Das Berliner Arbeitshaus
Wie jedes Haus, so hat auch die grosse Stadt ihren Kehrichtwinkel, wo der Ausschuß, das Gerümpel, der Schmutz, die Armuth und das unverschuldete Elend sich zusammenfinden. Ein solcher Kehrichtwinkel ist für Berlin das Arbeitshaus, in der Volkssprache auch der Ochsenkopf genannt. Es wurde von Friedrich dem Großen im Jahre 1742 gestiftet und zur Aufnahme von verarmten Bürgern und arbeitsscheuen Bettlern bestimmt. Zu diesem Behufe wurde anfänglich ein Haus in der Nähe des Halleschen Thores gemiethet, welches dem Schlächtergewerke angehörte und mit einer Reihe von Ochsenköpfen verziert war, woher wohl auch der Spitzname rühren mag. Erst später ließ der König das gegenwärtige Gebäude aufführen, welchem der Geheimerath Jordan, der Freund Friedrichs des Großen, längere Zeit mit großer Umsicht vorstand. Bis in die neueste Zeit fanden hier auch Criminalgefangene während ihrer Untersuchungshaft Aufnahme, erst seit Kurzem dient es ausschliesslich nur für die Armen, Gebrechlichen und zum Theil auch für diejenigen, welche ihre Strafe wegen eines leichteren Vergehens absitzen.
Das finstere Gebäude, welches seine traurige Bestimmung schon von Außen durch sein düsteres Aussehen verräth, liegt auf dem Alexanderplatze, dicht in der Nähe des früheren Königsstädtischen Theaters, das einst ausschließlich dem Dienste der heiteren Musen gewidmet war. Der Eingang zum Hause wird durch einen Militairposten bewacht. Die schweren Thüren öffnen sich und wir werden von dem Pförtner nach der Inspection gewiesen, um daselbst die nöthige Erlaubniß zur Besichtigung der Anstalt nachzusuchen. Wir fanden mehrere Beamte, darunter einen Sträfling in seiner grauen Jacke von Leinwand, der hier die Dienste eines Boten oder Schreibers zu verrichten schien und bereits ein komisch bureaukratisches Wesen angenommen hatte. Der wackere Inspector wies uns, da er selbst beschäftigt war, an den jungen Arzt, der mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit sich zum Führer hergab und uns auf dieser mehrstündigen Wanderung begleitete. Dieselbe war uns interessanter als die Besichtigung manches fürstlichen Lustschlosses und mancher kunstreichen Gallerie. Wir gingen durch dieses Palais der Armuth, durch diese Gallerie des menschlichen Elendes. Welche Bilder wurden uns hier geboten, wie sie weder die düstere Phantasie des unsterblichen Dante, noch der wilde Pinsel eines Höllen-Breughel phantastischer und verzweiflungsvoller zu malen im Stande war.
Zunächst gelangten wir in einen Keller, wo eine Anzahl von Wahnsinnigen mit Anfertigung von Strohmatten beschäftigt wurde. Meist waren es Reconvalescenten oder nur leichtere Fälle; sie schienen sich in dem kühlen Raume, während draußen die Julisonne brannte, ganz wohl und behaglich zu fühlen; obgleich der äußere Anschein allzuleicht trügen kann. Gestern hatte sich erst einer aus ihrer Zahl in demselben Keller an einen Nagel in der Wand gehängt, den uns der Arzt zeigte. Der Unglückliche hatte in seinem Wahnsinn zwei seiner Kinder früher ermordet; aus der Charité vollkommen geheilt entlassen, war er in das Arbeitshaus gekommen, [465] weil er keine Beschäftigung fand. Dort verweilte er ruhig und ohne seinen Entschluß durch schwermüthiges Aussehen oder durch eine Miene zu verrathen, zwei Tage; am dritten endete er freiwillig sein elendes Leben. Nahe an vierhundert Wahnsinnige enthält die Anstalt, an welcher der bekannte Irrenarzt Professor Leubuscher in Jena mehrere Jahre wirkte und so Gelegenheit fand, hinlängliche Studien zu machen.
