Buen Retiro
Buen Retiro.
Eine hübsche lange Zeit ist’s her, seitdem ich Deinen letzten Brief erhielt, lieber Freund! Soeben lese ich ihn nochmals durch und muß lachen über die vielen Vorwürfe, die er enthält. „Welcher Teufel reitet Dich,“ schreibst Du, „diese Marotte in Scene zu setzen, Dich in die Einsamkeit vergraben, den Einsiedler spielen zu wollen? Ein Mensch wie Du, in den besten Mannesjahren, geradezu ausersehen, im öffentlichen Leben eine Rolle zu spielen“ und so weiter! –
Entschuldige, mein Alter, aber das stimmt nun nicht, stimmt alles nicht! Erstens setze ich keine „Marotte“ in Scene, sondern einen seit langen Jahren sorgfältig erwogenen, zärtlich gehegten Lieblingswunsch, den Du recht gut kennen mußt, der Dich folglich nicht zum Staunen berechtigt. Zweitens vergrabe ich mich keineswegs in die Einsamkeit, sondern ich sitze in unmittelbarer Nähe einer Großstadt, habe kaum eine halbe Stunde bis zu einem ihrer zahlreichen Vororte zu gehen, kann dort in die Pferdebahn steigen und befinde mich in weiteren zwanzig Minuten mitten im fieberhaft schlagenden Herzen besagter Großstadt, drittens denke ich durchaus nicht den Einsiedler zu spielen, sondern so oft es mich danach gelüstet, und das kann vielleicht recht häufig geschehen, den Verkehr mit allerlei Leuten, mit Kollegen und Bekannten, zu pflegen, die Museen zu bereisen, Konzerte und Theater zu besuchen und gelegentlich, wenn ich einmal sehr gute Gesellschaft treffe, ein paar Tage ganz und gar in der Stadt zuzubringen. Was endlich die „besten Mannesjahre“ und die „Rolle im öffentlichen Leben“ betrifft … guter Gott!
Du hast mich seit fünf, sechs Jahren nicht gesehen, Alter. Deine freundschaftlich gefärbte Erinnerung hält ein Bild meines Aussehens und Wesens fest, wie es damals war. Du kannst mir’s aber auf mein Wort glauben – ich habe mich gewaltig verändert seitdem. Sei es, daß ich die gewisse Altersgrenze überschritten habe, die selten jemand ungestraft passiert, sei es, daß die Nachwirkungen der aufregenden Ereignisse, die Du zum Teil mit mir erlebtest, mir so übel mitgespielt haben, mit einem Wort, ich bin alt geworden, guter Freund! Ich fühle mich durchaus nicht berufen, irgend welche „Rolle“ zu spielen, im öffentlichen und politischen Leben nun schon zu allerletzt! Ich setze nicht mehr Leitartikel, [2] „die gleich Brandraketen wirken“, wie man einst behauptete, in die Welt, „ich will Frieden haben“, wie es in Schillers „Maria Stuart“ heißt. Hier in meiner Villa zu wohnen, unbehelligt vom Parteitreiben, von Haß und Hader, von Neid und Mißgunst, für ein paar gute Journale, die mich unter den günstigsten Bedingungen zu ihrem Mitarbeiter geworben, populär wissenschaftliche und für eine Fachzeitung streng wissenschaftliche Aufsätze zu schreiben, das ist mein ganzer Ehrgeiz fortan, und ich darf ihn mir wohl gönnen, denn habe ich nicht zwanzig Jahre lang mich von den wilden Wellen des Lebens umbranden und unbarmherzig hin- und herwerfen lassen? Darf man sich mit fünfundvierzig Jahren nicht den Genuß der Ruhe und der stillen Geistesarbeit gönnen?
Du weißt es so gut wie kein anderer, Du weißt es nächst mir selbst am besten, daß ich von mir sagen kann: ich habe gelebt und gelitten. Diese jahrelange Qual mit Asta, meine unablässig wiederholten Bitten, sie möge sich von dem Mann, den sie als ein unerfahrenes Kind geheiratet, der sie so namenlos elend und unglücklich machte, trennen, um für immer mir anzugehören, ihr brennender Wunsch, dies zu thun, und dabei die Unmöglichkeit für sie, sich von ihren Kindern loszureißen – und ich hundertmal im Begriff, diese Fesseln zu sprengen, aber durch ihren leidenschaftlichen Jammer, durch mein eigenes starkes Gefühl für sie immer wieder zurückgehalten – es war ein aufreibender Zustand, und ich staune nachträglich, daß ich ihn so lange, daß ich ihn überhaupt ertragen habe! Wie ich heute, wie ich jetzt bin, könnte ich das nicht mehr, ich ginge zu Grunde dabei. Die kurzen Augenblicke eines verstohlenen Glückes – wie sollten sie mich entschädigen für die Kette von Lug und Trug, von Selbstverachtung und Feigheit, die ich mit mir schleppte? Und nun der letzte schreckliche Schlag, Astas Tod! Und ich, fern von ihr, ausgeschlossen aus dem Kreise ihrer Angehörigen, nicht einmal berechtigt, um sie zu trauern, um nicht der Welt mein und der Toten Geheimnis preiszugeben!
Du hast das alles getreulich mit mir getragen, mein alter Herzog, ich nenne Dich darum auch heute noch meinen einzigen Freund. Es giebt viele, die sich meine Freunde nennen … in meinen Augen sind sie nichts weiter als gute Bekannte. Wie viel Mißbrauch wird mit dem Wort „Freundschaft“ getrieben, und in diesem Begriff birgt sich doch fast der größte Reichtum, den das Leben uns bietet. Unter diesen meinen guten Bekannten sind freilich ein paar recht gescheite und angenehme Leute, mit denen ich gern in der Stadt, im Ratskeller oder im Frühstückslokal bei Krosse, einige Stunden verplaudern werde, und es soll mir auch nicht unlieb sein, wenn mich die Herren gelegentlich auf meiner Villa besuchen.
Meine Villa! Da habe ich nun meinen Rundgang mit Dir gemacht und bin glücklich wieder am Ausgangspunkt angelangt. Absichtlich bin ich ein wenig zurückgeschweift in die Vergangenheit – ich wollte Dir und auch mir selber einmal vorrechnen, was mir das Leben bisher gebracht hat, wollte gewissermaßen die Summe daraus ziehen und klarstellen, was ich jetzt noch vom Leben erwarte. Nicht mehr viel, ich bin wahrlich resigniert. Und doch wieder viel, denn heißt es nicht schon von Welt und Dasein viel verlangen, wenn man erwartet, daß sie uns in Ruhe lassen, daß sie es einem gönnen, so zu leben, wie man sich’s wünscht? Ich glaube, das wird doch nur wenigen Auserwählten zuteil – möge ich einer davon sein!
Der Anfang ist jedenfalls gut. Seit Jahren schon fahndete ich auf das, was ich jetzt habe: ein hübsches bequemes Landhaus inmitten eines Gartens, in der Nähe einer deutschen Großstadt, zu der ich einige Beziehungen habe. Das klingt einfach, fügt sich aber bei weitem nicht so leicht. Hier gefiel mir das Haus nicht; dort war mir die Stadt fremd oder unangenehm; hier war der sogenannte „Garten“ eine öde Sandfläche, an der höchstens ein Kamel Wohlgefallen haben konnte, dort war die Stadt kaum einen Steinwurf entfernt, so daß von Stille und Sammlung keine Rede sein konnte, oder die Wohnstätten der Menschen lagen so weitab, daß sie nur in zwei bis drei Stunden angestrengten Marschierens zu erreichen gewesen wären. Da bietet mir nun der gütige Zufall gleichsam auf dem Präsentierteller dies Juwel von einem Landhause dar. Eine etwas menschenfeindlich gesinnte melancholische alte Dame hatte sich diesen Wohnsitz nach ihren eigenen Angaben geschaffen, als sie aber im Begriff war, ihn zu beziehen, wurde sie von einer Lähmung betroffen, der ein baldiger Tod folgte, und ihre Erben wußten nicht, wohin mit diesem idyllischen Witwensitz. Mein Agent hört davon, meldet sich, tritt in Unterhandlung, giebt mir Nachricht – ich komme, sehe und bin besiegt – er schließt ab, und zwar für mich recht vorteilhaft, und ich bin im Besitz und folglich auch im Recht!
Da steht sie nun, hell und freundlich, meine Villa, mit einer geräumigen Veranda im Erdgeschoß, einem schönen Balkon im ersten Stock und einem koketten Türmchen rechts oben, von dem man einen weiten prachtvollen Rundblick genießt. Sechs Zimmer unten, ebensoviel im Oberstock, zwei luftige Stübchen im Turm. Küche, Kellereien, Wirtschaftsräume, alles bequem und praktisch eingerichtet. Sie ist kein übler Baumeister gewesen, meine alte Dame. Der Garten ist sehr groß und schön, in Terrassen angelegt, ohne künstliche Grotten, Teppichpflanzungen und sonstigen Firlefanz. Dagegen hat er einen dunklen Weiher, von Eschen umstanden, die ihr schlankes Gezweig bis ins Wasser hängen. Dies Gezweig ist zwar jetzt fast noch völlig kahl, kaum hier und da mit einem kleinen grünen Fleck betupft – es ist ja noch sehr früh im Jahr. Haben wir aber erst den Frühling und den Sommer im Lande, dann wird’s hier wundervoll werden, die ganze Villa muß da wie in Grün gebettet sein, die Blätterwogen könnten fast darüber zusammenschlagen. Du kennst meine Liebhaberei fürs Gärtnern, die haftet mir noch von meinem Leben auf dem väterlichen Gut an, und hier werde ich ihr nach Herzenslust nachgehen können. Mein Studierzimmer ist über die Maßen behaglich eingerichtet, es hat den Blick auf den Weiher und die schönsten Baumgruppen des Gartens; wie gut wird sich’s da arbeiten und lesen lassen! Ich habe mir von meinem Buchhändler so viel Lektüre schicken lassen und aus der Stadt so viel Zeitungen bestellt, daß ich ein Jahr hindurch den ganzen Tag nur lesen könnte und doch nicht fertig würde. Ich habe so lange auf Reisen herumgetrödelt, daß ich in unserer zeitgenössischen Litteratur von einer geradezu schmachvollen Unwissenheit bin und daher bestrebt sein muß, diese Lücken möglichst rasch auszufüllen.
