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Christliche Symbolik/Sibyllen

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Sibyllen.

Wie das ganze alte Testament nur die Vorbereitung zum neuen war, so weisen namentlich alle Propheten mit grösster Bestimmtheit auf den kommenden Messias hin. Sie entzündeten gleichsam die Morgenröthe, aus welcher die neue Sonne hervortrat. Getrennt und unabhängig von ihnen machte sich aber jener geheimnissvolle Zug zum Christenthum auch im Heidenthum geltend, aber hier viel bewusstloser und verborgener. Nur wie im magnetischen Schlafe träumen die heidnischen [366] Sibyllen von dem fernen, fremdartigen Reiche Gottes, das auf Erden erscheinen soll.

Sie stehen als Thürhüterinnen an der Schwelle des Christenthums, als Vertreterinnen der Ahnung des Christlichen im Heidenthum, neben den Propheten, als den Vertretern der christlichen Offenbarung im Judenthum. Schon der Geschlechtsunterschied drückt diesen Gegensatz sehr passend aus.

Die Heiden kannten schon längst Sibyllen, ohne alle Beziehung auf das Christenthum, als Seherinnen, Verkünderinnen der Zukunft. Man hat den Namen abgeleitet von Jabulah (Trägerin) oder Kibil (empfangen), und mit Kabbalah und der alten Göttin Kybele in Verbindung gebracht. Der Sinn ist immer: das Weibliche, welches göttliche Eingebungen empfängt und mittheilt.

Varro nahm (bei Lactantius, div. inst. I. 6.) zehn Sibyllen an: 1) die persische, 2) die libysche, 3) die delphische, 4) die kimmerische, 5) die erythräische, 6) die samische, 7) die cumanische, 8) die hellespontische, 9) die phrygische, 10) die tiburtinische. Dieselben Namen nennt auch der Scholiast des Plato (Phädrus, ed. Bekker II. 315.). Vgl. Pholius, quaest. amphil. 160. in Montfaucon, bibl. Coislin. p. 347. Mai, script. vet. nov. collect. I. praef. XXXVIII. Suidas kennt die zehn Sibyllen auch, s. v. Eben so der heilige Hieronymus, adv. Jovianum I. 14. — Aelian, var. hist. XII. 35, nimmt zwar nur vier Sibyllen an, sagt aber, Andre nehmen zehn an. — Pausanias, X. 12, lässt nur vier, Solinus, II. 10, nur drei, Martianus Capella, II. 159, nur zwei, Plinius, Naturg. VII. 33. XIII. 27, nur eine gelten. Was diese Sibyllen für das ältere Heidenthum geleistet, so wie die berühmten sibyllinischen Bücher in Rom, die alle Weisheit der Zukunft in sich enthielten und bei denen man in böser Zeit Rath zu holen pflegte, gehen uns hier nichts an.

Unter den zehn genannten Sibyllen aus rein römischer Erinnerung steht die tiburtinische in nächster Beziehung zum Christenthum und erlangte bei weitem den grössten Ruhm. Das ist die Sibylle, die, von Kaiser Augustus um die Zukunft [367] befragt, demselben in einer Vision die Gnadenmutter mit dem göttlichen Kinde zeigte, in der Stunde, in welcher Christus geboren wurde. Legenda aurea, cap. 6. de nativ. Domini. Vgl. Piper, christl. Mythol. I. 480, und unsern Artikel Ara coeli. Diese Sibylle heisst Albunea.

Jene zehn Sibyllen der Römer wurden aber aus der jüdischen und orientalischen Erinnerung ergänzt, und insbesondere wurde unter den drei Sibyllen, die desfalls im Mittelalter den älteren zehn noch hinzugefügt wurden, die Königin von Saba hervorgehoben. In einem altdeutschen Schauspiel steht sie ausschliesslich als Vertreterin des Heidenthums dem König Salomo, als dem Vertreter des Judenthums gegenüber, beide aber weisen auf den Heiland hin, sie als Sibylle, er als Prophet. Mone, Schauspiele des Mittelalters I. 307. Diese Königin von Saba hat auch grosse Bedeutung in der Legende vom heiligen Kreuz. Vgl. d. Artikel Kreuz. Sie heisst bei den Muhamedanern Balkis, als dreizehnte Sibylle Nichaula.