Unter diesen Irren erregte ein blödsinniger Knabe vorzugsweise unsere Aufmerksamkeit. Sein nicht unschönes Gesicht trug den Stempel der vollkommenen Thierheit; er sprach nicht, sondern drückte nur durch unarticulirte Laute seine Bedürfnisse aus. Mit glanzlosen Augen starrte er uns an und stieß bei unserer Annäherung ein unverständliches Geheul aus. Bemerkenswerth war die niedere, plattgedrückte Stirn, der flache Schädel und das kurze Hinterhaupt; Zeichen, welche auf eine mangelhafte Ausbildung des Gehirns mit Recht schließen ließen. In seiner Nähe lag ein durch sinnliche Ausschweifungen ruinirter Mensch, ein Kaufmann, der ebenfalls in einem Anfalle von Wahnsinn sein einziges Kind getödtet hatte. Er blickte stumpfsinnig vor sich hin und murmelte, als wir an ihm vorübergingen, einige Worte, welche wie eine Bitte um Schnupftaback klangen.
Auf der Abtheilung, welche für die weiblichen Patienten bestimmt ist, fanden wir ein schönes, blondes Mädchen von sechszehn Jahren, welches eine auffallende Aehnlichkeit mit der berühmten Künstlerin Marie Seebach zeigte; sie erinnerte uns besonders an deren „Gretchen“ in Goethes Faust. Auf der Treppe hielt uns noch eine Frau mit ihrem tollen Geschwätze auf: sie bildete sich nämlich ein, daß wir von der Kaiserin von Rußland an sie abgeschickt wären, und ließ uns nur auf die strenge Ermahnung des von ihr gefürchteten Arztes los.
Ueber einen der vielen Höfe gelangten wir nach den folgenden Sälen, wo die unheilbaren Kranken, die Hospitaliten liegen, und das Lazareth sich befindet. Im Vorübergehen warfen wir noch einen Blick auf die Tretmühle, wo von den Gefangenen Gyps zum Düngen zerstossen wird. Die Arbeit ist beschwerlich, einförmig und verlangt gesunde Lungen. Dicht daneben steht ein kleines Gebäude von Holz, worin die Prügelstrafe an den Schuldigen vollzogen wird, welche sich gegen die Gesetze oder die Hausordnung der Anstalt vergehen. In der Mitte steht eine lederne Bank mit Riemen zum Anschnallen versehen, worauf der Delinquent ausgestreckt wird. An den Wänden hängen in einer gewissen Reihenfolge die nöthigen Instrumente zur Züchtigung, Ochsenziemer von ansehnlicher Stärke und Stöcke von jedem Kaliber. Der Vollstrecker des Urtheils, ein großer und starker Mann, der sich durch seine rothe Nase noch ganz besonders auszeichnete, gab uns die tröstliche Versicherung, daß der dickste Ochsenziemer, der uns einen wahren Schauder einflößte, im Ganzen nur sehr selten zur Anwendung komme. Für die hier herrschende Humanität legte auch die Angabe des Arztes das beste [466] Zeugniß ab, daß im ganzen Laufe seiner dreijährigen Thätigkeit erst zwei Bewohner der Anstalt heimlich entwichen seien. Auf einem zweiten Hofe, den wir zu passiren hatten, lag die Todtenkammer. Wir sahen hier einen einfachen Holztisch, auf welchem die Sectionen der Leichen vorgenommen werden. In einem Winkel standen zwei ärmliche, schwarz angestrichene Särge, welche die sterblichen Reste zweier Todten enthielten, die heute noch begraben werden sollten. Sie hatten ausgerungen, ein Leben voll Elend mit Jammer beschlossen; bald werden sie in der kühlen Erde auf dem Armenkirchhof ruhen. Nicht der Tod, sondern das Leben unter solchen Verhältnissen ist das Schrecklichste.