Du mußt wissen, ich bin einigermaßen ein Sonderling geworden in den letzten Jahren. Daher passe ich auch nicht mehr in die Stadt, wenigstens nicht für den beständigen Aufenthalt dort. Ich will zum Beispiel in einer leichten Stoffkappe und in Leinenschuhen einhergehen, ohne daß die Menschheit mich angafft oder zum mindesten in mir einen halb verrückten Engländer vermutet. Ich will stehen bleiben und weitergehen, wann es mir gefällt, ohne von andern geschoben, gestoßen und gehemmt zu werden. Ich will in Muße spazierengehen und nicht durch dunstige heiße Straßen mich treiben lassen inmitten eines fiebernden Menschenschwarms. Ich will auch, sobald es mir beliebt, ein paar Worte vor mich hinreden, wie das jetzt oft so meine Art ist, ohne daß man mich für einen Narren hält. Und gute freie Luft will ich atmen, nicht aber den Höllenbrodem aus kochendem Asphalt, Staub, Rauch und Qualm, den die großen Städte liefern. Alles das aber, was ich will, kann ich in meinem „Buen Retiro“ haben.
Der Name steht in großen, golden leuchtenden Lettern über dem breiten vorspringenden Sims der Veranda. Wohlverstanden, diesen Namen habe ich der Villa gegeben, die alte Dame ist daran unschuldig. Klingt es nicht hübsch: „Buen Retiro?“ Und wörtlich soll es das werden, was es sagt, eine „gute Zuflucht“ für einen, der auf der hohen See des Lebens, wenn nicht Schiffbruch, so doch mancherlei Gefahren und Not erlitten hat und der nun an das sichere Gestade geflüchtet ist, um ruhig lächelnd auf den Ocean zurückzublicken, in der schönen Gewißheit, daß seine Brandungswellen nicht mehr bis zu ihm heranreichen, daß kaum ein versprengter Tropfen Schaum ihm in seiner stillen Klause den Fuß benetzt. Ach, es wird herrlich, es wird beneidenswert sein, hier zu leben – komm’, mein guter lieber Alter, komm’ und sieh Dir’s an, und wenn Du mir’s mißgönntest, Dich an meine Stelle wünschtest … mir sollte es leid thun um Dich, doch könnte ich es Dir wahrlich nicht verdenken!
Du bittest mich in einer etwas ironisch gefärbten Stelle Deines Briefes, es Dir jedenfalls anzukündigen, wenn ich mein „Idyllspielen“ satt habe und die Villa wieder loswerden wolle – unter Deinen zahlreichen Bekannten könntest Du mir vielleicht einen Käufer vermitteln. Also, Du meinst in vollem Ernst, daß ich mit meinem „Buen Retiro“ mir selbst etwas weismachen will? Freilich, man soll nichts verschwören und ich bin der letzte, der dies thut. Ich habe es aufgegeben, mich selbst zu beobachten, aus meinem eigenen Ich ein Studium zu machen. Es kommt weder für meine Mitmenschen noch für mich selber etwas Nützliches [3] oder Erfreuliches dabei heraus. Heutzutage ist es ja sehr modern, die Sonde in jede Stimmung, jede Gemütswallung, jede Regung der Phantasie zu stecken, immer gleich zu fragen: „Was kann das zu bedeuten haben? Was kündigt dieser plötzliche Umschlag des Gefühls, was diese unerklärliche Erkältung oder Erwärmung an?“ Auch ich habe es eine Zeit lang mit meiner Person so getrieben, ich bin mir aber nicht interessant genug als fortgesetztes Beobachtungsobjekt. Zudem beschäftigt mich der Gedanke, ein wissenschaftliches Buch zu schreiben – das ist weit angenehmer, als beständig das werte Ich zu beleuchten; man sieht dieses Ich am Ende doch in einem weit günstigeren Licht, als es verdient. Da ich nun aber meine aufwallenden Regungen u. s. w. nicht alle mehr gewissenhaft zu Protokoll nehme, so kann es allerdings sein, daß ich mich eines schönen Tages mit mir selbst überrasche und meines heißgewünschten „Buen Retiro“ überdrüssig werde. Ich kann es mir aber durchaus nicht denken, würde mir auch eine derartige Geschmacksverirrung sehr übel nehmen und entschieden eine schlechte Meinung von mir bekommen. Jedenfalls warte ich das alles in Ruhe ab und lasse die Dinge an mich kommen!
Zwei Deiner Fragen habe ich zum Schluß Dir noch zu beantworten. Wer denn für mich in meinem verwunschenen Schloß – das ist es nicht, es ist mein geliebtes, stilles „Buen Retiro“! – das profane Geschäft des Haushaltens versehe. Erinnerst Du Dich, lieber Herzog, aus unsren früheren Gesprächen meiner Schilderungen eines originellen Frauenzimmers, das auf meinem elterlichen Gut die Wirtschaft besorgte? Ich meine, Du mußt Dich erinnern, ich habe Dir zu häufig von ihr erzählt und wir haben zusammen herzlich über sie gelacht. Dieses „Mamsellchen“ nun – diese ostpreußische Benennung ist ihr geblieben – liebt mich mit einer Schwärmerei, die sich unaufhörlich auf der Grenze zwischen dem Komischen und dem Rührenden bewegt, und es war der größte Kummer ihres Lebens, daß ich nach dem Tode meines Vaters nicht dessen Gut behielt und selbst weiter bewirtschaftete – eine schöne Wirtschaft wäre das geworden! –, sondern mein Bündel schnürte und auf Reisen ging. Da ich sie dabei nicht gut mitnehmen konnte, so sah sie sich gezwungen, eine neue Stelle als Wirtschafterin anzunehmen, und ich erhielt jedes Jahr ein paar erzdrollige Episteln von ihr, in denen die ergötzlichsten Schilderungen ihrer Herrschaft enthalten waren, dazwischen Klagen über die Trennung von mir, aus denen eine geradezu mütterliche Fürsorge und Zärtlichkeit sprach. Um es kurz zu machen: als ich die Villa erwarb, erwarb ich mir zugleich mein getreues Mamsellchen als Haushälterin: es eilte glückselig auf meinen ersten Ruf herbei und versieht nun meine Wirtschaft mit Hilfe eines männlichen Faktotums, genannt Ewert, aufs vollendetste. Bitte, komm’ her und überzeuge Dich von der Wahrheit des Gesagten! Du wirst ein Menü finden, das selbst Deinem verwöhnten Großstadtgaumen genügen dürfte.
Und nun zu Deiner Nachschrift! Du fragst zum erstenmal seit langen Jahren nach Margot, meiner Pflegeschwester, die Deine erste Liebe war. Ich weiß, mein Alter, wie tief dies Gefühl damals bei Dir ging, wie hart es Dich traf, daß Margot, die doch Neigung für Dich verriet, so plötzlich sich dem neuen Bewerber zuwandte, der allerdings eine glänzende Partie genannt werden durfte. Die Gattin eines Generalkonsuls auf Java – das hat sie wohl gelockt; phantastisch und etwas abenteuerlich angelegt war sie ja von jeher.
In welch’ hohem Grade sie das gewesen ist, davon hast Du wohl kaum einen rechten Begriff bekommen, destomehr ich, ihr Pflegebruder, der mit ihr zusammen aufwuchs. Als sie, das einzige Kind einer Jugendfreundin meiner Mutter, zu uns ins Haus kam, war sie, etwa achtjährig, ein aufgewecktes kleines Ding, wie ein Spürhund hinter jedem Märchenbuch her, das ihrem abenteuerlichen Sinn neue Nahrung bot. Himmel, was konnte dies Kind sich für merkwürdige Dinge ausdenken, was für unglaubliche Scenen und Spiele haben wir beide miteinander vollführt, denn ich war ihr treuer Gefährte und staunte ihre unversiegbare Erfindungsgabe gläubig an! Meine Mutter bemühte sich, dieser Anlage Margots, die ihr wohl nicht ganz unbedenklich schien, zu steuern, aber sie hatte nur wenig Erfolg damit. Garten, Wald und Feld waren ein viel zu ausgedehntes Gebiet für zwei heranwachsende Kinder, als daß sich eine Ueberwachung hätte ermöglichen lassen. Als Margot dann mit kaum fünfzehn Jahren in die Residenz kam, um sich den berühmten „letzten Schliff“ daselbst zu holen, da schoß dieser phantastische Trieb in ihr vollends empor. Sie trug jeden Pfennig ihres Taschengeldes ins Theater, sie machte ohne weiteres Besuch bei einigen weiblichen Bühnengrößen, die das hübsche, begeisterte Mädchen freundlich genug aufnahmen, sie deklamierte ihnen Gedichte vor und ließ sich von ihnen Schmeicheleien sagen und eine große Zukunft prophezeien – denn zur Bühne wollte sie, das stand felsenfest. Ich war auch in dieser Zeit ihr einziger Vertrauter, sie schrieb mir lange Briefe, gestand mir, daß sie in aller Stille Rollen einstudiere, daß eine ihrer Gönnerinnen ihr wöchentlich einmal Unterricht erteile, und sie – Margot – betraute mich mit der schönen Aufgabe, die Eltern allmählich auf ihre Berufswahl vorzubereiten, da ich ihnen näher sei und sie des öfteren sehe. So lieb ich sie hatte, ich redete ihr aus allen Kräften ab. Ich wußte, daß meine Eltern nie ihre Einwilligung zu diesem Beruf geben würden, denn sie hatten eine tiefgewurzelte Abneigung gegen die Bühne und alles, was damit zusammenhing, seitdem die einzige Schwester meines Vaters, die heimlich zum Theater ging, auf traurige Weise zu Grunde gegangen war, und ich, trotzdem ich ein eifriger Theaterbesucher war und gegen den Schauspielerberuf an sich nicht das Geringste einzuwenden hatte, auch ich war ganz und gar gegen Margots Pläne. Lag es mir von den Eltern her im Blut oder war es ein ganz persönliches Vorurteil – der Gedanke, meine liebe reizende Pflegeschwester könnte da Abend für Abend auf der Bühne stehen, sich heute vom ersten Liebhaber, morgen vom Bonvivant und übermorgen vom Heldenvater vor aller Leute Augen umarmen lassen – dieser Gedanke verursachte mir beinahe einen körperlichen Schmerz. Mochte zum Theater gehen, wer wollte – die Mitglieder unserer soliden einfachen Familie sollten davonbleiben! Findest Du dies philisterhaft gedacht? Ich kenne sehr viele, die ebenso urteilen wie ich, sie sind oft große Kunstschwärmer, interessieren sich aufrichtig fürs Theater, aber ihre Angehörigen wollen sie dort nicht sehen, zumal die weiblichen nicht, denn unsereins weiß genug vom Leben, um die tausend Klippen, die einem unbeschützten hübschen und jungen Mädchen in solcher Laufbahn drohen, richtig zu würdigen.
