit Knitelius aus dem Getriebe der Weltstadt. Nach einigen Wochen kehrten beide mit fröhlichen Gesichtern zurück, sie hatten in Breslau, Posen und anderen größeren Provinzstädten bei Tage Juwelenpfandscheine verkauft und des Nachts Einbruchsdiebstähle verübt, die sehr einträglich gewesen sein müssen, denn wenn sie von ihrer Kunsttournee zurückkehrten, da hatten sie „Geld wie Heu“. Ende Oktober 1908 beschloß das Kleeblatt, eine Tournee nach Magdeburg zu unternehmen. Am Sonntag, den 25. Oktober 1908, nachmittags gegen 5 Uhr, der Abend war bereits hereingedämmert, da flutete in der Hauptstraße Magdeburgs, am Breiten Weg, ein sehr zahlreiches, festlich gekleidetes Publikum. Unter der Menge befanden sich Knitelius und Nitter. Sie kamen aus einem Café und blieben vor der bereits geschlossenen Hirsch-Apotheke stehen. Diese Apotheke hatten sie sich zu Operationsfeld auserkoren. Ob sie die Absicht hatten, sich Betäubungsmittel anzueignen oder Geld zu rauben, ist nicht festgestellt. Der Umstand, daß die Apotheke geschlossen war, bildete für die Berliner Einbrecher keinen Hinderungsgrund. Im Gegenteil, in eine offenstehende Apotheke wären sie nicht eingedrungen, da das zu gefahrvoll gewesen wäre. Sie hatten den Grundsatz, nur in geschlossene Räume einzubrechen, da diese gewöhnlich menschenleer sind. Mit Hilfe ihrer Einbruchswerkzeuge war es ihnen ein leichtes, vom Hausflur aus in die Apotheke zu gelangen. Der Apothekenbesitzer, namens Rathge, ein unverheirateter Herr in mittleren Jahren, dem seine Schwester die Wirtschaft führte, wohnte im ersten Stock dicht über der Apotheke. Er war gerade vom Nachmittagsschlaf erwacht, da vernahm er ein starkes Geräusch, das zweifellos aus seiner Apotheke kam. Nichts Böses ahnend, eilte er im Schlafrock und Pantoffeln hinunter. Da er zwei elegant gekleidete junge Leute erblickte, glaubte er im ersten Augenblick, die Apotheke sei nicht vollständig geschlossen gewesen und die jungen Herren seien in harmloser Weise in die Apotheke eingetreten, um etwas zu kaufen. Er rief deshalb den Leuten einen freundlichen „Guten Abend“ zu. Aber sehr bald merkte er, daß er es mit Einbrechern zu tun habe. Er rief deshalb „Hilfe!“. In diesem Augenblick krachte ein Schuß. Apotheker Rathge brach blutüberströmt zusammen. Obwohl sogleich eine Anzahl Leute herbeigeeilt kamen, gelang es den beiden Einbrechern unerkannt zu entkommen. Nitter, von einer großen Menschenmenge verfolgt, hatte das Mißgeschick, über einen Rinnstein zu stürzen. Er konnte infolgedessen ergriffen und der Polizei übergeben werden. Dagegen war Knitelius im Menschengetümmel spurlos verschwunden. Der unglückliche Apotheker Rathge hatte einen Schuß in den Bauch erhalten. Er wurde sofort in ein Krankenhaus gebracht. Dort ist er trotz aufopferndster Pflege nach einigen Tagen gestorben. Nitter wurde im Mai 1909 wegen eines vollendeten Einbruchsdiebstahls in Breslau, sowie wegen versuchten Einbruchsdiebstahls in die Magdeburger Hirsch-Apotheke von der Magdeburger Strafkammer zu sechs Jahren Zuchthaus, 10 Jahren Ehrverlust und Zulässigkeit von Polizeiaufsicht verurteilt. Knitelius aber war und blieb trotz aller Bemühungen der Magdeburger und Berliner Kriminalpolizei verschwunden. Er wurde in einer Weise, wie es nur selten von der deutschen Polizei geschieht, durch alle Erdteile verfolgt. Endlich im November 1910 gelang es, Knitelius in Brasilien zu verhaften. Er wurde auf Ersuchen des Auswärtigen Amts ausgeliefert und nach Magdeburg gebracht. Am 6. März 1911 hatte er sich vor dem Magdeburger Schwurgericht wegen Mordes zu verantworten. Den Vorsitz des Gerichtshofs führte Geh. Justizrat Landgerichtsdirektor Goldschmidt, die Anklage vertrat Staatsanwalt Schütte. Die Verteidigung führte als Offizialverteidiger Rechtsanwalt Dr. Boré (Magdeburg). – Der Angeklagte Knitelius war mittelgroß, schlank, brünett und auffallend blaß. Er hatte einen gut gepflegten dunkeln Schnurrbart und machte einen schneidigen Eindruck. Knitelius gab auf Befragen des Vorsitzenden an: Er sei am 16. November 1884 zu Offenbach a. M. geboren, katholischer Konfession und unbestraft. Er sei vollständig unschuldig. Er sei niemals in Magdeburg gewesen. Seine Eltern hatten in Offenbach einen offenen Verkaufsladen. 1894 starb sein Vater. Seine Mutter führte das Geschäft weiter. Er habe in Offenbach die Realschule besucht; er wollte das Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis erreichen, sei aber kurz vorher von der Schule gegangen, weil er von einem Lehrer geschlagen wurde. Er habe alsdann die Kunstgewerbeschule besucht und sei mit 17 Jahren in ein Handlungshaus als Lehrling eingetreten. Einige Zeit darauf sei er nach Frankfurt a. M. gegangen und habe dort mit Juwelen und Goldwaren gehandelt. – Vors.: Sie haben bereits zugegeben, daß Sie in Frankfurt sehr viel mit Damen der Halbwelt verkehrten? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Sie sollen in Frankfurt auch viel mit Verbrechern verkehrt haben und Mitglied einer internationalen Einbrecherbande gewesen sein? – Angekl.: Das ist unwahr. – Vors.: Es wird von Zeugen bekundet werden. Sie gingen 1906 nach Berlin und haben dort auch viel in Verbrecherkreisen verkehrt? – Angekl.: Das ist auch unwahr. – Vors.: Von was haben Sie in Berlin gelebt? – Angekl.: Ich wurde von meiner Mutter unterstützt. – Vors.: Sie haben Reisen durch ganz Deutschland unternommen? – Angekl.: Ich begleitete eine Dame. – Vors.: Wer war die Dame? – Angekl.: Ich will den Namen nicht nennen. – Vors.: Wer bestritt die Reisekosten? – Angekl.: Die Dame. – Vors.: Die Berliner Polizei hatte Sie längst beobachtet und hielt Sie für den gefährlichsten internationalen Einbrecher. Die Berliner Polizei ist der Ansicht, Sie haben die Reisen nur unternommen, um Einbrüche zu begehen? – Angekl.: Das ist vollständig falsch. – Vors.: Sie haben sich in Berlin Turban genannt? – Angekl.: Das ist richtig, ich tat dies, weil ich viele Juwelen versetzte. – Vors.: Sie haben sich in Weißensee bei Berlin als wohnhaft angemeldet, wohnten aber in Berlin? – Angekl.: Ich tat dies, da ich auch in Weißensee Juwelen versetzen wollte, und die dortigen Pfandhäuser nur von Bewohnern Weißensees Wertsachen in Versatz nehmen. – Vors.: Wann sind Sie von Berlin fortgegangen? – Angekl.: Am 27. Oktober 1908. – Vors.: Am 25. Oktober 1908 ist der Apothekenbesitzer Rathge in Magdeburg ermordet worden. Bleiben Sie dabei, daß Sie niemals in Magdeburg waren? – Angekl.: Jawohl, ganz entschieden bleibe ich dabei. – Vors.: Wie erklären Sie es sich, daß die Berliner Kriminalpolizei, als sie von dem Verbrechen in Magdeburg hörte, sofort der Überzeugung Ausdruck gab, das kann nur Knitelius gewesen sein, denn dieser arbeitet immer mit Nitter zusammen? – Angekl.: Das ist ein Irrtum. – Der Angeklagte erzählte alsdann weiter auf Befragen des Vorsitzenden: Eines Abends sei ihm ein Herr in Berlin nachgefahren und habe ihm mehrere Stunden Fensterpromenade gemacht. Das war ein Herr von P. Dieser hatte ihm 10 000 Mark geboten, wenn er ihm ein Jahr lang Fräulein Bethge überlasse. – Vors.: Es war wohl umgekehrt. Sie verlangten für die Bethge 10 000 Mark? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Sie wohnten damals mit der Bethge zusammen? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Sie haben Herrn von P. schließlich geschrieben, daß er sich des Bruches des Ehrenwortes schuldig gemacht habe, weil er Ihnen die 10 000 Mark nicht gegeben hatte. – Angekl.: Hauptsächlich, weil er Fräulein Bethge länger behielt, als er versprochen hatte. – Vors.: Sie haben in Berlin stets Waffen bei sich geführt? – Angekl.: Das ist richtig. – Vors.: Weshalb hatten Sie die Waffen? – Angekl.: Einmal fürchtete ich die Rache des Herrn von P. und anderseits fürchtete ich, Einbrecher könnten mir meine Juwelen stehlen. – Vors.: Was hatten Sie für Waffen? – Angekl.: Eine Browningpistole. – Vors.: Eine Zeitlang hatten Sie auch einen Hammer? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Hatten Sie nicht auch Einbruchswerkzeuge? – Angekl.: Nein. – Vors.: Sie sind nun am 27. Oktober 1908 plötzlich aus Berlin spurlos verschwunden und erst nach länger denn zwei Jahren in Rio de Janeiro aufgetaucht. Selbst Ihre Mutter wußte Ihren Aufenthalt nicht. Wie erklären Sie das? – Angekl.: Ich hatte mich in Weißensee bei Versatzgeschäften strafbar gemacht. Deshalb verließ ich eiligst Berlin. – Vors.: Sie werden doch zugeben, daß es ungemein auffallend ist, daß Sie gerade zu der Zeit aus Berlin und aus Deutschland verschwanden, nachdem hier der Apothekenbesitzer Rathge ermordet war? – Angeklagter schwieg. – Auf ferneres Befragen äußerte der Angeklagte: Er habe, als er aus Berlin flüchtete, zunächst verschiedene Hauptstädte Europas besucht. Von Lissabon sei er nach Monte Carlo gereist, um die Dame, mit der er gereist war und die sich dort eines Lungenleidens wegen aufhielt, zu besuchen. – Vors.: Wie lange waren Sie in Monte Carlo? – Angekl.: Acht Wochen. – Vors.: Haben Sie dort deutsche Zeitungen gelesen? – Angekl.: Jawohl. – Vors.: Haben Sie alsdann von dem Mord in Magdeburg gelesen? – Angekl.: Nein, ich habe davon erst gehört, als ich in Rio de Janeiro festgenommen wurde. – Vors.: Lesen Sie denn überhaupt Zeitungen? – Angekl.: Ich lese sehr viele Zeitungen. – Vors.: Und trotzdem haben Sie, solange Sie in Europa waren, niemals gelesen, daß in Magdeburg ein Apothekenbesitzer ermordet wurde, und daß Sie des Mordes dringend verdächtig sind? – Angekl.: Ich habe niemals etwas von dem Morde gehört. – Vors.: Den gegen Sie erlassenen Steckbrief, der in zahlreichen Zeitungen erlassen wurde, haben Sie nicht gelesen? – Angekl.: Nein. – Vors.: Von wem hatten Sie das Geld zur Überfahrt nach Brasilien? – Angekl.: Die Dame in Monte Carlo gab mir 10 000 Mark. – Der Angeklagte bemerkte ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Er habe in Rio de Janeiro unter dem Namen Andreas Walter gelebt und deutschen Sprachunterricht erteilt. – Vors.: Weshalb hatten Sie einen falschen Namen angenommen? – Angekl.: Ich fürchtete, wegen der Brillantenschwindeleien in Weißensee verfolgt zu werden. – Der Angeklagte schilderte alsdann in ausführlicher Weise seine Verhaftung in Rio de Janeiro. – Vors.: Treten Sie einmal an den Richtertisch. Sie haben im Jahre 1905 eine behördliche Eingabe geschrieben und haben, als Sie hier vom Untersuchungsrichter vernommen wurden, das Protokoll unterschrieben. Es gewinnt den Anschein, als ob Sie hier Ihre Handschrift absichtlich verstellt hätten? – Angekl.: Ich schreibe jetzt nur etwas dicker als früher. – Vors.: Sie haben auch Ihr Äußeres gegen früher verändert? – Dem Angeklagten wurde eine Photographie vorgelegt und ihm alsdann vom Vorsitzenden befohlen, seinen weißen Strohhut, Reisemütze und schwarzen steifen Filzhut aufzusetzen. – Vors.: Es ist jedenfalls auffallend, daß Sie leugneten, Nitter zu kennen, daß Sie bestritten haben, Knitelius zu heißen, daß Sie Ihre Handschrift verstellten und daß Sie sofort nach dem Morde spurlos aus Europa verschwanden. Ich bemerke Ihnen außerdem, daß Nitter Sie anfänglich nicht kennen wollte, später aber mit voller Bestimmtheit behauptet hat, daß Sie den Apothekenbesitzer Rathge erschossen haben? – Angekl.: Das kann Nitter unmöglich behaupten. Unter seinem Eide wird er bei seiner Behauptung nicht bleiben. – Vors.: Nitter hat absolut kein Interesse, einen Unschuldigen zu beschuldigen. – Medizinalrat Dr. Keferstein nahm hierauf an dem Angeklagten Messungen vor. – Es wurde alsdann Waffenhändler Schulz als Zeuge vernommen. Dieser war unmittelbar nach dem Morde an den Tatort gekommen. Er schilderte in ausführlicher Weise seine Wahrnehmungen. Der ermordete Rathge schrie: „Haltet ihn, er hat geschossen!“ Rathge hatte auch noch so viel Kraft, um Nitter zu fassen. Rathge fiel sehr bald zu Boden und jammerte: „Ich werde wohl sterben.“ Sehr bald verlor er das Bewußtsein. Rathge erzählte vorher: Als er ins Kontor trat, sei sofort geschossen worden. Nitter bestritt, etwas begangen zu haben; er sei zufällig in die offene Vorhalle eingetreten, da er etwas kaufen wollte. Dem Nitter sei sofort eine noch rauchende Pistole und ein Hammer abgenommen worden. Er (Zeuge) habe einen zweiten Mann fortlaufen sehen, er sah dem Angeklagten ähnlich, er könne aber nicht sagen, daß es der Angeklagte war. – Fräulein Rathge, Schwester des ermordeten Apothekenbesitzers, schilderte in eingehender Weise den Vorgang. Sie habe ihrem Bruder die erste Hilfe geleistet. Ihr Bruder habe ihr gesagt, er habe im Halbdunkel die Männer nicht erkennen können und sie für Bekannte gehalten. In demselben Augenblick, als er ins Kontor trat, sei geschossen worden. – Medizinalrat Dr. Keferstein begutachtete: Rathge sei infolge der in den Bauch erhaltenen Schußverletzung am 28. Oktober 1908 an Bauchfellentzündung gestorben. – Kriminalkommissar Eggert (Magdeburg) schloß sich im allgemeinen den Bekundungen des Fräulein Rathge an. Nitter habe sich zunächst Schröder genannt und angegeben, seinen Komplicen nicht zu kennen. Erst nach einigen Tagen habe er zugegeben, daß es Knitelius war. – Kriminal-Polizeiinspektor Schmidt: Ich hatte sofort die Überzeugung, daß es sich um reisende Verbrecher handelt. Die reisenden Verbrecher sind ungemein gefährlich. Sie kommen gewöhnlich zu zweien oder dreien des Morgens aus einer Großstadt, zumeist aus Berlin, baldowern etwas aus, „drehen alsdann das Ding“ und verduften eiligst wieder. Diese fahrenden Verbrecher teilen sich in verschiedene Gruppen. Eine Gruppe macht nur Geldschrankeinbrüche, eine zweite Gruppe legt sich auf den Diebstahl von Wertsachen, eine dritte Gruppe begeht Taschendiebstähle, eine vierte Gruppe besteht aus Sonntagsdieben, d. h. sie verüben Sonntag nachmittags in Wohnungen und Kontoren Einbrüche, da sie annehmen, daß niemand in der Wohnung oder im Kontor sei. Gewöhnlich vergewissern sie sich zunächst durch Klingeln, ob Menschen in der Wohnung sind. Nitter habe zunächst angegeben, er heiße Franz Schröder aus Hannover. Bei Nitter sei auch „Tandelzeug“, d. h. Einbruchwerkzeuge gefunden worden. Er sagte: Die habe er von seinem entkommenen Komplicen, von dem er nur wisse, daß er Fritz heiße. Er habe ihn erst am Abend vorher kennen gelernt. Nitter wurde sofort photographiert und das Bild nach Berlin geschickt. Von dort erhielten wir sogleich die telegraphische Nachricht, daß es Nitter sei, sein Komplice sei wahrscheinlich Otto Knitelius. Als die Photographie von Knitelius aus Berlin eintraf, wurde sie Nitter gezeigt. Dieser sagte sofort: Das ist Knitelius, der hat allerdings geschossen. Da uns die Berliner Kriminalpolizei mitteilte, daß das Verbrecherpaar auch eine Reise durch Schlesien unternommen hatte, wandte ich mich an die Breslauer Kriminalpolizei. Diese bestätigte die Benachrichtigung der Berliner Polizei. Eine Eigentümlichkeit der reisenden Verbrecher ist es, sich nicht gegenseitig zu verraten; sie geben erst dann ihre Komplicen an, wenn sie bestimmt glauben, daß letztere in Sicherheit sind. Eine weitere Eigentümlichkeit der reisenden Verbrecher ist, daß sie engste Verbindung mit der Prostitution haben. Eine bekannte Magdeburger Prostituierte ist mit den beiden Verbrechern vorher zusammen gewesen. – Maschinenmeister Hertwig: Er habe den Nitter mit festnehmen helfen. Bei diesem sei ein vollgeladener Revolver gefunden worden. – Kriminalkommissar Weiland (Berlin): Der Angeklagte sei ihm als Juwelenschieber bekannt. Ob er in Berlin etwas Strafbares begangen habe, könne er nicht sagen. Sein (des Zeugen) Spezialfeld sei die Verfolgung von Geldschrankeinbrechern. In Berlin werde bisweilen ein halbes Dutzend Geldschrankeinbrüche in einer Nacht begangen. Er habe gehört, daß der Angeklagte ein sehr schwelgerisches Leben in Berlin geführt habe. Die internationalen reisenden Einbrecher treten immer sehr nobel, in eleganter Toilette auf. Die reisenden Verbrecher und auch die Juwelenschieber verkehren in Berlin zumeist im Café Opera, Unter den Linden. – Vert.: Ist es nicht eigentümlich, daß zwei internationale reisende Verbrecher gerade nach Magdeburg kommen, um in eine Apotheke einzubrechen? – Zeuge: Es ist möglich, daß ihnen