Neben der Leichenkammer befindet sich eine Vorrichtung zum Reinigen der Kleider. Dieselben werden einem hohen Wärmegrade ausgesetzt, um durch die Hitze alle ansteckenden Stoffe, durch welche sie oft verunreinigt sind, zu entfernen. Die Operation wird natürlich von einem mephitischen Geruch begleitet. Dieser, so wie die Ausdünstungen der Todtenkammer, welche sich in der Nähe des Lazareths befindet, sind ein großer Uebelstand für das letztere und gaben dem Arzte mit Recht Veranlassung zu Beschwerden. Leider erlaubt es die Lage der Anstalt und ihre Mittel nicht, diese Uebelstände zu beseitigen, obgleich eine schleunige Abhülfe dringend Noth thut. In den Krankenhäusern selbst herrscht der größte Grad von Reinlichkeit; die Bettstellen sind von Eisen und jeder Patient hat seine Matratze und eine warme wollene Decke. Hier werden nur solche unheilbare Kranke vorgenommen, welche durchaus keine Mittel haben, sich in eine andere Anstalt aufnehmen und verpflegen zu lassen. Wahrhaftes Mitleid flößte uns ein geschickter Mechanikus ein, der an Händen und Füßen gelähmt hülflos an sein Lager gefesselt war. Er gehörte einer angesehenen Familie an, deren Name in der gelehrten Welt als geachtete physikalische Arbeiter einen guten Klang hat. Er selbst war durch sein Mißgeschick so sehr heruntergekommen, daß er im Arbeitshause eine Zuflucht suchen mußte, wo er wohl bis zu seinem Ende bleiben wird. Noch schrecklicher schien uns das Loos jener unglücklichen, alten Frau, deren Gesicht und Augen bereits vom unheilbaren Krebse entsetzlich zerstört waren. Sie saß, von fürchterlichen Schmerzen gepeinigt, halb aufrecht in ihrem Bette, das Antlitz mit einem dunkelbraunen Tuche verhangen, um den Uebrigen den scheußlichen Anblick zu entziehen. Auf demselben Flur besuchten wir die Kirche der Anstalt, worin der angestellte Prediger jeden Sonntag mit dieser Gemeinde von Armen, Gebrechlichen, Verirrten und Schuldigen den Gottesdienst abhält. Wenn irgendwohin, so gehört die Religion mit ihrem Troste in diesen Aufenthalt des Jammers und meist selbstverschuldeten Unglücks. Der Betsaal ist im höchsten Grade einfach; nackte kahle Wände, weiß angestrichene Bänke, ein schlichter Altar mit dem Bild des Gekreuzigten bilden den ganzen Schmuck. Hier kommen wirklich Alle her, welche mühselig und beladen sind, wie es im Evangelium heißt. Aber es ist ein steinig harter Boden, auf den das Wort Gottes fällt; versteckte Herzen, verhärtete Gemüther, abgestumpft durch die Noth, das Verbrechen und den thierischen Genuß; für alle edleren Gefühle, für jedes Streben nach dem Höheren verloren. Eine traurige Kirche für eine noch traurigere Gemeinde!
