Critik der reinen Vernunft (1781)/A. Erste Analogie. Grundsatz der Beharrlichkeit.
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Alle Erscheinungen enthalten das Beharrliche (Substanz) als den Gegenstand selbst, und das Wandelbare, als dessen blosse Bestimmung, d. i. eine Art, wie der Gegenstand existirt.
Alle Erscheinungen sind in der Zeit. Diese kan auf zweyfache Weise das Verhältniß im Daseyn derselben bestimmen, entweder so fern sie nach einander oder zugleich seyn. In Betracht der ersteren, wird die Zeit, als Zeitreihe, in Ansehung der zweyten als Zeitumfang betrachtet.
Unsere Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung ist iederzeit succeßiv, und ist also immer wechselnd. Wir können also dadurch allein niemals bestimmen, ob dieses Mannigfaltige, als Gegenstand der Erfahrung, zugleich sey, oder nach einander folge, wo an ihr nicht etwas zum Grunde liegt, was iederzeit ist, d. i. etwas Bleibendes und Beharrliches, von welchem aller Wechsel und Zugleichseyn nichts, als so viel Arten (modi der Zeit) seyn, wie das Beharrliche existirt. Nur in dem Beharrlichen sind also Zeitverhältnisse möglich, (denn Simultaneität und Succeßion sind die einzige Verhältnisse in der Zeit)| d. i. das Beharrliche ist das Substratum der empirischen Vorstellung der Zeit selbst, an welchem alle Zeitbestimmung allein möglich ist. Die Beharrlichkeit drükt überhaupt die Zeit, als das beständige Correlatum alles Daseyns der Erscheinungen, alles Wechsels und aller Begleitung, aus. Denn der Wechsel trift die Zeit selbst nicht, sondern nur die Erscheinungen in der Zeit, (so wie das Zugleichseyn nicht ein modus der Zeit selbst ist, als in welcher gar keine Theile zugleich, sondern alle nach einander seyn). Wollte man der Zeit selbst eine Folge nach einander beylegen, so müßte man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wäre. Durch das Beharrliche allein bekömt das Daseyn in verschiedenen Theilen der Zeitreihe nach einander eine Grösse, die man Dauer nent. Denn in der blossen Folge allein ist das Daseyn immer verschwindend und anhebend, und hat niemals die mindeste Grösse. Ohne dieses Beharrliche ist also kein Zeitverhältniß. Nun kan die Zeit an sich selbst nicht wahrgenommen werden; mithin ist dieses Beharrliche an den Erscheinungen das Substratum aller Zeitbestimmung, folglich auch die Bedingung der Möglichkeit aller synthetischen Einheit der Wahrnehmungen, d. i. der Erfahrung, und an diesem Beharrlichen kan alles Daseyn, und aller Wechsel in der Zeit nur als ein modus der Existenz dessen, was bleibt, und beharrt, angesehen werden. Also ist in allen Erscheinungen das Beharrliche der Gegenstand selbst, d. i. die Substanz (phaenomenon), alles aber, was wechselt,| oder wechseln kan, gehört nur zu der Art, wie diese Substanz oder Substanzen existiren, mithin zu ihren Bestimmungen.Auf dieser Beharrlichkeit gründet sich nun auch die Berichtigung des Begriffs von Veränderung. Entstehen und Vergehen sind nicht Veränderungen desienigen, was entsteht oder vergeht. Veränderung ist eine Art zu existiren, welche auf eine andere Art zu existiren eben desselben Gegenstandes erfolget. Daher ist alles, was sich verändert, bleibend, und nur sein Zustand wechselt. Da dieser Wechsel also nur die Bestimmungen trift, die aufhören oder auch anheben können; so können wir, in einem etwas paradox scheinenden Ausdruck sagen: nur das Beharrliche (die Substanz) wird verändert, das Wandelbare erleidet keine Veränderung, sondern einen Wechsel, da einige Bestimmungen aufhören, und andre anheben.
| Veränderung kan daher nur an Substanzen wahrgenommen werden, und das Entstehen oder Vergehen, schlechthin, ohne daß es blos eine Bestimmung des Beharrlichen betreffe, kan gar keine mögliche Wahrnehmung seyn, weil eben dieses Beharrliche die Vorstellung von dem Uebergange aus einem Zustande in den andern, und von Nichtseyn, zum Seyn, möglich macht, die also nur als wechselnde Bestimmungen dessen, was bleibt, empirisch erkant werden können. Nehmet an, daß etwas schlechthin anfange zu seyn; so müßt ihr einen Zeitpunct haben, indem es nicht war. Woran wollt ihr aber diesen heften, wenn nicht an demienigen, was schon da ist? Denn eine leere Zeit, die vorherginge, ist kein Gegenstand der Wahrnehmung; knüpft ihr dieses Entstehen aber an Dinge, die vorher waren, und bis zu dem, was entsteht, fortdauren, so war das leztere nur eine Bestimmung des ersteren, als des Beharrlichen. Eben so ist es auch mit dem Vergehen: denn dieses sezt die empirische Vorstellung einer Zeit voraus, da eine Erscheinung nicht mehr ist.So ist demnach die Beharrlichkeit eine nothwendige Bedingung, unter welcher allein Erscheinungen, als Dinge oder Gegenstände, in einer möglichen Erfahrung bestimbar sind. Was aber das empirische Criterium dieser nothwendigen Beharrlichkeit und mit ihr der Substanzialität der Erscheinungen sey, davon wird uns die Folge Gelegenheit geben, das Nöthige anzumerken.
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