gesagt wurde, es sei in der Apotheke Geld zu holen. – Am zweiten Verhandlungstage wurde als erster Zeuge Kriminalkommissar Klinghammer vernommen: Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Ich bin in Berlin Patrouillenkommissar. Es gehört zu meinen Obliegenheiten, in den Lokalen, die den Sammelpunkt von Verbrechern bilden, zu recherchieren und Kapitalsachen zu bearbeiten. Ich habe Knitelius und Nitter mehrfach beobachtet. Eines Tages erhielt ich eine anonyme Postkarte, in der mir mitgeteilt wurde: Wenn ich Otto Knitelius kennen lernen wolle, dann solle ich nach der am Belle-Alliance-Platz belegenen Konditorei Baumgarten kommen. Dort traf ich einen rothaarigen jungen Mann, der sich mir als Nitter vorstellte. Dieser sagte mir: Er mache mich auf Otto Knitelius aus Frankfurt a.M., als auf einen der gefährlichsten internationalen Verbrecher, aufmerksam, der unter dem Namen Turban auftrete. – Vors.: War dieser Nitter Detektiv? – Zeuge: Er war allerdings vorübergehend Privatdetektiv. Ich bemerke, daß wir Fühlung mit dem Anhang des Verbrechertums suchen. Darauf beruhen in der Hauptsache unsere Erfolge. Wir nennen diese Leute Vigilanten. Selbstverständlich prüfen wir die Angaben der Vigilanten aufs sorgfältigste, und haben diese Leute auch genau im Auge. Ich bemerke noch, daß wir diese Vigilanten im allgemeinen nicht preisgeben. Wir haben das Zeugnisverweigerungsrecht und nennen im Interesse des Dienstes die Namen der Vigilanten nur im dringendsten Notfall. – Vors.: Haben Sie für diese Verhandlung die Erlaubnis zur Aussage von Ihrer vorgesetzten Behörde? – Zeuge: Ja. Ich stellte nun fest, daß Knitelius ein Juwelenschieber sei, der im Verdacht steht, in Frankfurt a. M. an verschiedenen Einbrüchen beteiligt gewesen zu sein. Ich stellte ferner den intimen Verkehr des Knitelius mit der Zimmermann und der Bethge fest. Ich stellte fest, daß Knitelius die Bethge Herrn von P. für 10 000 Mark angeboten und auch einen Erpressungsversuch gegen letzteren unternommen habe. Ich hielt zunächst den Herrn von P. für fingiert, da ich mir nicht denken konnte, daß ein Mann, der der Armee angehört, derartige Sachen macht. Ich erfuhr aber zu meinem Erstaunen, daß dieser von P., der Sohn eines Majors war, tatsächlich in der angegebenen Weise mit Knitelius in Verbindung stand. Eines Abends begab ich mich in das Unter den Linden belegene Café Westminster. Dort verkehrte, insbesondere in dem hinteren Billardsaal, das internationale Verbrechertum: Juwelenschieber, Einbrecher, Wechselschieber und andere dunkle Existenzen mehr. Ich sah dort Knitelius und erklärte ihm, ich sei genötigt, ihn festzunehmen. Knitelius sagte, er wisse nicht, weshalb ich ihn verhaften wolle, er gehe aber gern mit, da er schon längst einmal zu mir nach dem Polizeipräsidium kommen wollte. – Vors.: Welche Veranlassung hatten Sie, Knitelius zu verhaften? – Zeuge: Ich hatte die Überzeugung, daß Knitelius ein gefährlicher, internationaler Verbrecher war. Ich wußte außerdem, daß er gegen von P. einen Erpressungsversuch unternommen und diesen beleidigt hatte. Ich hielt es deshalb im Interesse der Sicherheit für geboten, den Mann für den polizeilichen Erkennungsdienst festzustellen. Ich führte Knitelius, der sich Turban nannte, nach dem nächsten, in der Mittelstraße belegenen Polizeibureau. Von dort ließ ich ihn mittels grünen Wagens nach dem Polizeipräsidium schaffen. Knitelius bat, auf seine Kosten in einer Droschke nach dem Alexanderplatz fahren zu dürfen, ich wollte aber einem solchen Verbrecher diese Vergünstigung nicht gewähren. Am folgenden Morgen ließ ich mir Knitelius vorführen. Ich führte ihn alsdann dem Untersuchungsrichter vor, dieser lehnte aber den von mir beantragten Verhaftungsbefehl ab. Ich mußte deshalb Knitelius wieder entlassen. Ich habe Knitelius weiter scharf beobachtet und ließ bei der Bethge und der Zimmermann Haussuchung halten. Ich fand bei Knitelius, bei dem ich ebenfalls Haussuchung vornahm, eine Browningpistole und einen Hammer. Die Browningpistole ist eine der gefährlichsten Waffen, so daß das Berliner Polizeipräsidium schon in Erwägung gezogen hat, die Browningpistole zwecks Benützung für die Beamten überhaupt abzuschaffen. Mit einer Browningpistole ist es möglich, fünf Menschen mittels eines Schusses zu töten. Ich sagte deshalb zu Knitelius: Wenn Sie sich eine Waffe zur Verteidigung anschaffen wollen, dann genügt es doch, daß Sie sich einen Revolver kaufen. Knitelius antwortete: Ich habe die Browningpistole für 1,50 Mark von einem Manne namens Rosenstiel im Café Opera gekauft. Dadurch hatte sich Knitelius der Hehlerei schuldig gemacht. Der Angeklagte verkehrte außerdem im Café Maxim, auch ein Sammelpunkt für alle möglichen Verbrecher. – Auf Befragen des Verteidigers bekundete der Zeuge: Nitter habe augenscheinlich durch seine Angaben die Maßnahmen der Polizei wissen wollen. Nitter habe ihm erzählt: Er sei eines Nachts mit Knitelius in Berlin die Friedrichstraße entlang gegangen, da habe er beobachtet, daß Knitelius jedes Haus mittels Dietrichs ohne weiteres öffnen konnte. Die Bethge hatte in Charlottenburg eine sehr elegant eingerichtete Wohnung. Sie war ungemein schwer zu einer Aussage zu bewegen; sie war anscheinend in Knitelius ungemein verliebt. – Vors.: Herr Kommissar, sind Sie der Ansicht, es könnte möglich sein, daß der Angeklagte aus Anlaß von Juwelenschwindeleien, die er angeblich in Weißensee bei Berlin begangen hat, aus Europa geflüchtet ist? – Zeuge: Ich halte das für absolut unwahr. Es ist noch niemals vorgekommen, daß ein Juwelenschieber die Flucht ergriffen hat, zumal es kaum möglich ist, die Leute strafrechtlich zu fassen. Kriminalkommissar Krüger in Berlin, dessen Spezialfach die Beobachtung der Juwelenschieber ist, könnte Näheres bekunden. Auch der Juwelier Fischer in Berlin, Königgrätzer Straße 28, kann hierüber nähere Auskunft geben. – Vert.: Waren Sie berechtigt, den Angeklagten im Hotel Westminster zu verhaften? – Zeuge: Ich hatte genügende Verdachtsgründe, daß der Angeklagte sich strafbarer Handlungen schuldig gemacht habe. Ich verbitte mir im übrigen eine Kritik meiner Amtshandlungen. – Vors.: Ich muß Ihnen bemerken, Herr Kriminalkommissar, daß der Herr Verteidiger das Recht hat, diese Frage zu stellen. – Kriminalkommissar Klinghammer bekundete ferner: Eines Tages kam Knitelius zu mir ins Bureau und beschwerte sich, daß sein Bild im Verbrecheralbum stehe, er sei doch kein Verbrecher. Ich sagte ihm wahrheitsgemäß, sein Bild sei nicht im Verbrecheralbum; in das Album kommen nur Leute, die rechtskräftig wegen eines Verbrechens verurteilt worden sind. Ich legte auch dem Angeklagten das Album vor, damit er sich selbst überzeugen konnte, daß sein Bild nicht darin enthalten sei. – Angekl.: Weiß sich der Herr Kriminalkommissar zu erinnern, daß er einen Brief, den er bei mir fand, zu meinen Gunsten hat verschwinden lassen, weil er mich als Spitzel benutzen wollte. (Bewegung im Zuhörerraum.) – Klinghammer: Ich erkläre diese Behauptung des Angeklagten für eine grobe Lüge. Ich habe ein öffentliches Amt und werde niemals eine Handlung begehen, durch die ich ins Zuchthaus kommen kann. Ich erkläre diese Behauptung des Angeklagten als frei erfunden. – Angekl.: Es waren damals falsche Dollarnoten in Umlauf; ich sollte dem Herrn Kommissar zur Feststellung der Fälscher bzw. Verbreiter behilflich sein. – Auf ferneres Befragen bemerkte der Zeuge: Als der Mord in Magdeburg in Berlin bekannt wurde, sagte mir Privatdetektiv Krumme: Nitter ist bei mir eine Zeitlang Detektiv gewesen. Hätte ich nur die Sache früher erfahren, Knitelius habe ich am 27. Oktober noch in Berlin gesehen. Der Umstand, daß der Komplice Nitters sich als in Mainz geboren in den Anmeldezettel einschrieb, spricht auch für die Täterschaft des Knitelius. Letzterer spricht unverkennbaren süddeutschen Dialekt, er konnte sich nicht als aus Norddeutschland stammend ausgeben. – Kriminalkommissar Weiland (Berlin) bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Ein Mann, namens Lange, in Berlin besorgt in der Hauptsache Juwelenschieberwaren. – Auf Antrag des Staatsanwalts wurde beschlossen, den Kriminalkommissar Krüger (Berlin) telegraphisch zu laden. – Es sollte alsdann der Komplice des Angeklagten, Nitter, als Zeuge vernommen werden. Der Staatsanwalt beantragte, während der Vernehmung des Nitter, den Angeklagten aus dem Saale zu führen. Es sei bekannt, daß der Angeklagte durch seinen eigentümlichen Blick den Zeugen beeinflussen könnte. Vors.: Ich muß bemerken, daß dem Angeklagten die Zeugenaussage jedenfalls mitgeteilt werden und ihm Gelegenheit gegeben werden muß, in Gegenwart des Zeugen sich darauf zu äußern. Vert.: Ich widerspreche dem Antrage. In einem Prozeß, wo es sich um die schwerste Strafe handelt, die das Strafgesetzbuch kennt, ist es dringend geboten, dem Angeklagten volle Gelegenheit zur Verteidigung zu geben. Wenn ein so wichtiger Zeuge wie Nitter in Abwesenheit des Angeklagten vernommen wird, dann ist die Verteidigung in hohem Maße beschränkt. – Der Gerichtshof beschloß nach kurzer Beratung zunächst einen Strafanstaltsbeamten über die Glaubwürdigkeit des Nitter zu vernehmen, alsdann werde sich der Gerichtshof über den Antrag des Staatsanwalts schlüssig machen. – Fräulein Johanna Vogt: Sie habe am Abend des 24. Oktober 1908 zwei junge Männer in Magdeburg gesehen. Nach der Photographie habe sie Nitter sofort wiedererkannt. Der Angeklagte sehe der Figur und Haltung nach dem zweiten Mann ähnlich, mit Bestimmtheit könne sie aber nicht sagen, daß es der Angeklagte war. – Schneidermeister Berigke und Tochter bekundeten: Am Abend des 24. Oktober 1908 haben zwei junge Leute, von denen sich einer Hans Schröder, aus Breslau kommend, nannte, bei ihnen in der Anhaltstraße hierselbst ein Zimmer für eine Nacht gemietet. Den einen haben sie nach der Photographie sofort wiedererkannt, allem Anscheine nach sei der Angeklagte der zweite Mann, mit Bestimmtheit könne sie das aber nicht behaupten. – Strafanstaltssekretär Klink (Groß-Strehlitz): Er habe mehrfach mit Nitter über die Tat in Magdeburg gesprochen. Nitter habe stets gesagt: Der Mittäter war Knitelius. Er habe unter dem Einfluß von Knitelius gestanden. Nitter hegte die Befürchtung, daß er infolge der Verhandlung gegen Knitelius strenger bestraft werden könnte. – Vert.: Der Angeklagte ersucht, ihm Gelegenheit zu geben, mit mir dieses Punktes wegen auf einige Augenblicke allein sprechen zu dürfen. – Der Vorsitzende unterbrach die Sitzung und gestattete, daß der Angeklagte im Beisein eines Schutzmanns und eines Gefängniswärters mit dem Verteidiger sich besprach. – Nach Beendigung der Konferenz wiederholte der Staatsanwalt den Antrag, den Zeugen Nitter in Abwesenheit des Angeklagten zu vernehmen. Der Verteidiger widersprach dem Antrage. Der Angeklagte bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden, daß er sich den Ausführungen seines Verteidigers anschließe. – Nach längerer Beratung verkündete der Vorsitzende: Da zu befürchten ist, daß der Zeuge Nitter in Anwesenheit des Angeklagten nicht die Wahrheit sagen wird, hat der Gerichtshof beschlossen, den Zeugen Nitter in Abwesenheit des Angeklagten zu vernehmen. Der Angeklagte ist hinauszuführen. – Unter allgemeiner Spannung wurde darauf Nitter, ein mittelgroßer, bartloser, rothaariger Mensch von 24 Jahren, als Zeuge in den Saal geführt. Er wurde vom Vorsitzenden in eindringlichster Weise ermahnt, die Wahrheit zu sagen, niemandem zuliebe und niemandem zuleide. Der Zeuge äußerte alsdann auf Befragen des Vorsitzenden, und zwar in ziemlich gewähltem, fließendem Deutsch: Er sei wegen eines Einbruchsdiebstahls in Breslau und des hier in der Hirsch-Apotheke begangenen Einbruchs mit 6 Jahren Zuchthaus bestraft; davon habe er bereits 1¼ Jahr verbüßt. Er sei in Berlin mit Knitelius bekannt geworden. Eines Tages habe er sich mit Knitelius über das internationale Leben unterhalten. Auf Vorschlag von Knitelius, so etwa fuhr Nitter fort, beschlossen wir, nach Magdeburg zu fahren. Ich fuhr Sonnabend den 24. Oktober, ein Uhr mittags, nach Magdeburg. Knitelius wollte nachkommen. Wir wollten in Magdeburg Juwelen versetzen und uns die „öffentlichen Häuser“ ansehen. Hier traf ich zufällig einen Bekannten aus Berlin, der mir als Einbrecher bekannt war. Er wurde seiner schönen schwarzen Haare wegen der „schwarze Artur“ genannt. Dieser machte sofort den Vorschlag, einen Einbruch zu begehen. Da ich nur noch wenig Geld hatte, erklärte ich mich einverstanden. Gegen acht Uhr abends traf Knitelius in Magdeburg ein. Ich hatte mich in der Anhaltstraße einquartiert und versuchte, Knitelius bei denselben Wirtsleuten unterzubringen. Da aber dort kein Zimmer mehr zu haben war – der „schwarze Artur“ wohnte bereits dicht neben meinem Zimmer –, mietete sich Knitelius im Vorderhaus ein Zimmer. Ich besuchte alsdann mit Knitelius ein Varietétheater und darauf mehrere Cafés. Am folgenden Tage gingen wir zusammen Mittagessen. Ich erzählte dem Knitelius, daß ich den „schwarzen Artur“, der als Einbrecher aus Berlin bekannt sei, getroffen und daß mir dieser den Vorschlag gemacht habe, einen Einbruch zu begehen. Knitelius sagte: Solche Dinge sind mir zu kleinlich, mache deine Einbrüche, mit wem du willst, ich mache nicht mit. Ich traf einige Zeit später den „schwarzen Artur“. Mit diesem ging ich durch mehrere Straßen. Vorher hatten wir uns geladene Revolver eingesteckt. Wir sahen uns um, wo etwas zu stehlen war. Zunächst versuchten wir in eine Drogerie einzudringen; das gelang uns aber nicht. Wir kamen schließlich an der Hirsch-Apotheke am Breiten Weg vorüber. Wir beschlossen, in die Apotheke einzudringen. Nachdem wir verschiedene Kasten aufgezogen hatten, hörten wir plötzlich schließen. Die Tür ging auf und ein Mann stand vor uns. In diesem Augenblick krachte ein Schuß. Ich wußte gar nicht, was geschehen war, ich sah aber den Mann zusammenbrechen. Der „schwarze Artur“ nahm Reißaus, ich flüchtete ebenfalls, wurde aber von einem Radfahrer verfolgt. Ich wurde schließlich gefaßt. – Vors.: Sie sind mindestens zehnmal vernommen worden und haben stets angegeben, Ihr Mittäter sei Knitelius. Wie kommt es, daß Sie jetzt plötzlich einen andern als Täter bezeichnen? – Zeuge: Es wurde von allen Seiten auf mich eingedrungen und immer gesagt: Ihr Mittäter war doch Knitelius. Ich habe es deshalb zugegeben, um das viele Fragen endlich loszuwerden. Ich sagte mir auch: Knitelius soll in Brasilien sein, da ist es schließlich gleichgültig, wenn ich ihn als Täter bezeichne. – Vors.: Sie haben doch aber durch Ihre früheren Angaben Knitelius in eine große Gefahr gebracht. – Zeuge: Da kann ich mir auch nicht helfen. Ich bemerke, es ist ein großer Unterschied, ob man als Angeklagter oder als Zeuge vernommen wird. – Vors.: Können Sie den „schwarzen Artur“ näher beschreiben? – Zeuge: Es ist ein großer, hübscher Mensch von jetzt etwa 31 bis 32 Jahren. Er hat schönes schwarzes Haar und einen hübschen schwarzen Schnurrbart. – Vors.: Kennen Sie den Namen des „schwarzen Artur“? – Zeuge: Nein, man kennt von den Verbrechern, die hauptsächlich in den Berliner Kaschemmen verkehren, nur immer den Spitznamen. – Staatsanwalt: Und mit solchem Menschen verkehrten Sie? – Zeuge: Der Herr Staatsanwalt hat mir ja schon bei meiner Verhandlung die Ehre angetan, zu sagen, ich sei ein ganz gemeiner Mensch. (Große allgemeine Heiterkeit.) – Vors.: Wo lernten Sie den „schwarzen Artur“ kennen? – Zeuge: In irgendeinem Berliner Café. – Vors.: Wissen Sie, in welchem Café? – Zeuge: Das weiß ich wirklich nicht mehr, ich glaube, es war im Café Mohr in der Elsasser Straße in Berlin. Es ist aber auch möglich, daß es in einer Kaschemme war. – Vors.: Sie scheinen sich in allen Verbrecherkreisen bewegt zu haben ? – Zeuge: Das gebe ich zu, ich muß aber erwähnen, daß ich volle drei Monate Detektiv war. Ich war deshalb beruflich genötigt, mich in Verbrecherkreisen zu bewegen. – Vors.: Trafen Sie mit dem „schwarzen Artur“ oftmals zusammen? – Zeuge: Jawohl. – Vors.: In welchen Kneipen trafen Sie sich hauptsächlich? – Zeuge: Zumeist in der Friedrichstraße, bisweilen auch im Café Friedrichshof, Ecke