Diese beiden Sibyllen, die abendländische und morgenländische, bilden die Anhaltspunkte der ganzen Sibyllenschaft, wie sie in die christliche Legende und Kunst eingetreten ist. In dem altdeutschen Volksbuch „Von der Sibyllen Weissagung“ ist ihre Legende und das Typische ihrer Kleidung und ihrer Attribute schon vollkommen ausgebildet. Die ihnen zugeschriebenen Weissagungen in griechischen Hexametern sind 1852 von Friedlieb, Professor in Breslau, in’s Deutsche übersetzt worden.

Wir gehen nun die einzelnen Sibyllen durch:

1. Die persische Sibylle — Sambethe, nach dem Scholiasten des Plato und Suidas auch die chaldäische genannt, soll schon mit in der Arche und eine Schwiegertochter des Noah gewesen seyn, wodurch das Sibyllenthum oder heidnische Prophetenthum in gleiches Alter und gleiche Berechtigung gesetzt wird mit dem aus Sems Geschlecht erwachsenden jüdischen Prophetenthum. Ihrer Prophezeihungen auf Christum gedenkt Augustinus de civ. Dei 8. Im alten [368] Volksbuch von der Sibyllen Weissagung ist sie charakterisirt durch den goldnen Schleier. Auf altfranzösischen Bildern trägt sie eine Laterne (als Verkünderin des Lichts). Didron, man. p. 152. Michel Angelo malte sie in der sixtinischen Kapelle als die älteste Sibylle auch sehr alt, doch immer noch als ein mächtiges hohes Weib. Dagegen malte sie Guercino auf dem Capitol voll Lieblichkeit. Eben so Guido Reni in Florenz (Kunstblatt 1836. S. 86.) und in England (Waagen II. 220.) Memling malte sie im flämischen Costüm zu Brügge. Viardot 313.

2. Die libysche Sibylle wurde nach dem alten Volksbuch im himmelblauen Kleide und mit einem Rosenkranz (um die Jungfrau Maria vorzubedeuten), desgleichen mit einer Fackel in der Hand gemalt (um Christum, das Licht der Welt, vorzubedeuten). Andere geben ihr einen Lorbeerkranz und eine zerrissene Kette (die Bande des alten Judenthums oder Heidenthums). Ihr Name ist Elissa, was auch der Name der karthagischen Dido ist. In der That ist sie auf diese grosse Königin, die zuerst das Licht der Bildung nach Libyen trug, zurückzuführen.

3. Die delphische Sibylle (Daphne, Herophyle, Manto, Artemis, Diana) soll Apollopriesterin gewesen seyn und nach Suidas noch vor Trojas Untergang gelebt haben. Unter dem Namen Herophyle sagte sie Trojas Ende vorher (Isidor, or. VIII. 8, also wie Cassandra). Diodor, IV. 68, macht sie zur Daphne, Apollo's Geliebten, oder Manto, Tochter des Tiresias. Clemens Alexandr., strom. I. p. 304, meldet von ihr, die Musen selbst hätten sie erzogen. Nach ihrem Tode sey ihr Gesicht in den Mond übergegangen und über ihrem Grabe seyen Kräuter gewachsen, von deren Genuss die Thiere gewisse Zeichen in den Eingeweiden empfingen, aus denen man orakle. Nach dem Volksbuch ist sie schwarz gekleidet und trägt ein Horn. Das scheint sich auf das Mondliche ihres Wesens zu beziehen.

Unter den Sibyllen Michel Angelo’s in der sixtinischen Kapelle ist die delphische die jüngste und schönste. Sie vertritt [369] den schönsten und geistreichsten Cultus im classischen Alterthum, nämlich den des Apollo. Sie ist der träumerische Mond neben dieser Sonne der heidnischen Geisterwelt.