Als Margot nun endlich nach Hause kam, gab es, wie Du Dir denken kannst, Sturm; Sturm von unserer ebenso wie von ihrer Seite. Sie that mir eigentlich leid, wir waren unserer drei gegen sie, aber das konnte mich doch nicht veranlassen, gegen meine Ueberzeugung zu reden. Es fielen heftige Worte, hier wie dort, meine vernünftigen, an schlichte gerade Verhältnisse gewöhnten Eltern fanden Margots Plan unerhört. Diese wiederum ließ deutlich durchblicken, daß sie uns sämtlich für beschränkte einseitige Alltagsnaturen hielt, denen der Sinn für alles Hohe und Schöne fehle. Später hat sie darüber anders denken gelernt.
Nun, die Eltern verweigerten kurz und bündig ihre Zustimmung, und wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht der bewußte Generalkonsul der Sache eine unerwartete Wendung gegeben hätte. Er lernte Margot kurze Zeit nachher kennen, nachdem sie Deine Bekanntschaft gemacht hatte, er verliebte sich stürmisch in sie, warb sofort, während Du zartfühlend gezögert hattest, und erhielt ihr Jawort, wozu nicht zuletzt, ich bleibe dabei, seine glänzende Stellung sowie das verlockende Bild beitrug, das Margot sich von einem Leben in Batavia machte.
Ich führe dies alles absichtlich aus, um Dir Margots damaliges Benehmen und ihre Beweggründe klar zu machen. Ich habe trotz alledem nicht einen Tag aufgehört, sie brüderlich zu lieben, aber wenn meine stille Abneigung gegen alles, was mit der Bühne zusammenhängt, seit jener Zeit noch zugenommen hat, so ist Margot schuld daran. Sie fühlte sich damals sehr verletzt, daß ich, bis dahin ihr treuester Freund und Genosse, ihr nicht zu Hilfe kam, und konnte mir das lange nicht verzeihen.
Ihre Ehe ist, soweit ich es beurteilen kann – sie schrieb mir sehr selten – ganz glücklich gewesen. Ich hörte von glaubwürdiger Seite, der Generalkonsul, den ich persönlich so gut wie gar nicht kannte, sei eine liebenswürdige Natur und in seine reizende Frau sehr verliebt gewesen, er habe ihr keine Bitte verweigern können. Er soll sie in ihrer Neigung zu Aufwand und Prachtliebe nur noch bestärkt haben, man sprach von glanzvollen Festen in Batavia, deren Seele meine Pflegeschwester gewesen sei.
Als dann ihr Mann starb, sah es freilich schlimm genug aus, sie ging mit dem einzigen Kinde, einem Mädchen, nach Brüssel, wo einige Verwandte des Generalkonsuls wohnten, und dort habe ich sie vor etwa acht oder neun Jahren besucht. Sie war wohnlich und hübsch eingerichtet, sie selbst aber fand ich ungeheuer verändert; sie sah schmal und elend aus – keine Spur [6] mehr von der blühenden feurigen Margot – und klagte viel. Das Leben in Brüssel schien ihr keineswegs zu behagen, doch ging dies mehr aus einzelnen Andeutungen hervor. Da ich selbst damals ein fast ununterbrochenes Reiseleben führte, so konnte ich sie nicht bitten, zu mir zu ziehen, so naheliegend ein solcher Vorschlag auch gewesen wäre. Ich glaube bestimmt, sie hätte ihn angenommen, denn wir beide fanden damals trotz der langen Trennung und des spärlichen schriftlichen Verkehrs sofort den alten Ton geschwisterlicher Herzlichkeit wieder, der unsere Kinder- und Jugendjahre so lieb und schön gemacht hatte, und Margot bat mich auch, falls je ein wahrer Freund, eine thatkräftige Hilfe ihr not thäte, ihr sowie ihrem Kinde getreulich beizustehen. Selbstredend gab ich ihr das Versprechen mit aller Bereitwilligkeit. Ich bin aber nicht in die Lage gekommen, es zu halten. Margot ist wenige Jahre nach jenem Besuch in Brüssel gestorben, der Tochter nahm sich ein Vetter ihres Vaters als Vormund an, und ich habe seither, trotzdem ich mich in mehreren Briefen teilnehmend nach ihr erkundigte, nichts mehr von ihr gehört. Damals war sie ein blasses schmächtiges Kind von etwa dreizehn bis vierzehn Jahren, ziemlich still und unzugänglich im Verkehr, obschon ihre Mutter ihr allerlei Gaben und Talente nachrühmte. Ich nehme an, sie ist so hübsch geworden wie Margot es war, und hat ebenso jung geheiratet wie diese – möge ihr Glück von längerer Dauer sein! Dies ist alles, was ich Dir von Deiner alten Jugendliebe berichten kann – nimm vorlieb damit! Ich denke noch oft an die liebreizende Margot früherer Zeiten, die mein stilles Elternhaus mit Heiterkeit und Sonnenschein erfüllte, und ich hätte gewünscht, ihr oder ihrem Kinde einmal ernstlich dafür danken zu können.
Und damit Schluß, mein alter Freund! Der Frühlingsabend
sinkt herab, und mich verlangt nach einem weiten Spaziergang. Ich
habe hier viel Wald in der Nähe, aus der kleinen Seitenpforte
meines Gartens führt ein Weg unmittelbar dorthin. Schön ist’s da
schon jetzt, und unsagbar schön wird’s im Mai sein und im Sommer,
wenn die Linden blühen. Brandet, braust, ihr stürmischen Wellen
des Lebens, ihr spült nicht einmal bis an die friedlich stillen
Ufer meines „Buen Retiro!“
Vale! Immer der Deine!
Cornelius Röder.
Röder schrieb gerade mit seiner festen, markigen Handschrift die Adresse, als es dreimal an seine Thür klopfte.
„Nur näher!“ rief der Hausherr wohlgelaunt, ohne sich umzuwenden, dies Klopfen kannte er!
Die eintretende Persönlichkeit rechtfertigte durch ihre bloße Erscheinung die Bezeichnung „originelles Frauenzimmer“, die Röder in dem Briefe an seinen Freund gebraucht hatte. Ganz klein, von zierlicher Behendigkeit, tief brünett, die Brauen beständig über einem Paar lebhaft funkelnder Schwarzaugen hoch hinaufgezogen, wie in unausgesetztem Erstaunen, daß es so viel Seltsames in der Welt zu schauen gebe, ein schneeweißes steif gestärktes Mützchen auf dem Hinterkopf – sie nannte es ihr „Hüllchen“ – so machte das Mamsellchen einen Eindruck, daß man es trotz seiner Kleinheit niemals übersehen konnte. Man wandte sich lächelnd oder verwundert nach dem kleinen Persönchen um, wo es zum erstenmal vorüberschritt, und wer es gesehen hatte, vergaß es sobald nicht.
Als blutjunges Ding von fünfzehn Jahren war Linchen Moser – dies war ihr eigentlicher Name, bei dem seit Menschengedenken sie niemand rief – auf das Rödersche Rittergut gekommen, und zwar in der Eigenschaft eines Kindermädchens für den damals fünfzehn Monat alten Sohn und Erben Cornelius. Sie liebte Kinder abgöttisch, hatte etwas Gesetztes, Verständiges in ihrem Wesen und hütete den kleinen Jungen wie ihren Augapfel. Kein anderer Mensch verstand so herrlich mit dem Kinde zu spielen wie sie, das Kinderzimmer hallte beständig von Lust und Lachen wieder, wenn Linchen ihrem Pflegling ihre Späße vormachte. Er hing mit großer Liebe an ihr, die sich um kein Bruchteil verminderte, als sie allgemach zur „Mamsell“ und er, unter Anleitung eines Kandidaten, zu einem Lateinschüler aufrückte. Ja, auch als der Junge in die Stadt aufs Gymnasium geschickt wurde und nur zu den Ferien heimkam, erlitt sein Verhältnis zu Mamsellchen keine Störung. Die beiden korrespondierten miteinander, sie schickte ihm heimlich Aepfel und Wurst, er sandte ihr ebenso heimlich zerrissene Anzüge, von denen die Mama nichts wissen sollte. Als Primaner, selbst als Student verfehlte Cornelius nie, seine hochgewachsene Gestalt zu dem kleinen Frauenzimmerchen hinabzuneigen, wenn er heimkehrte, es kräftig zu umarmen und laut schallend auf beide Wangen zu küssen, und es kostete einen harten Kampf, ehe er es duldete, daß „seine Alte“ ihn mit „Sie“ anredete, während er sie unentwegt duzte, auch als er zum Doktor der Philosophie geworden und später von langjährigen Reisen zurückgekehrt war.
Jetzt huschte sie rasch ins Zimmer und dicht bis an den Schreibtisch des Hausherrn.
„Doktorchen, Sie werden sich rein tot arbeiten!“ Mamsellchen sprach den blühendsten ostpreußischen „Dialakt“, den man sich denken konnte.
„Aber Mamsellchen, sieh doch her! Ist das eine Arbeit?“
Sie senkte ihre komische Spitznase bis auf den Briefumschlag herab und prüfte sorgfältig die Aufschrift.
„An einen Herrn!“ betonte sie mit Befriedigung.
Röder lachte hell auf. „Wie oft soll ich Dir’s sagen: ich schreibe keine Briefe an Damen.“
„Na, das würden Sie mir doch nicht erzählen. So ’was sagen die Männer nie!“
„Ich möchte gar zu gern wissen, woher Du Deine tiefen Kenntnisse über die Männer geschöpft hast.“
Mamsellchen kniff pfiffig das rechte Auge zu und nickte wichtig vor sich hin. „Soll ich meine sechzig Lebensjahr’ wie ’ne Dumme durch die Welt gegangen sein?“
„Bewahre, wer denkt denn das?“ begütigte er.
„Na, denn also! Ich hab’ immer so’n Auge auf die Männer gehabt, Doktorchen! Aber nun auch schnell! Mappe zugeklappt und spazierengegangen – hier ist der Hut, da der Stock, der Ueberzieher.“
„Bei dem warmen –“
„Er wird angezogen! Um ’ne kleine Stund’ ist es hundekalt, sag’ ich! So, nun ist es schön! Doktorchen, so um die Schläfen herum fangen Sie auch schon an, grau zu werden!“
„Das siehst Du jetzt erst? Ich bekam mit dreißig Jahren schon graue Haare!“
„Aber nötig wär’ es nicht. Der sel’ge Papa war bis hoch in die Fünfziger kohlrabenschwarz, und die Mama – ja, bei den Blonden sieht man’s Graue nicht! Also ist es bei Ihnen der Kummer gewesen!“
„Warum nicht gar! Kummer!“
„Und wer Ihnen den gemacht hat,“ fuhr sie unbeirrt und ingrimmig fort, „mit dem hätt’ ich mich ’mal gern so unter vier Augen besprochen! Natürlich ist’s ’ne Dame gewesen. Und ’ne schöne Dame muß das gewesen sein.“
Ein gewisser Ausdruck in Röders Gesicht ließ das Mamsellchen verstummen. Ach, sie kannte ihn gut! Wer auf der weiten Welt konnte ihn denn besser kennen als sie!