Koch- und Friedrichstraße. – Hierauf wurde der Angeklagte wieder auf die Anklagebank geführt. Der Angeklagte und der Zeuge tauschten verständnisvolle Blicke aus. – Vors.: Angeklagter, sehen Sie nicht fortwährend zu Nitter. – Der Vorsitzende teilte dem Angeklagten die Aussage des Zeugen mit und fragte ihn, ob er dabei bleiben wolle, daß er noch niemals in Magdeburg war. – Angekl.: Ich kann nur noch einmal versichern, daß ich noch niemals in Magdeburg war. – Vors.: Nitter, Sie hören, der Angeklagte bestreitet, jemals in Magdeburg gewesen zu sein. – Nitter: Knitelius hat ja, als er in seine Wohnung einzog, den Anmeldezettel ausgefüllt, da brauchte man ja bloß seine Handschrift zu vergleichen. – Vors.: Nitter, wollen Sie wirklich dabei bleiben, daß nicht Knitelius, sondern der große Unbekannte, der Ihnen unter dem Namen „der schwarze Artur“ bekannt war, Ihr Komplice bei dem Einbruch in die Magdeburger Hirsch-Apotheke gewesen ist? – Nitter: Jawohl. – Vors.: Und das behaupten Sie, obwohl Sie bisher stets mit größter Bestimmtheit sagten, Knitelius war Ihr Komplice, der auch geschossen hat? – Zeuge: Herr Vorsitzender, ich soll einen Eid leisten, da muß ich doch die Wahrheit sagen. – Die Berliner Kriminalkommissare Weiland und Klinghammer bekundeten auf Befragen, daß Sie einen „schwarzen Artur“ nicht kennen. – Kommissar Klinghammer: Nitter, Sie haben mir doch erzählt, Sie seien einmal mit Knitelius die Berliner Friedrichstraße nachts entlanggegangen. Da habe Knitelius Ihnen gesagt, daß er mit einem Dietrich sämtliche Häuser aufschließen könne? – Nitter: Das ist richtig. – Klinghammer: Sie sagten mir, Sie haben es selbst gesehen? – Nitter: Es ist mir nur erzählt worden. – Klinghammer: Von dem „schwarzen Artur“ haben Sie mir nie etwas gesagt. – Nitter: Das mag sein. – Vors.: Angeklagter, kennen Sie den „schwarzen Artur“? – Angekl.: Nein, ich habe einmal gehört, daß der Mannheimer Karl, der Mittäter in Magdeburg war. – Die Berliner Kriminalkommissare erklärten, daß sie einen „Mannheimer Karl“ nicht kennen. – Nitter: Ich kenne den „Mannheimer Karl“. – Vors.: Wo verkehrte dieser? – Zeuge: Teils in der „Neun“, teils im „Dalli“, bisweilen auch im „Café Westminster“ und im „Café Opera“. – Kommissar Klinghammer: Das stimmt nicht. Im „Dalli“ verkehren die proletarisierten Verbrecher mit dem Knüpftuch; die Leute, die in der „Neun“ und in den Cafés Unter den Linden verkehren, haben zu den Gästen vom „Dalli“ keine Beziehungen. – Vors.: Nitter, wer hat Ihre Sachen aus Ihrer Wohnung geholt? – Zeuge: Das war der „schwarze Artur“. – Vors.: Wo haben Sie Ihren Regenschirm? – Zeuge: Der ist in Groß-Strehlitz. – Staatsanwalt: Was sagen Sie dazu, wenn Sie hören, daß den Schirm Knitelius aus Ihrer hiesigen Wohnung geholt hat? – Zeuge: Das kann ich mir nicht gut erklären. – Nitter unterbrach mehrfach seine Aussage mit der Bitte, ihm ein Glas Wasser zu bringen. – Am dritten Verhandlungstage nahm nach dem Zeugenaufruf das Wort Staatsanwalt Schütte: Meine Herren! Die Verhandlung ist heute später eröffnet worden, weil es gelungen ist, den „schwarzen Artur“ zu ermitteln. (Große allgemeine Bewegung.) Wir werden versuchen, den Mann hierher zu schaffen. Der „schwarze Artur“ ist ein Arbeiter, namens Artur Peters in Berlin, 1873 geboren, bei der Mutter in der Pappelallee wohnhaft. Der Mann leidet augenblicklich an einem Fußübel, es ist deshalb fraglich, ob es möglich sein wird, ihn hierher zu schaffen. Andernfalls wird zu erwägen sein, ob Peters kommissarisch zu vernehmen sein wird. Bemerken will ich bereits, daß Peters bestreitet, jemals Berlin verlassen zu haben. Ob der „Mannheimer Karl“ und der „Franzosen-Willi“ nötig sein werden, wollen wir noch erwägen. Allerdings sind diese beiden heute noch nicht ermittelt. Ich beantrage außerdem, den Kriminalwachtmeister Milke aus Frankfurt a. M. als Zeugen zu laden. Dieser wird bekunden: Der Angeklagte Knitelius war, als er in Frankfurt a. M. lebte, eines Einbruchsdiebstahls in einem Juwelierladen verdächtig. Als die Polizeibeamten des Morgens bei Knitelius eintraten, um ihn zu verhaften, lag er noch zu Bett. Er sprang aus dem Bett, entnahm aus einem Tischkasten eine Pistole und wollte auf die Beamten schießen. Es gelang jedoch sofort, dem Manne die Waffe aus der Hand zu schlagen. Ich habe außerdem angeordnet, daß der Schirm, den Knitelius aus der hiesigen Wohnung des Nitter geholt haben soll, zur Stelle geschafft wird. – Der Verteidiger R.-A. Boré erklärte sich mit der Vernehmung des „schwarzen Artur“ einverstanden. Auf die Ermittlung des „Mannheimer Karl“ lege er Gewicht, dagegen habe er kein Interesse an der Vernehmung des „Franzosen-Willi“. Der Verteidiger beantragte außerdem, das Protokoll über die gestrige Vernehmung des Zeugen Nitter dem Angeklagten vollständig mitzuteilen. – Der Gerichtshof beschloß nach längerer Beratung, den Anträgen des Staatsanwalts und des Verteidigers stattzugeben. Nach Verlesung des Protokolls bemerkte der Vorsitzende: Es ist mir berichtet worden, daß der Angeklagte mehrfach mit Zeugen und Leuten im Zuhörerraum Blicke austauscht. Ich beauftrage die neben dem Angeklagten sitzenden Beamten, darauf zu achten, daß das unterbleibt. – Es wurde darauf Strafanstaltssekretär Glink (Gr.-Strehlitz) als Zeuge vernommen: Nitter fragte mich wiederholt, ob er hier vereidigt werden würde. Ich sagte ihm: Das ist leicht möglich. – Vors.: Er rechnete also damit, daß er vereidigt werden wird. – Zeuge: Er befürchtete es. – Es erschien darauf als Zeuge Artist Artur Danziger (Berlin) vom Zirkus Busch: Er habe den Angeklagten durch einen Athleten Arndt in Berlin kennen gelernt. Er habe ihm mehrfach Pfandscheine von Juwelen und auch weiße (unechte) Brillantsteine abgekauft. Es war dies im Frühjahr 1908. Er sei mit Knitelius im Berliner „Börsen-Café“, dem Zentralpunkt der Juwelenhändler, Juwelenschieber und Diamantenhändler aus ganz Deutschland und Amsterdam, vielfach auch im „Café Bauer“ zusammengekommen. Im „Café Westminster“ habe er nicht verkehrt. Bisweilen gehe er durch das „Café Westminster“ durch, da dort viele Österreicher, Skatratten usw. verkehren. Knitelius hatte mir noch zwei angebliche Artisten namens Werner und Schröder vorgestellt, ich hielt aber beide nicht für Artisten, sondern für Zuhälter. – Vors.: Treten Sie einmal näher. Sehen Sie sich die Photographie an. Ist das der angebliche Schröder? – Zeuge: Jawohl, das ist er. – Vors.: Der Mann heißt Nitter. – Zeuge: Das ist mir bekannt. Knitelius stellte mir noch andere Juwelenhändler bzw. Juwelenschieber vor. Waffen habe ich bei Knitelius niemals gesehen. Knitelius hat mir allerdings einmal gesagt, daß er eine Browningpistole besitze, da Arndt ihm gedroht habe, ihn zu verhauen. Arndt war ein gefürchteter Schläger, der vielfach wegen Körperverletzung bestraft worden ist. Im übrigen ist eine Browningpistole keineswegs so gefährlich, wie sie gestern Kriminalkommissar Klinghammer erklärt hat. Hat man Glück, so schießt man den Gegner mit der Browningpistole tot, hat man Pech, so schießt man daneben und erhält von dem Gegner eins auf den Kopf. (Heiterkeit.) Daß man mit einer Browningpistole fünf Menschen auf einmal erschießen kann, ist ausgeschlossen. Ich habe im Zirkus Busch in Berlin nur einen einzigen Mann, Mitglied einer Indianertruppe, gesehen, der vom Pferde herab in schnellstem Galopp einem Mann ein Blatt aus der Hand geschossen hat. Knitelius trat immer als Kavalier auf. Er ging stets elegant gekleidet. Er hatte auch weltstädtische Manieren. Eine Brutalität hätte ich dem Manne niemals zugetraut. – Vors.: Haben Sie gehört, daß Knitelius einmal die Befürchtung hatte, wegen Juwelenschwindeleien verhaftet und bestraft zu werden? – Zeuge: Nein. – Der Angeklagte fragte den Zeugen, ob ihm erinnerlich sei, daß er einmal eine unechte Perle für echt verkauft und ihm deshalb Verhaftung gedroht habe. – Zeuge: Das ist mir nicht erinnerlich. – Hierauf wurde nochmals der Zuchthaussträfling Nitter als Zeuge in den Saal geführt. – Vors.: Nitter, der „schwarze Artur“ ist ermittelt. Es ist ein Arbeiter namens Artur Peters. Können Sie den „schwarzen Artur genau beschreiben? – Zeuge: Der „schwarze Artur“, den ich kenne, ist nicht Arbeiter, sondern Verbrecher. – Staatsanwalt: Die Berliner Kriminalpolizei kennt nur einen „schwarzen Artur“; dieser ist Verbrecher. Wenn wir Ihnen den „schwarzen Artur“ gegenüberstellen, würden Sie ihn alsdann wiedererkennen? – Zeuge: Es kommt darauf an, ob das der „schwarze Artur“ ist, den ich kenne. – Staatsanwalt: Es soll doch aber nur einen „schwarzen Artur“ geben? – Zeuge: Herr Staatsanwalt! Sie kennen einen „schwarzen Artur“ und ich kenne auch einen. Nun kommt es darauf an, ob das derselbe „schwarze Artur“ ist. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) – Vors.: Beschreiben Sie einmal den „schwarzen Artur“ so genau als möglich. – Nitter: Der „schwarze Artur“ war damals 28 bis 30 Jahre alt, mittelgroß, hatte schönes schwarzes Haar und einen schönen schwarzen Schnurrbart. Er ging elegant gekleidet. Er trug einen Paletot auf Taille, einen sogenannten Ulster. – Vors.: Solch feine Kleidung kostet doch viel Geld? – Zeuge: Für 100 Mark kann man schon einen sehr eleganten Anzug erhalten. – Vors.: 100 Mark ist doch schon viel Geld. – Zeuge: Es kommt darauf an; wenn man bei einem Einbruch Glück hat, dann sind 100 Mark keine große Summe. – Auf Auffordern des Vorsitzenden schilderte der Zeuge noch einmal ausführlich den Vorgang bei dem Einbruch in die Hirsch-Apotheke. Nitter blieb trotz aller Vorhaltungen dabei, daß sein Komplice nicht Knitelius, sondern der „schwarze Artur“ war. Er habe gestern hier mehrere Stunden in einer Detentionszelle sitzen müssen. In dieser habe eine so furchtbar schlechte Luft geherrscht, daß er heftige Kopfschmerzen bekam. Er habe deshalb vergessen, mitzuteilen, daß er seinen Schirm Sonnabend den 24. Oktober 1908, abends, dem Knitelius geliehen habe, da dieser noch weitergehen wollte und es mit Regen gedroht habe. – Vors.: In der hiesigen Wohnung des Knitelius ist auch eine Ihnen gehörige Kleiderbürste gefunden worden. Daraus geht doch hervor, daß Sie mit Knitelius noch in Magdeburg sehr intim verkehrt haben. – Zeuge: Von einer Bürste ist mir nichts bekannt. – Vors.: Die Bürste wird Ihnen noch vorgelegt werden. – Es wurden alsdann nochmals Kriminalkommissar Eggert und Kriminalpolizei-Inspektor Schmidt (Magdeburg) über die Persönlichkeit des Nitter und seine Vernehmung vernommen. Sie wiederholten, Nitter habe sich zunächst Franz Schröder, Architekt aus Hannover, genannt und gesagt, daß er seinen Komplicen am Abend vorher in Magdeburg kennen gelernt habe. Er wisse nur, daß er Fritz heiße. Der Polizeiinspektor bekundete noch: Er habe sofort an der Aussprache erkannt, daß Nitter kein Hannoveraner, sondern Berliner sei. Nitter habe auch schließlich zugegeben, daß er Edwin Nitter heiße und aus Berlin sei. Als ihm gesagt wurde, sein Komplice sei sein Freund Knitelius aus Berlin, gab er das schließlich zu. Er habe zu Nitter gesagt: Sie lassen sich Rechtsanwalt Doktor Schwindt aus Berlin als Verteidiger kommen; ein solch tüchtiger Verteidiger kostet doch viel Geld. Darauf versetzte Nitter: Das wird alles bezahlt. Der Polizeiinspektor bemerkte noch: Sonntagsdiebe arbeiten niemals zu dreien, höchstens zu zweien. Die Berliner reisenden Diebe sind ganz besonders gerissen. Sie wissen sehr genau, daß bei dreien die Gefahr der Entdeckung viel größer ist als bei zweien. – Landrichter Dr. Löwenthal war bei der Verhandlung gegen Nitter, der sich im Mai 1909 vor der Magdeburger Strafkammer zu verantworten hatte, Referent. Nitter habe ganz aus freien Stücken in der Hauptverhandlung angegeben, daß Knitelius sein Komplice war. Er habe den Vorgang auch ganz ausführlich geschildert. – Frau Margarete Wernatowski (Berlin): Knitelius habe im Frühjahr 1908 einige Monate bei ihr unangemeldet in der Seydelstraße unter dem Namen Turban gewohnt. Er sagte, er wolle nur kurze Zeit bei ihr wohnen. Seine Angehörigen wollten nicht, daß er ein Verhältnis mit Fräulein Bethge habe, deshalb habe er sich ein eignes Zimmer gemietet. Der Angeklagte habe angegeben, daß er mit Juwelen handle. Er ging stets elegant gekleidet und ließ auch seine Briefschaften stets offen liegen. – Vors.: Ließ er auch seinen Koffer offen stehen? – Zeugin: Nein, der Koffer, der sehr schwer war, war stets verschlossen. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Den Angeklagten habe vier- bis fünfmal ein bartloser, rotblonder junger Mann besucht. – Vors.: Sehen Sie sich einmal diesen Menschen (auf Nitter zeigend) an. – Zeugin: Der Mann trug einen eleganten Paletot mit Pelzkragen. – Der Vorsitzende befahl, daß Nitter der Paletot mit Pelzkragen angezogen werde. – Zeugin: Ich glaube bestimmt, daß es dieser Mensch gewesen ist. – Vors.: Erhielt Knitelius auch noch andern Besuch? – Zeugin: Nein. – Landgerichtsrat Reschke: Er habe gegen Nitter, später auch gegen Knitelius die Untersuchung geführt. Er habe eines Tages zu Nitter gesagt: Wollen Sie nicht angeben, wer Ihr Komplice war? Da sagte Nitter: Mein Komplice war Knitelius. Bald darauf sagte Nitter: Ich habe mich versprochen, Knitelius war es nicht. Ich sagte: Es ist klar, daß Sie Ihren Komplicen kennen; es glaubt Ihnen niemand, daß Sie den Komplicen erst am Abend vorher kennen gelernt haben und Sie nur wissen, daß er Fritz hieß. Schließlich sagte Nitter: Ich werde die Wahrheit in der Hauptverhandlung sagen. – Nitter: Ich wurde an diesem Tage 2½ Stunden lang vernommen, so daß ich halb ohnmächtig wurde. Ich bat, mir einen Stuhl und ein Glas Wasser zu bringen. Dies wurde mir auch sofort gewährt. Infolge dieser meiner Schwäche hatte ich mich versprochen. – Landgerichtsrat Reschke bekundete ferner auf Befragen des Vorsitzenden: Knitelius wurde sogleich als Mittäter mit Hilfe der Berliner, Breslauer, Frankfurter und Kölner Polizei in allen Erdteilen verfolgt. Es wurden ausführliche Steckbriefe mit Photographie an alle Polizeibehörden in Deutschland und alle Hauptstädte des Auslandes, selbst nach Newyork, Chikago, Rio de Janeiro gesandt. Leider waren alle Bemühungen ohne Erfolg. Es war auch nicht eine Spur zu entdecken. Endlich kam die Nachricht, Knitelius sei in Rio de Janeiro festgenommen. Ich habe sofort nach seiner Einlieferung in Magdeburg ihn eingehend vernommen. Er bestritt mit großer Entschiedenheit, jemals in Magdeburg gewesen zu sein. Ich sagte ihm: Er solle lieber zugeben, denn wenn ihm das Gegenteil bewiesen werde, mache das einen sehr schlechten Eindruck. Ich sagte ihm auch, daß Nitter ihn bereits als Mittäter angegeben und eine Magdeburger Prostituierte, namens Haars, bekundet habe, daß sie in der Nacht vom 24. zum 25. Oktober 1908 in Magdeburg mit ihm zusammengewesen sei. Knitelius blieb aber dabei, daß er noch niemals in Magdeburg war. Ich sagte ihm, wenn er Mittäter sei, so liege es vielleicht in seinem Interesse, ein Geständnis zu machen. Es sei ja möglich, daß es kein Mord war. Es seien vielleicht bisher unbekannte Umstände vorhanden, die die Sache in sehr mildem Licht erscheinen lassen. Knitelius blieb jedoch bei seiner Behauptung. Er sagte, er sei mit einer Dame, deren Namen er nicht nennen wolle, um sie nicht zu kompromittieren, von Berlin im Luxuszug nach Monte Carlo gefahren. Von dort sei er, nachdem ihm die Dame 10 000 Mark gegeben, nach Lissabon, Madrid und London und schließlich mit einem englischen Dampfer nach Rio de Janeiro gefahren. Der Angeklagte wußte nicht anzugeben, in welchem Hotel er in Monte Carlo gewohnt habe. Er konnte auch keine Schilderung von Monte Carlo machen. Er sagte auf Befragen, er sei nach Rio de Janeiro gegangen, um dort Geschäfte mit Juwelen zu machen. Er habe unter falschem Namen gelebt, um seine Familie nicht zu kompromittieren. Daß er seinen Steckbrief, der mit Photographie wiederholt durch fast alle größere Zeitungen der Welt gegangen war, nicht gelesen habe, halte ich für unwahr. Ich sagte dem Angeklagten, er müsse doch einen triftigen Grund gehabt haben, ganz plötzlich spurlos aus Europa zu verschwinden. Einer bloßen Brillantenschmuggelei wegen ent- flieht kein Mensch nach Brasilien. Da versetzte der Angeklagte: Vielleicht habe ich eine andere Straftat begangen. Ich erwiderte: Wenn Sie eine andre Straftat begangen haben, dann sagen Sie es doch. Sie werden alsdann wieder entlassen, da Sie bloß wegen Mordes ausgeliefert sind. So- viel mir bekannt, liefert Brasilien einer geringen Missetat wegen nicht aus. Knitelius verweigerte aber trotzdem jede weitere Auskunft. – Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte Landgerichtsrat Reschke noch: Er habe der inzwischen verstorbenen Haars drei verschiedene Photographien vorgelegt. Die Haars habe die Photographie von Knitelius sofort herausgefunden und mit vollster Bestimmtheit erklärt: Das ist der Mann, mit dem ich zusammengewesen bin. – Vert.: Konnte Nitter annehmen, daß er, wenn er Knitelius als Mittäter angibt, auf eine mildere Strafe zu rechnen hat? – Zeuge: Das halte ich für ausgeschlossen. – Schuhmacher Vogt: Ich habe mit Nitter in einer Zelle im Magdeburger Untersuchungsgefängnis gesessen. Ich fragte Nitter, wozu er nach Magdeburg gefahren sei, da versetzte Nitter: Wir wollten Geld machen und sagten uns, wenn es keins gibt, dann wird einer abgemurkst. (Große Bewegung im Zuhörerraum.) Ich fragte, wer sein Mittäter sei. Er antwortete: Mein Komplice ist ein Landsmann von dir, ein Süddeutscher. Ich fragte, aus welcher Stadt ist er denn? Er ist ein Offenbacher, sagte Nitter. Und wie heißt er, fragte ich weiter? Er heißt Knitelius, antwortete er. Ich fragte: Hast du auch geschossen? Das war nicht nötig, sagte Nitter, der hatte schon genug. Mir können sie nichts anhaben, sagte Nitter, aus meinem Revolver fehlt keine Kugel. Ich fragte: Wird dein Kollege nicht gefaßt werden? Nein, antwortete er, den kriegen sie nicht, das ist ein heller Junge. Der hat viel Geld. Das Hauptgeld hat er auf der Bank von England. Er wird dafür sorgen, daß ich einen schneidigen Verteidiger, einen Rechtsanwalt aus Berlin, bekomme. Die Rechtsanwälte in Magdeburg sind nicht schneidig genug. