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Crescentia und ihre Schwestern

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Textdaten
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Autor: Ludwig Neuffer
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Titel: Crescentia und ihre Schwestern
Untertitel:
aus: Taschenbuch von der Donau. Auf das Jahr 1824, S. 1–56
Herausgeber: Ludwig Neuffer
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1823
Verlag: Stettinische Buchhandlung
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Erscheinungsort: Ulm
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Originaltitel:
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Quelle: Exemplar der HAAB Weimar auf Commons
Kurzbeschreibung:
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[1]
Crescentia
und ihre Schwestern.
Ein Familiengemälde
von
Ludwig Neuffer.


[3]
1.

Der Amtmann Hellborn von Buchenau gab zu Ehren seiner Freunde und Bekannten in der Nachbarschaft ein kleines ländliches Freudenfest, zu welchem auch ich, als ein Schulfreund und Verwandter des Mannes, eingeladen wurde. Da ich einige Stunden zu reisen hatte, traf ich bei meiner Ankunft schon eine zahlreiche Gesellschaft von Honoratioren der Gegend an, und hatte noch eben Zeit, mich zum Essen niederzusetzen, das im Gartensaal aufgetragen wurde. Es war ein sehr schöner Sommertag, unsre Herzen waren heiter, wie der Himmel über uns, und ein reines Vergnügen herrschte in unserm freundschaftlichen Kreise.

Die Mahlzeit war noch nicht ganz geendet, als ein Frauenzimmer hereintrat und ohne viele Umstände sich [4] auf dem nächsten ledigen Platze niederließ. Sobald sie Posto gefaßt hatte, ließ sie gegen Hellborn sich etwas unzart also verlauten: „Sie haben mich zwar nicht eingeladen, Herr Schwager; allein ich dachte, ungebetene Gäste sind die liebsten, und kam von selber.“ – Hellborn entschuldigte sich etwas verlegen, daß er von ihrer Anwesenheit in der Gegend nichts gewußt habe, wendete sodann sich an die Gesellschaft und sprach: „Ich habe hiemit die Ehre, Ihnen die Fräulein Crescentia Fraser vorzustellen, eine Schwester meiner Frau.“ Wir verbeugten uns alle aufs höflichste; sie aber schien unsere Höflichkeit als einen Tribut der Schuldigkeit anzunehmen.

Crescentia war eine Art alter Jungfer, schlank wie eine Spindel, und ernsthaft wie eine Duenna. Sie war nicht mehr fern von der trüben Zeit des Herbstes, wo sich die Tage einstellen, die nicht gefallen, und die Zugvögel sich zum Abschied rüsten. Ihre Wangen, sonst ein schwellendes Rosenbette, nahmen eine Richtung nach innen, vermuthlich weil sie mit der gottlosen Welt nichts mehr mochten zu thun haben, und die Lippen, sonst immer bereit, zwo Reihen glänzendes Elfenbein zu enthüllen, beeiferten sich, die Verheerungen der Zeit mit weiser Sorgfalt zu verbergen. Aus diesem Grunde öffnete sie im Gespräche den Mund so wenig, wie möglich, und selbst bei einem freundlichen Lächeln zogen sich die Lippen

[4a]


[5] nur in die Länge. Die Amtmännin war bei Crescentias Ankunft nicht im Gartensaale, weil sie den Nachtisch besorgte, diese aber fragte nicht im mindesten nach der abwesenden Schwester, sondern nöthigte einen jungen Geistlichen, dem sie der Zufall an die Seite geworfen hatte, zu einem Gespräche über die Naturphilosophie, welche eben ihr Lieblingsstudium zu seyn schien.

Indeß kehrte die Amtmännin zur Gesellschaft zurück, und ging, da sie ihre Schwester gewahrte, herzlich auf sie zu, um sie zu umarmen, Crescentia aber reichte ihr ganz kalt die konkave Seite des Backens zum Kusse, ohne selbst den Kuß zu erwiedern. Der Geistliche glaubte nun, dem unwillkommenen Gespräche entwischen zu können, allein vergebens. Sie ließ ihren Mann nicht fahren, und kramte, zu schlechter Erbauung der Gesellschaft, den armseligen Plunder ihres Afterwissens aus. Man bot den Nachtisch herum. So oft der Teller an Crescentia kam, warf sie die ganze Ladung unter einander, ehe sie nahm, was ihr beliebte, den genommenen Vorrath aber zerbröckelte sie mehr, als sie ihn kostete. Als man ihr den Kaffee reichte, griff sie so lange in die Zuckerbüchse, bis ihre Tasse ganz voll von Zucker war. Den vor ihr stehenden Kelch füllte sie ohne Bedenken mehrmals mit süßem Weine, und tauchte Biskuit hinein. Sie hatte durchaus viel Sonderbares [6] und Auffallendes, selbst in ihrem Anzug, denn dieser war ein Gemisch von Mode und Phantasie.

Ich kann nicht läugnen, daß mir diese Fräulein Crescentia ein Stein des Anstoßes wurde; doch als sie sich endlich gar auch für mich zu interessiren schien, war’s um die Heiterkeit meiner Laune geschehen. Mißmuthig suchte ich ihren Fragen und Anmerkungen auszuweichen; da aber die Störungen meiner Freiheit nicht aufhören wollten, benützte ich die erste Gelegenheit, mich zu entfernen. Stillschweigend und, wie ich meinte, ungesehen verließ ich den Saal, um mich zur Heimreise anzuschicken, weil ich mir für den Rest des Tages wenig Vergnügen mehr versprach. Hellborn aber hatte mich bemerkt und meine Absicht errathen. Darum kam er mir auf dem Fuße nach. „Freund, sprach er, ich lasse dich nicht, du mußt bei mir übernachten.“ – „Laß mich abziehen, Bester, erwiederte ich, es ist nicht gut hausen, wo man von Kobolden belagert wird.“ – Er aber drang in mich, zu bleiben. „Nur noch ein Stündchen, sagte er, ergib dich in Geduld, ich will für deine Ruhe sorgen. Ich habe für Crescentia eine Nachricht, durch welche ich sie unverzüglich aus unsrer Gesellschaft entfernen kann. Indessen kannst du ja ein wenig im Garten lustwandeln.“ – Ich blieb, und ehe noch eine halbe Stunde vergangen war, sah ich Crescentien hastig und eilfertig weggehen.

[7] Der Mittag wurde nun in allgemeiner Freude und Belustigung hingebracht. Man sang, spielte, gab Räthsel auf, sprach über die Ereignisse der Zeit, und die Jugend ergötzte sich dazwischen mit Tänzen nach dem Klang eines Pianoforte. Die Gesellschaft, immer inniger und herzlicher sich gegenseitig anziehend, trennte sich nicht eher, als bis der Tag sich geneigt hatte und der Mond über dem Föhrenwald aufstieg. Jetzt fing man an aufzubrechen, schilderte das Vergnügen einer sommernächtlichen Heimreise im Mondlicht, die Frauen und Mädchen suchten Halstücher, Schirmchen und Körbchen, die Männer ihre Hüte und Stöcke, alle dankten für den schönen Genuß des Tags, und die Gesellschaft zog mit Heiterkeit ab, einige zu Wagen, die meisten zu Fuße.

Sobald ich mich mit Hellborn allein sah, konnte ich mich nicht enthalten, über seine Schwägerin frei mit ihm zu reden. „Wie ist es möglich, sagte ich, daß diese Crescentia, die vormals in dem vortheilhaftesten Rufe der Feinheit und Artigkeit stand, nun in ein so bizarres Wesen verwandelt werden konnte? Wie ging es zu, daß sie, unter ihren Schwestern von der Natur vielleicht am vorzüglichsten ausgestattet, ihre Bestimmung als Gattin und Mutter allein verfehlte? Das sind die widrigsten Koketten, die dem Zerfall ihrer Reize durch Gelehrsamkeit aufhelfen wollen, und es ist oft nicht uninteressant, die [8] Geschichte ihrer Verirrung zu erfahren.“ Hellborn entsprach gerne meinem Wunsche. Wir setzten uns auf den Sopha, ich schmauchte behaglich mein Abendpfeifchen, und mein Freund fing die Erzählung an.


2.

Der Obervogt von Nellenburg, Heinrich Fraser, hatte drei Töchter, Crescentia, Louise und Therese. Er bildete sich auf dieselben nicht wenig ein, denn sie waren nicht nur fein von Gestalt, sondern auch geistreich und gewandt in den Manieren eines angenehmen Umgangs. Er selbst liebte die Gesellschaft, und sah es auch nicht ungern, wenn er Besuche von jungen Männern erhielt, die den Mädchen Aufmerksamkeit bewiesen. Ob er gleich in seinen Grundsätzen streng war, so gestattete er doch den Töchtern ungemein viele Freiheit, weil er glaubte, sie durch eingeprägte Grundsätze und durch Hülfe einer guten Erziehung gegen Verlockungen gesichert zu haben; auch hielt er einen ungezwungenen Umgang beider Geschlechter für eine Schule der Artigkeit und guter Sitten. Die sorglichere Mutter hatte freilich manche Einwendungen, allein da sie ihre Meinung nicht durchzusetzen vermochte, so gab sie nach, und die Sache blieb, wie ihr Gatte wollte. Es herrschte ein gefälliger Ton im Hause, man war frei, ohne die Anständigkeit zu beleidigen, gesprächig [9] mit Geist, gesellschaftlich mit Würde. Doch ich kehre zu Crescentien zurück, welche die älteste Tochter und die Lieblingin ihres Vaters war, ein Mädchen, das eben sowohl durch geistige Vorzüge sich auszeichnete, als durch körperliche Reize.

