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Chemische Briefe/Zwanzigster Brief

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Zwanzigster Brief.


Die Eigenschaft organischer Materien, bei Berührung mit Luft in Verwesung und Gährung überzugehen, und in Folge dieses Zustandes in andern Substanzen Gährung oder Verwesung zu erregen, wird bei allen ohne Ausnahme durch die Siedhitze aufgehoben. Es ist dies sicher der sprechendste Beweis, dass die leichte Veränderlichkeit dieser Materien mit einer gewissen Ordnungsweise ihrer Atome zusammenhängt. Man darf sich nur an das Gerinnen des Eiweisses in der Hitze erinnern, um einzusehen, wie die Wärme hierbei wirkt. Die meisten der sogenannten Gährungerreger haben eine dem Eiweiss ähnliche Zusammensetzung, und gehen in höheren Temperaturen in einen neuen Zustand über.

Lässt man geschälte süsse Mandeln nur einige Augenblicke in siedendem Wasser liegen, so ist ihre Wirkung auf Amygdalin völlig vernichtet. In einer Mandelmilch, die man zum Sieden erhitzt hat, löst es sich ohne alle Veränderung. Das gekochte Malz hat seine Eigenschaft, Amylon in Zucker überzuführen, völlig verloren. Ein wässriger Aufguss von Bierhefe, in welchem Rohrzucker beinahe augenblicklich in Traubenzucker übergeht, oder der Saft von kranken Kartoffeln, in welchem die Substanz der Zellen gesunder Knollen auseinanderfällt und löslich wird, beide verlieren, zum Sieden erhitzt, völlig diese Eigenschaften.

Die frische Thiermilch gerinnt nach zwei bis drei Tagen zu der bekannten gallertartigen Masse. Wird sie jeden Tag zum Kochen erhitzt, so lässt sie sich eine unbegrenzte Zeit hindurch aufbewahren. In gleicher Weise verhält sich der so leicht veränderliche Traubensaft oder jede der Gährung fähige Flüssigkeit; zum Sieden erhitzt, hört alle Gährung auf; der gekochten Bierwürze muss man Hefe, nämlich eine in den Zustand der Zersetzung bereits übergegangene Substanz zusetzen, um in der kürzesten Zeit die Gährung eintreten zu machen.

Es ist leicht einzusehen, dass, wenn in der Fäulniss, Gährung und Verwesung fähigen Substanzen durch Hülfe einer höheren Temperatur der eigenthümliche Zustand aufgehoben worden ist, in den sie durch Berührung mit der Luft, auch wenn diese nur einen Augenblick gedauert hat, versetzt werden, und man von da an den Sauerstoff, als die erste und alleinige Ursache seines Wiedereintretens, ausschliesst, diese Substanzen

[155] ihre Beschaffenheit und alle Eigenschaften unbegrenzte Zeiten hindurch behalten müssen, die sie beim Eintreten des Sieden besassen. Die Materie hat für sich selbst keine Bewegungsfähigkeit; ohne dass eine äussere Ursache auf die Atome einwirkt, wechselt keines derselben seinen Platz, ändert keines seine Eigenschaften.

Füllt man Traubensaft in eine Flasche ein, die man luftdicht verschliesst, und legt sie einige Stunden oder so lange in siedendes Wasser, bis dass er die Siedhitze angenommen hat, so wird während des Erhitzens die geringe Menge Sauerstoff, welche mit der Luft in die Flasche eingeschlossen worden war, von den Bestandtheilen des Saftes aufgenommen und damit die Ursache einer jeden weiteren Störung entfernt; er gährt jetzt nicht mehr und bleibt süss, und dieser Zustand hält sich, bis die Flasche geöffnet und mit der Luft wieder in Berührung gebracht wird. Von diesem Augenblicke an stellt sich die nämliche Veränderung wieder ein, welche der frische Saft erleidet; nach wenigen Stunden befindet er sich in voller Gährung, die durch Aufkochen ganz wie im Anfange unterbrochen und aufgehalten werden kann.