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Mein Verteidiger erhält von Knitelius 2000 Mark. – Vors.: War das lange vor der Hauptverhandlung gegen Nitter? – Zeuge: Jawohl. – Vors.: Nun Nitter, was sagen Sie dazu? – Nitter: Ich gebe zu, daß ich mich mit dem Manne durch die Zellentür unterhalten habe. Daß ich gesagt habe, Knitelius ist mein Komplice, gebe ich zu, das ist aber nicht wahr. Ich bestreite auch ganz entschieden, daß ich gesagt habe: „Wenn’s kein Geld gibt, dann wird einer abgemurkst.“ Ich bin allerdings zweimal wegen Einbruchsdiebstahls bestraft, ich habe aber doch noch so viel moralisches Gefühl im Leibe (große Heiterkeit), daß ich einen Mord aus tiefster Seele verabscheue. Ich habe auch zu dem Zeugen gesagt: Ich billige den Schuß nicht, ich hätte nicht geschossen. – Zeuge Vogt: Das ist allerdings wahr, das hat Nitter gesagt. – Vors.: Weshalb führten Sie einen geladenen Revolver bei sich? – Nitter: Das rührt noch von meiner Detektivzeit her. – Darauf wurde der Zuchthausgefangene Firle (Gr.-Strehlitz) als Zeuge in den Saal geführt. Nitter habe ihm gesagt: Mein Komplice heißt Knitelius, dieser ist jetzt gefaßt. Wenn Knitelius bei der Hauptverhandlung schlecht abschneidet, dann befürchte ich, daß er pfeifft und ich noch einmal verurteilt werde, denn ich habe noch mehr auf dem Kerbholz. – Nitter: Ich gebe das zu, ich habe aber dem Zeugen nicht die Wahrheit gesagt. Der Anstaltssekretär sagte mir nämlich: Wenn Sie in Magdeburg als Zeuge vernommen werden, dann ist es nicht ausgeschlossen, daß Sie noch einmal angeklagt werden. Deshalb tat ich diese Äußerung. – Frau Patze: Knitelius ist der Mann, der am 24. Oktober bei mir ein Zimmer gemietet hat, ich kenne ihn mit voller Bestimmtheit wieder. – Fräulei Anni Patze, Tochter der Vorzeugin, schloß sich der Bekundung ihrer Mutter an. – Die Schreibsachverständigen Dr. med. Georg Meyer (Berlin) und Rechnungsrat Pietsch (Magdeburg) begutachteten: Die ihnen vorgelegte Anmeldung sei mit der Unterschrift, die Knitelius nach Verlesung des Protokolls beim Untersuchungsrichter gemacht habe, vollständig identisch. – Am vierten Verhandlungstage teilte Staatsanwalt Schütte mit: Ich habe folgendes Telegramm von der Berliner Kriminalpolizei erhalten: „Schwarzer Artur nicht reisefähig.“ Ich bemerke, daß ich auf die Vernehmung des „schwarzen Artur“ gar keinen Wert lege. Der Zeuge Nitter sagte gestern: Es kommt darauf an, ob der ermittelte „schwarze Artur“ derselbe ist, den ich meine. Ich bin danach der Überzeugung: Wir könnten dem Nitter zehn schwarze Arturs vorstellen, dann würde er immer sagen: Das ist nicht der „schwarze Artur“, den ich meine. Das wäre also eine Kette ohne Ende. Ich stelle aber anheim, daß sich die Herren Geschwornen über diese Angelegenheit äußern. – Vors.: Das ist nach der Strafprozeßordnung nicht zulässig. Die Herren Geschwornen können nur persönliche Wünsche äußern. – Ein Geschworner: Ich habe den persönlichen Wunsch, zu wissen, ob der ermittelte „schwarze Artur“ der Beschreibung des Nitter entspricht. Staatsanwalt: Nitter hat lediglich gesagt: Der „schwarze Artur“, den er meine, sei elegant gekleidet, zirka 30 Jahre alt gewesen, hatte schönes schwarzes Haar und einen schwarzen Schnurrbart. – Geschworner: Dann habe ich den persönlichen Wunsch, eine Beschreibung des in Berlin ermittelten „schwarzen Artur“ zu erhalten. – Vors.: Es würde sich empfehlen, Herrn Kriminalkommissar Weiland zu beauftragen, nach Berlin zu fahren, sich den „schwarzen Artur“ anzusehen und alsdann vor Gericht das Aussehen zu schildern. – Kriminalkommissar Weiland: Die Photographie des „schwarzen Artur“ wird wahrscheinlich im Berliner Verbrecheralbum enthalten sein. – Vors.: Die Photographie im Verbrecheralbum genügt nicht. Es ist alsdann notwendig, daß der Photograph, der die Photographie bewirkt hat, zeugeneidlich erklärt, daß das Bild des „schwarzen Artur“ im Verbrecheralbum naturgetreu ist. Es würde sich vielleicht empfehlen, den Zeugen Nitter nach Berlin zu transportieren, und ihm den „schwarzen Artur“ vorzustellen. – Staatsanwalt: Ich halte eine solche Prozedur für zwecklos und auch für bedenklich. Es liegt die Gefahr vor, daß Nitter in Berlin entweicht. – Vert. R.-A. Boré: Die Verteidigung legt auf die Feststellung des „schwarzen Artur“ gar keinen Wert. Ich bin der Ansicht, daß der „schwarze Artur“, den Nitter meint, überhaupt nicht existiert. – Vors.: Der Gerichtshof behält sich die Beschlußfassung bis zum Eintreffen des Kriminalkommissars Krüger aus Berlin vor. – Es wurde alsdann nochmals Fräulein Anni Patze vorgerufen. Der Vorsitzende befahl, daß der Angeklagte der Zeugin gegenübertrat und sich den Hut aufsetzte. Die Zeugin bemerkte: Sie erkenne jetzt, auch an der Aussprache, den Angeklagten mit vollster Bestimmtheit wieder. „Das ist der Mann, der am 24. Oktober 1908, abends, bei uns ein Zimmer gemietet hat.“ – Aufwartefrau Niewerth: Sie war zurzeit Aufwärterin bei Patze. Sie habe aber den damaligen Mieter nur flüchtig gesehen, könne daher nicht sagen, ob es der Angeklagte war. – Büfettier Giesche (Duisburg): Ich war im Oktober 1908 Verkäufer in der hiesigen Zigarrenverkaufsfiliale von Löser & Wolff am Breiten Weg. Ich erinnere mich ganz genau, daß am Sonnabend vor dem Mord in der Hirsch-Apotheke zwei junge Leute in unsern Laden kamen und Zigarren kauften. Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß der eine Mann Nitter war; ob der andere der Angeklagte war, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Am folgenden Tage, nachmittags gegen 1¾ Uhr, kurz vor Ladenschluß, kamen die zwei jungen Leute wieder zu uns und kauften Zigarren. Der eine war Nitter, der andre Knitelius. Ich erkenne ihn mit voller Bestimmtheit wieder. Es fiel mir auf, daß Knitelius, ebenso wie heute, mit einem Auge zwinkerte. – Angekl. (der dem Zeugen gegenüberstand): Sie zwinkern ja selbst mit dem einen Auge, das ist doch also kein Erkennungszeichen. – Zeuge: Ich habe mir die beiden jungen Leute schon deshalb genau angesehen, weil ich den Eindruck erhielt, daß es nicht anständige Leute waren. – Angekl.: Hielten Sie uns vielleicht für Zuhälter? – Zeuge: Das will ich nicht sagen. Als ich von der Ermordung des Apothekenbesitzers Rathge hörte, sagte ich sofort zu unserm Geschäftsführer: Das sind wahrscheinlich die jungen Leute gewesen, die gestern bei mir Zigarren kauften. Ich erkenne Knitelius auch an dem kurzgeschnittenen Schnurrbart wieder. – Fräulein Tilgner: Sie war zurzeit Insassin eines hiesigen „Freudenhauses“. Am Abend vor dem Mord in der Hirsch-Apotheke kamen zwei junge Leute. Der eine war bartlos und rotblond, der andre war schwarz und hatte einen kurzgeschnittenen Schnurrbart. Der Rotblonde war zweifellos der hier sitzende Nitter, den andern habe sie nur flüchtig gesehen. Sie glaube, daß es Knitelius war, mit Bestimmtheit könne sie es aber nicht behaupten. – Nitter äußerte auf Befragen des Vorsitzenden: Am Abend des 24. Oktober 1908 sei er mit Knitelius in einem Magdeburger „Freudenhaus“ gewesen. – Zeugin: Die verstorbene Haars, mit der der Angeklagte verkehrt, habe, als sie hörte, daß die beiden jungen Leute den Mord begangen haben, gesagt: Der Mann hat mir vielleicht auch etwas antun wollen. – Droschkenkutscher Rusten: Am Tage nach dem Morde in der Hirsch-Apotheke, Montag den 26. Oktober 1908, habe er einen jungen Mann von der Anhaltstraße nach dem Bahnhof gefahren. Der junge Mann hatte es sehr eilig. Er hatte einen schwarzen Koffer und ging ohne Überzieher. – Der Vorsitzende befahl, daß der Angeklagte dem Zeugen gegenübergestellt wurde. – Zeuge: Er könne nicht mit Bestimmtheit sagen, daß der junge Mann der Angeklagte war. – Provisor Schreier: Er sei im Oktober 1908 Provisor in der Hirsch-Apotheke gewesen. Eine Anzahl Kasten in der Apotheke waren durchwühlt. Die Diebe haben augenscheinlich nach der Wechselkasse gesucht. Sein ermordeter Chef hatte das Geld auf die Bank gegeben, es waren aber gewöhnlich einige hundert Mark im Hause. Er könne sich nicht erinnern, den Angeklagten oder Nitter jemals gesehen zu haben. – Kriminalkommissar Krüger (Berlin): Auf Anordnung der Berliner Kriminalpolizei wurde ärztlich festgestellt, daß weder Artur Peters, genannt der „schwarze Artur“, noch der Athlet Arndt reisefähig seien. Die Photographie des „schwarzen Artur“ ist nicht im Berliner Verbrecheralbum enthalten. Der „schwarze Artur“ ist 1873 geboren. Er ist Gewohnheitssäufer und war bereits mehrere Male in Irrenhäusern und Trinkerheilanstalten. Gemeingefährlich geisteskrank ist der „schwarze Artur“ nicht. Er ist einmal wegen gemeinsamen schweren Diebstahls mit sechs Monaten Gefängnis bestraft; das war die höchste Strafe, die er erlitten hat. Außerdem wurde er wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruchs, Beleidigung usw. bestraft. Er behauptet, weder Nitter noch Knitelius zu kennen, und will den Nachweis führen, daß er vom 18. bis 31. Oktober 1908 in der chemischen Fabrik von Busse in der Schwäbischen Straße in Berlin gearbeitet habe. – Es ist mir nun von einem Kollegen mitgeteilt worden, daß es noch einen „schwarzen Artur“ in der Berliner Verbrecherwelt gebe. Es ist aber gar nicht ausgeschlossen, daß es noch mehr „schwarze Arturs“ gibt. Es ist mir auch mitgeteilt worden, daß der „Mannheimer Karl“ im „Café Skandinavia“ in Berlin verkehrt, es ist mir aber nicht gelungen, diesen „Mannheimer Karl“ festzustellen. – Der Vorsitzende forderte nun Nitter auf, seinen Lebenslauf zu erzählen. Nitter erzählte, wie immer in gewähltem fließenden Deutsch: Ich bin der Sohn eines Zahnkünstlers. Ich bin am 20. Juli 1886 in Berlin, Kochstraße 40, geboren. Ich besuchte die Gemeindeschule in Berlin und habe die Schule nach zurückgelegtem 14. Lebensjahr verlassen. Ich habe die oberste Klasse der Gemeindeschule absolviert, nachdem ich 2½ Jahre in der ersten Klasse gesessen hatte. Ich war kein hervorragender, aber ein sehr guter Schüler. Schon als Schulknabe spielte ich kleine Rollen im kgl. Schauspielhaus. Ich empfand große Lust, zur Bühne zu gehen. Mein Vater wollte das aber nicht. Ich kam zu Haasenstein & Vogler als Schreiberlehrling. Nach einem halben Jahre verließ ich diese Stellung, da ich dort in der Hauptsache Laufburschendienste verrichten mußte. Ich kam alsdann in eine Holzhandlung als Bureaugehilfe. Diese Stellung mußte ich nach einiger Zeit aus Gesundheitsrücksichten verlassen. Ich ging auf ein Jahr zu Verwandten aufs Land zur Erholung und wurde dort mit Handarbeiten beschäftigt. Meine Verwandten hatten ein kleines Landgut. Nach Ablauf eines Jahres mußte ich nach Berlin zurück, da mein Vater einen Schlaganfall erlitten hatte. Ich wollte alsdann Reisender werden. Ich nahm eine Stellung bei der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“ als Abonnentensammler an und hatte als solcher auch große Erfolge. Nach einiger Zeit ging die Zeitung ein, da die Aktionäre kein Geld mehr geben wollten. Ich wurde darauf vom „Hannoverschen Anzeiger“ als Abonnentensammler engagiert. Nach einiger Zeit ging ich nach Berlin zurück und wurde dort Abonnentensammler für das „Deutsche Blatt“ und den „Hannoverschen Anzeiger“. Da das aber zu wenig einbrachte, nahm ich eine Stellung als Bureaugehilfe im Ostmarkenverein an. Ich erhielt ein Gehalt von monatlich 80 Mark. Später wurde ich nochmals Abonnenten- und Inseratenagent verschiedener Berliner und auswärtiger Tageszeitungen. Schließlich nahm ich eine Stellung in dem Detektivbureau des ehemaligen Kriminalkommissars Grützmacher in Berlin als Detektiv an. Ich hatte schon lange große Lust, Detektiv zu werden, zumal ich viele Kriminalromane gelesen hatte. Kriminalkommissar Grützmacher hat mir mehrfach seine große Befriedigung bezüglich meiner Tätigkeit ausgedrückt und mir gesagt: ich eigne mich ganz vorzüglich zum Detektiv. Ich wurde von Grützmacher auch zu seiner silbernen Hochzeit eingeladen. Ich wurde sehr bald zwecks Recherchierens in einer großen Diebstahlssache nach auswärts gesandt. Ich hatte auch in dieser Sache großen Erfolg. Nach dieser Sache wurde ich mit einer großen Ehescheidungssache betraut. Es gelang mir, den Ehemann des Ehebruchs mit einer Dame, die ich nicht nennen will, zu überführen. Ich erhielt dafür 1000 Mark Belohnung. Später wurde ich mit der Beaufsichtigung von Kollidieben beauftragt. Infolge dieser Tätigkeit war ich genötigt, in Berliner Kaschemmen und Cafés, in denen die noble Berliner Verbrecherwelt verkehrt, mich zu bewegen. Ich war auch ein leidenschaftlicher Billardspieler und verkehrte deshalb viel im „Café Westminster“. Dort lernte ich verschiedene Pfandscheinschieber, Wechselschieber, Falschspieler, Juwelenschieber usw. kennen. Ich machte auch dort die Bekanntschaft des Knitelius. Ich wußte, daß Knitelius nur mit Juwelen und Pfandscheinen handelte. In augenblicklicher Ermanglung einer Beschäftigung unternahm ich es, von Knitelius auch Pfandscheine zum Verkauf zu übernehmen. Es gelang mir, eine Anzahl solcher Pfandscheine zunächst in Berlin und auch in der Provinz unterzubringen. Ich fuhr mit Knitelius nach Breslau und besuchte auch Oberschlesien. Einige Zeit hielt ich mich in Gleiwitz auf. In Breslau gelang es mir einige Male, Pfandscheine und auch Juwelen zu verkaufen. – Vors.: Sind Sie denn Kenner von Juwelen? – Nitter: Jawohl. – Vors.: Sie begingen in Breslau zwei Einbrüche und wurden deshalb hier bestraft? – Nitter: Jawohl, aber unschuldig. – Vors.: War Knitelius an diesen Einbrüchen beteiligt? – Nitter: Nein, Knitelius war an den Breslauer Einbrüchen in keiner Weise beteiligt. – Vors.: Wo verkehrten Sie in Breslau? – Nitter: Im „Residenz-Café“ nachmittags, abends im „Café Hammonia“, wo die weibliche Breslauer Halbwelt stark vertreten ist. Ich lernte auch Fräulein Bethge und Fräulein Zimmermann kennen. Knitelius verkehrte mit noch einer andern Dame; er ersuchte mich einmal, diese zu beobachten, da er sie im Verdacht habe, daß sie auch mit andern Herren verkehre. Ich lehnte das aber mit der Bemerkung ab: Du bist der Dame ja auch nicht treu. Eines Tages traf ich Fräulein Zimmermann in Berlin in der Friedrichstraße. Sie klagte mir, daß Knitelius ihr untreu sei, und sie verlange jetzt von ihm 2000 Mark