„Adieu, meine liebe Hausfrau! Und Ewert soll den Brief besorgen. Zum Abendbrot bin ich wieder da.“
Draußen im Garten traf er auf Ewert, der beim Einsäen und Bestellen der Blumenbeete war – ein kräftiger junger Bursch mit einem kugelrunden, kurz geschorenen Kopf und einem zufriedenen roten Gesicht, ehemaliger Offizierbursch, der sich viel auf seine Manieren, seine makellose Dressur zu gut that. Er stellte sich sofort in Positur, als er seines Gebieters ansichtig wurde: Oberkörper stramm aufgerichtet, Hände knapp an der Hosennaht, Kopf hoch, Blick von vorschriftsmäßiger Ausdruckslosigkeit, eingedenk der schönen Mahnung des Unteroffiziers: „Der Kerl sieht aus, als ob er sich ’was denkt! Der Kerl hat sich nichts zu denken! Gradauszusehen hat der Kerl!“
Doktor Röder hatte eine kleine sachgemäße Auseinandersetzung mit Ewert wegen der Sämereien; er nahm selbst den Spaten zur Hand und setzte ein paar Pflänzchen, lockerte die feuchte dunkle Erde und verteilte die Sämereien, prüfte hier und änderte dort, endlich ging er mit einem Kopfnicken davon.
Der Weiher ruhte still und träumend in seinen runden Ufern, denen zartgrüne Gräser entsproßten. Eine seltsame dunkelklare Farbe hatte dieses Wasser, so wie gewisse Augen, durch die man bis in die Tiefen der Seele hinunterschauen zu können meint – man schaut und schaut und sie sind unergründlich!
Ein laues Lenzeslüftchen spielte um die Bäume, die den Weiher umstanden; sie kamen ins Flüstern, rührten leise die schlanken, blattlosen Zweige, daß es klang wie ein Seufzen; [7] „Kommt der Frühling noch nicht bald?“ Und um die Füße des langsam Dahinwandelnden kreiste es rasch und scheu, in blitzschnellem Flug, daß die gegabelten Flügel fast die Erde streiften – die Schwalben, die ersten Schwalben!
Und nun, wie die kleine seitliche Gartenpforte sich hinter dem Wanderer geschlossen hatte, umfing ihn nach wenigen Minuten der Wald, ein wohlgepflegter schön bestandener Forst, der dem Staate gehörte, Laub und Nadelholz untereinander, von großen Lichtungen und schnurgeraden Schneisen unterbrochen, die einen weiten Durchblick zuließen. Kräftiger Frühjahrsodem entströmte der Erdschicht, die unter den hohen Tannen- und Fichtengruppen lagerte, um das niedere Gesträuch wob bläulicher Duft, und die Zweige der weißschimmernden Birken zeigten sich grün gesprenkelt. An den Fuß der alten kahlen Eichen und Buchen geschmiegt, guckten truppweise die Anemonen hervor, hielten aber ihre lieblichen weißen Kelche noch fest verschlossen, die spröden zusammengerollten Knospen warteten noch auf den wärmeren Sonnenstrahl. Lau strich die weiche Luft um die alten Baumriesen und schmeichelte ihnen die Frühlingshoffnung ins Herz hinein. Schräge müde Sonnenstrahlen glitten mattgoldig und zitternd von Stamm zu Stamm, und hier im Grunde, wo der Waldboden sich senkte, webten schon die Schatten der Abenddämmerung. Ein traumhaftes Ahnen war über den ganzen Wald gebreitet. Röder empfand voll diesen Zauber. Er fühlte sich eins mit der Natur, hatte sie schon als Kind geliebt und ihr geheimes Walten belauscht, und gerade der kommende Lenz erfüllte ihn wie so viele Menschen, deren Gemütsleben reich und tief ist, mit lächelnder Wehmut. Er konnte sie nicht abwehren, diese erwartungsvolle Stimmung in jedem Frühjahr, trotzdem er genau zu wissen glaubte, daß es für ihn nichts mehr zu erwarten gab. War das denn aber nicht gut so? Wer nichts mehr vom Leben erwartete, dem konnte es auch nichts mehr zuleide thun!
Heute weitete sich ihm die Brust in wohligem Behagen. Er kam sich so geborgen, so wohl aufgehoben vor! In seinem Brief an den Freund hatte er sich ganz gegeben, wie er war, und das ruhige Gefühl dauernden Friedens, das er dort ausgesprochen, tönte wie ein reingestimmter Accord in ihm nach.
„Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt –“
murmelte er vor sich hin. Zwar, er hielt keinen Freund am Busen und genoß allein, aber wie schön stimmten die ersten zwei Zeilen mit seinem Empfinden überein! Er hatte sich vor der Welt verschlossen – „ohne Haß“ war es geschehen, und daß er diese Welt oder doch ein Stück von ihr jede Stunde wieder erreichen konnte, sobald es ihn gelüstete, für eine Weile wieder in ihren Strudel unterzutauchen, gerade das gab seinem neuen Leben einen besonderen Reiz. Er konnte, sobald er wollte – aber gewiß, er würde nicht oft wollen.
Die Sonne war hinunter, am westlichen Himmel zerfloß ein sanftes Rosenrot, schnellziehende Wolken segelten über den Bäumen dahin. Einzelne mächtige Fichten mit langen hängenden Bärten standen wie ein paar eisgraue Wächter am Wege. Ein kleiner Bach, der von einer steinigen Anhöhe herabsprudelte, sang sein eintöniges Liedchen, rechtshin dehnte sich eine weite Waldwiese, über welcher milchweiße Nebel sich ballten. Hier mußten in lauen Sommernächten Irrlichter spuken und Leuchtkäfer ihr Spiel treiben. Weiter, weiter ins Dickicht hinein, einen schmalen Pfad hinan, der sich aufwärts wand zwischen knorrigen Buchen und kurzem Gestrüpp. Von dort oben mußte es ein schöner Blick sein, wenn alles grün bestanden war! Wie herrlich, mit wachsamem Auge all das Kommen und Werden, das Keimen und Blühen zu beobachten! Was wissen die Menschen in den Städten von solch stillem Genuß!
Aus den tiefer hängenden Wolken fing es jetzt an zu tröpfeln, ein leiser warmer Frühlingsregen fiel sacht hernieder, regungslos stand Busch und Baum, die Wohlthat zu empfangen. Der einsame Wandersmann hätte an die Heimkehr denken sollen, aber es war ihm zu wohl im Walde, und so schritt er weiter, an sumpfigem Moor vorüber, wo die grün glänzenden, scharfkantigen Schilfstauden im leisen Lufthauch wie Schwerter aneinanderklirrten, mit einem seltsam surrenden Ton, neben einer Felspartie, die wie eine kleine aufgetürmte Burg anzusehen war, bis zu einer tiefen Schlucht, die im Sommer von einem Blättermeer ausgefüllt sein mußte, jetzt aber nur eine Anzahl kahler Aeste aufwies, die ihr Gewirr wie tausend ineinander verschlungene Riesenarme in die Luft streckten. Dann dunkelte es rasch, so rasch, daß die Rückkehr kein ganz leichtes Stück Arbeit war.
Aber er fand sich zurecht, auf seinen langen Reisen hatte er ganz andere Wege zurückgelegt, und wie er dann endlich, durchnäßt und ermüdet, seine Villa erreichte und der Strahl der großen Lampe in der Vorhalle die goldene Inschrift aufleuchten ließ: „Buen Retiro“ – da überkam den Heimkommenden die ganze Freude des Besitzes, das schöne Gefühl ungestörten und unstörbaren Friedens, das ihn an dieser Stätte empfing.
Nun war der Mai ins Land gekommen, ein ungewöhnlich warmer und schöner Lenzmonat. Um „Buen Retiro“ grünte und blühte alles, der Flieder hing seine Lasten üppiger Dolden über den Gartenzaun, zu Hunderten schlugen die Veilchen ihre blauen Augen auf, Maiglöckchen standen auf den Beeten und sproßten wild im Walde – ganze Ströme lieblicher Düfte zogen durch die weiche Luft. Auf leichten Armen schaukelten die Bäume wohlgefällig ihre Blätter- und Blütenlast, von den Bienen emsig umsummt, von den müßigen Schmetterlingen leichtherzig umgaukelt.
Die Rasenplätze hatten schon gemäht werden müssen, sie strotzten von üppigem Graswuchs. „Mamsellchen“ war glückselig über ihre prachtvollen Gemüsebeete und über den ersten „Satz“ junger Hühnchen, die eine Glucke glücklich ausgebrütet und die nun wie kleine Federkugeln auf dem Hühnerhof umherrollten. Ihr Doktor hatte für solche Dinge leider kein rechtes Verständnis, trotzdem er doch vom Lande stammte. Er war aber eines Abends ganz aufgeregt zu seiner alten Getreuen gekommen und hatte ihr mitgeteilt, im Garten sei eine Nachtigall, er habe sie wahr und wahrhaftig singen gehört. Ihm zuliebe heuchelte Mamsellchen einige Freude; sie hatte die holde Philomele längst entdeckt und sie im Innern einen Störenfried genannt, weil sie unter ihrem Fenster jeden Morgen um vier Uhr zu schlagen begann und die brave Haushälterin um ihren Morgenschlaf brachte. Indessen wenn er sich freute – mochte es denn in Gottesnamen sein! Alles, was ihm eine gute Stimmung brachte, war ihr willkommen, und dessen war viel, sie konnte mit ihm zufrieden sein. Ihn freute schlechterdings alles, der Sonnenschein, der Wind, ein blühender Baum, eine duftende Blume – ihn freute auch das schlechte Wetter. Dann konnte er doch einmal ein wenig fleißig sein und kam nicht in Versuchung, den ganzen Tag in Wald und Garten umherzulaufen. Mamsellchen sah ihn beständig heiter und gut aufgelegt von morgens bis abends umhergehen, hörte ihn oft ein Liedchen vor sich hinsummen, sah ihn halbe Stunden lang, die Cigarette zwischen den Lippen, mit Bast und Gartenschere hantieren und wunderte sich, wie ein so gelehrter weitgereister Mann so wenig Abwechslung brauchen könne. Denn er bekam selten Besuch und ging auch selten in die Stadt, und wenn sie ihn fragte, ob er denn beides nicht entbehre, lachte er und sagte Nein.