4. Die kimmerische Sibylle wird Demophile, Deiphobe, auch Symmachia genannt, heisst öfter auch die cumäische und wird mit der cumanischen verwechselt. Man gibt ihr einen Blumenkranz in’s frei hinabwallende Haar und einen Lorbeerzweig nebst Buch in die Hand. Ihre Symbolik und Legende ist nicht ausgebildet. Sie sollte von Rechts wegen Vertreterin des nordischen Heidenthums seyn, wie die delphische des Hellenenthums.

5. Die erythräische Sibylle, Herophyle. Nach Solinus II. 10. und Pausanias X. 12. heisst sie Herophyle und war Priesterin des Apollo zu Troja; sie lebte aber auch zu Samos, im Hellespont, zu Delphi und bei den Erythräern, daher Pausanias die verschiedenen Sibyllen dieser Orte identificirt. Martianus Capella II. 159. unterscheidet die troische Herophila von der erythräischen Symmachia.

Die Attribute dieser Sibylle sind ein schlechtes Kleid (als Vorbild der Asceten), ein Himmelsglobus, auf dem ihr Fuss steht (Verachtung der heidnischen Weisheit), ein Schwert in der einen, ein Lamm in der andern Hand.

6. Die samische Sibylle, Phyto (nach Suidas) oder Pytho und Phemonoë, wird als Priesterin dargestellt, auf ein blosses Schwert tretend, in einer Hand Rosen, in der andern Dornen.

7. Die cumanische Sibylle (von Cumä) ist für die Römer die älteste und berühmteste, sofern von ihr die berühmten sibyllinischen Bücher herrührten, die in Rom als höchste Heiligthümer und Palladien des Staats bewahrt wurden. Eine viel spätere Sage bei Justinus Martyr, cohort. ad Gr. 37. p. 33. c, macht sie zu einer Babylonierin und Tochter des Berosus, die aber nach Italien gekommen sey. Auf sie wird bezogen, was in der berühmten vierten Ecloge Virgils als cumäische Weissagung mitgetheilt wird: „Die goldne Zeit [370] kehrt zurück, und ein neues Geschlecht steigt vom Himmel herab; ein neugeborner Knabe macht dem eisernen Geschlecht ein Ende und neu erblüht die Welt.“

Nach dem Volksbuch trägt die Sibylle von Cumä ein goldnes Gewand und ein Buch in der Hand, ein anderes auf den Knieen. In den Heures d’Anne de France die Krippe des Heilandes. Didron, man. p. 152. Domenichino malte ihr sehr schönes Bild als Seitenstück zu seinem berühmten Johannes im Pallast Borghese. Hier blickt sie schwärmerisch zum Himmel auf.

8. Die hellespontische Sibylle trägt ein Purpurkleid und in der Hand einen Rosenzweig. Sie soll zu Solons Zeit geweissagt haben. Nach Suidas. Nach dem Volksbuch ist sie schlecht und bäurisch gekleidet.

9. Die phrygische Sibylle heisst Phaennis, soll unter Antiochus dem Grossen gelebt haben. Sie wird sehr jung gemalt, mit rothem Kleide, in der Hand eine brennende Lampe und eine Geissel, den Segen und das Leiden des Heilands zu bezeichnen. Auf dem grossen Glasfenster zu Notre Dame de Brou trägt sie eine Fahne (der Auferstehung). Didron, icon. p. 317.

10. Die tiburtinische Sibylle, Albunea. Die Sibylle von Tibur, die dem Kaiser August im Augenblick, da Christus geboren wurde, denselben im Arm der Gnadenmutter in einer Vision am offenen Himmel als den künftigen Herrn der Welt zeigte. Vgl. d. Artikel Ara coeli. Auf einem Bilde von Hemling ist die Vision des August mit den heiligen drei Königen sinnig verbunden und auf das Hauptbild der Geburt Christi bezogen. Die Huldigung des römischen Kaiserreichs und des gesammten Abendlandes gesellt sich hier zur Huldigung der drei morgenländischen Weltreiche, oder Persiens, Syriens und Aegyptens. Auf einem Bilde des Johann von Leyden in Wien trägt die Sibylle ein Rosagewand mit grünem Schatten und umher wird die deutsche Reichsfahne entfaltet.

[371] 11. Die europäische Sibylle ist nach dem Volksbuch als Fürstin prächtig gekleidet und hält in der Hand einen Brief. Wo und wann sie lebte, ist ungewiss.