Abstandsgeld. (Heiterkeit) Nachdem ich aus Breslau kam, fuhr ich auf einige Tage nach Braunschweig, um eine mir befreundete Dame zu besuchen. Ich verlor infolgedessen meine Stellung bei Grützmacher. Ich spielte alsdann gewissermaßen va banque. Ich wollte die Maßnahmen der Kriminalpolizei kennen lernen. Ich meldete mich, im Einverständnis mit Knitelius, telephonisch bei Herrn Kriminalkommissar Klinghammer und sagte ihm, daß ich ihm wichtige Mitteilungen machen könnte. Der Kriminalkommissar schlug mir vor, uns im „Café Opera“ zu treffen. Ich erwiderte: Im „Café Opera“ bin ich bekannt, ich möchte einen andern Treffpunkt. Darauf schlug der Kriminalkommissar die „Konditorei von Baumgarten“ am Belle-Alliance-Platz vor. Ich sagte zu dem Kriminalkommissar, ich könnte ihm gegen Bezahlung über einen Juwelenschieber Turban Auskunft geben. Ich kannte bis dahin Knitelius nur unter dem Namen Turban. Der Kriminalkommissar sagte mir sofort: Sie meinen Knitelius. Ich bemerkte: Es ist möglich, daß dieser Turban Knitelius heißt. Ich sagte zu dem Kriminalkommissar: Knitelius bewegt sich viel in Einbrecherkreisen. – Vors.: Wie kamen Sie zu dieser Behauptung? – Nitter: Mir war bekannt, daß Knitelius wegen Verdachts eines Einbruchs in einen Juwelierladen in Frankfurt a. M. verhaftet worden war. Ich muß bemerken, daß ich ein Doppelspiel spielte. Ich wollte einmal von Kriminalkommissar Klinghammer erfahren, welche Maßnahmen von der Polizei gegen Knitelius und das Fräulein Bethge getroffen wurden, zumal mir bekannt war, daß die Bethge von der Kriminalpolizei beobachtet wurde. Anderseits wollte ich wissen, was Knitelius unternimmt. – Vors.: Haben Sie das, was Sie von Herrn Kriminalkommissar Klinghammer über Knitelius gehört, letzterem mitgeteilt? – Zeuge: Jawohl, wenigstens zum Teil. – Vors.: Was haben Sie Knitelius verschwiegen? – Zeuge: Das weiß ich nicht mehr. – Vors.: Erhielten Sie von Knitelius Bezahlung? – Zeuge: Jawohl, ich erhielt von Knitelius 20 Mark. – Vors.: Sie spielten also ein Doppelspiel. Sie wollten von der Kriminalpolizei und von Knitelius Bezahlung erhalten? – Zeuge: Jawohl. – Vors.: Wenn Sie von der Kriminalpolizei Bezahlung erhalten hätten, dann wären Sie in den Dienst der Kriminalpolizei getreten? – Zeuge: Es wäre auf die Bezahlung angekommen. Für 10 oder 20 Mark wäre ich nicht in den Dienst der Kriminalpolizei getreten. – Vors.: War Ihnen bekannt, daß Knitelius stets eine geladene Browningpistole bei sich trug? – Zeuge: Jawohl, das war aber nichts Außergewöhnliches. Juwelenpfandscheine, mit denen Knitelius handelte, wurden von anständigen Bürgersleuten nicht gekauft. Knitelius war daher genötigt, wenn er Geschäfte machen wollte, in Lokalen wie „Café Opera“ und „Café Westminster“ zu verkehren. In diesen Cafés hat mindestens jeder dritte Mann eine geladene Schießwaffe. – Vors.: Knitelius hatte auch, als er im „Café Westminster“ verhaftet wurde, die geladene Browningpistole bei sich? – Zeuge: Jawohl. – Vors.: Nun, Nitter, Sie werden schon gemerkt haben, daß Ihre Behauptung, Sie haben den Einbruch in der hiesigen Hirsch-Apotheke nicht mit Knitelius, sondern mit dem „schwarzen Artur“ zusammen begangen, keinen überwältigenden Eindruck gemacht hat. – Zeuge: Ich weiß, daß man mir nicht glaubt, ich muß aber meine Behauptung aufrechthalten. – Vors.: Sie sagen: Knitelius war wohl in Magdeburg, er hat sich aber an dem Einbruch in der Hirsch-Apotheke nicht beteiligt, das war der „schwarze Artur“? – Zeuge: Jawohl. – Auf Auffordern des Vorsitzenden schilderte Nitter in ausführlicher Weise, was er am 25. Oktober 1908 in Magdeburg bis zum Einbruch in die Hirsch-Apotheke getan habe. – Nitter teilte bei dieser Gelegenheit mit, daß er gegen drei Uhr nachmittags mit dem „schwarzen Artur“ in seiner hiesigen Wohnung in der Anhaltstraße zusammen war. – Schneidermeister Berigk und Tochter bekundeten auf das bestimmteste, daß ein Mann an jenem Sonntagnachmittag Nitter nicht besucht habe. – Vert. R.-A. Dr. Boré: Nitter, Sie haben drei verschiedene Angaben gemacht. Zuerst sagten Sie, Sie haben mit einem Unbekannten den Einbruch in die Hirsch-Apotheke begangen, von dem Sie nur wissen, daß er mit Vornamen Fritz heißt. Alsdann haben Sie Knitelius als Mittäter angegeben, und darauf haben Sie gesagt: Knitelius war nicht Ihr Komplice, sondern der Ihnen aus Berlin bekannte „schwarze Artur“. Ich bin nun von Knitelius ersucht worden, Sie zu bitten, der Wahrheit vollständig die Ehre zu geben und auch zu gestehen, daß Knitelius nicht in Magdeburg war. – Nitter schwieg. – Vert.: Wollen Sie nicht vollständig die Wahrheit sagen? Bleiben Sie bei der Behauptung: Knitelius war wohl am Tatort, aber bei dem Magdeburger Einbruch nicht beteiligt? – Nitter (nach einer kurzen Pause): Wenn ich jetzt sage, Knitelius war nicht in Magdeburg, dann wird man es mir doch nicht glauben. – Vert.: Es handelt sich nicht darum, was man Ihnen glauben wird, sondern was wahr ist. Was aus Ihrer Aussage für Schlüsse gezogen werden könnten, darf Sie nicht kümmern. Ihre Pflicht ist es, vor Gericht die volle Wahrheit zu sagen. – Nitter: Ich will jetzt bekennen: Knitelius war nicht in Magdeburg. (Große allgemeine Bewegung.) – Vors.: Also jetzt behaupten Sie, Knitelius war nicht in Magdeburg? – Nitter: Ja. – Vors.: Sie wissen aus der Verhandlung gegen Sie, daß eine Anzahl Zeugen bekundet haben, Knitelius war in Magdeburg. Deshalb haben Sie gesagt, er war wohl am Tatort, war aber an der Tat nicht beteiligt. – Zeuge: Ich bitte um eine Pause, damit ich mich ein wenig erholen kann. Ich bin erschöpft. – Der Vorsitzende ließ den Zeugen hinausführen. – Es wurde darauf die gerichtliche Aussage der verstorbenen Prostituierten Haars verlesen. Diese hatte bekundet: Nach der ihr vorgelegten Photographie erkenne sie den Mann aufs bestimmteste wieder, mit dem sie in der Nacht vom 24. zum 25. Oktober 1908 in Magdeburg zusammen gewesen sei. – Fräulein Wieland: Sie habe in früheren Jahren in Frankfurt mit dem Angeklagten intim verkehrt; Zuhälterdienste habe der Angeklagte ihr nicht geleistet. – Geschäftsführer Krumme (Berlin): Ich bin Geschäftsführer des Detektivbureaus von Grützmacher in Berlin. Nitter war von Oktober 1907 bis Ende Januar 1908 bei Grützmacher als Detektiv engagiert. Im allgemeinen war Nitter ganz brauchbar. In der letzten Zeit erschien er aber oftmals in sehr derangierter Kleidung, wurde nachlässig und kam auch ungemein spät ins Bureau, er wurde deshalb entlassen. Er renommierte außerdem ungemein, er sei imstande, jeden Geldschrank zu öffnen, so daß ich ihm drohte, die Kriminalpolizei auf ihn aufmerksam zu machen. Nachdem ich den Angeklagten hier gesehen, kann ich mit vollster Bestimmtheit sagen, daß der Angeklagte den Nitter einmal in unserm Bureau besucht hat. Ich habe auch den Angeklagten einmal, wenn ich nicht irre, nach dem Verbrechen in Magdeburg, mit einer Dame im „Kronen-Café“ in Berlin gesehen. Ich will noch bemerken, daß Nitter mit einem früheren Angestellten von uns, einem brünetten Mann namens Artur Scheschonka, befreundet war. Ich vermute, Nitter hat sich aus seiner Bekanntschaft mit verschiedenen Arturs den „schwarzen Artur“ zusammengebaut. – Vors.: Wie sieht dieser Artur Scheschonka aus? – Zeuge: Er ist etwa Mitte der dreißiger Jahre, mittelgroß und hat einen schwarzen Schnurrbart und schwarzen Spitzbart. – Vors.: Wissen Sie die nähere Adresse des Scheschonka? – Zeuge: Er wohnt in der Bülowstraße in Berlin, die Hausnummer weiß ich leider nicht. – Auf Antrag des Staatsanwalts wurde beschlossen, den Artur Scheschonka als Zeugen zu laden. – Darauf wurde Nitter nochmals in den Saal geführt. – Vert.: Nitter, kennen Sie einen brünetten Menschen, einen ehemaligen Angestellten bei Grützmacher, mit dem Sie sehr befreundet waren? – Zeuge: Ich weiß im Augenblick nicht. – Vert.: Kennen Sie einen Artur Scheschonka? – Zeuge: Jawohl. – Vert.: War das etwa der „schwarze Artur“, Ihr Komplice bei dem Einbruch in die Magdeburger Hirsch-Apotheke? – Zeuge: Nein. – Vert.: Sie haben zugegeben, daß Knitelius nicht in Magdeburg war. Ich frage Sie jetzt, wo wir am Ende Ihrer Vernehmung stehen, haben Sie Ihrer Aussage noch etwas hinzuzufügen, oder etwas abzuändern? – Zeuge: Wenn ich jetzt etwas mitteile, dann wird es mir ja doch nicht geglaubt. – Vors.: Das will ich nicht sagen, das Gericht will nur die Wahrheit ermitteln, wir stehen der Sache vollständig objektiv gegenüber. – Vert.: Sie scheinen noch etwas auf dem Herzen zu haben, erleichtern Sie Ihr Gewissen. Sagen Sie aber jetzt die Wahrheit. – Zeuge: Ich habe bisher nicht die volle Wahrheit gesagt, weil die Reise nach Magdeburg noch mit einer andern Straftat zusammenhängt. – Vert.: Wenn Sie befürchten, sich einer strafrechtlichen Verfolgung auszusetzen, dann können Sie, soweit es Ihre Person betrifft, die Aussage verweigern. – Zeuge: Dann will ich es sagen: Die Reise nach Magdeburg hängt mit einer Tat zusammen, die auf Grund des § 175 des Strafgesetzbuchs bestraft wird. (Große allgemeine Bewegung.) – Vert.: Sie können, soweit Sie glauben, daß Sie sich strafbar gemacht haben, die Aussage verweigern. Bezüglich des Angeklagten müssen Sie aber aussagen. Sie können das um so mehr tun, da der Angeklagte auf Grund des § 175 nicht ausgeliefert ist, also deshalb nicht bestraft werden kann. – Zeuge: Ich habe eine längere Erzählung zu machen, ich bin aber zu erschöpft. – Vors.: Dann wollen wir Ihre weitere Vernehmung morgen fortsetzen. – Fräulein Staudinger (Berlin) bekundete alsdann als Zeugin: Die Zimmermann habe ihr erzählt, daß sie Knitelius viel Geld gebe. – Oberkellner Königsegge vom „Café Maxime“ in Berlin bekundete, daß er den Angeklagten im „Café Maxime“ oftmals in Gesellschaft des Nitter und verschiedener zweifelhafter Persönlichkeiten gesehen habe. – Am fünften Verhandlungstage erregte die Aussage des Privatdetektiv Dinger (Berlin) großes Aufsehen. Der Zeuge bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Ich war mit Nitter zusammen in dem Detektivbureau Grützmacher in Berlin. Ich habe Nitter und den Angeklagten, der sich Turban nannte, oftmals zusammen gesehen. Ich wußte, daß der wirkliche Name des Turban Knitelius war. Es war mir bekannt, daß Knitelius und Nitter oftmals Reisen nach außerhalb unternahmen. Sie waren in Frankfurt, Zürich, Braunschweig, Breslau usw. und „drehten dort Dinger“. Wenn sie zurückkamen, hatten beide gewöhnlich viel Geld. Sobald das Geld knapp wurde, verschwanden sie wieder aus Berlin. Nitter hatte stets „Tandelzeug“ in der Tasche. Ich sagte ihm einmal, du scheinst verhältnismäßig wenig bei deinen Fahrten zu verdienen. Nitter versetzte: Du kannst doch nicht verlangen, daß der zweite Mann ebensoviel verdient wie der erste. Sobald Knitelius aus Berlin verschwunden war, war auch Nitter nicht in Berlin. Einige Wochen vor dem Magdeburger Morde sagte mir Nitter: Wir wollen eine Reise nach Magdeburg unternehmen und in eine Apotheke einbrechen, wir müssen Gift haben; in Berlin ist in dieser Beziehung nichts zu machen. Nitter stand vollständig unter dem Einfluß von Knitelius, sie hingen wie „Kletten“ zusammen. Nitter sagte mir einmal auf meine Vorhaltungen: Ich bin gezwungen, mich dem Willen des Knitelius vollständig zu unterwerfen. Er hat mir gedroht, wenn ich mit ihm breche, dann schießt er mich über den Haufen. – Knitelius sprang auf und rief in größter Entrüstung: Das ist frech gelogen. – Vors.: Verhalten Sie sich ruhig, Angeklagter. – Zeuge: Ich stehe hier unter meinem Eide und habe absolut kein Interesse, etwas Unwahres zu bekunden. Nitter sagte mir: Wenn Knitelius mich ansieht, dann muß ich alles machen, was er mir befiehlt. – Vors.: Halten Sie Nitter für geistig normal? – Zeuge: Ich halte Nitter noch heute nicht für geistig normal. Nitter hatte einmal eine schlimme Hand. Wir rieten ihm, er solle zum Arzt gehen, er tat das aber nicht. Augenscheinlich hatte er sich bei einem Einbruch mit dem Bohrer die Hand verletzt. – Vors.: In welchen Lokalen verkehrten Knitelius und Nitter? – Zeuge: Im „Cafe Westminster“, „Café Opera“, „Café Maxime“, „Café Viktoria“, kurz überall, wo in Berlin die feinere Verbrecherwelt verkehrt. Wenn den beiden das Geld klamm wurde, sagte Knitelius zu Nitter: „Edwin, wir wollen wieder auf die Fahrt gehen.“ – Vert.: Woraus entnehmen Sie, daß Knitelius mit Nitter Einbrüche machte? – Zeuge: Wenn Nitter mit Knitelius aus Berlin verschwand, hatten beide wenig Geld. Wenn sie zurückkamen, hatten sie eine Menge „blauer Lappen“ in der Tasche. Wenn man außerdem in Betracht zieht, daß sie beide „Tandelzeug“ in der Tasche trugen, dann liegt es doch klar auf der Hand, daß sie Einbrüche unternommen hatten. – Vors.: Weshalb wurde Nitter von Grützmacher entlassen? – Zeuge: Weil befürchtet wurde, daß Nitter über kurz oder lang bestraft werden würde, es war aber Grundsatz im Grützmacherschen Bureau, nicht bestrafte Leute zu beschäftigen. – Angekl.: Der Chef des Grützmacherschen Bureaus, Herr Grützmacher, selbst ist mit zwei Jahren Zuchthaus bestraft. – Zeuge: Das ist ganz nebensächlich. – Vert.: Nebensächlich ist das keineswegs, und zwar um so weniger, da Sie soeben bekundet haben: Es war Grundsatz des Grützmacherschen Bureaus, nicht bestrafte Leute zu beschäftigen.– Zeuge: Herr Grützmacher lebt gewissermaßen schon längst im Ruhestand, wir haben mit ihm nichts zu tun. Chefin ist Frau Grützmacher, Geschäftsführer Herr Krumme. – Vert.: Sie standen doch mit der Berliner Kriminalpolizei in Verbindung? – Zeuge: Jawohl. – Vert.: Haben Sie der Kriminalpolizei von den verbrecherischen Plänen des Nitter und Knitelius Mitteilung gemacht? – Zeuge: Ich wußte ja nicht, ob die Pläne ernst waren. – Vert.: Aus Ihren Aussagen geht jedenfalls hervor, daß Sie die Pläne für glaubhaft hielten. Darauf kommt es an. Ganz besonders hätten Sie doch die Pflicht gehabt, von dem Plane, daß Nitter mit Knitelius nach Magdeburg fahren wollte, um in eine Apotheke einzubrechen und Gift zu stehlen, Anzeige zu machen. – Zeuge: Ob das Gift zu verbrecherischen Zwecken dienen sollte, wußte ich nicht. Soweit ich mich erinnere, habe ich Herrn Kriminalkommissar Klinghammer davon Mitteilung gemacht. – Kriminalkommissar Klinghammer, aufgefordert, sich über die Aussagen Dingers zu äußern, bemerkte: Ich muß zunächst bitten, Herrn Dinger zu fragen, ob ich über meine Beziehungen zu ihm aussagen darf. – Vors.: Dinger, wollen Sie sich hierüber äußern? – Dinger: Soweit es mich persönlich betrifft, möchte ich, mit Rücksicht auf mein Geschäft – ich bin jetzt selbständig – dies nicht preisgegeben wissen. – Der Verteidiger wendete ein, daß ein Zeugnisverweigerungsrecht in diesem Falle nicht vorliegt. – Klinghammer: Ich habe bereits gesagt: wir haben Leute nötig, die uns Nachrichten aus der Verbrecherwelt bringen. Das liegt im Interesse des Staates und der öffentlichen Sicherheit. Aus diesem Grunde können wir diese Leute nicht preisgeben. Ich bin mit Nitter oftmals zusammengekommen. Ich war selbstverständlich Nitter gegenüber sehr vorsichtig. Dinger hat mir mehrere Male Mitteilungen über die Pläne von Knitelius und Nitter gemacht. Ich habe auch deshalb Nachforschungen angestellt, konnte aber etwas Bestimmtes nicht erfahren; die Polizeibehörde in Frankfurt a. M. schrieb mir, ihr sei ein Einbrecher oder Hochstapler Knitelius nicht bekannt. – Vert.: Dinger, wodurch erfuhren Sie, daß Knitelius und Nitter nach Frankfurt a. M. gefahren sind? – Zeuge: Eines Tages kam Knitelius zu uns ins Bureau und sagte: Wir sollten Nitter bestellen, daß er ihn auf dem Anhalter Bahnhof erwarte, er wolle mit Nitter zusammen nach Frankfurt a. M. fahren. Darauf waren Knitelius und Nitter auf einige Zeit aus Berlin verschwunden. Als sie zurückkamen, hatten beide viel Geld. – Vert.: Was erhielten Sie für Ihre Mitteilungen von der Kriminalpolizei? – Zeuge: Ich habe niemals Geld von der Kriminalpolizei erhalten. Herr Kriminalkommissar Klinghammer wollte mir immer Geld geben, ich habe es aber zurückgewiesen. – Vert.: Welches Interesse hatten Sie, der Kriminalpolizei Mitteilungen zu machen? – Zeuge: Das geschah aus geschäftlichem Interesse. Ich bin Detektiv, da liegt es in meinem Interesse, von der Polizei etwas zu erfahren und