Sie hatte ihren fünfzehnten Frühling angetreten, als Ferdinand Walther, ein Jüngling von guter Erziehung und Familie, in’s Haus aufgenommen wurde, um unter Frasers Anleitung das Rechnungswesen und die ersten Elemente der Rechtspflege als Vorübung für die hohe Schule zu erlernen. Ferdinand war nicht lange in Crescentiens Nähe und Umgang, als die zärtlichste Neigung in seinem Herzen erwachte und zu einer immer größern Flamme aufloderte; auch Crescentia fühlte sich allmählig zu dem guten und gefühlvollen Jüngling mit allem Feuer der ersten Liebe hingezogen. Der scharfsehende Obervogt bemerkte bald, was in dem Herzen der jungen Leute vorging, legte aber ihren Gefühlen, Wünschen und Hoffnungen kein Hinderniß in den Weg, da er gegen eine künftige Verbindung nichts einzuwenden hatte. So verging ohngefähr ein Jahr, im Rosenlicht jugendlich schwärmerischer Liebe verlebt, voll unaussprechlicher Freude und Seligkeit, aber nur allzuschnell, denn die Stunde des Abschieds rückte heran, die den Jüngling für eine höhere Laufbahn abrief. Der Abschied war zärtlich und [10] traurig, doch gemildert durch das gegenseitige Versprechen eines fleißigen Briefwechsels.

Ferdinand bezog also die Universität, Crescentia aber wurde zu einer Tante in die Residenz geschickt, um daselbst der Zeitsitte gemäß sich für ihre künftige Bestimmung vollendend auszubilden. Die Tante gehörte zu der großen Welt, und versäumte nichts, um die Talente ihrer Pfleglingin zu entwickeln und in’s rechte Licht zu stellen. Das Mädchen trat in größeren Gesellschaften auf, erregte Aufsehen, und hatte bald die Wahl unter Begleitern auf den Ball und in’s Theater. Ihr nur zu reizbares Herz versank in einen Strudel von Zerstreuungen. Darüber verlor das Andenken an ihren Ferdinand bald an Kraft und Innigkeit. Seine Briefe, voll Schwärmerey und Leidenschaft, riefen zwar anfangs das geliebte Bild noch oft in ihre Seele zurück, aber nach und nach wurde es immer tiefer in den Hintergrund ihres Gemüthes verwiesen, und ihre Antworten wurden kälter und seltener. Ferdinand beschwerte sich; darüber wurde sie empfindlich und oft bitter. Der gute Jüngling litt unaussprechlich, während Crescentia sorglos und unbekümmert auf dem Pfade des Leichtsinns und der Gleichgültigkeit forttaumelte.

Unter mehreren Bekanntschaften, welche Crescentia damals mit jungen Männern hatte, wurde dem Baron von Lindholm bald die erste Stelle eingeräumt. Die Tante, [11] statt Crescentien liebreich zu warnen, hatte vielmehr eine Freude an den Triumphen des Mädchens, und schätzte sich es selbst zur Ehre, den Baron in ihrem Hause zu sehen. Seit dieser Zeit wurde der gefühlvolle Ferdinand ganz vergessen, und auf eine Reihe von Briefen kam keine Antwort zurück. Darüber verfiel er je mehr und mehr in Betrübniß und Kummer, sann hin und her, sich die Ursache dieser Vernachläßigung zu enträthseln, und konnte sie durchaus nicht errathen, denn sein argwohnloses Herz dachte sich das nicht möglich, was wirklich schon sich begeben hatte, bis ihm durch den Brief eines Vetters aus der Stadt, welcher sein Verhältniß zu Crescentien kannte, die Augen eröffnet wurden. Jetzt erst sah er den Abgrund, in welchen seine Hoffnungen und Freuden versanken, namenloser Schmerz ergriff seine Seele, er konnte weder ruhen noch bleiben vor innerer Qual verrathener Liebe, und eilte in die Stadt, um seinem theilnehmenden Freunde sich in die Arme zu werfen, und mit ihm zu überlegen, welchen Entschluß er nun fassen sollte.

Liebreich empfing ihn der Vetter und tröstete ihn, aber das wunde Herz war nicht empfänglich für den Balsam des Trostes. „Wohlan denn, sagte der Vetter, es gibt Krankheiten, die man nur durch Krankheit heilen kann, und manche Wunden muß man erst tiefer aufreissen, wenn sie vernarben sollen. Begleiten Sie mich diesen [12] Abend in’s Theater, vielleicht werden Sie dort mehr durch Ihre Augen als durch meine Vorstellungen für Ihre Genesung gewinnen.“ – Ferdinand willigte ein, und sie gingen zur festgesetzten Stunde. Sie hatten noch nicht lang im Parterre ihren Platz gewählt, als Crescentia mit dem Baron in einer Loge sichtbar ward. Ferdinand fühlte sich ganz niedergedrückt bei ihrem Anblick, alle Qualen der Eifersucht folterten sein Herz, und die Flammen des brennendsten Unmuths durchglühten ihn, als er die schäckernde Vertraulichkeit bemerkte, die zwischen seiner Ungetreuen und ihrem Liebhaber bestand. Als er aber sah, wie sie fast immer einander zuflüsterten, ganz und gar nur mit sich selbst beschäftigt waren, und des Schauspiels wenig achteten, da meinte er vergehen zu müssen vor Aerger und Zorn, da hielt er den Anblick nicht mehr aus, die Luft deuchte ihm verpestet in ihrer Nähe, die Wände schienen ihm zu zittern und die Wölbung des Hauses über ihn herzustürzen. Er verließ das Theater, wie vernichtet im innersten seines Gemüths, doch der theilnehmende Vetter folgte ihm auf dem Fuße nach. Sie gingen zum Thore hinaus in die Kastanienallee. Ferdinand tobte und weinte wechselsweis, krampfhaft fühlte er sein Herz gepreßt, und sein Kopf brannte, wie im Fieber. Als sie zu Hause ankamen, warf er sich aufs Bette, und eine schreckliche Nacht, weder Wachen noch Schlaf,

[12a]


[13] weder Traum noch Wirklichkeit, ging über sein Leben hin. Als der Morgen anbrach, wollte er plötzlich abreisen, allein der Vetter redete ihm zu, Crescentien vorher noch einen Besuch abzustatten. Lange konnte sich Ferdinand nicht entschließen; da aber der Vetter ihm vorstellte, daß dieser Besuch für seine Ruhe, ja vielleicht für sein Schicksal entscheidend seyn könnte, willigte er ein und ging hin.

Wie klopfte sein Herz, als er an dem Hause ankam! Wie zitterte er, als er der Thüre ihres Zimmers sich nahte! Wie ganz aber verlor er alle Fassung, als er endlich sie selbst sah, nachläßig angekleidet und auf dem Sopha sitzend neben dem Baron, welcher traulich seinen Arm um ihren Nacken schlang! Kaum vermochte ers die Worte zu stammeln, daß er gekommen sey, sich persönlich nach ihrem Wohlseyn zu erkundigen, weil er schon so lange keine Briefe mehr von ihr erhalten hätte. Crescentia, nicht im mindesten verlegen, versicherte ihn ganz trocken ihres Wohlbefindens, und sagte zum Baron: Dieß ist Herr Walther, der vormals Schreiber bei meinem Vater war.“ – Diese Kälte, diese höhnische Behandlung war mehr, als Ferdinand ertragen konnte. „Wie, rief er aufgebracht, ist das alles, was Sie von mir zu sagen wissen? Nichts von dem Verhältnisse, in welchem wir stehen? Nichts von Ihrer so oft mir heilig zugesagten Treue? Nichts von der Einwilligung unserer [14] Aeltern? Von dem allem wissen Sie nichts mehr?“ – Crescentia schwieg. „Nun dann, fuhr Ferdinand mit Stolz und Würde fort, so ist dieß mein letztes Wort. Unsre Sachen sind für immer abgethan. Leben Sie wohl!“ – Damit verließ er das Zimmer. Ruhiger, als er den Vetter verlassen hatte, kehrte er zu demselben zurück, und dankte ihm herzlich für seine Freundschaft und Zurechtweisung.

Er eilte aus der Stadt, und kam noch denselben Abend in Nellenburg an. Der Obervogt und seine Gattin empfingen ihn als einen Sohn mit älterlicher Liebe. Aber in welche Bestürzung geriethen die guten Leute, als Ferdinand ihnen erzählte, auf welche Art er Crescentien wieder gesehen habe! Wie schmerzte es sie, als sie seinen Entschluß vernommen, das geschlungene Band auf ewig zu zerreißen! Mit welchem Kummer erfüllte sie die getäuschte Hoffnung, die Tochter einst mit dem guten Jüngling glücklich verbunden zu sehen! Wie sehr verwünschten sie Crescentias Leichtsinn, und die Sorglosigkeit der Tante!

Nachdem sich Ferdinand einige Tage in Nellenburg aufgehalten und im Umgange mit dieser würdigen Familie sein gepreßtes Herz ein wenig erleichtert hatte, kehrte er von frommen Segenswünschen begleitet wieder an den [15] Ort seiner Bestimmung zurück. Crescentia wurde sogleich heimberufen. Die Vorwürfe des Vaters, die Betrübniß der Mutter, und noch mehr der strenge Befehl, ohne Verzug die Stadt zu verlassen und ins älterliche Haus zurückzukommen, erfüllten sie mit Schrecken und Leid. Sie und die Tante baten um einen verlängerten Aufenthalt mit den flehentlichsten Worten und mit den reuvollsten Versprechungen; allein vergebens und wieder vergebens. Um nun den Briefwechsel in dieser verdrießlichen Sache schnell zu endigen, erschien der Vater unvermuthet selbst, sobald er abkommen konnte. Es war eine traurige Heimfahrt. Der Vater, voll Aergers, sprach wenig, und der Tochter war’s, wie wenn sie aus einem langen Traume erwacht wäre. Die rauschenden Zerstreuungen, die glänzenden Zirkel, das geschäftlose Freudenhaschen hatte nun ein Ende, und stach widrig für sie ab mit der häuslichen Stille eines Landstädtchens, und mit den gerechten Verweisen ihrer tiefgekränkten Aeltern. Was ihren Zustand noch unerträglicher machte, war die Nachricht, daß der Baron, welcher ihr so oft ewige Liebe geschworen hatte, sich über ihre Abreise gar leicht habe trösten können, und ihrer bereits in den Armen einer andern Auserwählten vergessen habe. Dazu kamen noch oft wehmüthige Erinnerungen an ihren verlornen Ferdinand, dessen Bild durch alles, was sie umgab, unwillkührlich ihrem Herzen [16] wieder näher gebracht wurde. Wie oft bereute sie ihre Thorheit und ihr Unrecht! Aber es war zu spät.