Ein köstlicher Maiabend. Ueber Tag hatte ein leichter kosender Wind zahllose Blüten von den Obstbäumen geschüttelt, daß die Gartenwege und Rasenplätze wie überschneit aussahen. Jetzt rührte sich aber kein Lüftchen, warmes Sonnengold tauchte die Villa in Purpur und ließ ihre heitere Inschrift wie Flammen leuchten.
Mamsellchen stellte eben ein Glas frische Milch für ihren Doktor auf seinen Arbeitstisch und sah durch das offene Fenster zu, wie er draußen sich zu den Narzissen hinabbeugte und sie aufmerksam anschaute, das waren Lieblingsblumen schon des Knaben gewesen. Jetzt richtete seine Gestalt sich zu ihrer ganzen stattlichen Höhe auf – er trug das Haupt ein klein wenig gebeugt, sein volles dunkles Haar war nur stellenweise leicht grau angeflogen, der gut gepflegte Schnurrbart aber fast schwarz, das Gesicht luftgebräunt, die Augen klug und ruhig blickend, ein wenig kurzsichtig. Alles in allem ein gut aussehender Mann – Mamsellchen fand ihn natürlich bildhübsch, „nur könnte er für seine Jahre jünger und flotter ausschauen, er macht sich mir viel zu alt. Und zu denken, daß ich den als kleines Kind im kurzen weißen Kleidchen auf dem Arm getragen habe!“
Hier kam Ewert mit den Postsachen, legte sie auf den Arbeitstisch und zog sich zurück. Doktor Röder hatte ihn kommen sehen, er pflückte eine Narzisse, steckte sie sich ins Knopfloch und trat in sein Zimmer, um etwaige Briefe zu lesen.
[22] Als Röder sich dem Tisch näherte, auf welchen Ewert die Postsachen niedergelegt hatte, sonderte Mamsellchen gerade mit spitzem Finger ein zierliches Briefchen von elfenbeinweißem dicken Papier mit Goldrand aus den übrigen Papieren heraus und reichte es ihrem Herrn, ohne ein Wort dazu zu sprechen. Desto mehr sprachen ihre Augen.
„Was ist das?“ fragte er gleichgültig.
„Ja, was ist das?“ wiederholte sie. „Das müssen Sie doch wissen! Etwas Weibliches ist’s, soviel ist klar.“
„Wirklich?“ Er hob das Briefchen nahe zu seinen Augen empor und sah sich die zierliche Damenhandschrift genau an. „Wer kann mir denn zu schreiben haben?“
„Das müssen Sie doch wissen!“ beharrte sie. „Was geht es mich auch an – – – bloß weil Sie neulich sagten, Sie hätten keine Damenkorrespondenzen – und früher sprachen Sie doch eigentlich immer die Wahrheit!“
„Das thu’ ich eigentlich auch heute noch,“ unterbrach er sie lachend. „Und ich weiß in vollem Ernste nicht – Poststempel Bremen – bleib’ nur hier, Mamsellchen, wir wollen das Geheimnis zusammen lösen!“
„Na, es schickt sich nun zwar gar nicht“ – dabei hob sich die kleine Alte in brennender Neugier auf den Fußspitzen empor und reckte die Nase hoch, um besser zu sehen.
Röder riß den Umschlag auf; vier eng beschriebene Seiten. „Gabriele Hartmann“ – er las sich selbst kopfschüttelnd die Unterschrift vor – „kenn’ ich nicht, hab’ ich nie gehört!“
Mamsellchen beobachtete ihren Doktor scharf und mit durchbohrendem Blick, wie ein Kriminalpolizist sein Opfer. Sie kannte sich aus in seinem Gesicht, aber sie durfte zufrieden sein, – er war wirklich ratlos, völlig ratlos.
Mit einem abermaligen Kopfschütteln setzte er sich in seinen Lehnstuhl und begann zu lesen. Mamsellchen, deren Anwesenheit er ganz vergessen zu haben schien, las mit, immer mehr, auf den Fußspitzen stehend, den Hals so lang machend wie irgend möglich.
„Sehr geehrter Herr Doktor!
Sie werden sich meiner nicht mehr erinnern, werden kaum mehr als den Namen des Kindes wissen, das vor nun fast neun Jahren, da Sie meine liebe verstorbene Mutter besuchten, scheu und still durch die Zimmer huschte und auf all Ihre freundlichen Fragen nur einsilbige schüchterne Antworten hatte. Dennoch weiß ich jede Einzelheit aus der kurzen Zeit, die Sie damals bei uns zubrachten, ganz genau. Hatte doch meine Mutter oft Ihren Namen genannt, jedesmal mit dem Zusatze, der Träger dieses Namens sei der beste, liebste Freund, den sie auf der weiten Welt besäße, ein Freund, so treu und zuverlässig, daß sie jederzeit fest auf ihn und seine Hilfe bauen könne, der einzige Mensch, von dem sie selbst Wohlthaten annehmen würde, da sie wisse, in welchem Sinn und Geist er sie ihr erwiese.
Solche Worte meiner Mutter, die ich als ausnehmend stolz und zurückhaltend kannte, von der ich wußte, daß sie namhafte Unterstützungen, die man ihr angeboten, ohne weiteres zurückgewiesen hatte, weil die Art und Weise, wie man dies that, ihr empfindliches Zartgefühl verletzten – solche Worte, sage ich, blieben nicht ohne Eindruck auf mich, die ich, als einzige Vertraute meiner Mutter, ein frühreifes Kind genannt werden konnte. Und als Sie dann selbst in unser Haus kamen, ich Sie sah und sprechen hörte, da wurde dieser Eindruck in mir bedeutend verstärkt. Ich hatte früher willig alles Gute von Ihnen geglaubt, weil es meine Mutter war, die es mir sagte; fortan glaubte ich es, weil ich aus eigener Beobachtung auf die Wahrheit des Gesprochenen schwören zu können meinte.
Als dann meine Mutter starb, da ich kaum siebzehn Jahre zählte, wurde es mir nicht schwer, ihr das Versprechen zu geben, das sie mir abforderte: das Versprechen, in Ihnen, geehrter Herr Doktor, meinen besten Freund und Berater zu sehen und mich in jeder Bedrängnis meines Lebens an Sie zu wenden.
Fürs erste war dies nicht notwendig. Ein Vetter meines verstorbenen Vaters, der mein Vormund wurde, nahm mich in sein Haus und verwandte den Rest meines kleinen Vermögens auf meine Ausbildung. Ich hatte es gut in jenem Hause, und als nach kaum zwei Jahren mein Gatte um mich warb, bin ich ihm willig gefolgt und man hat mich ihm willig gegeben.
Seit länger als einem vollen Jahr bin ich Witwe. Eine schwere Typhusseuche raffte meinen Mann dahin, und bei seiner Pflege ergriff die Krankheit auch mich und warf mich monatelang danieder. Hier nun, in der fremden Stadt, auf fremde Hilfe angewiesen – mein Vormund ist schon seit längerer Zeit gestorben – körperlich und seelisch todesmatt, weiß ich mir nicht anders zu helfen, als indem ich mich der oft wiederholten Worte meiner Mutter erinnere. Ich glaube, mich dafür verbürgen zu können, daß ich Ihre thatkräftige Hilfe, verehrter Freund – darf ich Sie so nennen? – nicht lange in Anspruch nehmen werde. Ich bin jung, bin niemals außer jener einen ernsten Krankheit leidend gewesen, ich habe den ernstlichen Willen, zu arbeiten, mir weiter durchs Leben zu helfen, sobald der jetzige Zustand körperlicher Schwäche und moralischer Mutlosigkeit überwunden ist. Wollen Sie es daraufhin eine Zeit lang, sagen wir bis zum Herbst, mit der Tochter Ihrer einstigen Pflegeschwester wagen? Ich habe an den Bankier geschrieben, den Sie meiner Mutter vor dem Antritt Ihrer großen Reise nannten, und er hat mir Ihre Adresse sowie die Thatsache mitgeteilt, daß Sie dauernd in Deutschland zu leben gedächten und sich zu diesem Zweck eine Villa nahe bei G. gekauft hätten. Wollen und können Sie mich dort für einige Monate bei sich aufnehmen, damit ich in Ruhe Kräfte sammeln und Schritte zur Begründung einer neuen Existenz thun kann, oder ziehen Sie es vor, mich an einem andern Ort unterzubringen? Jede Form, die Sie wählen, ist mir recht, zumal mein Leiden allgemeiner Art ist und keiner besonderen Heilmethode, nur der Ruhe und Schonung bedarf.
Was Sie, verehrter Herr Doktor, für mich thun, das geschieht meiner Mutter zuliebe, und in ihrem Namen dankt Ihnen heute schon
Ihre Ihnen warm ergebene
Gabriele Hartmann.“
Doktor Röder war längst mit seiner Lektüre zu Ende, und noch immer starrte er ganz tiefsinnig auf das Briefblatt in seiner Hand. Zuletzt ließ er es sinken und sah Mamsellchen an. Mamsellchen sah ihn wieder an. Keines von beiden sprach ein Wort.
„Hast Du alles gelesen?“ fragte der Hausherr endlich.
Die Alte nickte ein wenig schuldbewußt.
„Und – und – was meinst Du?“
Sie zog die Augenbrauen noch höher als gewöhnlich. „Ich? Was hab’ ich zu meinen? Hat sie an mich geschrieben? Hat sie mich um irgend ’was gebeten? Hab’ ich ’ne Villa und Geld?“
„Schon wahr!“ Der Doktor zog seinen langen weichen Schnurrbart durch die Finger und drehte ihn fadendünn aus. „Uebrigens, es versteht sich ja von selbst, daß ich sie zu mir kommen lasse – Margots Tochter! Du besinnst Dich auf Margot, Mamsellchen?“
„Gott, bin ich denn ohne Sinn und Verstand? Ich und unsere Margot nicht kennen – wo ich geschlagene zwölf Jahre mit ihr in ein und demselben Haus gewesen bin. War ein lustiges liebes Dingelchen, bildhübsch – wie sah denn dazumal die Tochter aus und wie alt war sie?“
„Ja, wie sah sie aus?“ Röder rieb sich die Stirn mit dem Zeigefinger, als könnte das sein Gedächtnis auffrischen. „Wenn ich nur wüßte – ich schäme mich förmlich vor Dir und vor mir selber, aber ich habe gar keine Erinnerung mehr an das Kind. Ich wußte nicht einmal mehr, daß es Gabriele hieß. Ich hatte damals nur Interesse für Margot, war um ihretwillen nach Brüssel gereist, und die Kleine – blaß war sie und scheu, ganz unähnlich ihrer Mutter – so zwischen zwölf und vierzehn Jahren kann Gabriele gewesen sein, sie muß also sehr jung geheiratet haben, ebenso wie ihre Mutter – und so früh Witwe geworden! Aber es macht mich glücklich, sehr glücklich, daß sie gerade an mich denkt, sich an mich wendet – selbstverständlich nehme ich sie zu mir.“
„So?“ Mamsellchen zog die Silbe endlos lang aus.