ihre Unterstützung zu haben. Meine Beziehungen zur Kriminalpolizei beruhten auf Gegenseitigkeit. – Kriminalkommissar Klinghammer: Ich kann die Behauptung des Zeugen Dinger bestätigen. Ich kenne Dinger seit 1903 und habe ihn als durchaus anständigen Mann kennen gelernt. Er war keineswegs ein gewöhnlicher Vigilant. Er ist überhaupt nicht als Vigilant zu bezeichnen. Auf Befragen des Verteidigers bemerkte Klinghammer: Von der Giftgeschichte habe ihm Dinger nichts mitgeteilt. – Darauf wurde Nitter in den Saal geführt und ihm die Aussage des Dinger vorgehalten. Nitter bemerkte: Ein Laie kann doch gar nicht wissen, wo in einer Apotheke Gift aufbewahrt wird. Der Herr Provisor Schreyer hat doch außerdem gestern bekundet, daß wir augenscheinlich nach Geld gesucht haben. – Angekl.: Wenn ich Gift haben will, dann brauche ich bloß ein Rezept zu fälschen, darauf erhalte ich Gift und Betäubungsmittel in jeder Apotheke. – Nitter sagte im weiteren auf Befragen: Er habe, als er aus Breslau kam, viel Geld gehabt. – Vors.: Weshalb haben Sie, als Sie aus Breslau kamen, sofort eine Reise nach Braunschweig, Weimar usw. unternommen? – Nitter: Weil ich eine mir bekannte Dame in Braunschweig besuchen wollte. – Vors.: Sie haben überhaupt viel mit Mädchen verkehrt? – Nitter: Weshalb sollte ich nicht mit Mädchen verkehren? (Heiterkeit im Zuhörerraum.) – Vors.: Sie sollen mit Mädchen auch Reisen unternommen haben? – Nitter: Jawohl, das kann mir doch niemand verbieten. – Vors.: Das kostet aber viel Geld? – Nitter: Ich hatte ja Geld. – Vors.: Nitter, Sie sagten gestern, daß Sie, als Sie mit Knitelius eine Reise nach Magdeburg machen wollten, Taten begangen haben, die laut § 175 des Strafgesetzbuchs strafbar sind. Wollen Sie das einmal ausführlich erzählen? – Nitter: Das ist eine längere Mitteilung, dazu bin ich jetzt nicht imstande. Die Sache regt mich derartig auf, daß ich weder Appetit noch Schlaf habe. Ich habe heute nacht nur zwei Stunden geschlafen. Das Essen, das ich hier erhalte, ist auch sehr minderwertig. – Auf Befragen des Vorsitzenden bemerkte Kriminalkommissar Klinghammer: Diese Sache kommt mir keineswegs überraschend. Nitter sagte mir: Wenn Knitelius gar zu sehr in der Patsche sitzt, dann fällt er einfach in Ohnmacht. Ich hatte sofort die Überzeugung, daß Nitter dasselbe Manöver machen wird. – Der Vorsitzende befahl, Nitter wieder abzuführen und ersuchte den Gerichtsarzt, Medizinalrat Dr. Keferstein, zu veranlassen, daß Nitter kräftigere Kost und eine gute Tasse Kaffee erhalte, damit er nachmittags in der Lage sei, weiter vernommen zu werden. – Schriftsetzer Feller (Berlin): Ich kenne Nitter von Jugend auf. Als ich einmal ins „Café Maxime“ kam, sah ich Nitter mit Knitelius, den ich damals zum erstenmal sah, zusammensitzen. Nitter fragte mich später: Was hältst du von dem Mann? Ich sagte: Das scheint ein Zuhälter zu sein. Nein, sagte Nitter, es ist ein Einbrecher. Ich laure bloß darauf, noch mehr von seinen Einbrüchen zu erfahren, dann zeige ich ihn an. Ich habe Nitter dann noch mehrfach mit Knitelius zusammen gesehen. Sie waren sehr befreundet. Nitter erzählte mir: Knitelius habe viel Geld, er habe 60 000 Mark auf der Bank. Ich habe mich, da ich Nitter im Verdacht hatte, daß er auch Einbrüche begehe, von ihm zurückgezogen. Als ich hier in der Verhandlung gegen Nitter als Zeuge geladen war, war ich nachmittags im „Café Hohenzollern“ am Breiten Weg. Da machte ich die Bekanntschaft eines Herrn Ledermann. Am Tische saß ein junger Mann, der bemerkte, er sei Angestellter in einem Konfektionsgeschäft. Einige Stunden vor dem Mord in der Hirsch-Apotheke habe er Nitter und Knitelius im „Café Hohenzollern“ Billard spielen sehen. – Kaufmann Ledermann bestätigte diese Erzählung, er könne sich aber augenblicklich auf den Namen des Konfektionärs nicht erinnern. – Angekl.: Ich kann überhaupt nicht Billard spielen. – Es wurde darauf nochmals Dinger vorgerufen. – Angekl.: Was Dinger hier gesagt hat, ist alles unwahr. Ich möchte beantragen, Dinger auf seinen Geisteszustand zu untersuchen. (Große allgemeine Heiterkeit.) – Kriminalkommissar Klinghammer: Ich habe niemals die geringste Wahrnehmung gemacht, daß Dinger geistig nicht normal ist. – Tapezier Koßlig (Berlin): Ich habe den Angeklagten für einen Zuhälter gehalten. In Berlin gibt es viele Zuhälter, die aufs eleganteste gekleidet gehen. Selbst viele verheiratete Männer sind Zuhälter bei ihren Frauen. – Detektiv Teupold: Nitter rühmte sich, daß er eine große Fertigkeit im Kartenlegen besitze. Er erzählte: Er verdiene damit viel Geld. Die Weiber seien ganz toll auf das Kartenlegen und bestürmen ihn. – Vors.: Nitter hat wohl überhaupt viel Verkehr mit Weibern gehabt? – Zeuge: Jawohl. – Nachmittags wurde der Angeklagte in Sträflingskleidung vorgeführt. Er äußerte: Dinger sei ein ungemein nervöser Mann, so daß man ihn für halb verrückt bezeichnen könne. – Nitter sollte alsdann über seine Reise aus Anlaß von Vorgängen, die mit § 175 des Strafgesetzbuchs in Verbindung stehen, erzählen. Der Staatsanwalt beantragte, während dieser Bekundung die Öffentlichkeit auszuschließen. Nach kurzer Beratung gab der Gerichtshof dem Antrag des Staatsanwalts statt, da eine Gefährdung der öffentlichen Sittlichkeit zu befürchten sei. Dem Magdeburger Polizeipräsidenten, den als Zeugen geladenen Magdeburger und Berliner Kriminalkommissaren, zwei ausgelosten Geschwornen und den Vertretern der Presse wurde der Zutritt gestattet. – Nitter erzählte alsdann mit großen Umschweifen: Ich habe am 20. Oktober 1908 im Restaurant Siechen in der Behrenstraße in Berlin die Bekanntschaft zweier Ulanenoffiziere gemacht, von dem mir der eine einen unzüchtigen Antrag machte. Der Offizier stieß mich mit dem Fuß, über das, was weiter geschah, verweigere ich die Aussage. Diesen Vorgang habe ich am folgenden Tage dem Knitelius in „Café Viktoria“ erzählt. Knitelius versetzte: Ihm sei ebenfalls ein solches Anerbieten gemacht worden. Ich schlug darauf Knitelius vor, nach Magdeburg mit mir zu fahren. Knitelius lehnte aber ab mit dem Bemerken, er habe einem Herrn, einem Großkaufmann aus Wiesbaden, mit dem er homosexuelle Beziehungen habe, versprochen, mit ihm zusammen zu sein. Aus diesem Grunde sei er (Nitter) mit dem „schwarzen Artur“ nach Magdeburg gefahren. – Auf nochmaliges eindringliches Befragen sagte Nitter: Er müsse dabei bleiben, daß er mit dem „schwarzen Artur“ und nicht mit Knitelius nach Magdeburg gefahren sei. Der „schwarze Artur“, dessen Name ihm nicht bekannt sei, sei sein Komplice gewesen. – Angekl. Knitelius bezeichnete die Erzählung des Nitter, soweit sie ihn betreffe, als unwahr. Er kenne das homosexuelle Treiben in Berlin ganz genau, er habe aber niemals zu diesen Leuten irgendwelche Beziehungen unterhalten. – Vors.: Sind Sie der Ansicht, daß Nitter homosexuelle Beziehungen gehabt hat? – Knitelius: Das halte ich nicht für unmöglich. – Vors.: Nitter, haben Sie homosexuelle Beziehungen gehabt, wodurch Sie sich strafbar gemacht haben? Sie haben das Recht, die Antwort hierauf zu verweigern. – Nitter: Ich verweigere die Antwort. – Darauf wurde die Öffentlichkeit wieder hergestellt und Fräulein Elisabeth Bethge als Zeugin in den Saal gerufen. Diese war eine sehr hübsche, elegant gekleidete, schlanke Hellblondine von 24 Jahren. Sie gab an, daß sie Sängerin sei. Sie habe im Jahre 1906 den Angeklagten in Frankfurt a. M. kennen gelernt. Sie habe mit dem Angeklagten auch eine Zeitlang in Wiesbaden gelebt. Er sagte, er werde von seinen Eltern unterstützt und handle mit Juwelen. Knitelius hatte ihr versprochen, sie zu heiraten. Sie habe das nicht wollen, da der Angeklagte oftmals sehr mit ihr zankte. Er war ungemein eifersüchtig; er beschuldigte sie oftmals, daß sie mit andern Männern verkehre. Herr v. P. habe ihr eines Abends im Theater ein Bukett gesandt und sie zum Abendbrot eingeladen. Sie habe auch die Einladung angenommen. Herr v. P. habe sie vor Knitelius gewarnt. Eines Tages hörte sie, Knitelius sei im „Café Westminster“ in Berlin verhaftet worden. Sie sei auch zum Kriminalkommissar Klinghammer als Zeugin geladen worden. Kriminalkommissar Klinghammer sagte zu ihr: Ich warne Sie vor Knitelius, Sie ahnen nicht, in welcher Gefahr Sie sich befinden. Knitelius macht alle möglichen dunkeln Geschäfte. Sie habe dies Knitelius wiedererzählt. Letzterer sagte: Der Umstand, daß ich sofort wieder entlassen wurde, spricht doch deutlich, daß ich unreelle Geschäfte nicht mache. Ich bemerke, so etwa fuhr die Zeugin fort, ich unterhielt mit Knitelius anfänglich nur freundschaftliche Beziehungen. Eines Tages kam Fräulein Zimmermann zu mir in meine Wohnung und schimpfte mich furchtbar aus, weil ich ihr ihren Bräutigam abspenstig gemacht hätte. Ich sagte, ich habe kein Verhältnis mit Herrn Knitelius. Fräulein Zimmermann machte mir aber solch großen Skandal, daß ich ihr die Tür gewiesen habe. Ich habe dem Angeklagten einige Male Juwelen versetzt. Ich hatte keine Bedenken, da ich mehrfach gesehen hatte wie Knitelius die Juwelen von Saffran und andern Leuten im „Café Westminster“ kaufte. Der Angeklagte ging stets sehr elegant gekleidet und war auch oftmals verreist. Eines Tages saß ich mit Knitelius im „Café Westminster“. Da kam eine alte Dame ins Café und machte dem Knitelius eine furchtbare Szene. Knitelius bat mich, mich zu entfernen. Das tat ich auch sofort. Einige Male habe ich auch Nitter in Gesellschaft des Knitelius gesehen. Ich sagte, ich kann den Menschen nicht leiden. Knitelius bemerkte: Nitter ist eine rothaarige Bürste. (Heiterkeit.) Auf weiteres Befragen des Vorsitzenden sagte die Zeugin: Sie habe am 27. Oktober 1908 den Angeklagten zum letztenmal in Berlin gesprochen. Seit dieser Zeit habe sie ihn erst hier wieder auf der Anklagebank gesehen. – Vors.: Hat Ihnen der Angeklagte seit dem 27. Oktober 1908 jemals geschrieben? – Zeugin: Nein. – Vors.: Hat er Ihnen jemals irgendein Lebenszeichen gegeben? – Zeugin: Nein, niemals. – Vors.: Hatte er Ihnen geschrieben, wenn er früher verreist war? – Zeugin: Jawohl. – Vors.: Oft? – Zeugin: Ja. – Vert.: Sie sollen dem Angeklagten einmal zu Weihnachten einen Tausendmarkschein geschenkt haben? – Zeugin (entrüstet): So etwas wäre mir niemals in den Sinn gekommen, ich habe nicht 1000 Mark zu verschenken. – Vert.: War es vielleicht eine geringere Summe? – Zeugin: Nein. Ich habe nichts zu verschenken. – Vert.: Hat Sie der Angeklagte oftmals schwer mißhandelt? – Zeugin: Er hat mich vielfach geschlagen. Das geschah zumeist aus Eifersucht. – Vert.: Sie sollen bisweilen den Angeklagten auch geschlagen haben? – Zeugin: Ich habe mich allerdings einmal gewehrt, und zwar recht kräftig. (Große allgemeine Heiterkeit.) – Angekl.: Fräulein Bethge kam mit einem Messer auf mich zu, ich flüchtete mich deshalb in ein Zimmer und riegelte mich ein. – Vors.: Hatte der Angeklagte eine besondere Veranlassung, Sie zu schlagen? – Zeugin: Einige Male schlug er mich, weil ich mit Herrn von P. spazierengegangen war. Ich bemerke ausdrücklich: Meine Beziehungen zu Herrn von P. waren nur freundschaftliche. Herr von P. hat mich vielfach in eindringlichster Weise vor dem Angeklagten gewarnt. – Vors.: Diese Warnungen waren aber vergebens? – Zeugin: Allerdings. – Vert.: Sie waren in den Angeklagten sehr verliebt? – Zeugin: In der letzten Zeit liebte ich ihn nicht mehr, da er gar zu brutal war. – Hierauf wurde Rittergutsbesitzer von P. als Zeuge vernommen: Ich habe Fräulein Bethge auf der Bühne in Berlin gesehen und interessierte mich sehr für sie. Ich habe jedoch niemals schmutzige Beziehungen zu der jungen Dame gehabt. Ich wollte sie in der Hauptsache vor Knitelius schützen. Ich schlug ihr daher vor, ein Jahr aus Berlin fortzugehen, damit sie sich Knitelius aus dem Kopf schlage. Fräulein Bethge war aber nicht zu bewegen, von Knitelius zu lassen. Daß ich mich mit Knitelius geduzt habe, ist eine Lüge. Ebenso ist es unwahr, daß ich dem Knitelius 10 000 Mark für Überlassung des Fräulein Bethge angeboten habe. Knitelius hat mir geschrieben, er wolle Fräulein Bethge freigeben, wenn er 10 000 Mark erhalte. Da ich ihm das Geld selbstverständlich nicht gab, hat er mir verschiedene Erpressungsbriefe geschrieben, die ich an das Berliner Polizeipräsidium gesandt habe. Knitelius schrieb mir außerdem, daß ich mich des Bruches des Ehrenworts schuldig gemacht habe. Er werde mir die Knochen kaputt schlagen und dafür sorgen, daß ich des Königs Rock werde ausziehen müssen. Ich bemerke, daß ich damals in keinem Militärverhältnis mehr stand. – Vert.: Haben Sie dem Fräulein Bethge einmal 1000 Mark geschenkt? – Zeuge: Jawohl. – Vors.: Fräulein Bethge, haben Sie diese Summe oder einen Teil davon dem Angeklagten geschenkt? – Zeugin: Nein, der Angeklagte hat mir aber einige hundert Mark davon gewaltsam fortgenommen. – Nitter: Als er noch Detektiv war, habe er die Bethge im Auftrag von Knitelius observiert. Er habe die Bethge in Gesellschaft mit von P. am Anhalter Bahnhof gesehen und das Knitelius gemeldet. – Am sechsten Verhandlungstage wurde zunächst nochmals Fräulein Elisabeth Bethge vernommen. Vors.: Nitter sagte gestern: Knitelius hätte zu ihm geäußert: Sage Fräulein Bethge, ich sei mit dir in Magdeburg gewesen, damit sie nicht Argwohn hat, daß ich mit einem andern Mädchen verreist war. Hätten Sie Argwohn gehabt, wenn Knitelius an zwei Abenden nicht in Berlin gewesen wäre? – Zeugin: Nein. Knitelius ist oftmals von Berlin fortgefahren, ohne daß ich etwas davon wußte. Knitelius ist auch oftmals mit anderen Mädchen ausgegangen und gereist. – Vors.: Es wäre Ihnen also nicht aufgefallen, wenn Knitelius an zwei Abenden nicht in Berlin gewesen wäre? – Zeugin: Keineswegs. – Vors.: Sie hatten auch ein Verhältnis mit einem Friseur? – Zeugin: Ja. – Vors.: Der hieß? – Zeugin: Walter Andreas. – Vors.: Hatte sich dieser Walter Andreas einen Auslandspaß verschafft? – Zeugin: Ich glaube; es wollte einmal eine ganze Gesellschaft nach Argentinien gehen; ich sollte auch mitkommen. – Vors.: Hat sich da die ganze Gesellschaft Auslandspässe besorgt? – Zeugin: Ich glaube; bestimmt kann ich es nicht sagen. – Der Vorsitzende ersuchte darauf den Kriminalkommissar Klinghammer, bei dem Berliner Paßbureau telephonisch anzufragen, ob und wann auf den Namen Walter Andreas ein Auslandspaß ausgestellt worden und ob dieser Paß ihm etwa gestohlen worden sei. – Knitelius hat sich nämlich unter dem Namen Andreas Walter in Brasilien aufgehalten. – Auf Befragen eines Geschwornen bemerkte Fräulein Bethge: Knitelius habe ihr von den ihr von P. geschenkten 1000 Mark 600 Mark aus ihrem unverschlossenen Koffer genommen. Sie habe deshalb sehr geschimpft. Knitelius ärgerte sich augenscheinlich, daß von P. ihr die 1000 Mark geschenkt hatte. Knitelius habe ihr die entwendeten 600 Mark nach einiger Zeit in Berlin wiedergegeben. – Der folgende Zeuge war Kriminalwachtmeister Richter (Berlin): Am 28. Oktober 1908 erhielt ich von dem Kriminalkommissar Weiland den Auftrag, nach Knitelius zu recherchieren. Die Photographie von Knitelius war auf dem Präsidium. Ich suchte in den feinen Cafés in Berlin, da mir bekannt ist, daß die raffinierten Verbrecher stets sehr nobel auftreten und in den feinsten Cafés verkehren. Selbstverständlich trifft die Kaffeehausbesitzer hieran keine Schuld. Ich hielt auch in der Wohnung des Nitter, der bis dahin bei seiner Mutter wohnte, Haussuchung. Die Mutter machte auf mich einen ganz vorzüglichen Eindruck. Ich hatte die Überzeugung, daß sie eine hochanständige Frau ist. Es fiel mir auf, daß unter den vorgefundenen Einbruchswerkzeugen, schwere Einbruchswerkzeuge, wie sie ganz besonders die Geldschrankknacker haben, nicht vorhanden waren. – Kellner Baum (Breslau): Ich wohne in Breslau in der Großen Feldstraße. Eines Tages mietete der hier sitzende Nitter bei mir ein Zimmer. Er wohnte etwa sechs Wochen bei mir. Er schlief gewöhnlich bis zehn Uhr vormittags und war auch mehrfach ganze Nächte weg. Wovon Nitter gelebt hat, weiß ich nicht. Er erzählte mir, er könne sehr gut Karten legen und habe damit viel Geld verdient. Die Weiber haben ihn geradezu bestürmt. Eines Tages kam Nitter sehr aufgeregt nach Hause. Er erzählte, er sei in Posen gewesen. Dort habe er mit einem Herrn ein Renkontre gehabt. Er habe den Herr in die Beine geschossen, sei aber entkommen. Ich sagte: Sie wohnen bei mir unangemeldet. Wenn Sie jemanden geschossen haben, dann wird doch zweifellos nach Ihnen geforscht werden. Machen Sie sich keine Sorgen, sagte Nitter, es wird nichts darauf kommen, ich reise im übrigen sehr bald ab. Eines Tages wurde bekannt, daß in Breslau des Nachts ein Einbruchsdiebstahl verübt worden ist. Der Ladeninhaber ist schließlich dazugekommen, es ist aber dem Einbrecher gelungen, unerkannt zu entweichen. Da sagte Nitter: Es ist vielleicht ganz gut, daß der Ladeninhaber die Einbrecher nicht gefaßt hat. Solche Leute sind bekanntlich zu allem fähig, die Einbrecher hätten womöglich auf den Ladeninhaber geschossen. – Nitter: Ich war eines Tages in Posen und ging auf einem großen schönen Platz spazieren; ich begab mich in ein großes Café. Am Nebentisch von mir saßen ein Herr und zwei junge Damen. Ich kokettierte mit den Damen. