Daheim (Die Gartenlaube 1895/45)
[771] Daheim. (Zu dem Bilde S. 757.) Glücklich sieht sie nicht aus, die schöne junge Frau, die hier im holzgetäfelten Erkerzimmer allein den Sonntagnachmittag zubringt. Ihre Blicke haften auf den Seiten des alten Gebetbüchleins, aber es dauert lange, bis eine davon umgeschlagen wird, denn die Gedanken sind nicht dabei. Sie wandern weit, weit zurück in die sonnige Jugendzeit, wo man so glücklich im Elternhaus mit Geschwistern und Gespielen war, sie folgen einem dieser Gespielen, der früh ins Welschland zog und am Abend des Abschieds ihr ins Ohr sagte: Warte auf mich, Regina, ich komme in Jahr und Tag wieder! Er ist nicht wiedergekommen – die Eltern haben sie an den reichen jungen Bürgermeister verheiratet und sagten, es sei ein großes Glück für sie, auch alle anderen sagten es und Regina glaubt es selbst in Demut und Gehorsam. Nur wenn sie ganz allein ist, an so einem stillen Sonntag, da überkommt es sie seltsam mit Gedanken und Erinnerungen, die sie keinem andern Menschen sagen möchte. Deshalb bleibt sie gern daheim, wenn draußen vor dem Thore Tanz oder Vogelschießen ist; die Basen und Freundinnen wundern sich darüber, aber was würden sie erst sagen, wenn sie wüßten, daß diese einsamen Erinnerungsträume das Beste von dem Glück der vielbeneideten reichen jungen Bürgermeisterin sind! Ob sie selber weiß, daß sie eine von den vielen ist, welche sterben werden, ohne recht gelebt zu haben? … Ihr schönes Bild sieht uns wie eine wehmütige Frage danach an. Bn.