12. Agrippina, die einzige unter den Sibyllen, welche schwarz als Mohrin gemalt wird. Da sie zugleich geistreich und voll Adel ist, erscheint sie als ein sehr poetisches Motiv für Maler. Man gibt ihr ein Purpurkleid und eine Fackel in die Hand. Die Fackel der Sibyllen deutet immer auf ihre Gabe, in das Dunkel der Zukunft hinein zu leuchten. Sie tragen wie der Morgenstern die Fackel dem Helios, so die ihrige dem Heiland voran, den sie verkündigen.

13. Nichaula, eine Königin, soll dem König Salomo von Christo und der Madonna und von der ganzen Weltgeschichte bis zum Weltende geweissagt haben. Sie ist, nur unter anderm Namen, die berühmte Balkis, Königin von Saba. Die älteren Quellen kennen sie nicht. Sie ist mit den beiden vorletzten Sibyllen erst später im Volksbuch „der Sibyllen Weissagung“ zu den ältern zehn hinzugekommen.

Man hat noch zwölf verschiedene Weissagungen der zwölf Sibyllen von Christo. Vgl. Mehring S. 425. Sie dienen als Devisen zu ihren Bildern. Die persische Sibylle spricht: „Es wird ein lieblicher Fürst, von einer jungfräulichen Mutter geboren, auf einem Esel reiten, der allen Gefallenen Heil bringen wird. Nur Er wird die Orakel errathen.“

Die libysche Sibylle spricht: „Tage werden kommen, da der ewige König die fröhliche Saat bestrahlen und alle Sünde von den Menschen hinwegnehmen wird; denn er wird seine Glieder niederlegen in den Schooss der Königin der Welt.“

Die delphische Sibylle spricht: „Wonne wird alle Herzen durchbeben, wenn der herrlichste aller Propheten ohne Mann empfangen und geboren seyn wird. Das ist übernatürlich; doch vermag es auch nur der, der aller Dinge Herr ist.“

Die kimmerische Sibylle spricht: „Eine schöne Jungfrau wird den Herrn der Heerschaaren mit ihrer Milch säugen [372] und ein Stern über seinem Haupte leuchten, zu dem die Weisen wallfahren werden.“

Die samische: „Bald wird der fröhliche Tag die schwarzen Schatten verjagen; der Geringste wird die verschlossensten Bücher der Propheten offen sehen und verstehen und den König der Lebendigen mit eigenen Händen betasten, den eine Jungfrau gebären wird.“

Die cumanische: „Viel habe ich geweissagt, höret das Letzte von Allem, was ich sage: Der König, der da Frieden bringt über die ganze Welt, wird das keuscheste und schönste Mädchen zur Mutter sich erwählen.“

Die hellespontische: „Ich sah eine Jungfrau, hochgeehrt vor allen Wesen, weil sie ein hellstrahlendes Kind gebar, das die Welt in Frieden regieren soll.“

Die phrygische: „Weil unser Leib von Sünden ist, sandte Gott sein eignes Kind in den Leib einer Jungfrau, um allen gehäuften Schlamm der Sünden mit einmal auszufegen.“

Die europäische: „Eine Jungfrau wird das ewige Wort gebären und es wird wandeln über Thäler und Gebirge. Von den Sternen wird er kommen und der Aermste seyn, welcher der König der Welt ist.“

Die tiburtinische, die Agrippa und die erythräische sprechen nur unbedeutende oder ganz ähnliche Dinge.