„Nun, natürlich, was dachtest Du denn?“
„Ich? Was soll ich wohl denken? Und wenn ich mir ‘was denk‘, das ist denn doch ohne Bedeutung!“
„Hin! Und welche Zimmer meinst Du? Natürlich die besten im ersten Stock. Ich denke das dunkelrote als Wohnzimmer und das kleinere daneben. Die haben den schönsten Blick über Garten und Wald.“
„Ja, den haben sie!“
[23] „Und Du mußt sie schön pflegen, mit dem Besten, was Du hast. Sie ist ja keine Schwerkranke, nur erholungsbedürftig – die schönste Luft hat sie hier und Bewegung im Freien, soviel sie nur will. Zur Stadt kann sie auch, sobald sie Verlangen danach hat – es paßt ja alles vortrefflich, ganz vortrefflich!“
Er redete sich das selber vor, um sich ernstlich davon zu überzeugen. Daß Mamsellchen kein Wort weiter sprach, beachtete er nicht. Ihr Inneres wurde von geteilten Empfindungen bewegt. Sie hatte Margot sehr lieb gehabt, war äußerst gutherzig und hatte inniges Mitgefühl mit allen Schwachen und Notleidenden, und nun gar Margots Tochter! Anderseits schwebte sie in ewiger Angst, man könnte ihrem Doktor Fallstricke legen und ihn zu einer unglücklichen Heirat zwingen. Sie liebte ihn abgöttisch, und die beste, schönste klügste Frau war ihr gerade gut genug für ihn. Aber wo diese beste, schönste und klügste finden? Mamsellchen hatte keine sehr günstige Meinung von ihrem eigenen Geschlecht. Ihres Doktors Mutter, ja, das war eine prächtige Frau gewesen, aber alles, was zum Hause Röder gehörte, stellte für sie eine Ausnahme dar. Auf ihren späteren Haushälterinnenstellen hatte sie viele Frauen beobachten können, junge und alte, schöne und häßliche, kluge und einfältige – sie schienen ihr allesamt nicht viel wert zu sein, und der Gedanke, ihr Liebling könnte in die Netze solch einer Persönlichkeit fallen, preßte ihr das Herz vor Angst zusammen. Und da er nun schon über fünfundvierzig Jahre alt geworden war, ohne geheiratet zu haben … wo lag die Notwendigkeit, daß er überhaupt heiratete? Konnten sie nicht beide, Mamsellchen und ihr Doktor, ihr Leben gemeinsam beschließen, zwei würdige Vertreter des ledigen Standes? Ehe sich das Entsetzliche zutrug, daß er eine von den gewöhnlichen Frauen bekam, wie sie zu Tausenden in der Welt umherlaufen, lieber mochte es gar keine sein! Und nun hier in „Buen Retiro“, wo sie bisher weiblicher Premierminister gewesen war und gehofft hatte, es zu bleiben, hier sollte nun eine fremde junge Dame schalten und walten? Denn, daran war kein Zweifel, ihr Herr, der so überaus höflich und liebenswürdig mit Damen war, würde sie schalten und walten lassen. Ueberdies war sie Margots Tochter! Sie konnte die Villa von oben nach unten umkehren, er würde es dulden, und sie, seine alte und treue Freundin, mußte es hinnehmen, ohne zu murren. Durfte sie ihrem Herrn Vorschriften machen, wen er einladen sollte und wie er sich zu verhalten hatte? Sie war und blieb eine Untergebene und hatte sich zu fügen!
Es zuckte ihr um die Lippen, als wenn sie weinen wollte. Aber nein, das durfte sie nicht, was sollte der Doktor davon denken? Lieber stahl sie sich leise fort – er war so ganz in seine Gedanken vertieft, er würde nichts davon merken.
Und wirklich, er merkte nichts, weder den leisen Schritt, der wegschlich, noch das vorsichtige Oeffnen und Schließen der Thür. Den Kopf in die Hand gestützt, saß er da und sann und sann. Wie seltsam sich doch im Leben alles fügte! Margots Tochter, Margots Kind! Seine ganze Jugend stand wieder vor ihm auf; er sah sich als einzigen Sohn im Vaterhause, sah seine Eltern in der hübschen altmodischen Wohnstube beisammen sitzen, sah sich in Wald und Feld umherstreifen, zu Fuß und zu Pferde, und überall war eine helle reizende Mädchengestalt dabei, die er brüderlich warm geliebt und geneckt und gescholten hatte.
Hastig schloß er ein Schubfach seines Arbeitstisches auf und nahm Margots Photographie heraus. So war sie als junges Mädchen gewesen, er entsann sich jedes Zuges, sogar des Kleides, das sie auf dem Bilde trug! Und hier, das war wieder Margot, in einem kostbaren, leichten Gewande, tief in einen Schaukelstuhl zurückgelehnt, einen riesigen, langhaarigen Hund zu ihren Füßen. Das Bild hatte sie ihm aus Batavia geschickt. Eine schöne Frau, aber im Ausdruck verändert! Ob Gabriele ihr jetzt wohl ähnlich sah? Auch von ihr besaß er eine Photographie, sie saß auf dem Schoß einer häßlichen braunen Mulattin, ein zierliches lachendes Kindchen von zwei bis drei Jahren. Er mußte wehmütig lächeln, als er daran dachte, daß das kleine Geschöpf von damals jetzt schon Witwe war. Ja, ja, er war sehr alt geworden. Nie kam ihm das so zum Bewußtsein, als wenn er in alten Papieren und Photographien kramte. Hier seine Eltern, Max Herzog, sein Jugendfreund – wie hatte der Margot geliebt und betrauert! Und hier, dies feine dunkle Gesichtchen mit den südländisch funkelnden klugen – Zigeuneraugen hatte er sie immer genannt – das war Asta, die er einst so heißgeliebt! Vorüber, vorüber!
Ja so, er sollte schreiben, sollte Margots Tochter antworten! Hastig holte er seine Briefmappe hervor. Aber wie sie anreden? „Gnädige Frau“ – das klang steif und erzwungen, „Liebe Gabriele“ – das war wieder zu vertraulich. Endlich entschloß er sich, sie „Meine liebe junge Freundin“ zu nennen, und in kurzen und herzlichen Worten sprach er ihr seine Freude aus, daß sie sich seiner erinnert habe, gedachte Margots mit brüderlicher Wärme und betonte, daß ihre Tochter jederzeit über alles verfügen und alles mit ihm teilen könne, was sein sei.
Der Brief wurde rasch geschlossen und Ewert herbeigeklingelt, um ihn zu befördern. Dann nahm der Doktor seine wissenschaftlichen Arbeiten vor, schrieb ein paar Zeilen und war unzufrieden damit, schlug einen spannenden modernen Roman auf und fing an zu lesen, fand, daß das Wetter viel zu schön sei, um im Zimmer zu sitzen, steckte sich eine Cigarette an und ging in den Garten hinaus.
Wie friedlich und freundlich seine Villa dalag! Er hatte sich glücklich in ihrem Besitz gefühlt, wie glücklich, das sagte er sich jetzt mit zehnfachem Bewußtsein, da es nun für eine Zeit lang vorbei war mit seiner ungebundenen Lebensweise. Denn die junge Frau würde seine Gesellschaft, seine Unterhaltung beanspruchen, sie würde auch oft zur Stadt wollen, und er mußte sie begleiten. Er seufzte und schalt sich selbst dafür aus, daß er seufzte. Er that es doch gern für Margots Tochter! Oder nicht? Er hätte sie ja dann in irgend ein Bad, einen hübschen Luftkurort schicken können, aber wie fremd und selbstsüchtig hätte das ausgesehen, so, als wollte er die Sorge um sie los sein. Gewiß, er that es gern, nur jetzt, da er sich eben seines neuen Besitzes, seines Stilllebens recht erfreuen wollte … pfui, welch’ ein Egoist er war! Ein richtiger alter Junggesell, und er hatte sich immer vorgenommen, keiner zu werden.
Der süße Narzissenduft stieg von den Beeten zu ihm auf, auch die Blume an seiner Brust hauchte einen lieblichen Odem aus. Er konnte später nie mehr eine Narzisse sehen oder ihren Duft einatmen, ohne an diesen Abend, ohne an den Namen Gabriele erinnert zu werden.
Die nächsten Tage brachten Regen und Sturm, die Blüten wurden von den Bäumen geworfen, die Blumenbeete zerwühlt, die Büsche unbarmherzig gezaust. „Buen Retiro“ stand trübselig da im grauen Zwielicht, und sein Eigentümer bedauerte, daß es sich nicht besser ausnahm, und vergrub sich hinter Büchern und Zeitschriften. Mamsellchen richtete die beiden oberen Zimmer hübsch und zierlich ein, es fehlte noch dies und jenes dazu, was aus der Stadt verschrieben werden mußte, und der Doktor gab zwei schöne Kupferstiche aus seinem Arbeitszimmer her, um der leidenden jungen Frau doch eine Augenweide zu gönnen.
Mamsellchen war stiller als sonst und wenig zum Scherzen aufgelegt, ihrem Herrn aber fiel das weiter nicht auf, denn ihm ging es ähnlich. Die neue Hausgenossin beschäftigte die Gedanken beider. Es vergingen aber viele Tage, ohne daß sie etwas von sich hören ließ. An einem stillen Abend endlich – es war gerade der letzte Mai – schob Mamsellchen mit einem bedeutungsvollen Blick wiederum ein elfenbeinfarbenes goldgerändertes Briefchen auf den Arbeitstisch ihres Herrn und blieb in wartender Haltung daneben stehen.
Es waren nur wenige Zeilen. Die Schreiberin sprach in einfachen Worten, ohne jede Ueberschwenglichkeit, ihren Dank aus und kündigte ihre Ankunft auf übernächsten Abend an.