Ferdinand verlor lange den Frohsinn der Jugend; nur allmählig fand er die Ruhe wieder in dem angestrengten Eifer, womit er sich auf Wissenschaften legte. Nach Vollendung seiner Studien erhielt er eine Sekretairsstelle in der Canzley, und stieg in kurzer Zeit zu der Würde eines Oberregierungsraths, welche Stelle er eben so rühmlich als gemeinnützig noch bekleidet. Er lebt in einer glücklichen Ehe und ist Vater von hoffnungsvollen Söhnen und Töchtern.


3.

Nach einigen in stiller Alltäglichkeit vorüber geschwundenen Jahren, ging Crescentien ein neuer Stern der Liebe auf. Horstig, der erste Geistliche des Städtchens, hatte einen einzigen Sohn, der Candidat des Predigtamts war, jedoch seit acht Jahren in dem Hause eines russischen Fürsten als Hofmeister seiner Kinder gelebt hatte, allein eben jetzt nach einer so langen und weiten Trennung wieder in die Arme seines Vaters umgekehrt war. Die Sitte erforderte es, im Städtchen Besuche zu machen, und das Haus des Obervogts war eines der ersten, dem er seine Aufmerksamkeit widmete. Crescentia war damals in der vollen Blüthe ihrer Jugend und Schönheit.

[16a]


[17] Unwiderstehlich war der Eindruck, den sie gleich beim ersten Anblick auf Wilhelm machte; dieß war der Vorname des jungen Horstig. Er wiederholte daher seine Besuche sehr häufig und bemerkte bald, daß er Crescentien auch nicht gleichgültig sey. Fraser und seine Gattin sahen mit Wohlgefallen das neue Verständniß, aber der alte Horstig warnte seinen Sohn, vorsichtig zu seyn, versagte ihm übrigens die väterliche Einwilligung nicht zu einer nähern Verbindung. Also entdeckte Wilhelm eines Abends der Geliebten in der Laube des Gartens sein Herz, und erhielt auch von ihr ohne Ziererey und viele Umstände die Versicherung der zärtlichsten Zuneigung. Feurige Küsse versiegelten den Bund.

Die Liebenden hatten noch nicht lange die Seligkeit ihres schönen und glücklichen Verhältnisses genossen, als ein Regiment Dragoner in’s Städtchen einrückte, und auf einige Zeit daselbst Quartier nahm. Der Oberst, ein Mann in seinem besten Lebensalter, groß, schlank, artig gegen das Frauenzimmer, sonst aber etwas rauh und aus Neigung Soldat, wählte seinen Aufenthalt im Hause des Obervogts. Wilhelm sah nicht gut zur Sache, denn ihm fielen die Warnungen des Vaters ein, und eine schwermüthige Ahnung preßte seine Brust zusammen. Der Oberst betrug sich indeß sehr anständig, war gegen Jedermann im Hause freundlich und gefällig, [18] erbat sich öfters die Familie des Hauses zur Theilnahme an seinen geselligen Vergnügungen, und vermied sorgfältig alles Mißliebige, daß im Hause bald nur Eine Stimme über die Höflichkeit und Freundschaftlichkeit des Obersten war. Gerade damals aber wurde Wilhelm in die Residenz berufen, um seine Tauglichkeit zu einem geistlichen Amte durch öffentliche Prüfung zu beurkunden. Ungesäumt reiste er ab und voll frohen Muthes, weil er nun einer baldigen Anstellung und der damit verbundenen Beschleunigung seiner seligsten Hoffnung entgegen sah. Er bestand in der Prüfung mit großer Ehre und Auszeichnung, und wurde mit den glänzendsten Versprechungen entlassen. In wenigen Tagen waren seine Geschäfte abgethan, und er schickte sich an, auf den Flügeln der Liebe verzuglos wieder heimzureisen, allein einige Verwandte hielten ihn mit liebevollen Nöthigungen noch zurück, daß er nicht ausweichen konnte, noch einige Zeit in ihrem Kreise zu verweilen. Sobald er aber sich losreißen konnte, machte er sich auf den Heimweg, voll seliger Empfindung und von Rosenträumen der Liebe umgaukelt. – Armer Betrogner, wie sehr hat sich in zwölf Tagen die ganze Scene verändert!

Wilhelm war kaum im väterlichen Hause angekommen, und hatte kaum in der gedrängtesten Erzählung die Neugierde seines Vaters befriedigt, als er sogleich zu [19] der Geliebten eilen wollte. Da sagte der Vater: „Ich fürchte, mein Sohn, daß meine Vorhersagungen nur zu bald eingetroffen sind. Das ganze Städtchen spricht zweideutig von Crescentias Umgang mit dem Obersten, und bedauert dich. Der Oberst scheint deine Abwesenheit für sich wohl benutzt zu haben, und spielt seit deiner Entfernung die Rolle eines erklärten, ja, was noch mehr sagen will, eines begünstigten Liebhabers. Ich will die Gerüchte, die über Crescentias Betragen umlaufen, weder nachsagen noch zergliedern, nicht einmal glauben, doch väterlich warnen will ich dich noch einmal. Und nun gehe hin und prüfe mit eigenen Augen.“ – Wilhelm ging, mehr traurig als froh, und zwischen Glauben und Zweifel getheilt. Die Sonne war bereits untergegangen, als er die Wohnung des Obervogts betrat. Mit sichtbarer Freude empfing die Familie den Wiedergekehrten, aber Crescentia fehlte. Auf seine Erkundigung erfuhr er, daß sie noch im Garten sey, aber mit jedem Augenblicke heimkommen müsse. Aengstlich harrte er ihrer Ankunft entgegen. Sie erschien endlich, als die Dämmerung bereits in Nacht überging, und der Oberst war ihr Begleiter. Das fuhr ihm durchs Herz. Dennoch suchte er sich möglichst zu fassen, und seine Begrüssung war würdevoll und warm: Crescentia war kälter, fremdartiger. Zwar konnte ihre steife Abgemessenheit aus [20] einer jungfräulichen Scheu vor der Gegenwart des Obersten erklärt werden, allein ihr Betragen bekam die richtige Deutung dadurch, daß sie sich fast ausschließend mit dem Obersten beschäftigte, um Wilhelms Gegenwart sich nicht viel zu bekümmern schien, und an seinen Erzählungen wenig Antheil nahm. Das kränkte und schmerzte ihn im Innersten. Es war unverkennbar, daß die Sachen nicht mehr standen, wie vormals; allein an einen gänzlichen Bruch dachte er immer noch nicht. Darum setzte er auch ferner seine Besuche fort, und gab sich alle Mühe, das alte Verhältniß wieder herzustellen. Crescentia aber wich seinen Erklärungen und Ermahnungen je mehr und mehr aus, ja er meinte sogar einigemal zu bemerken, daß seine Gegenwart sie zu drücken anfange.

Indem so sein Liebesverhältniß auf schwachen Füßen stand, und immer schwankender, bedenklicher wurde, erhielt er die unwillkommene Nachricht, sein Großvater liege auf den Tod, und wünsche ihn vor seinem Ende noch einmal zu sehen und zu segnen. Wilhelm hatte den heiteren Morgen seiner Kindheit bei dem guten Großvater, der immer eine besondere Liebe zu ihm gehegt, aus dem Lande verlebt, wo er Pfarrer gewesen, und bei demselben auch den ersten Jugendunterricht genossen, daher war es für ihn heilige Pflicht, den Willen des sterbenden Greisen zu erfüllen. Spät Abends empfing er den Brief, [21] und am andern Morgen ging er zu Crescentien, um ihr die bevorstehende Reise anzuzeigen. Er traf sie mit Gegenständen des Putzes beschäftigt, und erhielt, da er sie um die Absicht ihrer Beschäftigung befrug, die Antwort, sie werde diesen Abend auf den Ball gehen. „Ist das unwiderruflich beschlossen?“ frug Wilhelm weiter, mit einem zärtlichen, bittenden Ton. – „Allerdings, erwiederte sie, ich habe mein Wort gegeben.“ – „Und können denn, fuhr jener fort, nicht Umstände eintreten, die uns bestimmen, ein gegebenes Wort wieder zurückzunehmen? Theure Crescentia, ein sterbender Großvater ruft mich zu seinem Todtenbette, ich werde diese Nacht noch mit dem Postwagen abreisen, wir werden uns vielleicht mehrere Wochen lang nicht wieder sehen; erweisen Sie mir vor meinem Abschiede noch die Liebe, und schenken Sie mir diesen Abend.“ – „Bitten Sie mich nicht länger, Herr Horstig, der Oberst würde es sehr übel nehmen, wenn ich nicht mit ihm ginge.“ – „Und haben Sie denn theurere Pflichten gegen den Oberst, als gegen mich? Gibt es nicht Ausflüchte? Können Sie sich nicht mit einer Unpäßlichkeit entschuldigen?“ – Bei diesen letzten Worten trat der Oberst in das Zimmer, und frug: „Von welcher Unpäßlichkeit reden sie da?“ Crescentia aber antwortete ganz boshaft: „Herr Horstig gibt mir den Rath, mich heute krank zu stellen, um meines Worts entbunden [22] zu seyn, mit Ihnen auf den Ball zu gehen.“ – Kaum hatte der Oberst diese Worte vernommen, als er mit dem grimmigsten Zorn in die kränkendsten Schmähungen ausbrach, und sagte: „Ha, mein Herr, gehen die Pfaffen hier zu Lande auch mit Lügen und Kabalen um? Ich will Ihnen übrigens ein für allemal wohlmeinend rathen, sich nicht weiter in Sachen zu mischen, welche Sie nichts angehen.“ Wilhelm, so empört auch sein Gemüth bei diesem Auftritte war, verlor doch die Geistesgegenwart keinen Augenblick, und sagte mit edler Würde: „Ich danke Ihnen recht sehr für Ihren wohlgemeinten Rath, und gebe Ihnen die heilige Versicherung, daß ich mich nie mehr in diese Sache mischen werde.“ – Mit diesen Worten entfernte er sich.