Wenn auch zuweilen nur im dunklen Umriss, liegen doch in den Sibyllen die Charaktere der heidnischen Völker und Zeiten angedeutet, welche die Welt erfüllten und die Weltgeschichte bildeten vor Christo, und zugleich drücken sie die Stellung jener Völker und ihres Geistes zum werdenden Christenthum aus. Diese Symbolik tritt mehr oder weniger bestimmt hervor zuerst in der persischen oder chaldäischen Sibylle, die man nach dem Standpunkt der heutigen Wissenschaft die arische nennen müsste, sofern sie die Cultur des ältesten Menschenreichs auf dem Hochland zwischen Indien und Iran bezeichnet, die uralte Weisheit der Vedas und des Zendavesta. Die libysche Sibylle, die Karthagerin Elissa mit dem meerblauen [373] Kleid und dem Rosenkranz, der vielleicht den Kranz der Colonieen am Mittelmeer bedeutet, und mit der zerbrochenen Kette, charakterisirt die See- und Handelsmacht der Phöniker und die erste abendländische Cultur. Die delphische dann den Apollocultus und alle geistigen Blüthen des Hellenenthums. Die kimmerische in ihrem Blumenkranz und wallenden Haar (Sinnbilder der Jungfräulichkeit) und mit dem Lorbeerzweig des Ruhmes die noch rohen, aber sittenreinen Heldenvölker des Nordens. Die erythräische mit den Attributen des Elends, auf die Weltkugel tretend, bedeutet vielleicht die Verderbniss der römischen Kaiserzeit, und die samische mit blossem Schwert die Greuelkämpfe der Völkerwanderung. Darum folgt ihr als siebente die cumanische, die auf den Erlöser vom eisernen Zeitalter und Wiederbringer des goldnen hinweist. Hierauf die wunderbare Erscheinung der hellespontischen Sibylle bald im Königs-, bald im Bauernkleide, aber mit dem Rosenzweige, vielleicht vorbedeutend die constantinische Zeit, in welcher Byzanz den Purpur bezeichnet, die bäuerische Tracht aber die deutschen Völker, die sich zum Christenthum bekehrten. Die phrygische Sibylle mit der Fahne entspräche sofort dem bekanntlich von Phrygien hergeleiteten jungen Reich der Franken, und die tiburtinische dem durch Karl den Grossen neuverjüngten Reich der Römer, d. h. dem Reich Christi in Rom. Die drei letzten Sibyllen aber würden folgerecht, die europäische die nunmehr gesicherte Herrschaft des Christenthums in Europa, die schwarze Agrippina die noch zu bekehrenden Welttheile voll farbiger Menschen, und Nichaula endlich, die sabäische Königin, die zuerst dem Vorbild Christi in Salomon nahe trat, alle heidnische Weisheit der mosaischen vermittelnd, würde auf die dereinstige geistige Vermählung aller Völker in Christo hinweisen. Somit wäre ein welthistorischer Cyclus in den Sibyllen angedeutet, aber auch nur angedeutet.

Aeltere christliche Bilder, welche eine Sibylle darstellten, sind nirgends aufgefunden worden. Die ganze Vorstellung ist späteren Ursprungs und gehört eigentlich erst der Zeit [374] an, in welcher die christliche Kunst ihrer Vollendung entgegenging. Die Sibyllen erhielten erst ihre grosse Bedeutung für die Kunst, als sie die symmetrische Ergänzung der alten Propheten wurden. Dazu gehörte aber schon eine grossartige Gesammtanschauung der christlichen Symbolik vom künstlerischen Standpunkt aus.

In folgender Symmetrie stehen sich zu Loretto die Statuen der Propheten und Sibyllen von della Porta gegenüber, und zwar:

  1) gegen Norden:

Jesaias — die Sibylla Hellespontica,
Daniel — die Sibylla Phrygia,
Amos — die Sibylla Tiburtina;

  2) gegen Westen:

Jeremias — die Sibylla Libyca,
Ezechiel — die Sibylla Delphica;

  3) gegen Süden:

Malachias — die Sibylla Persica,
David — die Sibylla Cumana,
Zacharias — die Sibylla Erythräa;

  4) gegen Osten:

Moses — die Sibylla Samia;
Balaam — die Sibylla Kimmeria.

Die Auswahl ist ziemlich willkührlich.

Die grossartigste Zusammenstellung der Sibyllen mit den Propheten findet sich an der Decke der sixtinischen Kapelle in den berühmten Fresken von Raphael. Beide erscheinen hier colossal.