„Das ist ja sehr schön, sehr schön!“ betonte Röder so nachdrücklich, als habe ihm jemand lebhaft widersprochen. „Hoffentlich bekommen wir dann endlich gutes Wetter. Den Weinvorrat habe ich nachgesehen und in Ordnung gefunden – es ist guter alter Bordeaux vorhanden, auch Sherry und ein hübscher leichter Rheinwein, das genügt wohl. Sogar ein paar Flaschen Sekt sind noch unten, ich kann mir aber nicht recht denken, daß Frau Gabriele danach dürsten wird. Die Speisekammer ist Deine Sache, liebe Alte – Du weißt, ich habe Dir alle Vollmacht gegeben; hast Du denn etwas Vernünftiges im Hause?“
Mamsellchen sah beleidigt aus. „Wenn Sie sich in die Vorratsstube bemühen und all die Konserven, die Marmeladen und Gelees ansehen wollen, soll’s mir lieb sein. Es sieht aus da drin, als ob wir ’n ganzes Regiment Einquartierung erwarteten, aber Sie haben es ja so gewollt!“
[26] Der Doktor strich ihr begütigend über die Wange. „Zieh’ doch kein so bitterböses Gesicht, als ob Du damit all’ die guten Sachen ansäuern wolltest! Wir können unsern Gast doch nicht verhungern lassen!“
„Damit hat’s gute Wege! Ist außerdem nicht mein Gast!“
„Ich bitte mir’s aber aus, Mamsellchen, daß Du sehr liebenswürdig gegen meinen Gast bist!“
„Danach wird die Dame auch viel fragen!“
„Einerlei, ich frage danach, und wenn Du es Margots Andenken nicht zuliebe thust, dann thu’ es um meinetwillen!“
Sie murmelte etwas Undeutliches vor sich hin, dann sah sie kläglich zu ihm auf. „O Gott, wird das hier jetzt ein Leben sein! Unsere schönen stillen Tage –“
„Du hast mir doch selbst immer Abwechslung gewünscht!“
„Ja, aber doch nicht so eine! In die Stadt sollte mein Doktor und sich da amüsieren und oft Besuch kriegen und sich hübsche einladen lassen, aber nicht eine Dame zu sich ins Haus nehmen!“
„Hätte ich Margots Tochter etwa abweisen sollen?“
„Na, das sag’ ich nun gerad’ auch nicht! Sie sind der Herr, und was bin ich? Eine alte einfältige Frauensperson! Was weiß und versteh’ ich denn? Gar nichts weiß und versteh’ ich!“
Mit dieser bescheidenen Selbstkritik drückte sich Mamsellchen zur Thür hinaus. –
Die festgesetzte Stunde kam heran. In ihrem letzten Briefchen hatte die junge Frau gebeten, ihr Gastfreund möge sie nicht am Bahnhof empfangen. Er hatte ihren Wunsch erfüllt und ging jetzt unruhig im Vorgarten auf und nieder. Es war acht Uhr vorbei, ein stiller milder Abend, der Himmel ganz umwölkt, die Luft sehr weich und bedrückt. Wie betäubend süß die Narzissen dufteten! Doktor Röder sah zu den geöffneten Fenstern der Zimmer empor, die seinen Gast beherbergen sollten. Wie würde es sein, wenn dort, gerade über der goldenen Inschrift, ein junges weibliches Gesicht erscheinen würde!
Wagenrasseln, Peitschenknallen, näher und näher! Ewert, der auf Wache gestanden hatte, lief herbei und postierte sich in dienstlicher Haltung neben der Gitterpforte. Nun hielt der Wagen, und eine schlanke feine Frauengestalt, in einen grauseidenen Mantel gehüllt, stieg aus. Sie kümmerte sich nicht weiter um ihr Gepäck, das Ewert dem Kutscher abladen half, und kam langsam auf die offenstehende Gitterpforte zu. Während des Gehens hob sie mit einer lässigen Bewegung die Hand und nahm den kleinen Halbschleier, der ihr Stirn und Augen bedeckte, vom Gesicht. Es sah aus, als kostete sie diese kurze Bewegung Mühe.
Doktor Röder war ihr hastig entgegengeschritten, viel schneller als es sonst seine Art war. Wie er jetzt dicht vor ihr stand, streckte er ihr die Hand entgegen, sie legte ruhig die ihrige, hinein und sah aus großen blaugrauen Augen mit einem schüchtern fragenden Blick zu ihm empor. Trotzdem sie groß war, hatte die ganze Erscheinung etwas zart Mädchenhaftes, fast Kindliches; das schmale Gesichtchen erschien rührend in seiner matten Blässe, der vorwiegende Ausdruck darin war der der Müdigkeit. Müde blickten die Augen, müde war die Haltung des Kopfes und der Zug um den Mund, und so umflort klang auch die Stimme, die leise „Grüß Gott!“ sagte.
„Grüß Gott!“ hatte auch Margot immer gesagt, sie liebte diesen Gruß vor allen andern und hatte ihn Wohl darum auch ihrer Tochter vererbt. Dies war aber das Einzige, was den Doktor für jetzt an Margot erinnerte.
„Herzlich Willkommen, meine liebe – mein liebes Kind!“
Er zögerte, wollte sie auf die Stirn küssen, unterließ es dann aber. Sie hatte in dieser ersten Minute bereits eine stark hervortretende Empfindung in ihm geweckt, das Mitleid! Sie sah sehr hilfsbedürftig aus, und er nahm sich vor, ihr beizustehen, so gut er’s irgend vermochte.
„Sie haben eine lange, beschwerliche Reise gehabt,“ meinte er bedauernd.
„Ja, sehr lang und anstrengend!“ Wieder diese tiefe Müdigkeit in Ton und Blick.
Ohne ein Wort weiter zu sagen, legte er ihren Arm leicht in den seinigen und führte sie dem Hause zu. An den zurückgeschobenen Glaswänden der Veranda war ein Laubgewinde befestigt, von dem in Blumenbuchstaben das Wort „Willkommen“ herabschaukelte.
Die junge Frau sah es und lächelte ein wenig, aber auch dies Lächeln war müde, als habe sie es verlernt, sich zu freuen.
„Es wird alles wieder gut werden!“ sagte Röder tröstend mehr zu sich selbst als zu seiner Begleiterin.
Ein Seufzer hob ihre Brust, sonst erwiderte sie nichts.
Aus einer Seitenthür huschte das Mamsellchen herbei, ganz Neugier und gespannte Erwartung. Wie sie die beiden Arm in Arm vor sich stehen sah, gingen die Augenbrauen ganz, ganz hoch empor.
„Das ist meine alte Getreue, von der ich Ihnen schon schrieb,“ stellte der Hausherr vor. „Und hier, Mamsellchen, ist Frau Hartmann, unserer Margot Tochter!“
„Aber mit der hat sie keine Aehnlichkeit, auch nicht eine Spur!“ meinte Mamsellchen, indem sie die dargebotene Hand der jungen Frau flüchtig drückte und ihr dabei unverwandt und spähend in die Augen sah. „Gott, wenn ich denke, wie die Margot aussah!“
Es lag keine sehr wohlwollende Kritik für die Tochter in diesem Ausruf. Der Doktor beeilte sich, die Scene zu beenden.
„Unser Gast ist sehr müde, möchtest Du ihm nicht die Zimmer oben zeigen? Wollen Sie zu Abend bei mir speisen, Frau Gabriele, oder in Ihren Zimmern?“
„Wenn ich für heute allein sein dürfte – nur eine Tasse Thee – ich bin so übermüdet –“
„Gewiß, aber gewiß! Alles, wie Sie wünschen! Auch mit dem Frühstück des Morgens – ich stehe ziemlich früh auf, weil sich’s dann am besten arbeitet – das darf aber Sie in keiner Weise beeinflussen! Mamsellchen wird auf Ihr Klingeln erscheinen oder Ihnen Ewert schicken, und Sie bestellen dann alles, wie Sie es wollen. Ich habe nur eine Bitte an Sie: sehen Sie ‚Buen Retiro‘ als Ihre Heimat an!“
Sie blickte ihn dankbar an und bewegte die Lippen, es war aber kein Wort zu hören. Es lag wie ein Schleier über ihrem ganzen Wesen. Hinter der Gruppe erschien Ewert mit einem schmalen Koffer, den er leicht auf der Schulter trug, und einem schwarzen Täschchen in der Hand.
„Ist das Ihr ganzes Gepäck?“ fragte Mamsellchen, während ihr Doktor mißbilligend dazu den Kopf schüttelte.
„Nein,“ erwiderte die Gefragte kurz, „es wird in einiger Zeit noch etwas Nachkommen!“ Sie wandte sich zu dem Hausherrn. „Darf ich Ihnen schon jetzt Gute Nacht sagen?“
„Gute Nacht – und gute Träume! Möchten die Penaten meines Hauses Ihnen wohlgesinnt sein!“
Er sah ihr nach, wie sie langsam, langsam, von Ewert begleitet, die Treppe hinanstieg und oben in ihrem Wohnzimmer verschwand.
„Was sind das: Penaten?“ fragte Mamsellchens Stimme neben ihm.
„Schutzgeister!“
„So – hm!, Na, möchten sie ihr doch das hochmütige Wesen austreiben! Das hat die Margot nicht gehabt!“
„Wie willst Du die junge Dame nach kaum fünf Minuten beurteilen? Wie kannst Du wissen, ob sie hochmütig ist?“
„Sie sieht doch so aus, um die Augen ’rum – und spricht so wenig, als wenn jedes Wort zum wenigsten zehn Mark kostete, und dann – haben Sie denn nicht gesehen, Doktor, wie sie immer auf mich herunter sah?“
Er mußte lächeln. „Wie sollte sie es denn anfangen, zu Dir emporzusehen, wenn sie mindestens anderthalb Köpfe größer ist, als Du?“
„Na, so viel wird es auch nicht gewesen sein! Morgen werd’ ich mich mit ihr messen!“
Das klang vieldeutig, und Röder mußte von neuem lächeln.