Er eilte heim zu seinem guten Vater, in dessen Busen er sein ganzes Herz ausschüttete. „Danke Gott, mein Sohn, sagte der Edle, daß er dir noch zur rechten Zeit die Augen eröffnet hat. Du warst im Begriff, dich unglücklich zu machen, die Vorsehung hat dich gerettet. Denke nicht mehr an’s Vergangene, und glaube, daß Gottes Gnade dir etwas Besseres aufbewahrt hat.“ – Wilhelm wurde ruhiger, die Nacht brach an, und die Stunde seiner Abreise nahte. Er ging zur bestimmten Zeit auf das Posthaus und harrte, (mit welchen Empfindungen! denn gerade auf dem Posthause war der

[22a]


[23] Ball) in seinen Mantel gehüllt, auf der dunkeln Straße gegenüber, des abgehenden Wagens. Alle Zimmer waren erleuchtet, die rauschende Musik scholl in seine Ohren, die Tanzenden schwebten an den hellen Fenstern des Saals an seinen Augen vorüber, und mehrmals sah er selbst Crescentien, in den Armen des Obersten, die Reihen hinunter fliegen. Wie unglücklich fühlte sich da der junge Mann, welch ein Sturm von Empfindungen und Gedanken empörte das Innerste seiner Seele! Endlich fuhr der Wagen vor, schweigend nahm er seinen Platz ein, und rollte davon.

Vierzehn Tage noch blieb das Regiment im Städtchen. Während derselbigen war ein beständiger Wechsel von Freudenfesten im Hause des Obervogts, täglich wurden Besuche empfangen oder gegeben, es war ein Taumel von Zerstreuungen, in welchen man lebte. Crescentia kam zu keiner Besonnenheit und Ueberlegung, nur des Augenblicks dachte sie, die Zukunft wurde nie von ihr mit Ernst beachtet. Nach dem Verflusse dieser Zeit mußte das Regiment seine Standquartiere plötzlich verlassen, und der Oberst schied von der Familie. Da er aber nur wenige Meilen weit verlegt war, so kam er beinahe täglich angefahren, kam er aber nicht selbst, so wechselte er mit Crescentien heimlich Briefe. Der Inhalt derselben wurde nie bekannt, doch läßt er sich errathen. [24] Sie schwebte an einem Abgrunde des Verderbens. Ihr guter Engel rettete sie noch. Der Briefwechsel konnte dem Vater nicht verborgen bleiben, er trat also eben, als ein Schreiben an sie angelangt war und sie kaum dasselbe erbrochen hatte, in das Zimmer, um den Inhalt desselben zu erfahren. „Woher, fragte er, ist der Brief? Laß ihn lesen.“ – Schweigend und erröthend gab sie ihn hin. Wie erschrak der überraschte Vater, als er eine Einladung zu einer heimlichen Zusammenkunft darin fand! Voll Bestürzung frug er: „Wie kommt der Oberst dazu, dir einen so schändlichen Antrag zu machen?“ – Crescentia zitterte. „Hast du ihm Hoffnungen gemacht, Unglückliche! fuhr der Vater fort, und seine Liebeleien für Ernst aufgenommen?“ – Crescentia weinte. „Sprich aufrichtig, und sage mir, wie stehst du mit dem Oberst?“ – „Er hat, stammelte Crescentia, mir die Ehe versprochen.“ – „Nun, so erkenne ganz dein Elend und deine Schande,“ donnerte der Vater sie an, und wisse, der Oberst ist schon seit zwölf Jahren verheirathet. Jetzt aber geh’ mir aus den Augen, Nichtswürdige, und laß dich nicht eher vor mir sehen, als bis ich dich rufe. Ich Unglücklicher, warum hab’ ich ihr so viele Freiheit gelassen!“ – Crescentia entfernte sich, um in schmerzlicher Reue ihre Thorheit zu beseufzen, und über den Verlust eines edeln Mannes [25] bittere Betrachtungen anzustellen. Vater und Mutter waren ihr gram und blieben es lange, besonders nachdem sie erfahren hatten, welch ein Glück sie verscherzt habe, und wie schändlich sie dem redlichen Wilhelm begegnet sey. Sie wurde nun unter strengere Aufsicht genommen, dem Oberst aber seine galante Einladung im Original wieder zugeschickt. Seit dieser Zeit schrieb und kam er nicht mehr.

Dem[1] jungen Horstig gelang es bald, die so unverschuldete Wunde seines Herzens zu heilen. Nachdem er seinem sterbenden Großvater unter den Segnungen desselben mit frommen Händen die Augen zugedrückt hatte, kehrte er zum Vater zurück, und lebte ganz in der Stille. Es stand nicht lange an, so bekam er eine sehr angenehme Pfarre in der Nachbarschaft, und bald darauf gab ihm ein sehr edles und gebildetes Mädchen die Hand. Als er in Frasers Hause der Sitte gemäs den Brautbesuch machte, hatte sich Crescentia in ihr Zimmer eingeschlossen; als aber der alte Horstig vor einer Menge anwesender und freudig theilnehmender Zeugen am Altare den Segen über das Brautpaar sprach, war Crescentia verreist.

[26]
4.

Zum drittenmal lächelte Crescentien die Sonne häuslichen Glücks. Es lebte ein Kaufmann im Städtchen, Namens Peter Baldinger, ein Mann, der, ohne ein spekulativer Kopf zu seyn, sich durch Glück im Handel ein ansehnliches Vermögen erworben hatte. Sein einziger Sohn, Bernhard, hatte seit zehn Jahren auf großen Handelsplätzen sich umgethan, und in der Welt etwas tüchtiges gesehen und erfahren. Da der Vater bei seinem herannahenden Alter sich in die Ruhe begeben und seinem Sohne die Handlung übergeben wollte, wurde dieser heimberufen, und war seit einigen Tagen angelangt, um die Geschäfte nach seinem Kopfe zu ordnen. Er mochte etwa dreißig Jahre alt seyn, war nicht sonderlich groß, aber von starker Positur, übrigens von gutem Aussehen, männlich, in seinem Betragen, höflich ohne viele Worte, und in seinen Sitten schlicht und unbescholten. Er hielt sich seit seiner Heimkehr gewöhnlich still zu Hause, weil er dem kleinstädtischen Visitenmachen gram war, und diese lästige und umständliche Höflichkeit nicht leiden konnte.

Eines Sonntags Vormittags lag er unterm Fenster und schmauchte seine Pfeife Knaster in die frische Luft hinaus, als eben das Geläute der Glocken zur Kirche [27] rief. Mit einmal sprang er, wie wenn ihn ein elektrischer Schlag getroffen hätte, von dem Platz auf, wo er behaglich die Vorübergehenden betrachtet hatte, und rief: „Vater! Vater!“ – Der alte Baldinger erschrak und meinte, seinem Sohne sey ein Unglück begegnet. „Was ist dir, Bernhard?“ fragte er bestürzt. „O sehen Sie, sehen Sie doch, entgegnete der Sohn, jenes göttliche Frauenzimmer mit dem kleinen, grünseidenen Hütchen! Wer ist sie wohl?“ – Der Vater sah hin und sagte ganz ruhig: „Das ist die älteste Tochter unsers Obervogts. Sie geht gewöhnlich Sonntags hier vorüber in die Kirche.“ – „So! So!“ erwiederte Bernhard hastig, legte die Pfeife weg, sprang aus der Stube, und warf sich auf seinem Schlafzimmer geschwind in festliche Kleider, um gleichfalls nach der Kirche zu gehen. Er wählte dort seinen Platz so, daß er dem Stuhle des Obervogts gerade gegenüber zu stehen kam, folglich den erkorenen Gegenstand seiner Bewunderung immer im Auge hatte. Ohne Aufhören heftete er seine Blicke auf Crescentien, und wurde im Anschauen so liebetrunken, daß er beinahe des Ortes vergaß, wo er war. Kaum war der Gottesdienst zu Ende, als er nach Hause eilte, seinem Vater unverholen den Eindruck schilderte, den Crescentia auf ihn gemacht hatte, und den Wunsch äusserte, sie zu heirathen. „Mir all recht, sagte Peter [28] Baldinger, es ist eine gute Familie, und Mittel soll der Obervogt auch haben; allein die Sache hat doch ihr Häcklein. Das Mädchen ist schon in einigen Liebeshändeln gesteckt, die für sie keinen guten Ausgang hatten.“ – Thut nichts, Vater, solche Mädchen gerathen oft am besten in der Ehe. Wenn sie nur ihre jungfräuliche Ehre nicht befleckt hat, scheue ich den Versuch nicht.“ – Kurz, Bernhard überredete den Vater, daß er sich entschloß, heute noch für den Sohn den Brautwerber zu machen.

Kaum war demnach in des Obervogts Hause die Mittagstafel geräumt, als Peter Baldinger gravitätisch und stattlich geputzt in das Zimmer trat. „Ey, das ist ja ein seltener Gast, rief ihm Fraser sogleich entgegen, seyn Sie uns herzlich willkommen, Herr Baldinger!“ Mit diesen Worten stand er auf und führte ihn zum Sopha. Nach manchen Umschweifen kam der gute Alte endlich auf seinen Sohn zu sprechen, rühmte dessen gute Eigenschaften, schilderte seinen Vermögenszustand, und offenbarte endlich seine Absicht, um die Hand Crescentiens für ihn anzuhalten. Die Familie war überrascht. „Ich, meines Theils, sagte der Obervogt, finde mich sehr geehrt durch den Antrag, allein ich kann der Neigung meiner Tochter nicht vorgreifen.“ – Crescentia benahm sich sehr vernünftig. „Eine Sache von solcher Wichtigkeit, [29] sprach sie, kann nicht so plötzlich abgemacht werden. Ich habe das Glück noch nicht gehabt, den Herrn Sohn kennen zu lernen, eben so wenig kennt er mich. Die Entscheidung wird also von einem näheren Umgang abhängen.“ – „Bravissimo, rief Peter, das ist gut und recht gesprochen. Ich werde meinem Sohn diese Antwort hinterbringen.“ – Hiemit entfernte er sich.