Wir warfen einen Blick durch das Fenster auf den unten liegenden Hof, wo eine Anzahl von Mädchen ihre Freistunden genossen. Sie waren in braune Jacken gekleidet, einzelne trugen einen gelben Streifen auf der Schulter, zum Zeichen, daß sie rückfällig geworden. Ein Blick auf das freche Treiben der Dirnen, ihr schamloses Gelächter, ihre gemeinen Späße, die zu uns emporschallten, verriethen sogleich ihre bürgerlich entehrte Stellung. Es waren dies die Prostituirten. Den Meisten stand ihr Gewerbe und Laster auf der Stirn geschrieben; sie kokettirten noch in ihren Sträflingskleidern und ließen ihre Augen frech im Kreise umher schweifen. Gestern noch in rauschender Seide und Champagner schlürfend, büßen sie heute im Arbeitshause den Taumel der durchschwelgten Nacht. Ihr Gelächter gilt einer neuen Collegin, welche so eben erst von der Polizei eingebracht und mit niedergeschlagenen Augen, beschämt und traurig über ihr Schicksal nachdenkt. Sie wendet sich mit Entrüstung von den frechen Dirnen weg und faltet still die Hände, während ihre Leidensgefährtinnen sie mit Spottreden übergießen. Bald wird sie sich jedoch mit ihnen befreunden und den letzten Rest von Scham verlieren. Der gefällige Arzt sagte uns, daß nach seiner Erfahrung derartige Mädchen meist noch verdorbener die Anstalt verlassen, als sie hineingekommen sind. Bei ihrem Austritte werden sie von einer Schaar alter Weiber erwartet, welche die Entlassenen mit den nöthigen Kleidern versehen. Noch an demselben Abend kann man sie in den Straßen und an verschiedenen öffentlichen Vergnügungslocalen herumstreifen sehen. Die noch am Morgen Wolle gezupft, erblickt man in der Dämmerstunde im höchsten Staat ihr schamloses Gewerbe treiben, bis die Polizei sie von Neuem aufgreift und in das Arbeitshaus abliefert.
Wir wenden uns von diesem Auswurf der Gesellschaft zu einem erfreulicheren Bilde, In einem kleinen, hellen Zimmer finden wir einige Knaben von zehn bis zwölf Jahren mit frischen Kindergesichtern, welche sich mit Anfertigung von Cigarrenkisten und ähnlichen leichten Arbeiten beschäftigen. Es sind dies entweder kleine Herumtreiber oder obdachlose Kinder, welche ein vorläufiges Unterkommen finden. Was die Hauptsache ist, sie lernen hier arbeiten und mancher kleine Tagedieb verläßt die Anstalt um ein Gewerbe bereichert, das ihm im späteren Leben zu Nutzcn kommt. Auch für den übrigen Unterricht wird durch einen Lehrer gesorgt, der mit den Kindern in einem der Säle förmlich Schule hält. Die erwachsenen Anwohner werden ebenfalls in der verschiedensten Weise beschäftigt. Da gibt es vollkommene Schuster- und Schneider-Werkstätten, wo fleißig den ganzen Tag genäht und geflickt werden muß. Auch hier finden wir junge Leute, welche dazu angehalten werden, unter Anleitung eines ordentlichen Meisters ein Handwerk zu lernen. Es gibt indessen einzelne, unverbesserliche Taugenichtse, welche eine wahre Arbeitsscheu besitzen, eine fast krankhafte Manie gegen jede Beschäftigung, kaum entlassen, werden sie wieder wegen Herumtreibens eingebracht; sie sind die Habitué’s der Anstalt, und Mancher bringt hier den größten Theil seiner Jugend zu, seine Heimath ist das Arbeitshaus abwechselnd mit dem Criminalgefängnisse. In der nahen Berührung mit ehemaligen Sträflingen, entlassenen Verbrechern aller Art bilden sich in solcher Umgebung die zukünftigen Spitzbuben, wo nicht Mörder aus. Nur durch die strengste Sonderung, welche sich leider bei dem beschränkten Raume nicht durchführen läßt, dürfte es möglich sein, die Ansteckung des Lasters zu verhindern.