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) Nachdem ich das Café verlassen hatte, kam der Herr aus dem Café hinter mir her und schlug mich mit einem Stock an die Kinnlade. Ich war ganz perplex und zog meinen geladenen Revolver. Ich sagte: Ich verlange Ihren Namen, was veranlaßt Sie, mich zu schlagen? Sie haben die Damen im Café belästigt, versetzte der Herr. Er machte Miene, mich noch einmal zu schlagen. Ich hielt dem Herrn den Revolver vors Gesicht und sagte: Machen Sie, daß Sie fortkommen, oder ich schieße! Ich habe aber nicht geschossen. Der Lärm lockte eine große Anzahl Leute und einen Schutzmann herbei. Der Schutzmann stellte auf meinen Antrag die Personalien des Herrn und auch meine Personalien fest. Ich gab meine Personalien richtig an. Der Herr nannte sich Kaufmann Thürmer aus Posen. Ich sagte zu dem Schutzmann: Verhaften Sie den Herrn, ich werde die Bestrafung beantragen. Der Schutzmann sagte: Lassen Sie das doch. Der Herr ist Pole. Hier in Posen kommen derartige Sachen fast täglich vor. (Heiterkeit im Zuhörerraum.) – Vors.: Sie haben Herrn Baum gesagt: Sie haben in Posen einen Herrn in die Beine geschossen. – Nitter: Das war Renommisterei. – Vors.: Herr Baum, hielten Sie die Erzählung des Nitter, daß er in Posen einen Mann in die Beine geschossen habe, für Renommisterei? – Zeuge: Nitter war so aufgeregt, daß ich es nicht für Renommisterei hielt. – Auf weiteres Befragen bekundete Baum: Knitelius und ein junger Herr namens Paul Scholz hätten ebenfalls einige Nächte bei ihm gewohnt. Paul Scholz war etwa 28 Jahre alt und hatte mit Knitelius große Ähnlichkeit. – Fräulein Marta Baum und der 17jährige Willi Baum (Kinder des Vorzeugen) bestätigten im allgemeinen die Bekundungen ihres Vaters, sie wußten aber auch nichts Näheres über den Paul Scholz anzugeben. – Der Angeklagte Knitelius bemerkte: Er habe zwei Tage und Nächte in Breslau bei Baum gewohnt, um Pfandscheine zu verkaufen. Nitter habe ihm den Scholz mit dem Bemerken: Herr Paul Scholz, Berlin, Breslau, vorgestellt. (Heiterkeit.) Etwas Näheres könne er über Paul Scholz nicht angeben. – Vors.: Nitter, war dieser Paul Scholz etwa der „schwarze Artur“? – Zeuge: Nein. – Kriminalkommissar Becker (Offenbach): Die Familie Knitelius erfreut sich in Offenbach eines guten Rufes. Der Vater ist seit langem tot. Ich halte es für ausgeschlossen, daß die Mutter jemals imstande war, dem Sohn eine monatliche Unterstützung von 200 bis 250 Mark zu geben. Seit mehreren Jahren lebt die Mutter in geradezu kümmerlichen Verhältnissen, sie ist kaum imstande, die Steuern zu bezahlen. Knitelius verkehrte in den verrufensten Spelunken und hat ganz besonders mit verrufenen Halbweltdamen viel verkehrt. In Frankfurt a. M. stand Knitelius im Rufe eines Zuhälters und Einbrechers. Er stand auch im Verdacht, an einem Einbruchsdiebstahl in einem Frankfurter Juwelenladen beteiligt gewesen zu sein. Die Mutter hatte sich im September 1909 einen Paß nach Brasilien bestellt. Sie sagte: Ihr Geschäft sei infolge des Verdachts, der gegen ihren Sohn schwebe, sehr zurückgegangen. Sie habe auch die vielen Haussuchungen satt; deshalb habe sie beschlossen, das Geschäft zu verkaufen und nach Brasilien auszuwandern. Die Frau hat ihren Plan aber nicht ausgeführt. – Angekl.: Das Geschäft meiner Mutter besteht 35 Jahre und hat früher einen sehr schönen Gewinn abgeworfen. Daß das Geschäft infolge der vielen bei meiner Mutter vorgenommenen Haussuchungen zurückgegangen ist, ist sehr erklärlich. – Ein Kriminalwachtmeister aus Offenbach bestätigte die Bekundung des Vorzeugen. Knitelius verkehrte in Kreisen von Zuhältern, Falschspielern usw. – Kriminalschutzmann Pfeiffer (Frankfurt a. M.): Knitelius hatte in Frankfurt keine Beschäftigung. Trotzdem führte er ein nobles Leben und verkehrte in den feinsten Cafés. Er bewegte sich in sehr verrufener Gesellschaft, insbesondere in den Kreisen der verrufenen Halbwelt. Er wohnte mit einem Mädchen namens Zimmermann zusammen, das stark im Verdacht stand, gewerbsmäßige Unzucht zu treiben. Knitelius behauptete, er unterhalte die Zimmermann vollständig, er habe eine Vergolderei in Offenbach und verdiene dabei viel Geld. Es wurde aber festgestellt, daß Knitelius nur bei seiner Mutter im Geschäft war. Die Zimmermann gab zu, von Knitelius nicht unterhalten zu werden, bestritt aber, dem Knitelius Geld gegeben zu haben. Jedenfalls stand Knitelius in dringendem Verdacht, bei der Zimmermann Zuhälterdienste zu leisten, er konnte aber nicht überführt werden. – Kriminalpolizei-Wachtmeister Milke (Frankfurt a. M.): In Frankfurt a. M. wurde einmal des Nachts in einem Juwelierladen ein Einbruchsdiebstahl verübt, Knitelius stand im Verdacht, an dem Einbruch beteiligt gewesen zu sein. Ich wurde beauftragt, Knitelius zu verhaften. Als ich mit noch zwei Beamten des Morgens bei Knitelius erschien, lag er noch zu Bett. Er war sehr erschrocken, sprang aus dem Bette, kleidete sich an und wollte aus einem Tischkasten einen geladenen Revolver herausziehen. Er wurde aber daran gehindert und der Revolver von uns beschlagnahmt. – Vors.: Hat er gedroht, auf Sie zu schießen? – Zeuge: Nein. Er sagte: Wenn ich sofort gewußt hätte, daß Sie Kriminalbeamter sind, dann wäre etwas andres passiert. Ich fragte, was er gemacht hätte. Knitelius antwortete: „Ich hätte alsdann mich erschossen.“ Wir haben auch in Offenbach Haussuchung gehalten. Wir fanden bei der Mutter im Keller ein Loch, das sich vorzüglich als Versteck gestohlener Waren eignete. Von andern Verbrechern wurde uns mitgeteilt, Knitelius sei Zuhälter und ein ganz gefährlicher Verbrecher. Ein Nachweis, daß Knitelius an dem Einbruch in den Juwelierladen beteiligt war, ließ sich nicht führen. – Hofbüchsenmacher Loesche (Magdeburg) bekundete als Sachverständiger: Die Browningpistole sei eine sehr gefährliche Waffe. Sie treffe sicher und habe den Vorzug vor dem Revolver, daß der Schuß nur ein Geräusch, aber keinen lauten Knall verursache. Der Sachverständige zeigte den Geschwornen die Zusammensetzung der Browningpistole. Die in der Hirsch-Apotheke gefundene Hülse entstamme zweifellos einer Browningpistole. – Vors.: Wir wollen uns jetzt schlüssig machen, ob Nitter zu vereidigen ist. – Staatsanwalt Schütte: Nitter kommt zweifellos als Mittäter in Betracht; ich beantrage daher, den Zeugen nicht zu vereidigen. – Vert. R.-A. Boré: Ich beantrage, den Zeugen zu vereidigen. Wenn der Herr Staatsanwalt Nitter für den Mittäter gehalten hätte, dann würde er ihn wegen Mordes angeklagt haben. Da dies nicht geschehen ist, muß dieser Verdacht nicht bestanden haben. Es liegt mithin kein gesetzlicher Grund vor, Nitter unvereidigt zu lassen. – Vors.: Nitter, der Gerichtshof wird sich jetzt schlüssig machen, ob Sie zu vereidigen sind. Der Herr Staatsanwalt hat beantragt, Sie unvereidigt zu lassen, der Herr Verteidiger, Sie zu vereidigen. Ich frage Sie nun, wenn der Gerichtshof beschließt, Ihre Vereidigung vorzunehmen, könnten Sie Ihre Aussage mit gutem Gewissen beschwören? – Nitter: Wenn ich jetzt etwas andres sage, dann wird man mir das ja auch nicht glauben. – Vors.: Es handelt sich nicht darum, was Ihnen geglaubt wird, sondern ob Sie bereit sind, Ihre Aussage zu beschwören. Sie wissen, daß auf Meineid eine Zuchthausstrafe bis zu 10 Jahren steht. – Nitter: Wenn ich einen Eid leiste, dann werden die Herren Geschwornen den Eid doch für einen Meineid halten. – Vors.: Sie weichen immer aus. Ob die Herren Geschwornen der Ansicht sind, daß Sie einen Meineid geleistet haben, braucht Sie nicht zu kümmern. Beantworten Sie die Frage: Sind Sie bereit, Ihre Aussage zu beschwören? – Nitter: Das kann ich nicht, denn ich bin überzeugt, sobald ich geschworen habe, wird der Herr Staatsanwalt sofort die Anklage wegen Meineids gegen mich erheben, da eine große Anzahl Zeugen das Gegenteil beschworen haben. – Vors.: Sie erklären also, daß Sie nicht bereit sind, Ihre Aussage zu beschwören? – Nitter: Ich bin bereit, zu schwören, wenn die Aussagen der anderen Zeugen für falsch erklärt werden. (Heiterkeit.) – Vors.: Sie werden doch selbst einsehen, daß das nicht ausführbar ist. Ich frage Sie also nochmals, wollen Sie Ihre Aussage beschwören? – Nitter: Unter diesen Umständen kann ich nicht schwören. Der Herr Staatsanwalt sagte, ich käme bei dem Morde als Mittäter in Betracht, gleichviel, ob ich geschossen habe oder nicht. Ich bemerke: wenn zwei Einbrecher verabreden, im Falle sie überrascht werden, zu schießen, so wird bei einer Überraschung nicht erst beraten werden, wer schießen soll, sondern es werden beide gleichzeitig schießen. – Vors.: Ihre Ausführungen interessieren uns nicht. Der Gerichtshof wird in der Pause beraten, ob Sie zu vereidigen sind. – Der Vorsitzende, Geh. Justizrat Landgerichtsdirektor Goldschmidt, eröffnet die Nachmittagsitzung mit folgenden Worten: Ich habe dem Zeugen Schriftsetzer Feller aus Berlin gestattet, mit Nitter zu sprechen. Ich ersuche den Zeugen Feller, vorzutreten. – Feller äußerte hierauf: Ich habe mit Nitter gesprochen. Ich habe ihm gesagt: Ich habe von seiner Schwester den Auftrag, ihm mitzuteilen: Wenn er sich bessert, dann würde sie alles tun, damit er wieder ein ordentlicher Mensch wird. Er solle aber die Wahrheit sagen, er habe augenscheinlich nicht die Wahrheit gesagt. Nitter hat erwidert: Ich fürchte einmal die Rache von Knitelius und anderseits würde mir ja doch nicht geglaubt werden, wenn ich jetzt die Wahrheit sage. – Vors.: Nun Nitter, treten Sie einmal an den Zeugentisch. – Nitter weinte während der Vernehmung des Feller heftig. Er trat laut weinend mit vorgehaltenem Taschentuch an den Richtertisch, – Vors.: Nitter, der Gerichtshof hat den Beschluß, ob Sie zu vereidigen sind, noch einstweilen ausgesetzt. Ich frage Sie nun, wollen Sie jetzt die Wahrheit sagen? Ist Knitelius in Magdeburg gewesen? Sagen Sie die Wahrheit! – Nitter weinte und führte augenscheinlich in seinem Innern einen heftigen Kampf. – Vors.: Ich frage Sie nochmals, Nitter: Ist Knitelius in Magdeburg gewesen? – Nitter, nach einigem Zögern: Ja. (Große allgemeine Bewegung.) – Vors.: Das ist die Wahrheit? – Nitter (weinend): Ja. – Vors.: Dann erzählen Sie noch einmal von Ihrer Begegnung im „Kronen-Café“ in Berlin an, was geschehen ist. – Nitter: Am 23. Oktober 1908 trafen wir uns in Berlin im „Kronen-Café“. Wir beschlossen, am folgenden Tage nach Magdeburg zu fahren, um einen Einbruch zu begehen. Ich fuhr am Sonnabend den 24. Oktober, mittags ein Uhr, nach Magdeburg und holte Knitelius, der erst acht Uhr abends ankam, vom Bahnhof ab. Wir mieteten uns hier eine Wohnung und besuchten verschiedene Lokale. Am Sonntag waren wir im „Café Hohenzollern“; wir kauften uns bei Loeser & Wolff Zigarren. Nachmittags versuchten wir in eine Drogerie in der Wilhelmstraße einzubrechen; es gelang uns aber nicht. Wir gingen weiter. Als wir am Breiten Weg an der Hirsch-Apotheke vorüberkamen, beschlossen wir, in diese einzubrechen. Dies gelang uns sehr schnell, da Knitelius gute Einbruchswerkzeuge hatte. Wir suchten in mehreren Kästen nach Geld, schließlich hörten wir schließen und sahen uns einem Herrn gegenüber. Dieser sagte guten Abend. Ich erwiderte den Gruß. In demselben Augenblick krachte ein Schuß. – Vors.: Knitelius hatte den Mann geschossen? – Nitter (nach einigem Zögern): Ja. – Vors.: Weshalb haben Sie bis jetzt die Unwahrheit gesagt? – Nitter: Ich befand mich zwischen Baum und Borke. Ich befürchtete einmal die Rache des Knitelius und wurde auch von seinen Blicken hier im Saale fortwährend beeinflußt. Anderseits bedrückte mich mein Gewissen. Ich halte es für meine moralische Pflicht, jetzt die Wahrheit zu sagen, da es sich um einen Mord handelt. Ich bin der Meinung, ein Mensch, der einen Mann, dem er sein Eigentum rauben will, mordet, gehört nicht in die Freiheit. Ich habe schon einmal gesagt, ich habe den Schuß nicht gebilligt. – Vors.: Sie hätten nicht geschossen? – Nitter: Niemals. – Vors.: Sie haben also jetzt die volle Wahrheit gesagt? – Nitter (heftig weinend): Ja, jetzt habe ich die volle Wahrheit gesagt. – Vors.: Wollten Sie in der Apotheke Geld stehlen oder ein Betäubungsmittel rauben? – Zeuge: Wir wollten Geld stehlen. – Vors.: Nun Angeklagter Knitelius, was sagen Sie dazu? – Der Angeklagte saß wie versteinert da; er wurde aschfahl im Gesicht und schwieg. – Vors.: Angeklagter, ich frage Sie nochmals, was sagen Sie zu diesem Geständnis des Nitter? – Angekl.: Ich bitte, mit meinem Verteidiger sprechen zu dürfen. – Der Vorsitzende unterbrach die Sitzung und gestattete, daß der Verteidiger sich mit dem Angeklagten in ein Zimmer zurückzog. – Nach etwa zehn Minuten trat der Verteidiger mit dem Angeklagten in den Sitzungssaal wieder ein. Die Spannung der zahlreichen Zuhörer war aufs höchste gestiegen. – Vert. R.-A. Dr. Boré: Der Angeklagte hat mich ermächtigt, zu erklären, daß er den Schuß auf den Apothekenbesitzer Rathge abgegeben hat. (Große allgemeine Bewegung.) Der Angeklagte bestreitet aber, einen Mord beabsichtigt zu haben. Der Angeklagte läßt den Herrn Vorsitzenden außerdem ersuchen, die Sitzung auf eine Stunde zu unterbrechen. Der Angeklagte ist derartig erregt und erschöpft, daß er dringend der Erholung bedarf. – Es trat darauf eine einstündige Pause ein. – Nach Wiedereröffnung der Sitzung war der Andrang des Publikums geradezu beängstigend. Aber auch der Innenraum war zum Brechen voll, so daß die Berichterstatter im Schreiben ganz außerordentlich behindert wurden. – Der Vorsitzende ließ den Angeklagten vor den Richtertisch treten. Der Angeklagte erzählte auf Befragen des Vorsitzenden: Am Freitag den 23. Oktober, abends, habe ich im „Kronen-Café“ in Berlin mit Nitter beschlossen, nach Magdeburg zu fahren, um uns dort ordentlich zu amüsieren und auch Pfandscheine zu verkaufen. Von Magdeburg wollten wir nach Halle fahren. Wir wollten hauptsächlich deshalb nach Magdeburg fahren, weil ich in Berlin schon wegen der Bethge behindert war. Am folgenden Tage, Sonnabend den 24. Oktober, mittags ein Uhr, fuhr Nitter nach Magdeburg, ich traf um acht Uhr abends in Magdeburg ein. Nachdem ich im Nebenhaus von Nitter, in der Anhaltstraße hierselbst, ein Zimmer gemietet hatte, besuchten wir verschiedene Lokale. – Vors.: Hatten Sie nicht auch die Absicht, einen Einbruch zu verüben? – Angekl.: Nein, davon war keine Rede. Am folgenden Sonntag machte Nitter beim Mittagessen den Vorschlag, etwas auszuführen. Ich muß bemerken, daß ich kein Gepäck nach Magdeburg mitgebracht hatte. Die Einbruchswerkzeuge hatte Nitter mitgebracht. Nitter sagte: „Ich habe schon ausbaldowert.“ Ich muß ausdrücklich hervorheben, daß ich das Wort „ausbaldowert‘ gar nicht kannte. Ich habe manches gekauft, dadurch kam ich mit Verbrechern zusammen, die Verbrechersprache war mir aber vollständig fremd. Ich hatte, offen gestanden, keine Lust, einen Einbruch zu begehen, wenn nicht wenigstens Aussicht vorhanden war, 50 bis 60000 Mark dabei zu holen, so daß man ein Geschäft anfangen konnte. Nitter drang aber in mich. In der Wilhelmstraße wollten wir in eine Drogeriehandlung einbrechen, das gelang uns aber nicht. Wir gingen alsdann den Breiten Weg entlang und kamen bei der Hirsch-Apotheke vorüber. Da hing ein Zettel draußen: „Von drei Uhr nachmittags ab geschlossen.