Bernhard säumte nicht, dem guten Winde zu folgen. Die ganze Familie hatte eine herzliche Freude bei seiner Ankunft, man mußte ihm gut seyn, ihn empfahl die ächte Farbe seiner Biederkeit. Nur Crescentia war nicht ganz mit ihm zufrieden, und meinte, dem guten Bernhard, der nicht viele Umstände zu machen gewohnt war, fehle es ein wenig an Politur, indeß begegnete sie ihm mit Artigkeit, unterwarf sich dem väterlichen Gutdünken, und gab ihm ihr Jawort. Kaum war dieß geschehen, als der alte Baldinger, der auf Förmlichkeit und Herkommen hielt, ein glänzendes Gastmahl bereiten ließ, wodurch sich der reiche Mann beurkundete. Es wurde ein Verlobungsfest gefeiert, und die ersten Häuser des Städtchens dazu eingeladen. Crescentia war die Fürstin des Festes, und Bernhard bezeugte ihr die zärtlichste Aufmerksamkeit. Als das Essen vorüber war, wechselte das Brautpaar die Ringe. Bernhard legte zu dem seinigen noch so kostbaren Schmuck, daß eine Fürstin sich dadurch [30] geschmeichelt gefunden hätte. Unter Freude, Freundschaft und Liebe verging der Tag; die Trauung wurde verabredet und auf die nächste Woche festgesetzt; alles schien in Richtigkeit zu seyn, als auf einmal das ganze Vorhaben scheiterte.

Crescentia war für diese Verbindung mehr überredet als gewonnen. Sie empfand für Bernhard zwar Achtung, aber keine zärtliche Zuneigung, vieles mißfiel[2] ihr sogar an ihm, selbst sein Name. Je näher der Tag der Vermählung heranrückte, desto schwieriger wurde sie, fing an ihrem bevorstehenden Glücke zu zweifeln an, und empfand zuletzt Anwandlungen von Angst und Widerwillen. Nach einem heftigen Kampfe mit sich selbst, faßte sie den Entschluß, auch dieses Band wieder zu zerreissen. Ihrem Vater sagte sie nichts davon, denn sie fürchtete seinen Zorn. Also wendete sie sich schriftlich an den Bräutigam selbst, und gab ihm, wiewohl mit der größten Schonung und mit einem Schwall süßer Worte, zu verstehen: „Daß sie nicht hoffen könne, ihn so glücklich zu machen, als er verdiene.“ – Uebrigens bat sie ihn noch „um die Großmuth, die Sache noch geheim zu halten, und öffentlich selbst den ersten[3] Schritt zur Aufkündigung zu thun. Sie setze sich darüber hinweg, vor den Augen der Welt als eine verschmähte Braut zu erscheinen.“ – Das war ehrlich genug, aber niederschmetternd

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[31] für den armen Bernhard, der Crescentien von Herzen liebte, und dieses Auftritts sich nicht versehen hatte. Er konnte nicht umhin, er mußte seinem Vater den Brief zeigen. Als dieser die Brille aufgesetzt und den Inhalt desselben begriffen hatte, sprach er ziemlich gelassen: „Nun siehst du, daß die Eile hier nichts genützt hat. Allein so leicht soll sie doch nicht loskommen. Sie verdient eine Züchtigung, und die soll ihr werden.“

Er warf sich schnell in seine Kleidung, nahm den Brief zur Hand, und ging zum Obervogt. „Sehen Sie, Herr Obervogt, sagte er, indem er ihm den Brief in die Hand gab, sehen Sie, wie man sich in seiner Meinung und Erwartung betrügen kann.“ – Der Obervogt las, erblaßte und stampfte den Boden vor Zorn. Crescentia wurde berufen. „Kennst du diesen Brief?“ donnerte der Vater sie an, als sie kaum das Zimmer betreten hatte. Sie verstummte. Er aber fuhr fort: Bist du so gewohnt, Wort zu halten? Meinst du, man werde deine Tollheiten dir immer ungestraft hingehen lassen? Du bist einmal alt genug, um überlegen zu können, was recht und gut ist. Was du versprochen hast, mußt du auch halten, oder ich erkenne dich nicht mehr für meine Tochter.“ – Sie fing an zu weinen. Der Vater aber fuhr fort: „Spare deine Thränen, Nichtswürdige! und Sie, [32] Herr Baldinger, fordern Sie Genugthuung. Sie haben über Sie zu disponiren. Um die Freundschaft aller Menschen im Orte könnte ich noch kommen, wenn ich dem sträflichen Leichtsinn nicht Zaum und Gebiß in’s Maul legte.“ – „Lieber Herr Obervogt, erwiederte Baldinger, ich habe nun hinlängliche Genugthuung, und Ihres Worts entlaß ich Sie gern. Ich denke, es sey ein Glück für meinen Sohn, daß aus der Sache nichts geworden ist. Im übrigen wird er schon noch ein Weib bekommen.“ – „Zehn für Eine,“ sagte der Obervogt, „und Würdigere, als meine ungerathene Tochter. Lieber Herr Baldinger, lassen Sie doch diesen Bruch unsere bisherige Freundschaft nicht stören.“ – „Nicht im mindesten,“ sagte dieser, „aber für die Mamsell möchte es gut seyn, wenn sie künftig unter eine schärfere Zucht genommen würde.“ – „Das wird geschehen,“ entgegnete der Obervogt, „verlassen Sie sich darauf.“ – Baldinger ging.

Nun war freilich Crescentiens Leben nicht das erfreulichste im Hause. Der Obervogt, dessen Lieblingin sie immer noch gewesen, war so erbost über sie, daß er sie gar nicht mehr sehen mochte. Die Mutter, gleichfalls aufgebracht, machte ihr die bittersten Vorwürfe. „Gib acht, Crescentia, wie Dein Wankelmuth sich noch enden wird! Schon mehrmals hast Du Dich an Deinem Schicksal versündiget, und das kann keine gute Folgen [33] haben.“ – Bernhard war über den unerwarteten Ausgang seiner Heirathsangelegenheit eine Zeitlang ärgerlich und traurig; aber eine Reise heilte ihn bald und gründlich. Er übernahm sodann die Handlung des Vaters, verheirathete sich an ein sehr feines und edles Mädchen, und lebt gegenwärtig im größten Glück und Wohlstande.


5.

Während solcher Familienauftritte wuchsen Crescentias Schwestern in blühender Schönheit heran. Ein schimmerndes Zwillingsgestirn, das die ältere Sonne bald zu verdunkeln drohte, ging dem Fraser’schen Hause auf. Crescentia fühlte das wohl, und war deßhalb den Schwestern nicht hold. Louise war still, sanft, nachdenklich, wirthschaftlich; Therese war redselig, schalkhaft, lustig, sorgenlos: so verschieden übrigens ihr Temperament, so gut war bei beiden das Gemüth. Jene war schlank, feingebaut, blond und blau von Augen; diese etwas beleibter, stärker von Gliedern, braun von Haar und schwarz von Augen. Die Mutter hielt beide wacker zu weiblichen Arbeiten an, und wollte das an den jüngern Töchtern einbringen, was sie an der ältern versäumt zu haben glaubte. Der Vater hingegen sparte nichts, um ihnen zugleich eine elegante Erziehung zu geben. Dennoch schickte er sie nicht in die Hauptstadt. Beide Mädchen waren [34] den Aeltern lieb, doch Louise mehr nach dem Sinne der Mutter, Therese mehr nach des Vaters Geschmack; Crescentia aber konnte sich nicht recht mit ihnen vertragen, hofmeisterte an ihnen den ganzen Tag, und störte sie öfters in ihren unschuldigen Freuden. Daher hatten sie auch nie ein volles Zutrauen zu ihr, neckten sie zuweilen mit jugendlichem Leichtsinn, und es gab öfters schwesterliche Fehden und Verdrüßlichkeiten, in welche die Aeltern sich zu legen genöthigt waren.

Um diese Zeit, fuhr Hellborn fort, führte mich der Stern meines Schicksals in des Obervogts Haus. Fraser und mein Vater waren einst Schulkameraden gewesen und taglebens gute Freunde geblieben. Ich war zu einer Landbeamtung bestimmt, wozu mein Vater durch den Grafen von Lindheim, in dessen Diensten er stand, Hoffnung erhalten hatte. Den ersten vorbereitenden Unterricht gab mir mein Vater selbst; in meinem achtzehnten Jahre aber wurde ich dem Obervogt übergeben, um unter dessen Leitung, weil er ein sehr brauchbarer und geschickter Geschäftsmann war, mich tüchtig zu machen für meine Bestimmung. Nicht wie ein Subaltern, sondern wie ein Sohn vom Hause wurde ich aufgenommen und behandelt, durfte, soweit es meine Geschäfte erlaubten, an allen Vergnügungen Antheil nehmen, deren es nicht wenige gab, war öfters bei Besuchen gegenwärtig, und [35] fehlte zuweilen auch dann in der Gesellschaft nicht, wenn man sich auswärts einen guten Tag machte. Mit grenzenloser Ergebenheit war ich einem Hause zugethan, wo es mir so gut ging, was mich aber noch mehr an die Familie fesselte, war eine erwachende Neigung zu der sanften Louise.

Mir war’s, als würde ich in eine neue Welt versetzt, das Leben entfaltete sich mir in einer größeren Fülle und Herrlichkeit, ich durfte den Wonnebecher meiner ersten und einzigen Liebe rein und lauter kosten, denn auch ich blieb Louisen, wie ich bald merken konnte, nicht lange gleichgültig. Suchte ich sie auf, um einige Augenblicke in ihrer beseligenden Nähe allein mit ihr zu seyn, so suchte sie auch mich, und machte sich manchmal ein Geschäft in meinem Arbeitszimmer, war es auch nur, um sich eine Feder durch mich schneiden zu lassen; hatte sie unter allerlei Vorwand dieß und das von mir zu erfragen, so hatte ich von ihr dieß und das zu erbitten, immer hatten wir etwas mit einander auszumachen, und immer fand sich’s, daß noch etwas auf den künftigen Tag unausgemacht blieb.