Die Uebrigen, welche nicht ein Handwerk treiben, beschäftigen sich mit Krempeln der Wolle, Spinnen, Anfertigen von Matten; die Frauen und Gebrechlichen mit leichteren Arbeiten, wie das Einschlagen von Seifen, Dütendrehen u. s. w. Unter den alten Leuten trafen wir neben wahrhaft ehrwürdigen Gesichtern eine Reihe von vollkommen verlebten und verwitterten Gestalten, unverbesserliche Trunkenbolde mit rothen Nasen, gefährliche Gauner, welche die Schwäche des Alters einzig und allein dem Verbrechen entzogen hat, gebrochene Existenzen, verlorene Menschen aller Art. Ein Maler und ein Dichter würden hier hinreichenden Stoff finden, wenn sie sich die Schicksale der Einzelnen erzählen ließen. Dort der Greis, welcher mit zitternden Händen jetzt Roßhaare zupft, war einst ein reicher Verschwender, der Tausende mit seinen Zechbrüdern und schönen Frauen verpraßt hat. Eines Tages waren seine Taschen leer, seine Freunde verschwunden, die schönen Frauen kannten ihn nicht mehr, und er erwachte von seinem Rausch im Arbeitshause. Sein Nachbar war einst ein geachteter Kaufmann, der sich aus Verzweiflung über eine mißglückte Speculation dem Trunk ergeben hat. Er ist seit einigen Tagen von der Polizei eingebracht worden, die ihn im Rinnstein liegend fand. Der rückfällige Bettler an der Ecke hat wie König Lear sein ganzes Vermögen noch bei seinem Leben auf die Erziehung und Einrichtung seiner Kinder gewendet. Zum Danke lassen sie ihn jetzt im Arbeitshause sitzen. Jene welke Frau mit den Runzeln im Gesicht war einst die gefeiertste Schönheit der Residenz, die Geliebte eines Fürsten. Als er das Verhältniß löste, sank sie schnell von Stufe zu Stufe; sie wurde zuletzt Lumpensammlerin, aber ihr trauriges Gewerbe konnte sie nicht ernähren, weshalb sie ihre Zuflucht zur Anstalt nehmen mußte. Welche Mysterien verbirgt das Arbeitshaus, welche wunderbare Schicksale, welch eine Fülle von interessanten Begebenheiten. Ein Besuch desselben lehrt mehr, als die längste Predigt, mehr als alle Vorschriften der Moral.
Neben dem verschuldeten Unglück gibt es aber auch so manches unverschuldete Elend. Eine eigene Abtheilung bilden die obdachlosen Familien, welche hier einstweilen ein Unterkommen finden. An jedem Quartal, bei jedem Wohnungswechsel werden in Berlin eine Menge armer Leute obdachlos; theils weil sie nicht die verhältnißmäßig theuren Miethen bezahlen können, theils weil sie den Segen [467] der Armuth, eine allzu zahlreiche Nachkommenschaft, besitzen. Die meisten Wirthe in Berlin vermiethen ihre Wohnung nur an kinderlose Leute oder an solche, die nicht mehr als zwei oder drei Kinder haben. Diese Grausamkeit setzt viele Familien in die traurigste Verlegenheit. Mit Schrecken sehen sie den Ersten des Monats nahen, sie können keine Wohnung finden. Verzweiflungsvoll irren sie umher, suchen Tage, selbst Wochen lang, ohne ein Quartier zu bekommen. Wo sie anpochen, werden sie zurückgewiesen, wo sie anfragen, werden sie abschläglich beschieden. Sie wollen gern pünktlich ihre Miethe zahlen, aber der Hauswirth bleibt unerbittlich; er nimmt sie nicht auf, weil sie so glücklich oder unglücklich sind, Kinder zu besitzen, So naht der gefürchtete Augenblick heran, sie müssen ziehen, und wissen nicht, wohin. Oft mit Gewalt aus ihrer früheren Wohnung herausgestoßen, nirgends aufgenommen, lagern sie mit ihrem jämmerlichen Mobiliar unter dem freien Himmel in der dunklen Nacht, bis die Polizei oder der Bezirksvorsteher ihre Aufnahme in das Arbeitshaus vermittelt. Dies passirt nicht nur den Armen, sondern auch zuweilen dem ehrlichen Handwerker, dem fleißigen Arbeiter, dem dadurch seine Kinder zur Last werden müssen. Mehrere derartige Familien, deren Anzahl besonders im Winter sich auf Hunderte und mehr beläuft, lernten wir im Arbeitshause kennen.