“ Nitter schlug vor, in die Apotheke einzubrechen. Ich lehnte ab. Da sagte Nitter: „Willst du es vielleicht noch bequemer haben? Du siehst hier den Zettel, sollen sie dich vielleicht erst zum Kaffee einladen?“ Ich: wollte aber nicht und sagte: „Was ist denn in einer Apotheke zu holen?“ Nitter erwiderte: „Du bist doch sonst ein mutiger Mensch, hier, wo die Sache so günstig ist, verlierst du den Mut!“ Dieser Appell an meinen Mut und die günstige Gelegenheit veranlaßten mich schließlich, in die Apotheke mit hineinzugehen. Wir hatten die Tür schnell auf und kamen zunächst in ein kleines Kontor. Von dort kamen wir in die Apotheke. Wir zogen verschiedene Schubladen auf. In demselben Augenblick hörten wir schließen, und ein großer, starker Mann stand vor uns. Ob er guten Abend sagte, weiß ich nicht. Ich war jedenfalls furchtbar erschrocken. Ich glaubte bestimmt, nun werden wir gefaßt. Ich zog deshalb meine Browningpistole und schoß. Wie ich dazu kam, ist mir unbegreiflich. Ich ergriff die Flucht und fiel sehr bald hin. Mehrere Leute hoben mich auf und sagten, ob mir etwas passiert sei. Ich sagte, ich fühle mich unwohl. Dadurch gelang es mir, zu entkommen. Ich begab mich in meine Wohnung. Ich blieb die folgende Nacht auch in Magdeburg. Da Nitter nicht nach Hause kam, wußte ich, daß er gefaßt worden ist. Geschlafen habe ich vor Aufregung nicht einen Augenblick. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß ich vielleicht daneben geschossen oder den Mann nur verletzt hätte. Am folgenden Vormittag holte ich die Sachen von Nitter und nahm diese mit nach Berlin. Ich las in den Berliner Zeitungen, daß der Geschossene nur verletzt sei. Ich machte mich aber auf jeden Fall reisefertig. Ich hatte 800 Mark in Magdeburg bei mir. 400 Mark hatte ich bei der Deutschen Bank und eine Summe in meinem Koffer. Im ganzen hatte ich etwas über 3000 Mark. Ich fuhr am 28. Oktober nach Monte Carlo, von dort nach Lissabon, Madrid, Barcelona und schiffte mich nach Brasilien ein. In einem Café in Barcelona las ich in der „Kölnischen Zeitung“, daß der Apotheker gestorben sei. – Vors.: Lasen Sie nicht auch Ihren Steckbrief? – Angekl.: Den las ich erst drei Wochen vor meiner Verhaftung in Rio de Janeiro. – Vors.: Sie behaupten also, Sie hatten nicht die Absicht, den Apotheker zu erschießen? – Angekl.: Keineswegs, es tat mir sofort furchtbar leid, daß ich geschossen hatte. (Der Angeklagte brach hierbei in Tränen aus.) – Vors.: Sie mußten sich aber doch sagen, wenn Sie auf den Mann schießen, dann ist die große Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß Sie ihn erschießen. – Angekl.: Überlegung hatte ich überhaupt nicht. Ich wollte auch nach den Beinen schießen, ich war aber so erregt, daß ich überhaupt kein Bewußtsein mehr hatte. – Vors.: Wenn Sie nach den Beinen geschossen hätten, dann wäre es dem Manne möglich gewesen, um Hilfe zu schreien. – Angekl.: Daran dachte ich nicht. – Vors.: Wäre es nicht möglich gewesen, ohne Schuß zu entweichen? – Angekl.: Herr Rathge war ein großer, starker Mann, der hätte uns doch wohl festgehalten. – Nitter sagte hierauf auf Befragen des Vorsitzenden: Im großen und ganzen hat Knitelius den Vorgang richtig geschildert. So drastisch berlinisch habe ich mich aber nicht ausgedrückt. Die Herren werden schon gesehen haben, daß das gar nicht meine Art ist. Ob es möglich gewesen wäre, ohne Schuß zu entkommen, weiß ich nicht. Ich bin jedenfalls der Überzeugung, daß Knitelius nicht die Absicht hatte, den Apotheker zu erschießen. – Vors.: Ist vielleicht vorher verabredet worden, sobald Sie überrascht werden, zu schießen? – Nitter: Ausgeschlossen. Ich will noch bemerken, wenn es sich um einen Einbruchsdiebstahl von Millionen gehandelt hätte, würde ich Knitelius nicht verraten haben. Es handelt sich aber um Menschenleben, da mußte ich schließlich ein offenes Geständnis ablegen. – Fräulein Bethge erklärte auf Befragen des Vorsitzenden: Knitelius war sehr jähzornig, aber eine schlechte Tat, insbesondere einen Mord, hätte sie ihm niemals zugetraut. – In derselben Weise äußerten sich noch mehrere Berliner Juwelenhändler, die seit langer Zeit mit dem Angeklagten bekannt waren. Die meisten dieser Leute schilderten den Angeklagten als sehr gutmütigen Menschen. – Der Gerichtshof beschloß darauf, den Zeugen Nitter nicht zu vereidigen. – Am siebenten Tage der Verhandlung nahm das Wort zur Schuldfrage Staatsanwalt Schütte: Meine Herren Geschwornen! Nach einer langen, anstrengenden Verhandlung stehen wir heute am Ende eines Prozesses, der in der weiten Welt Interesse erregt hat, da er ein Bild vom internationalen Verbrechertum entrollte. Dieser Prozeß hat schließlich zu einem Erfolge geführt, wie ihn niemand geahnt hat. Wir sehen auf der einen Seite einen jungen Mann aus guter Familie, der vollständig unter dem Einfluß eines schweren Verbrechers stand, auf der andern Seite den Angeklagten, der mit seltener Ruhe und Kaltblütigkeit sich verteidigt. Er leugnete alles, er kämpfte um seinen Kopf. Er verließ sich darauf, daß sein Freund und Komplice Nitter ihn retten werde. Er hatte sich zunächst nicht getäuscht. Endlich auf eindringliches Zureden eines Jugendfreundes entschloß sich Nitter, zumal er auch die Strafe des Meineids fürchtete, die volle Wahrheit zu sagen. Als dann der Angeklagte sah, daß ihn auch sein treuster Freund preisgegeben hatte, da bequemte er sich endlich am sechsten Tage der Verhandlung zu einem Zugeständnis, nicht zu einem Geständnis. Der Staatsanwalt schilderte alsdann in eingehender Weise den bekannten Vorgang vom 25. Oktober 1908. Der Angeklagte, so fuhr darauf der Staatsanwalt fort, wollte noch den Glauben hervorrufen, daß er ein gutmütiger Mensch sei. Er sagte, Nitter habe zunächst vorgeschlagen, in einen Zigarrenladen einzubrechen. Er habe aber gesagt: „Das will ich nicht, wir können doch nicht den armen Leuten die paar Pfennige wegnehmen.“ Sie wollten hierauf in die Drogenhandlung von Musche einbrechen. Aber Herr Musche war zu Hause, da mußten sie davon Abstand nehmen. Alsdann kamen sie auf dem Breiten Weg an die Hirsch-Apotheke. Dort hing ein Plakat: „Von drei Uhr nachmittags ab geschlossen.“ Der Angeklagte wollte aber, so versichert er, auch in die Apotheke nicht einbrechen. Nitter sagte jedoch: „Siehst du denn nicht, hier ist alles fort. Die Gelegenheit kann doch nicht günstiger sein. Du hast doch sonst Mut.“ Diese Äußerung Nitters hätten ihn bewogen, in die Apotheke einzudringen. Ich komme nun noch einmal auf Nitter. Dieser junge Mann wollte Schauspieler werden, sein Vater wollte das aber nicht. Er kam deshalb zu Haasenstein & Vogler als Schreiberlehrling. Darauf wurde er Bureaugehilfe im Ostmarkenverein, alsdann Annoncen- und Abonnenten-Akquisiteur und schließlich Detektiv. Sehr bald wurde er mit dem Angeklagten bekannt. Sie haben gehört, Nitter war ein Prahlhans, dessen Zunge oftmals mit ihm durchging. Er zeigte ganz offen die Einbruchswerkzeuge. Er ist offenbar erst durch den unheimlichen Einfluß, den der Angeklagte auf ihn ausübte, zum Verbrecher geworden. Nitter sagte, ich sei schuld, daß er in Breslau unschuldig verurteilt wurde, weil ich ihn in der Verhandlung gegen ihn vor der Magdeburger Strafkammer einen durch und durch verdorbenen Menschen genannt habe, der schließlich für das Zuchthaus reif geworden sei. Ich bin aber der Ansicht, daß Nitter vielleicht noch einmal ein anständiger Mensch werden kann. Ich bemerke ausdrücklich, daß ich von Nitter stets diese Ansicht gehabt habe. Nitter gab sich sogar dazu her, den Kriminalkommissar Klinghammer auszuhorchen. Er erklärte sich bereit, dem Kriminalkommissar über das Treiben des Knitelius Auskunft zu geben. Er hatte, wie er sagte, aber nur die Absicht, den Kriminalkommissar, und zwar in ausdrücklichem Auftrag von Knitelius, auszuhorchen, um zu erfahren, was die Kriminalpolizei gegen Knitelius für Maßnahmen im Auge hatte. Daraus ging doch klar hervor, daß der Angeklagte alle Ursache hatte, die Polizei zu fürchten. Nitter sagte ja auch zu einigen Leuten, er fürchte die Rache von Knitelius. Wenn er die Wahrheit sage, dann würde Knitelius pfeifen, und er noch einmal angeklagt werden, denn sie haben noch mehr auf dem Kerbholz. Aber auch der Angeklagte ist aus anständiger Familie. Er hat jedoch frühzeitig in Kreisen gefährlicher Verbrecher verkehrt, und als sehr junger Mensch viel Umgang mit der besseren weiblichen Halbwelt gehabt. Er hat stets eine geladene Schußwaffe getragen und war dringend verdächtig, sich an schweren Einbrüchen beteiligt zu haben. Er hat auch in Berlin fast ausschließlich in Lokalen verkehrt, wo die gefährlichen Verbrecher zu verkehren pflegen. Er hat niemals gearbeitet, sondern augenscheinlich Reisen bis nach Zürich unternommen, um Einbrüche zu verüben. Äußerst charakteristisch ist es, daß, als der Kriminalkommissar Klinghammer im „Café Westminster“ an Knitelius herantrat und ihm eröffnete, daß er ihn verhaften müsse, Knitelius keineswegs erschrak, sondern mit größter Ruhe sagte: „Herr Kommissar, ich wollte in den nächsten Tagen auf alle Fälle zu Ihnen aufs Präsidium kommen.“ Das tut kein Mensch, dessen Leben fleckenlos ist. Der Angeklagte galt auch in Berliner Verbrecherkreisen als internationaler reisender Einbrecher. Charakteristisch ist auch, daß der Angeklagte mit seinem Komplicen Nitter in der belebtesten Straße Magdeburgs Sonntags nachmittags in eine Apotheke einbrach. Das ist das Charakteristische der Sonntagsdiebe, sie wählen sich die belebtesten Gegenden zur Ausführung ihrer Verbrechen, weil sie wissen, daß sie in solchen Gegenden am leichtesten unter der Menge verschwinden können. Der Angeklagte hatte sich auch in dieser Beziehung nicht verrechnet. Es ist jedenfalls ein Beweis von großer Umsicht, daß Herrn Kriminalkommissar Klinghammer schon vor langer Zeit das Treiben des Knitelius derartig verdächtig erschien, daß er[WS 1] es für nötig erachtete, Knitelius eines Abends im „Café Westminster“ in Berlin zu verhaften, um ihn dem Erkennungsdienst zuzuführen. Der Umsicht Klinghammers ist es zu danken, daß nach Bekanntwerden des Mordes in Berlin sofort festgestellt werden konnte: Knitelius und kein anderer ist der Täter. – Der Staatsanwalt erläuterte alsdann in eingehender Weise die Schuldfrage vom juristischen Standpunkt und gelangte zu dem Antrag, daß ein Mord vorliegt. Der Angeklagte ist zweifellos in die Hirsch-Apotheke eingedrungen, so fuhr der Staatsanwalt fort, in der Absicht, sobald sich ein Mensch ihm entgegenstellen sollte, ihn niederzuschießen. Danach liegt Mord im Sinne des § 211 des Strafgesetzbuchs vor. Ich will hierbei bemerken: In Magdeburg ist die Ansicht verbreitet, wenn der Angeklagte nicht des Mordes für schuldig erachtet wird, dann kann er nicht bestraft werden, da er nur wegen Verdachts des Mordes ausgeliefert worden ist. Das ist ein Irrtum. Nach den Bestimmungen des Auslieferungsvertrags mit Brasilien kann auch der Angeklagte mit einer geringern Strafe bestraft werden. Ich bin am Ende meiner Ausführungen. Dank der großen Bemühungen der Untersuchungsbehörde und der technischen Fortschritte auf dem Gebiete der Photographie ist es gelungen, zwei Jahre nach der Tat den „Gymnasialoberlehrer“ in Rio de Janeiro festzunehmen und der gerechten Strafe zuzuführen. Die große Kaltblütigkeit und Ruhe, die der Angeklagte bis zum letzten Augenblick an den Tag gelegt hat, spricht zweifellos dafür, daß er auch die Tat mit Ruhe und Kaltblütigkeit begangen hat. Sorgen Sie durch Ihren Urteilsspruch dafür, meine Herren Geschwornen, daß die furchtbare Tat eine entsprechende Sühne erfährt. Milde hat der Angeklagte jedenfalls nicht verdient. Bejahen Sie die Schuldfrage wegen Mordes. – Vert. R.-A. Dr. Boré: Ich stimme dem Herrn Staatsanwalt[WS 2] bei, es ist ein schweres Verbrechen, das Ihrer Beurteilung unterliegt und eine entsprechende Strafe rechtfertigt. Ich könnte mich nicht einen Anwalt des Rechts nennen, wenn ich das in Abrede stellen wollte. Allein ein Todesurteil läßt sich weder vom juristischen noch vom menschlichen Standpunkt aus rechtfertigen. Daß der Angeklagte mit dem Vorsatz in die Hirsch-Apotheke eingedrungen ist, um einen Menschen zu töten, ist in keiner Weise erwiesen. Solange aber dieser Beweis nicht geführt ist, dürfen Sie die Schuldfrage wegen Mordes nicht bejahen. Es ist auch nicht erwiesen, daß der Angeklagte ein professionierter Einbrecher gewesen ist. Er ist jedenfalls einer solchen Tat wegen niemals auch nur angeklagt gewesen. Mit Vermutungen kann man doch nicht operieren. Der Angeklagte wußte, was ihm unter Umständen bevorsteht, er hat deshalb hartnäckig geleugnet. Das spricht aber noch nicht dafür, daß er die Absicht hatte, einen Menschen niederzuschießen. Die Tat ist ihm zweifellos vom Augenblick eingegeben worden. Der Umstand, daß er stets eine Schußwaffe bei sich trug, ist auch nichts Auffälliges. Der Angeklagte hat in Berlin in Cafés verkehrt, in denen jeder dritte Mann eine geladene Schußwaffe bei sich trägt. Ich habe nach den mehrfachen Unterredungen, die ich mit dem Angeklagten hatte, die Überzeugung erlangt, daß er noch ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft werden kann. Er bereut aufrichtig seine Tat. Ich bitte Sie deshalb, nur die Frage wegen Totschlags zu bejahen. – Der Angeklagte versicherte nochmals, daß er nicht die Absicht hatte, den Apothekenbesitzer zu erschießen, er habe im Augenblick keinen andern Ausweg gewußt und ohne jede Überlegung gehandelt. Er bereue aufrichtig seine Tat. Er habe auf dem langen Wege von Brasilien nach Magdeburg sich vorgenommen, zu leugnen und möglichste Ruhe und Kaltblütigkeit zu bewahren, da er wußte, daß er zum Tode verurteilt werden könnte. Er sei kein Jurist. Wenn er gewußt hätte, daß er nur wegen Totschlags verurteilt werden könnte, dann hätte er sofort ein offenes Geständnis abgelegt. – Die Geschwornen bejahten die Schuldfrage wegen Totschlags und auch die Schuldfrage, ob der Angeklagte bei Begehung eines Verbrechens, um ein ihm entgegenstehendes Hindernis zu beseitigen, bzw. sich der Ergreifung auf frischer Tat zu entziehen, vorsätzlich einen Menschen getötet hat. – Staatsanwalt Schütte beantragte, mit Rücksicht auf die große Gemeingefährlichkeit des Verbrechens und auf die Frivolität, mit der der Angeklagte gehandelt habe, lebenslängliche Zuchthausstrafe und dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. – Der Verteidiger, R.-A. Dr. Boré, ersuchte, dem Angeklagten, der doch zweifellos in Eingebung des Augenblicks gehandelt habe, die Möglichkeit zu lassen, wieder ein ordentlicher Mensch zu werden. Er (Vert.) bitte deshalb den Gerichtshof, auf eine zeitige Strafe zu erkennen, und zwar nicht über die Mindeststrafe von zehn Jahren hinauszugehen. – Vors.: Angeklagter, haben Sie noch etwas zu sagen? – Angekl. (nach einigem Zögern): Ich will mit meinem Verteidiger sprechen. – Der Angeklagte erklärte schließlich nach nochmaliger Frage des Vorsitzenden, daß er nichts weiter zu sagen habe. – Nach kurzer Beratung des Gerichtshofs verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Goldschmidt: Nach dem Wahrspruch der Geschwornen ist der Angeklagte im Sinne der §§ 212 und 214 des Strafgesetzbuchs schuldig. Der Gerichtshof sieht in der Tat des Angeklagten eine große Gemeingefährlichkeit und Frivolität. Der Gerichtshof hat aber dennoch von einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe Abstand genommen, da vielleicht doch die Möglichkeit vorliegt, daß der Angeklagte in der Eingebung des Augenblicks gehandelt hat. Auch will der Gerichtshof dem Angeklagten nicht die Möglichkeit nehmen, wieder ein ordentlicher Mensch zu werden. Der Gerichtshof hat deshalb den Angeklagten zu einer Zuchthausstrafe von vierzehn Jahren und zu zehn Jahren Ehrverlust verurteilt und dem Angeklagten die Kosten des Verfahrens auferlegt. Der Angeklagte ist abzuführen. – Der Angeklagte nahm das Urteil wohl mit großer Niedergeschlagenheit, aber doch mit äußerer Ruhe entgegen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: er er
  2. Vorlage: Staatsanwallt