Ich war ohngefähr ein und ein halbes Jahr im Hause, als unsere kleine Gesellschaft einen Zuwachs bekam an einem jungen Mann, der kürzlich die Universität verlassen hatte, und als Advokat sich in Nellenburg zu [36] setzen gedachte. Er hieß Karl Miltenheim, und wurde, da er in Geschäften öfters zum Obervogt kam, bald auch mit dem übrigen Hause und mit mir bekannt. Wir schlossen ein Freundschaftsbündniß, das um so inniger wurde, da Miltenheim von den aufblühenden Reizen der liebenswürdigen Therese bezaubert wurde, und mich zum Vertrauten seiner Empfindungen machte. Auch Therese, obgleich sie erst den sechszehnten Frühling zurückgelegt hatte, war nicht gleichgültig gegen die ehrerbietige Auszeichnung, womit der im Stillen seufzende Liebhaber sie behandelte. Es war ein eigenes Verhältniß, in welchem die neuen Freunde unter sich und gegen die schönen Gegenstände ihrer zärtlichen Neigung standen.

Wir wähnten, die Angelegenheiten unserer Herzen seyen ein Geheimniß, von dem nur wir wüßten, und doch sprach das ganze Städtchen von unserm Liebeshandel. Ich scheute mich vor Vater und Mutter, und doch war ich Louisen schon bestimmt, bevor ich in’s Haus gekommen war, denn mein Vater hatte mit Genehmigung der Aeltern Louisens schon voraus im Stillen unsre Verbindung beschlossen, im Fall wir Liebe für einander empfinden würden. Mein Freund, Karl Miltenheim scheute sich gleichfalls, und meinte, sein freier Zutritt im Hause möchte beschränkt werden, wenn seine Absicht auf das noch so junge Mädchen entdeckt würde, und doch sah der [37] Obervogt die Huldigungen nicht ungern, die er der kleinen Therese bezeugte. So war unsre Liebe stumm und bescheiden, und dennoch mit einer unaussprechlichen Innigkeit und Herzlichkeit verbunden, ja sie war so rein und zart, daß wir vor unsern geheimsten Wünschen nicht erröthen durften.

Während wir auf diese Art sorglos und selig auf dem ruhigen Strome unserer Empfindungen fortgetragen wurden, zogen sich Stürme über uns zusammen, die anfangs nur unsern Frohsinn[4] trübten, aber zuletzt unserer Liebe den Untergang drohten. Es wachte ein Auge über uns, aufmerksamer und lauernder, als alle übrige der Stadt. Crescentien war es unerträglich, daß die jüngern Schwestern durch Liebe glücklich seyn sollten, während ihr eigenes Herz darben mußte. Offen gegen die Schwestern handeln durfte sie nicht, weil sie unter dem Schutze der Aeltern standen, und weil auch sie selbst eben die Freiheit genossen hatte, deren die Schwestern sich jetzt erfreuten; auch galt ihre Stimme aus leicht begreiflichen Ursachen wenig im Hause: Sie fing also damit an, uns unsre Verhältnisse zu verbittern, suchte bei jeder Gelegenheit die Liebhaber oder die Schwestern lächerlich zu machen, und war unerschöpflich an Spott und hämischen Urtheilen. Freilich erreichte sie dadurch nur all zu oft ihre böse Absicht, denn es that den Mädchen [38] wehe, wenn ihre Liebhaber hämisch gerichtet wurden, und uns schmerzte es, wenn unsre Mädchen eine schnippische und kränkende Behandlung erfuhren. Oft fand ich Louisen in Thränen, weil Crescentiens unversöhnliche schwarze Laune ihr Gemüth verwundete; Therese aber nahm die Unfreundlichkeit ihrer Schwester weniger zu Herzen. Louise suchte sie durch Nachgiebigkeit und Liebe zu gewinnen; aber Therese vergalt nicht selten gleiches mit gleichem, denn ihr lebhafter Geist war fruchtbar an Mitteln, die Zuchtmeisterin oft zum Schweigen zu bringen. Doch dadurch wurde Crescentia nur noch erbitterter, nur noch mehr gereizt, uns zu kränken, und, wo möglich, unsre Verhältnisse zu trennen.

Miltenheim hatte kaum ein halbes Jahr im Städtchen gelebt, als allerlei böse Gerüchte über ihn in Umlauf kamen. Der Obervogt behandelte ihn mit Kälte, öfters sogar mit einem sichtbaren Widerwillen. Louise und Therese wichen ihm aus, ja diese, sonst so heiter und fröhlich, wurde ganz niedergeschlagen und schwermüthig. Vergebens frug ich die Mädchen um die Ursache dieses veränderten Benehmens; sie wollten nicht mit der Sprache heraus; erst auf langes Zureden öffneten sie ihre Herzen und Lippen, und schilderten den guten Miltenheim als den verworfensten Menschen. Unglaublich war mir, was ich hörte. Ich sprach gut für [39] meinen Freund, aber es wollte nichts helfen; ich faßte das Herz, mit dem Obervogte darüber zu reden, erhielt aber von ihm einen kurzen Bescheid. Miltenheim, dem ich nicht verschweigen konnte, was ich erfahren hatte, versank in die größte Betrübniß. Aufs heiligste betheuerte er seine Unschuld, nur die schändlichste und boshafteste Verläumdung, sagte er, habe solche Gerüchte über ihn ausbreiten können. Uebrigens entschloß er sich, das Haus des Obervogts und den Umgang mit Theresen zu meiden, bis seine Unschuld an’s Licht gekommen sey.

Während ich nun redlich mit meinem gemißhandelten Freunde Leid und Kummer theilte, brach auch über meinem Haupte ein Ungewitter aus, das meinen süßesten Hoffnungen ein Ende zu machen drohte. Ich erhielt einen höchst unerwarteten Brief von meinem Vater, in welchem er mir kurz und dringend schrieb, je bälder je eher das Haus des Obervogts zu verlassen, und mich heimzubegeben. Ich erschrak nicht wenig über diesen mir so unwillkommnen Befehl, konnte mir aber die Veranlassung schlechterdings nicht enträthseln, und wußte mir in meiner Beklommenheit und Ungewißheit nicht anders zu helfen, als daß ich den Brief dem Obervogt zu lesen gab. Dieser schüttelte bedenklich den Kopf, und wußte nicht, was er aus der Sache machen sollte, begriff übrigens leicht, daß Mißverständnisse vorwalten müßten, und [40] schrieb selbst an meinen Vater, um ihn von seinem raschen Entschlusse abzubringen, oder wenigstens die Gründe desselben zu erfahren. Mein Vater aber antwortete kurz und trocken: „Daß er es für gut halte, seinem Sohn eine andere Laufbahn anzuweisen, und daß er durch die triftigsten Gründe dazu bewogen werde.“ Der Obervogt hatte immer viel auf meinen Vater gehalten, daher schmerzte ihn dieß zurückhaltende und mißtrauische Wesen; weil ihm aber daran lag, das gute Vernehmen auch künftig mit demselben fortzusetzen, und die alte Freundschaft, welcher nun ein Bruch drohte, nicht fahren zu lassen: so entschloß er sich, die Sache persönlich mit meinem Vater abzumachen. Demnach ermahnte er mich, einstweilen zu bleiben, und erklärte, er wolle selbst zu meinem Vater reisen. Uebrigens gebot er mir, über die ganze Sache ein unverbrüchliches Stillschweigen gegen Jedermann zu beobachten. Des andern Tages fuhr er ab, ohne daß ein Mensch, außer mir, wußte, wohin. Meine feurigsten Wünsche für eine günstige Wendung der Sache folgten ihm nach. Zwischen Furcht und Hoffnung schwebend konnte ich seine Wiederkehr kaum erwarten. Am vierten Tage war er zurück.

Wie pochte mein Herz von Besorgniß, als der Wagen anrollte, aber wie leicht wurde es mir um die Brust, als ich den Obervogt heiter und mit einem lächelnden [41] Blicke aus dem Wagen steigen sah! Sobald wir allein waren, sagte er zu mir: Sie bleiben hier, Ihr Vater hat eingewilligt; allein es kostete mich nicht wenig Mühe, ihn von seinem Vorsatz abwendig zu machen. Eine schändliche Verläumdung hat den alten, wackern Freund gegen mich und meine Familie so eingenommen, daß er im Begriff war, mit mir in der Stille zu brechen. Wenn ich doch nur die boshafte Creatur ausfindig machen könnte, die diese schändliche Kabale geschmiedet hat!“

Die Urheberin all dieser Mißverhältnisse war Niemand anders, als Mamsell Crescentia, wie sich einige Jahre später ergab. Der Faden war verdeckt gesponnen. Durch ihre geheimen Ränke wurden meinem Vater von Zeit zu Zeit und von verschiedenen Orten her bedauerliche Winke mitgetheilt über seine Verblendung in Absicht meiner, Fraser und sein ganzes Haus wurden in dem häßlichsten Lichte dargestellt, und mein Aufenthalt als gefahrvoll für Unschuld und gute Sitten geschildert, indem die Mädchen in einem sehr zweideutigen Rufe ständen. Da war es denn meinem Vater nicht zu verargen, wenn er mich heimberief. Eben diese Crescentia, die kein Bedenken getragen hatte, die Ehre ihrer Familie zu beflecken, um die Furien ihres Neides zu besänftigen, war auch die verborgene Schöpferin all der bösen Gerüchte, die über meinen unschuldigen Freund ergangen [42] waren. Er sey ein Wollüstling, ein Verschwender, ein unwissender Geck, hieß es, allein zum Glücke konnte der Ungrund solcher Verläumdungen leicht nachgewiesen werden. Auf diese Art scheiterte die Kabale. Die Liebenden, nach solchem gehobenen Mißverständniß nur noch inniger angezogen, feierten aufs neue den Bund der Herzen, entdeckten den Aeltern ihre Neigung und ihre Wünsche, und erhielten mit ihrer Einwilligung ihren Segen. Das befestigte unsern Bund und vermehrte unsre Seligkeit.


6.