Da war das Weib eines Holzhauers mit ihren Kleinen. Die bleiche, abgehärmte Frau trug das jüngste auf dem Arm. Ein Knabe und ein Mädchen trieben sich in dem großen Saale herum, und spielten mit einander Verstecken; sie kümmerten sich nicht um die Noth der Eltern. Stumpfsinnig saß die alte Großmutter auf dem Stuhl mit gefalteten Händen; auch ihr war es gleichgültig, wo sie war, wenn sie nur ein Plätzchen und eine Brodrinde zum Kauen fand. Um so trüber war die Frau, sie weinte, als sie mit uns sprach. Der Gedanke, im Arbeitshause sitzen zu müssen, kam ihr gar zu schrecklich, fast unerträglich vor; es dünkte ihr eine Schande, da sie ein feines Ehrgefühl zu besitzen schien.
„Mein Mann,“ sagte sie, „ist fortgegangen, um sich Arbeit zu verschaffen. Er ist gar fleißig und ein braver Mensch Er hat mir versprochen, sich auch nach einer Wohnung umzusehen. Ich halte es hier nicht aus.“
„Werden Sie denn im Arbeitshause schlecht behandelt?“ fragte ich die Unglückliche.
„Gott behüte! Die Stuben sind reinlich, die Betten warm und gut, das Essen vollauf, aber ich möchte doch nicht hier leben wollen. Es ist ganz anders in seinen vier Pfählen, wo man sein eigener Herr ist. Auch mag ich nicht von anderer Leute Gnade und auf Kosten der Commune leben; lieber will ich und mein Mann arbeiten, bis uns das Blut zu den Fingern herausspritzt. Wenn nur die Kinder nicht wären, so hätten wir längst schon ein Quartier gefunden.“
Dabei warf sie einen traurigen Blick auf die zahlreiche Familie. Die alte Großmutter nickte mit dem wackeligen Kinn, und die Kinder lachten laut bei ihren Spielen.
Wir nahmen tief bewegt Abschied von der armen Frau, und gingen nach dem Speisesaal, wo die Bewohner des Arbeitshauses an langen Tafeln ihr Mittagsbrod einnahmen. Dasselbe besteht aus einer Suppe und Hülsenfrüchten, Erbsen, Bohnen, Kartoffeln u. s. w. Fleisch gibt es nur einmal im Jahre und zwar am Geburtstag des Königs. Für die Kranken wird besonders nach Anordnung des Arztes gekocht. Jeder erhält eine genügende Portion von einem gut ausgebackenen Brod, das in drei verschiedenen Qualitäten vorhanden ist. Hinter einem Verschlage waren gewiß tausend solcher Rationen für den heutigen Tisch bereits geschnitten und aufgespeichert.
Durchschnittlich leben im Arbeitshause täglich 900 bis 1000 Personen, darunter 350 Hospitaliten. Im Jahre 1856 enthielt die Anstalt Arrestanten und Corrigenden 3171 Männer und 2416 Weiber, zusammen 5587 Personen; obdachlose Familien 1195 Personen und außerdem noch an Einzelnen ohne Anhang 317. Im Ganzen wurden 8530 Menschen verpflegt und 344,888 Personen, nach Tagen berechnet, beherbergt und verköstigt. Die Gesammtkosten betrugen 69,045 Thaler 29 Sgr., also durchschnittlich für den Kopf jährlich 73 Thaler 8 Sgr. und 11 Pf., oder täglich 6 Sgr. Durch Arbeit verdiente die Anstalt 16,969 Thlr. 1 Sgr. 2 Pf. Von den eingelieferten Personen sind 2116 einmal, 646 zweimal, 393 dreimal, 139 viermal, 82 fünfmal, 40 sechsmal, 21 siebenmal, 7 achtmal, 3 neunmal, 14 zehnmal, 1 elfmal zur Anstalt gekommen. An Kindern waren 403 Knaben und 400 Mädchen, unheilbare Geisteskranke durchschnittlich täglich 489 vorhanden. Im Lazareth der Anstalt befanden sich durchschnittlich 40 Personen.