Michel Angelo gab ihnen eine übermenschliche Hoheit, aber mit abstossender Strenge; Raphael machte sie dagegen zu Idealen der Schönheit und Anmuth. Das Rechte dürfte in der Mitte liegen. Michel Angelo bildete sie zu wild aufgeregt; dieser gar zu wenig aufgeregt. Ihr Antlitz muss stets Geist strahlen; aber mehr den empfangenen als den eigenen Geist; und ihre Seele muss in einer freudigen und schönen [375] Aufwallung sich ausdrücken, nicht in wilden Blicken, noch weniger aber in ruhigem Behagen.

Die Kleidung der Sibyllen darf sich der Nationalität anschmiegen, der sie angehören, muss aber einen mehr oder weniger priesterlichen Charakter haben; doch sind ihnen herkömmlich bunte Farben und etwas Phantastisches gestattet, um das Heidnische ihres Wesens zu bezeichnen. Ihr Attribut ist (wie bei den Propheten) eine Schriftrolle, denn sie haben Bücher hinterlassen. Sehr oft haben sie Zettel mit Sprüchen bei sich, die aber zu wenig charakteristische Unterschiede darbieten. Vgl. Piper, christl. Myth. I. 496. In den Heures d’ Anne de France und in altfranzösischen Kirchen tragen die Sibyllen Attribute der Geburt und Passion Christi, zum Beweise, dass sie dieselbe prophezeiht haben, neben allgemeinen Attributen. Nämlich: die persische trägt eine Laterne, die libysche eine Kerze, die erythräische eine weisse Rose, (Verkündigungssymbol), die cumanische eine Krippe, die samische eine Wiege, die kimmerische ein Trinkhorn, die europäische ein Schwert, die tiburtinische eine Hand (womit Christus den Backenstreich bekam), Agrippa die Geissel, die delphische Sibylle den Dornenkranz, die hellespontische das Kreuz, die phrygische die Siegesfahne (der Auferstehung). Didron, man. p. 152.

Die Sibyllen stehen, wie schon bemerkt, auf Kirchenbildern oft den Propheten gegenüber. Alsdann haben sie heidnische Genien über sich, die Propheten aber jüdische Engel. Piper a. a. O. I. 368. Auch stehen die einzelnen Sibyllen in der Reihe gewöhnlich durch antike Säulen voneinander gesondert, was gleichfalls ihren heidnischen Ursprung bezeichnet. — Nicht selten dienen die Sibyllen als Karyatiden, als lebendige Pfeiler, desgleichen als Randverzierungen, um die heilige Geschichte einzurahmen. Das, was sie verkündet haben und was wirklich geschehen ist, bildet die Mitte des Bildes, in den Rahmen aber kommen sie selbst aus dankbarer Anerkennung. So in Kirchen, so in Miniaturbildern der alten Evangelienbücher. Wo nicht alle Sibyllen Platz [376] haben, genügt es an zweien, wie an zwei Propheten. Vgl. Piper a. a. O. 498. — In dem Triumphzuge Christi von Titian (gestochen von Andreani) tragen die Sibyllen Fahnen. Ueberhaupt kommen sie viel häufiger im Gefolge und Umkreis gleichsam in ornamentalem Sinn, als in selbstständiger Bedeutung auf Bildern vor.

Zu den eigenthümlichsten Bildern gehören die Holzschnitzereien in dem Thron oder Stuhl des Abtes von Maulbronn. Hier hat Christus zwei auf ihn hinweisende Sibyllen zur Seite, die rechts wächst aus einer Blume, die links aus einem Löwenkopf hervor. Ueber der Sibylle rechts von Christo schwebt ein gefiederter Vogel mit Teufelsfrazze, über Christo eine scheusslich gebildete Fledermaus, über der Sibylle links ein vierfüssiges Höllenthier. An dem vor dem Stuhle befindlichen Pult stehen in den beiden Ecken rechts ein Löwe, links ein Drache, von denen jeder Flammen speit, die sich in kunstreichen Verschlingungen über das ganze Bild verbreiten und in der Mitte vereinigen. In diesen Flammen sitzen wie im Laube Affen, Eidechsen, Vögel etc. Unten aber nimmt die Mitte ein Jäger mit Armbrust und ein Hirsch ein und mahnt eine Bandinschrift zur Uebung der Tugend; der Jäger soll also wohl die Laster erlegen, womit gleichsam die ganze Welt erfüllt ist?