Noch einmal ging ein Stern der Liebe Crescentien auf. Ein Mann von edelm Ansehen und achtunggebietender[5] Würde, im Alter ohngefähr vierzig Jahre, doch noch voll jugendlicher Kraft, hatte von einem Edelmann in der Nachbarschaft ein Landgut erkauft, und lebte daselbst in philosophischer Ruhe. Niemand wußte, wer er war, wie er hieß, und woher er gekommen sey. Dem Anscheine nach war er sehr reich, weil er sich aufs geschmackvollste einrichtete, Bedienten und Pferde hielt, und alles gut und schnell bezahlte. Mehrere Sprachen redete er schön und mit Fertigkeit, besaß in verschiedenen Fächern der Gelehrsamkeit mehr als gewöhnliche Kenntnisse, hatte die feinsten und einnehmendsten Manieren, und offenbarte in dem Gewandten, Gefälligen und Schicklichen [43] seines Benehmens einen Mann, der in den Sphären der größern Welt sich umgetrieben hatte. So eingezogen er lebte, so machte er doch bisweilen Besuche in der Nachbarschaft, und fuhr demnach auch am Hause des Obervogts vor. Seine Erscheinung verursachte eine lebhafte Freude, allein das Interesse an ihm wuchs, je mehr man ihn kennen lernte. Was er sprach, war gedacht und spannte die Aufmerksamkeit; seine Unterredungen waren eben so lehrreich als unterhaltend. Still und innig bewegt lauschten wir im Kreis umher, wann er erzählte, besonders aber hing Crescentia mit unverwandtem Blick und ganzer Seele an seinem Munde. Der Fremde hatte Eindruck auf sie gemacht, das war sichtbar, und eben so unverkennbar war die Mühe, die sie sich gab, ihm gefällig zu seyn. In allen Stücken suchte sie seine Meinung und Ansicht auszuforschen, in Wort und That, in Kleidung und Geberde richtete sie sich nach seinem Geschmack. Er war ein Liebhaber der Musik; mit dem größten Eifer legte sich jetzt Crescentia von neuem auf Gesang und Flügelspiel. Er war ein Freund der Wissenschaften; mit angestrengtem Nachdenken verweilte sie jetzt über belehrenden Werken. An Verstand und Gewandtheit hatte es ihr nie gefehlt, auch besaß sie eine gewisse Grazie, wodurch sie Jedermann für sich einnehmen konnte, sobald sie es darauf anlegte. Also ließ sie nun mit feinberechneter [44] Klugheit alle Künste der Koketterie mit der scheinbarsten Unbefangenheit und Absichtlosigkeit auf den Fremden spielen, und war auch so glücklich in ihren Bemühungen, ihm nicht nur eine hohe Meinung von sich einzuflößen, sondern auch, wie es sich bald offenbarte, selbst sein Herz in ihre Absichten zu verflechten. Das war endlich ein Mann nach ihren[6] Idealen, durch ihn konnte sie glänzen und vielleicht noch eine Rolle in der Welt spielen.

Der Fremde gehörte nicht zu dem gewöhnlichen Schlage der Männer. Gegen körperliche Schönheit war er zwar nicht unempfindlich, doch huldigte er noch mehr der sittlichen Grazie und der Schönheit des Geistes. Crescentia hatte sich das bald abgemerkt, und benahm sich nicht übel gegen ihn. Ihre neugesammelten Kenntnisse schienen ein alter Schatz und ein zufälliger Erwerb zu seyn, und so sehr ihr daran lag, damit zu glänzen, wußte sie doch alles Gesuchte und Absichtliche zu verbergen, und versäumte nicht, wenigstens vor seinen Augen, eine empfehlungswerthe Geschäftigkeit im Hauswesen zu zeigen. Oft fragte sie ihn mit hingebendem Vertrauen um Rath, zuweilen erbat sie sich auch ein Buch, und ließ sich, wenn sie’s gelesen hatte, die dunkeln Stellen von ihm erklären. So sanft und wohlwollend, wie damals, war sie nie sonst gewesen, so freundlich und [45] liebreich hatte sie sich nie gegen ihre Schwestern benommen, so zuvorkommend und dienstbeflissen hatte sie sich nie gegen uns Freunde bewiesen. Ihre ganze Gemüthsart schien veredelt zu seyn; auch an ihrem Beispiele konnte man sehen, daß wahre Liebe den Menschen besser macht, denn Liebe, feurige Liebe war es nun, was an den Fremden sie fesselte.

Dieser schien auch gegen sie eine mit jedem Tage wachsende Zuneigung zu bekommen, was nicht nur seine häufigen Besuche merken ließen, sondern was auch an einer gewissen Herzlichkeit und Vertraulichkeit, die er immer weniger zu verbergen sich bemühte, leicht zu errathen war. So unzweideutig übrigens die Zeichen waren, die auf zärtliche Gesinnungen schließen ließen, so vermied er gleiwohl immer noch eine nähere Erklärung. Er schien ein Mann zu seyn, den schmerzliche Erfahrungen von jeder raschen Voreiligkeit zurück hielten, und der sich deßwegen nicht so schnell ganz und leidenschaftlich hingab. Von der Ehe hatte er hohe Ideen, und machte deßwegen große Forderungen an eine Frau. Das häusliche Glück hielt er für das erste und höchste in der Welt, aber er behauptete öfters, daß es unter hundert nicht Eine Ehe gebe, welche man glücklich heißen könne. Von den Menschen hatte er im Ganzen eine geringe Meinung, aber er stellte die Menschenliebe dennoch als die erste Tugend auf.

[46] Crescentia dachte sich schon als die Erwählte dieses merkwürdigen Mannes, aber bald zeigte es sich, daß sie zu frühe triumphirt habe. Der Fremde machte den Weg, den er in seiner Zärtlichkeit vorwärts genommen, sichtbar wieder zurück, seine Besuche wurden immer seltener und seine Anwesenheit immer kürzer. Kam er, so unterredete er sich meistens mit den Aeltern, und schenkte auch den jüngern Schwestern mehr Aufmerksamkeit als zuvor. Crescentia versuchte zwar alles, die vorige Vertraulichkeit wieder einzuleiten, allein ihre Bemühungen waren fruchtlos; sie spielte zuweilen die Trauernde und Betrübte, allein ihr Kummer wurde wenig beachtet; sie verdoppelte ihre Wärme und Anhänglichkeit, allein sie wurde mit steigender Kälte und Gleichgültigkeit erwiedert; sie suchte auf allen möglichen Wegen ihn zu Erklärungen zu bringen, allein er entschlüpfte ihr mit der größten Leichtigkeit und Feinheit. In die gewöhnlichen Schranken der Höflichkeit, die man jedem gebildeten Frauenzimmer erweist, schloß er nun sein ganzes Betragen ein. Darüber verfiel sie Zusehends in wirkliche Schwermuth und sichtbaren Seelenschmerz; allein auch dieß stimmte die gesunkene Zärtlichkeit des Fremden nicht mehr höher. Endlich blieb er ganz aus, und nach wenigen Tagen erfuhr man, daß er verschwunden sey. Niemand wußte, wo er hingekommen. Eine Zeit lang [47] blieben einige Bedienten noch auf dem Schlosse, doch auch sie wurden ihres Dienstes entlassen, und das Landgut mit dem ganzen Hausgeräthe zum Verkauf ausgeboten. Nun war es freilich nur allzu klar, daß er niemals wieder kommen würde.

Dem Obervogt that es sehr leid, daß er seinen geistreichen Hausfreund, mit dem er so manche süße Stunde verlebt hatte, so schnell und unerwartet verlor. Dazu kam noch, daß er selbst auch der schmeichelhaften Hoffnung, Crescentia könnte die Gattin dieses Mannes werden, sich überlassen hatte. Dieser Genuß und diese Hoffnung waren nun unwiederbringlich dahin. So sehr ihn das schmerzte, so konnte er sich doch die Ursachen dieses Abschieds leicht denken, ohne daran etwas tadelswerthes zu finden. Der Fremde war in der letzten Zeit seines Aufenthalts mit dem Pfarrer Horstig, der von Crescentien so schnöde behandelt worden war, öfters zusammen gekommen, und hatte, weil er an ihm einen Mann nach seinem Herzen gefunden, eine vertraute Freundschaft mit ihm gepflogen. Von diesem erhielt er ohne Zweifel über Crescentiens Charakter Aufschlüsse, die ihm allen Muth benahmen, das Verhältniß mit ihr enger und fester zu knüpfen. Auch mit Bernhard Baldinger war er bekannt, denn dieser besorgte seine Wechsel, und bekam auch den Auftrag, den Verkauf des Landguts zu leiten. Von ihm [48] erfuhren wir in der Folge auch, wer der Fremde war. Er hieß Warburton, ein englischer Lord, der, nachdem er sein Vaterland verlassen hatte, weil er dort eine Kränkung erlitten, die seine Ehre antastete, die merkwürdigsten Länder von Europa durchreist, und nun willens war, in unserm schönen Thale den Rest seines Lebens zuzubringen. Er würde sich mit Crescentien verbunden haben, wenn ihre früheren Abentheuer ihn nicht abgeschreckt hätten.

Auf Crescentien machte die fehlgeschlagene Hoffnung und die verschmähte Liebe einen fürchterlichen Eindruck. Sie fand um so weniger Trost in sich, je mehr sie sich vorzuwerfen hatte, daß sie ihr Schicksal verdient habe. Sie litt nicht nur am Gemüthe, sondern auch ihr Körper wurde durch den Seelenschmerz so stark ergriffen, daß sie in eine tödtliche Krankheit verfiel, und daß man lange an ihrem Aufkommen zweifelte. Das Uebel war um so hartnäckiger, da die Hauptursache desselben in der Seele lag. Zwar genas sie allmählig wieder, aber sehr langsam, und ihre Gestalt zerfiel gänzlich, denn die Rosen ihrer Schönheit welkten dahin, um nie wieder aufzublühen. Sie erschrak vor sich selbst, als sie das Bette wieder verlassen konnte, und sich zum erstenmal wieder im Spiegel besah. Obwohl sie bereits nicht mehr ferne vom dreißigsten Sommer war, so hatte sie immer [49] noch für schön gelten können, bis die unerbittliche Hand eines rächenden Schicksals ihr diesen gefährlichen und täuschenden Schmuck auf immer raubte. Sie erkannte nun wohl, daß ihre Frühlingszeit vorüber sey, und daß sie durch körperliche Reize den Männern kein großes Interesse mehr einflößen könne, darum fing sie an, sich mit wissenschaftlichen Gegenständen zu befassen, an welchen sie schon während ihres Umgangs mit Warburton Geschmack gefunden hatte, und so warf sie sich endlich auch in die Abgründe der Naturphilosophie. Sie vermehrte dadurch die Anzahl jener unseligen Geschöpfe, die aus Verzweiflung an einem Liebhaber sich in die Arme der Gelehrsamkeit flüchten.