Im Ganzen zeichnet sich das Arbeitshaus durch musterhafte Ordnung und Reinlichkeit, sowie durch die anerkannte Humanität der vorgesetzten Beamten aus. Leider aber sind Uebelstände vorhanden, welche sich bei den beschränkten Räumlichkeiten nicht vermeiden lassen. Dazu rechnen wir hauptsächlich das dadurch bedingte vielfache Zusammenleben von bescholtenen und unbescholtenen Personen. Abgesehen von der Ehrenkränkung, welche dadurch den letzteren bereitet wird, leistet dieser Umstand der Ansteckung und Verbreitung des Lasters und der Verbrechen den größten Vorschub. Wie kränkend muß es nicht dem ehrlichen Arbeiter, der verständigen Frau sein, neben dem bestraften Delinquenten oder der öffentlichen Dirne zu verweilen! Welch ein Beispiel für die schuldlosen Kinder, für die so leicht verführbare Jugend!
Dieser Mangel und die schlechte Lage des Lazarethes wurden mit Recht von den Berliner Stadtverordneten gerügt und die Gründung eines allgemeinen, städtischen Siechenhauses stark befürwortet. Das Sterblichkeitsverhältniß ist trotz der Menge unheilbarer Kranker im Ganzen ein günstiges zu nennen, da es nicht mehr als 25/6 pCt. beträgt.
Gewiß gehört das Berliner Arbeitshaus zu den interessantesten Instituten der Residenz; es vereint nur zu viele und gänzlich verschiedene Elemente, indem es zugleich als Lazareth für die Kranken, als Correctionshaus für die geringeren Verbrecher und Arbeitsscheuen, als Strafort für die liederlichen Dirnen, als Asyl für das gebrechliche Alter und für die obdachlosen Familien dienen muß. Dazu reichen weder die vorhandenen Räume, noch die bisher verausgabten Mittel aus. Gegenwärtig ist das Arbeitshaus gleichsam die allgemeine Kloake für den moralischen Unrath der grossen Stadt, der Kehrichthaufen, wo sich die Lumpen und der Schmutz, die verlorenen Existenzen und untergegangenen Menschenruinen zusammen finden.
Unter den bemerkenswerthen Bewohnern desselben befand sich auch vor einiger Zeit der Prinz Leo von Armenien, der hier als verdächtiger Herumtreiber, ob mit Recht oder Unrecht, wagen wir nicht zu entscheiden, festgehalten wurde. Der junge und gebildete Aventurier machte nach der Schilderung des unparteiischen Arztes einen durchaus günstigen Eindruck; er sprach geläufig mehrere lebende Sprachen, und besaß wirklich nicht gewöhnliche Kenntnisse. Sein Benehmen war bescheiden und würdevoll. Bis zum letzten Augenblicke behauptete er seine fürstliche Abkunft: er wurde wegen mangelnder Beweise entlassen, und ohne richterliches Verfahren einfach von der Polizei ausgewiesen.
Auf der Rückkehr aus dem Arbeitshause trafen wir vor der Thür desselben einen Möbelwagen, der soeben ausgeladen wurde. Der dürftige Hausrath lag herum auf der Erde zerstreut, ein alter, gebrechlicher Küchenschrank, eine Bank, ein Tisch und ein Waschfaß. Daneben stand ein kräftiger Mann, und half mit freudestrahlendem Gesicht, trotzdem ihm bei der Arbeit der Schweiß über die Stirn lief. Auf unser Befragen erfuhren wir, daß es der brave Holzhacker war. Er hatte endlich eine Wohunug für sich und die Seinigen bei einem Hauswirth gefunden, der kein Kinderfeind war. Nun fühlte er sich erst wieder glücklich, da er das Arbeitshaus verlassen konnte.
„Alles gut,“ sagte er, „aber wer noch seine gesunden Glieder hat und eine Hand rühren kann, der wird nicht hier im Ochsenkopf zwischen Kranken, Krüppeln und Spitzbuben sitzen.“
So äußert sich der gesunde Volkssinn über das Berliner Arbeitshaus.