Von diesen Erfahrungen, die für alle organischen Materien ohne Ausnahme eine gleiche Geltung haben, hat man die schönsten Anwendungen gemacht. Während man sonst auf langen Seereisen nur auf gesalzene und geräucherte Speisen beschränkt war, durch welche die Gesundheit der Mannschaft und der Reisenden zuletzt litt, während sonst Tausende von Menschen ihr Leben durch den blossen Mangel an frischen, in Krankheiten durchaus nothwendigen Nahrungsmitteln einbüssten, werden jetzt alle diese Unbequemlichkeiten oder Gefahren immer seltener. Es ist dies gewiss eines der wohlthätigsten Geschenke, welche das Leben von der Wissenschaft durch Gay-Lussac empfing.

In Leith bei Edinburgh, in Aberdeen, in Bordeaux und Marseille, so wie in Deutschland haben sich Kochhäuser grösster Ausdehnung aufgethan, in welchen auf die reinlichste Weise Suppen, Gemüse, Fleischspeisen aller Art zubereitet und in die grössten Entfernungen hin versendet werden. Die fertigen Speisen werden in Büchsen von verzinntem Eisenblech eingeschlossen, die Deckel sodann luftdicht verlöthet und in einem hierzu geeigneten Ofen der Temperatur des siedenden Wassers ausgesetzt. Wenn dieser Hitzgrad die Masse in der Büchse bis zur Mitte hin durchdrungen hat, was, wenn sie in siedendes Wasser gelegt werden, immer drei bis vier Stunden dauert, so haben jetzt diese Speisen eine, man kann sagen, ewige Dauer. Wird die Büchse nach Jahren geöffnet, so sieht der Inhalt gerade so aus, wie in dem Augenblick, wo er eingefüllt wurde; die Farbe des Fleisches, der Gemüse, der Geschmack und Geruch sind völlig unverändert. Diese schätzbare Aufbewahrungsmethode hat in einer Menge Haushaltungen dieser Gegend, in Frankfurt und Darmstadt Eingang gefunden und die Hausfrauen in den Stand gesetzt, den Tisch im Winter mit den seltensten Gemüsen des Frühlings und Sommers, so wie mit Fleisch- und andern Gerichten zu zieren, die sonst nur zu gewissen Jahreszeiten zu haben sind. Ganz besonders wichtig wird dieses Verfahren zur Proviantirung von Festungen werden, da der Verlust, den man durch Veräusserung der alten und ihre Erneuerung durch neue Vorräthe, namentlich von Fleisch (Schinken etc.)

[156] erleidet, bei weitem grösser ist, als der Werth der Büchsen, die sich überdies nach sorgfältiger Reinigung wiederholt benutzen lassen.

Wenn man mit den Erscheinungen der Fäulniss und Gährung die Vorgänge in belebten thierischen Körpern vergleicht, so wird es sehr wahrscheinlich, dass eine Menge von Wirkungen, welche man gewohnt ist, besonderen vitalen Thätigkeiten zuzuschreiben, durch die nämliche Ursache bedingt werden, auf welcher die Gährung und Fäulniss beruhen. Diese Beziehungen sind bereits seit Jahrhunderten von Naturforschern und Aerzten wahrgenommen und hervorgehoben worden, und viele der letzteren betrachten noch heute, im Gegensatz zu der entwickelten Ansicht, gewisse vitale Thätigkeiten oder Lebensäusserungen als die Ursache der Fäulniss und Gährung.

Es ist erwähnt worden, dass die Bestandtheile des Thierkörpers, welche seine Hauptmasse ausmachen, das Albumin, Fibrin, Membranen und Häute, so wie der Käsestoff im Zustand der Fäulniss auf eine Menge Materien eine bestimmte Wirkung äussern, deren sichtbares Zeichen eine chemische Veränderung des Stoffes ist, der damit in Berührung gebracht wurde; es ist ferner eine feststehende Thatsache, dass die aus diesen Stoffen erzeugbaren Producte nicht immer dieselben sind, sondern dass sie sich mit dem Zustand der Zersetzung des Gährungserregers ändern.