7.

Nach dieser Begebenheit, fuhr Hellborn fort, verflossen einige Jahre, ohne daß sich etwas besonders in der Familie ereignet hätte. Mein und meines Freundes Verhältniß blieb sich immer gleich, und wir waren selig im Genuß einer ungestörten Liebe. Jetzt starb ein Beamter des Grafen von Lindheim. Dieser Tod führte mich schnell dem Ziele meiner Wünsche entgegen, denn der großmüthige Graf gedachte seines Versprechens, und vertraute mir den erledigten Dienst. Welche Freude mir dieß unerwartete Glück machte, kann ich nicht beschreiben; [50] auch nahm das ganze Haus, Crescentien ausgenommen, den wärmsten Antheil daran. „Endlich, sagte der Obervogt, geht doch wieder eine Sonne des Heils über meinem Haupte auf. Gehe hin, mein Sohn, und entrichte dem guten Grafen in Person den schuldigen Zoll deines dankbaren Herzens. Gott segne dich, und bringe dich bald wieder froh und gesund in meine Arme zurück.“ – Gerührt nahm ich Abschied; Louise weinte still an meinem Halse. Ich eilte in die Arme meines Vaters, und mit diesem zum Grafen. Wie dankte ich dem Edeln für sein Vertrauen und seine Güte! Wie glücklich hatte er mich gemacht! Wie heilig gelobte ich, ihm mit der größten Treue zu dienen!

Nachdem ich auf diese Art einer schuldigen Pflicht Genüge geleistet, kam ich zu einem neuen überraschenden Anblick in dem mir so theuren Hause wieder an, denn des andern Morgens nach meiner Wiederkehr trat der Obervogt mit einem ungewöhnlich heitern Gesicht in’s Zimmer, wo wir uns zum Frühstück versammelt hatten. Wir merkten gleich, daß etwas außerordentliches in ihm vorging, und tranken den Kaffee in stiller Erwartung. Als dieß geschehen war, sprach er: „Ich habe diese Nacht über einem Entwurfe gebrütet, den ich ungesäumt ausführen werde, wenn höhern Orts sich kein Hinderniß entgegen wirft. Ich fange allmählig an, etwas von Alterschwäche [51] zu fühlen, und sehne mich nach Ruhe. Darum wünsche ich meinen Dienst zu Gunsten Miltenheims und meiner guten Therese abzutreten. Wird mein Wunsch erfüllt, so wollen wir eine Doppelhochzeit feiern.“ – Wonne leuchtete aus seinen Augen, als er dieß sprach. Therese küßte ihm mit weinendem Danke die Hand.

Noch an demselben Tage reiste er in die Residenz, wo es ihm seiner bedeutenden Freunde wegen nicht schwer gemacht wurde, sein Gesuch durchzusetzen. Seine Entlassung wurde angenommen, und Miltenheim bekam das Amt. Schon am dritten Tage erhielt er das Dekret, und brachte es selbst in der Tasche mit nach Hause. Auf die dritte Woche wurde der Tag der beiden Hochzeiten festgesetzt.

Als der bestimmte Tag erschienen war, schritten wir, von den segnenden Aeltern begleitet, in festlichen Gewanden nach der Kirche zum Traualtar, und eine Menge Volks begaffte uns oder zog uns nach. Es war ein Zug, der nicht alle Tage im Städchen zu sehen war, indem auch mein Vater, Miltenheims Aeltern, und noch mehrere Verwandte von uns der feierlichen Handlung beiwohnten. Sobald das unauflösliche Band geschlungen war, begaben wir uns auf den großen Saal des Rathhauses, welcher für die Freuden dieses Tags eingerichtet worden war. Alle Honoratioren des Städtchens sammt ihren [52] Frauen und herangewachsenen Kindern waren geladen und erschienen zahlreich. Auch Bernhard Baldinger und der Pfarrer Horstig mit ihren liebenswürdigen Gattinnen befanden sich unter den Gästen, und, sonderbar genug, auch der Oberregierungsrath Walther, welcher gerade damals auf Commission im Städtchen war, zierte, in seinem kürzlich für ausgezeichnete Dienste vom König erhaltenen Ordenskreuze, das glänzende Fest. Auf diese Art waren alle vormalige Freier Crescentiens, den einzigen Lord Warburton ausgenommen, bei der Hochzeit der jüngeren Schwestern, während sie selbst als eine verdunkelte Uebrige einsam zu Hause saß, Unpäßlichkeit vorschützend, und nun reiche, ungestörte Gelegenheit hatte, die Folgen ihres Leichtsinns zu fühlen, und ihren Uebermuth zu bereuen. Schmaus, Tanz, Musik und Spiel dauerten bis Mitternacht.

Auf den dritten Tag nach der Hochzeit war meine und Louisens Abreise festgesetzt. So selig wir waren, so viele Thränen kostete uns doch die Trennung vom älterlichen Heerd. Es that mir wehe, ein Haus zu verlassen, wo ich in harmloser Jugend fünf Jahre beinahe ununterbrochen gelebt und so viele Freuden genossen hatte, wie viel schmerzlicher mußte es Louisen seyn, die noch nie aus dem älterlichen Hause entfernt gewesen war! Des Weinens und Abschiednehmens war beinahe kein Ende.

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[53] Jetzt fuhr der Wagen vor; da faßte mein Vater Louisen am Arm, und half ihr hinein mit den Worten: „Lasset es nun gut seyn, und denket an’s Wiedersehen.“ Wenige Augenblicke nachher war der Wagen um die Ecke gerollt.

Der Obervogt bewohnte nun mit seiner Gattin und mit Crescentien das obere Stockwerk des Hauses, und überließ dem Tochtermann den untern Theil. Die Ruhe behagte ihm übrigens nicht sehr, denn er war in seinem ganzen Leben ein thätiger Mann gewesen, jetzt aber mit seiner Zeit oft verlegen, und in die Amtsgeschäfte des Tochtermanns mochte er sich aus Grundsätzen nicht mischen. Seine Gesundheit fing an zu leiden, und die Aerzte erklärten seinen Zustand für einen Marasmus; ein halbes Jahr nach seiner Dienstentsagung war er eine Leiche. Wir weinten an seinem Sarge aufrichtige Thränen der Liebe, denn er war ein gerader Mann und ein zärtlicher Vater gewesen. Die Mutter griff der Tod ihres geliebten Gatten, mit welchem sie in der zufriedensten Ehe gelebt hatte, so heftig an, daß sie in stummem Schmerze dahinschmachtete, und wenige Monden nach seiner Beerdigung aus Kummer starb. Die guten Leute, unzertrennlich im Leben, waren es auch im Tode; ihre Hülle ruht neben der seinigen dem schönen Auferstehungstag entgegen.

Auf Crescentien machte der schnelle Tod ihrer Aeltern einen so herzzerreißenden Eindruck, daß sie beinahe [54] tiefsinnig wurde. Ihre letzte Stütze war gebrochen, und sie mußte nun auf sich selber stehen, in der That mit schwachen Füßen, denn das hinterlassene Vermögen des Obervogts wurde nicht so groß erfunden, als vermuthet wurde. Als ein gutthätiger, gastfreundschaftlicher und uneigennütziger Mann konnte er keine große Schätze aufhäufen. Crescentiens Erbtheil fiel also auch nicht so beträchtlich aus, als sie gehofft hatte. Nur durch große Einschränkungen und eine Sparsamkeit, an die sie nicht gewöhnt ist, kann sie unabhängig leben. Im Hause, das nun dem Schwager zufiel, galt sie nichts mehr, und wenn sie sich einmal einfallen ließ, ihrer bösen Laune, wie sonst, Luft zu machen, wurde sie von Theresen und zuweilen auch von Miltenheim an ihre Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht etwas nachdrücklich erinnert. Sie fing nun an, herumzureisen, und bald da bald dort einzusprechen; allein sie kann wohl merken, daß sie nirgends in die Länge angenehm ist. Selbst nie gewohnt ihre, Mitmenschen zu schonen, findet auch sie nirgends Lindigkeit und theilnehmendes Wohlwollen.

Gegenwärtig zieht sie einem jungen Menschen nach, der eine Zeit lang als Gehülfe in der Apotheke zu Nellenburg stand. Er war einigemal an einem dritten Ort zufällig mit Crescentien zusammen gekommen, hatte ihr vielleicht einige Artigkeiten gesagt, vielleicht auch, ohne [55] es so ernstlich zu meinen, ein Wort von Liebe gesprochen. Allein alten Jungfern muß man so nicht kommen, sie verstehen in solchen Fällen keinen Spaß. Crescentia nahm die Galanterieen als vollen Ernst aus, wurde von Stund’ an zärtlich, und überfiel den jungen Mann so oft mit Briefchen, selbst mit Besuchen, daß er, um ihrer Zudringlichkeit los zu werden, seine Stelle aufgab und in die weite Welt zog. Gestern hatte ich, weil er eben in unsrer Nähe sich aufhält, die unvermuthete Ehre, ihn selbst kennen zu lernen und mit ihm zu sprechen. Davon gab ich Crescentien einen Wink, darum entfernte sie sich heute so schnell, und ließ unsre Gesellschaft in Ruhe und Frieden. Sie stellt sich vor, Rechte an den Menschen zu haben, und will diese nun geltend machen, da sie nicht im mindesten gesonnen ist, den Flüchtling großmüthig seinem Schicksal zu überlassen. Das ist jene Crescentia, die vormals die erste Sonne der Schönheit in Nellenburg und der Umgegend war, die bei Bällen und Assembleen alles um sich her verdunkelte, eine gefährliche Circe für so manches Männerherz, der Stolz ihrer Familie und der Abgott ihrer Liebhaber.

Hellborn hörte nun auf zu erzählen. Hoch stand der Mond bereits am Himmel, die Mitte der Nacht war schon angebrochen, und wir gingen heiter zu Bette, nachdem [56] ich meinem Freunde herzlich für die Unterhaltung gedankt hatte, die mir diese Geschichte machte. Weil sie mir interessant schien, schrieb ich sie nachher nieder, und weil sie viel Belehrendes enthält, hab’ ich sie öffentlich bekannt gemacht.

Neuffer.     

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