Wenn aber ein Wechsel des Ortes und der Lagerung der Elementartheilchen thierischer Stoffe ausserhalb des Körpers einen ganz bestimmten Einfluss auszuüben vermag auf eine Menge organischer Substanzen, wenn diese, damit in Berührung, zersetzt und aus ihren Elementen neue Verbindungen gebildet werden; wenn man in Betracht zieht, dass zu den letzteren, nämlich zu den der Gährung fähigen, alle Stoffe gehören, welche Bestandtheile der Nahrung der Menschen und Thiere ausmachen, so kann man kaum daran zweifeln, dass diese Ursache in dem Lebensprocess eine wichtige Rolle übernimmt, dass sie an den Veränderungen, welche die Nahrungsmittel erleiden, wenn sie zu Fett oder zu Bestandtheilen der Organe werden, oder an der Bildung der Secrete, der Milch, des Harns einen mächtigen Antheil hat. Wir wissen ja, dass in allen Theilen des lebendigen Thierkörpers in jedem Zeitmomente ein Wechsel vor sich geht, dass belebte Körpertheilchen austreten, dass ihre Bestandtheile, Albumin, Fibrin, Membranen oder wie sie sonst heissen mögen, sich zu neuen Producten ordnen, dass ihre Elemente zu neuen Producten zusammentreten, und wir müssen unseren Erfahrungen gemäss voraussetzen, dass durch diese Beschaffenheits-Aenderung selbst, an allen Punkten, wo sie Statt findet, je nach ihrer Richtung und Stärke, in allen Bestandtheilen des Blutes und der Nahrung, die damit in Berührung kommen, eine parallellaufende Aenderung in ihrer Zusammensetzung und Beschaffenheit bewirkt wird, dass mithin der Stoffwechsel eine Hauptursache der Veränderungen, welche die Nahrungsmittel erleiden, und eine Bedingung des Ernährungsprocesses ist, dass mit jeder durch eine Krankheitsursache bewirkten Aenderung in dem Umsetzungsprocesse eines Organs oder einer Drüse oder eines Bestandtheils derselben, die Wirkung dieses Organs auf das zugeführte Blut oder auf die Beschaffenheit des Secrets sich gleichfalls ändert, dass die Wirkung einer Menge von Arzneimitteln auf dem Antheil beruht, den

[157] sie an dem Stoffwechsel nehmen, dass sie in vielen Fallen dadurch, dass sie die Richtung und Stärke der im Organe wirksamen Thätigkeit ändern, beschleunigen, verlangsamen oder aufhalten, einen Einfluss auf die Qualität des Blutes ausüben.

Durch die Erkenntniss der Ursache der Entstehung und Fortpflanzung der Fäulniss in organischen Atomen ist zuletzt die Frage über die Natur vieler Contagien und Miasmen einer einfachen Lösung fähig; sie reducirt sich auf folgende:

Giebt es Thatsachen, welche beweisen, dass gewisse Zustände der Umsetzung oder Fäulniss einer Materie sich ebenfalls auf Theile oder Bestandtheile des lebendigen Thierkörpers fortpflanzen, dass durch die Berührung mit dem faulenden Körper in diesen Theilen ein gleicher oder ähnlicher Zustand herbeigeführt wird, wie der ist, in welchem sich die Theilchen des faulenden Körpers befinden? Diese Frage muss entschieden bejaht werden.

Es ist Thatsache, dass Leichen auf anatomischen Theatern häufig in einen Zustand der Zersetzung übergehen, der sich dem Blute im lebenden Körper mittheilt; die kleinste Verwundung mit Messern, die zur Section gedient haben, bringt einen oft lebensgefährlichen Zustand hervor[1]. Der von Magendie beobachteten Thatsache, dass in Fäulniss begriffenes Blut, Gehirnsubstanz, Galle, faulender Eiter etc., auf frische Wunden gelegt, Erbrechen, Mattigkeit und nach längerer oder kürzerer Zeit den Tod bewirken, ist bis jetzt nicht widersprochen worden. (S. Anhang 3.)

Es ist ferner Thatsache, dass der Genuss mancher Nahrungsmittel wie Fleisch, Schinken, Würste in gewissen Zuständen der Zersetzung, in dem Leibe gesunder Menschen die gefährlichsten Krankheitszustände, ja den Tod nach sich ziehen. (Anhang Nr. 4.)

Diese Thatsachen beweisen, dass eine im Zustand der Zersetzung begriffene thierische Substanz einen Krankheitsprocess im Leibe gesunder Individuen hervorzubringen vermag. Da nun unter Krankheitsproducten nichts anderes verstanden werden kann, als Theile oder Bestandtheile des lebendigen Körpers, die sich in einem von dem gewöhnlichen abweichenden Zustand der Form und Beschaffenheitsänderung befinden, so ist klar, dass durch solche Materien, so lange sich dieser Zustand noch nicht vollendet hat, die Krankheit auf ein zweites, drittes u. s. w. Individuum wird übertragen werden können.

Wenn man noch überdies in Betracht zieht, dass alle diejenigen Substanzen, welche die Fortpflanzungsfähigkeit der Contagien und Miasmen vernichten, gleichzeitige Bedingungen sind zur Aufhebung aller Fäulniss und Gährungsprocesse, dass unter dem Einfluss empyreumatischer Substanzen, wie Holzessig z. B., welche der Fäulniss kräftig entgegenwirken, der Krankheitsprocess in bösartig eiternden Wunden gänzlich geändert wird, wenn in einer Menge von contagiösen Krankheiten, namentlich im Typhus, freies und gebundenes Ammoniak, in der Luft, im Harn und in den

[158] Fäces (als phosphorsaures Bittererde–Ammoniak) wahrgenommen wird, so scheint es unmöglich, über die Entstehung und Fortpflanzung einer Menge contagiöser Krankheiten irgend einen Zweifel hegen zu können.

Es ist zuletzt eine allgemeine Erfahrung, dass sich „der Ursprung epidemischer Krankheiten häufig von Fäulniss grosser Mengen thierischer und pflanzlicher Stoffe herleiten lässt, dass miasmatische Krankheiten da epidemisch sind, wo beständig Zersetzung organischer Wesen stattfindet, in sumpfigen und feuchten Gegenden, sie entwickeln sich epidemisch unter denselben Umständen nach Ueberschwemmungen; ferner an Orten, wo eine grosse Menschenzahl bei geringem Luftwechsel zusammengedrängt ist, auf Schiffen, in Kerkern und belagerten Orten“. (Henle Untersuchungen S. 52, ferner S. 57.) Niemals aber kann man mit solcher Sicherheit die Entstehung epidemischer Krankheiten voraussagen, als wenn eine sumpfige Fläche durch anhaltende Hitze ausgetrocknet worden ist, wenn auf ausgebreitete Ueberschwemmung starke Hitze folgt. (s. Anhang Nr. 5.)

Hiernach ist nach den Regeln der Naturforschung der Schluss vollkommen gerechtfertigt, dass in allen Fällen, wo ein Fäulnissprocess der Entstehung einer Krankheit vorausgeht, oder wo durch feste, flüssige oder luftförmige Krankheitsproducte die Krankheit fortgepflanzt werden kann, und wo keine näher liegende Ursache der Krankheit ermittelbar ist, dass die im Zustande der Umsetzung begriffenen Stoffe oder Materien in Folge ihres Zustandes als die nächsten Ursachen der Krankheit angesehen werden müssen.

Den unterrichteten und aufmerksamen Aerzten ist es längst bekannt, dass der Unterschied von guter gesunder Nahrung und von schlechter, welche letztere als die Ursache von vielen Krankheiten angesehen wird, nicht auf der Natur des Nahrungsmittels, sondern auf einer gewissen Beschaffenheit oder einem gewissen Zustande desselben beruht, der beim Fleische z. B. häufig auf einen Krankheitszustand des Thieres, von dem es genommen ist, zurückgeführt werden kann; dass die nützlichen und wohlthätigen Wirkungen, welche eine zweckmässige Ventilation auf die Erhaltung des Gesundheitszustandes äussert, z. B. in Krankenzimmern durch Verdampfung sehr geringer Mengen Salpetersäure (nicht Chlor, welches in den meisten Fällen schädlich wirkt), oder an gewissen Orten durch Verbrennung von etwas Schwefel erzielt werden können, durch Materien also, von denen man weiss, dass sie schädliche Gase zerstören oder ihren Zustand der Umsetzung vernichten.

  1. Fälle, in denen Personen dieser furchtbaren Vergiftung zum Opfer fallen, sind nicht selten; so noch vor kurzer Zeit Dr. Kolletschka in Wien, Dr. Bender in Frankfurt a. M.