„Du wirst sehr höflich und gut zu ihr sein, das bitt’ ich mir aus!“
„Wie’s in den Wald hineinschallt, so schallt’s auch wieder heraus!“ meinte Mamsellchen philosophisch. Wenn ich bedenk’, wie reizend die Margot immer zu mir war – bei der war’s keine Kunst, gut zu sein!“
„Die hast Du auch aufwachsen sehen, die hast Du gekannt, als sie ein ganz kleines Mädchen war, das ist doch ein großer Unterschied! Von einer jungen Dame, die Du zum erstenmal in Deinem Leben siehst, kannst Du unmöglich die gleiche Herzlichkeit verlangen.“
Diese Bemerkung schien Mamsellchen, die mit Vorliebe betonte, daß sie einen „offenen Kopf“ besitze, einzuleuchten. Sie stand ein Weilchen schweigsam da. Aber hübsch find’ ich nun diese gar nicht!“ bemerkte sie dann in sehr bestimmtem Ton.
Ihr Herr blieb still.
[27] „Ich hab’ doch den Generalkonsul auch einmal gesehen, ein einziges Mal war es bloß, aber ich besinn’ mich noch gut auf ihn. Er war sehr hübsch, sehr hübsch – wenn ich das sag’, ist es wahr, ich kann die Männer nicht leicht schön finden. Na, zwei so bildhübsche Menschen müßten doch ’ne andere Tochter haben!“
Es kam wieder keine Antwort.
„Und für wen hab’ ich denn nun den Tisch so fein gedeckt und lauter schönes Essen hingestellt?“ Mamsellchen riß zur Bestätigung ihrer Worte sperrangelweit die Thür zum Speisezimmer auf, das hell erleuchtet und mit einer wirklich reichbesetzten Tafel versehen war. „Bloß eine Tasse Thee will sie haben? Und dann oben für sich allein? Soll mir das gefallen?“
„Einerlei, ob Dir’s gefällt oder nicht, wenn man schwächlich ist und tagüber gefahren, kann man schon den Appetit zum Abendessen und die Lust zur Unterhaltung verlieren. Jedenfalls gedenke ich jetzt zu speisen, gieb den Wein herüber und den kalten Braten – und bring’ für Frau Hartmann das Theeservice hinauf!“
„Kann das nicht der Ewert –“
„Nein, nicht Ewert, sondern Du!“
Mamsellchen sagte kein Wort weiter, ihr Doktor hatte wieder sein „Gesicht“ gemacht. Wenn er das that, dann hörte alles Unterhandeln auf. In ihrem Innern erlaubte sie sich einen kräftigen Widerspruch, äußerlich aber war sie ganz Demut und Gehorsam, als sie sich mit dem Theeservice im Arm zur Thür hinausschob.
Sie konnte es nicht wissen, daß ihr Herr in seinem Innern gleichfalls enttäuscht war. Er hatte doch in aller Stille darauf gehofft, daß sein Gast ihm an diesem ersten Abend Gesellschaft leisten würde, und sah sich nun etwas mißgestimmt in dem schönen behaglichen Zimmer um. Sein Appetit, den er gegen Mamsellchen so gerühmt hatte, hielt nicht vor, er versuchte nur hier und da ein wenig von all den schönen Dingen, die seine alte Getreue aufgetragen hatte, und trank ein paar Gläser Wein. Seine Gedanken gingen unstet hin und her, ohne einen festen Punkt zu gewinnen.
Als Mamsellchen nach einer Weile wieder hereinkam, um vom Büffett etwas zu holen, hätte er sie gern gefragt, wie es der jungen Frau gehe, ob sie sich schon zur Ruhe begeben habe und ob der Thee ihr gut bekommen sei, aber eine wunderliche Scheu hielt ihn davon zurück. Er hoffte, Mamsellchen werde von selbst etwas sagen, aber sie sprach kein Wort und ging endlich mit einem trockenen „Gute Nacht“ von dannen.
Ihm war es noch viel zu früh, um zur Ruhe zu gehen, er fühlte aber, daß es mit dem Lesen und Arbeiten heute doch nichts mehr sei, und ging daher in den Garten hinaus. Eine milde Luft, von Wohlgerüchen gesättigt, wehte ihm entgegen. Die Sterne schimmerten matt, und die Mondsichel hing schmal und silbern am dunkeln Himmel.
Der Doktor stand lange da und sah gedankenverloren zu den beiden erleuchteten Fenstern im ersten Stock empor. Wie hatte er doch an seinen Freund Herzog geschrieben? Er wolle alles in Ruhe abwarten und die Dinge an sich kommen lassen. Nun, er hatte das gethan, und die „Dinge“ waren gekommen, ohne sein Zuthun! An das ruhige Ufer von „Buen Retiro“, auf dem er als unbeteiligter Zuschauer stehen wollte, war aus dem Ocean des Lebens die erste Welle herangespült worden. Ob es die einzige bleiben würde?
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Der helle Sonnenschein, der kleine spitze Goldpfeile durch die geschlossenen Vorhänge der Villa schickte, weckte deren Besitzer aus tiefem erquickenden Schlaf. Er kleidete sich rasch an und machte sich sofort an seine wissenschaftliche Arbeit. Er hatte einen guten Tag heute. Sein Gedächtnis gehorchte ihm willig, er brauchte niemals nachzuschlagen, um sich eines Namens, einer Zahl zu versichern, auch sein Stil, mit dem er durchaus nicht immer zufrieden war, genügte heute den Ansprüchen, die er an ihn stellte. Das Frühstück wurde von ihm hastig „nebenher“ verzehrt, er sah und hörte nichts anderes als seine eigenen Gedanken und das Geräusch seiner schreibenden Feder, die ihm nicht schnell genug vorwärts kam, und hatte die Anwesenheit eines weiblichen Wesens unter seinem Dach gänzlich vergessen.
Als dann seine ermüdete Hand und die zum offenen Fenster hereinströmende rasch zunehmende Wärme ihn zum Ruhen zwang, fiel ihm freilich sein neuer Gast ein, und er empfand es mit Beschämung, sich so gar nicht um ihn gekümmert zu haben. Was mußte die junge Frau nur von ihm denken? Er sprang eilig auf und ging in den Garten hinaus, in der Erwartung, sie dort zu finden.
Sie kam ihm unter den schönen alten Lindenbäumen entgegen, blaß und schlank, in einem schlichten grauen Kleide noch mädchenhafter aussehend als gestern. Sie machte einen vornehmen Eindruck, wie sie jetzt langsam daherkam, ein weißes Schirmchen über die Schulter zurückgelehnt. Aber wieder war der vorwiegende Ausdruck in ihrem Gesicht der einer fast hoffnungslosen Müdigkeit, einer Resignation, die nichts mehr von Welt und Leben erwartet, und dieser Zug bildete einen schneidenden Gegensatz zu ihrer zarten Jugend.
„Guten Morgen,“ sagte Röder herzlich und schüttelte das feine Händchen, das sie ihm reichte, „und zugleich ein pater peccavi! Ich bin ein großer Sünder gewesen, ich habe der guten Sitte der Gastfreundschaft und meiner angeborenen Höflichkeit einen Schlag ins Gesicht gegeben, indem ich mich jetzt erst um Sie kümmere und nach Ihrem Befinden frage. Verzeihen Sie es mir, Frau Gabriele! Die Arbeit gelang mir heute gut und hielt mich ungebührlich lange am Schreibtisch fest.“
„Sie dürfen sich durchaus nicht bei mir entschuldigen,“ entgegnete sie, und ihm fiel der Wohlklang ihrer Stimme und eine fremdartige Aussprache des Deutschen auf, „ich bin sehr spät aufgestanden und habe lange in meinen Siebensachen herumgestöbert, dann Ihren schönen Garten angesehen! Und haben wir es nicht ausdrücklich festgesetzt, einander nie zu genieren? Sie sollen jederzeit Ihre Wege gehen, als sei ich gar nicht da, – ich – ich – mache es ähnlich, und dann ist’s gut. Ja?“
Er musste lächeln. „Abgemacht! Brieflich und mündlich erledigt!“ Sie reichten einander von neuem die Hand. „Und nun Ihr Befinden! Wie haben Sie geschlafen?“
Sie schüttelte leicht den Kopf. „Von meinem Befinden und meinem Schlaf ist nichts Gutes zu berichten. Ich schlafe manche Nacht kaum drei Stunden, und diesmal, glaub’ ich, ist’s noch weniger gewesen. ‚Klägliche Nerven‘, sagte mein Arzt in Bremen, und kläglich sind sie auch. Ich kann nichts thun!“
[38] „Das sollen Sie hier auch nicht, nur ruhen, sich pflegen und viel im Freien sein. Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Garten!“
„Gern, ich bin bereit!“
„Setzen Sie keinen Hut dazu auf?“
„Wozu denn? Ich habe ja einen Schirm!“
Sie trug das weiche hellbraune Haar, das sich um Schläfen und Stirn ein wenig kräuselte, im Nacken in einen dicken Knoten zusammengefaßt, was ihre zierliche Kopfform besonders zur Geltung kommen ließ. Keine Nadel im Haar, keine Ohrringe, keine Armbänder, nur an der rechten Hand den glatten Goldreif.
Röder bequemte mit einiger Mühe seinen lebhaften Schritt ihrem langsamen an und führte sie zunächst zu dem stillen Weiher. Hier schien es ihr sehr zu gefallen, sie fragte, ob sie in dem kleinen blauen Kahn, der am Ufer lag, rudern und unter den alten Bäumen nahe beim Wasser ihre Hängematte aufhängen dürfe. Die Laube, der kleine Aussichtstempel, die Blumenbeete und Baumgruppen fand sie gleichfalls schön, aber nach kaum einer Viertelstunde ermüdete sie sichtlich und nahm sein Anerbieten, in der Veranda auszuruhen, dankbar an. Sie sprach nur wenig, aber alles, was sie sagte, gefiel ihm; er mußte auch darüber nachsinnen, ob dies stille Wesen ihrer innersten Natur entspreche oder ein Zeichen ihres Nervenleidens sei. Außerdem mühte er sich in der Stille unaufhörlich ab, irgend eine Aehnlichkeit mit Margot aufzufinden, sei es auch nur im Tonfall der Stimme oder in den Bewegungen. Aber umsonst! Höchstens die Gestalt war mit der der Mutter zu vergleichen, doch hatte Margot rundere Formen und eine weit größere Beweglichkeit besessen, was sie kleiner erscheinen ließ. Gabriele gestikulierte nie. So wie sie sich in dem bequemen Lehnsessel in der Veranda niedergelassen hatte, den Kopf leicht an das Polster zurückgelehnt, die Hände übereinander gelegt, so blieb sie auch während des Sprechens. Sie hatte eine seltsam unbefangene Art, Röder unverwandt anzusehen, als wolle sie sein Gesicht studieren, und ebensowenig schien es sie in Verlegenheit zu setzen, wenn sein Blick auf ihr ruhte. Immer wieder kam ihm, während er mit ihr redete, der Gedanke, das Gesicht der jungen Frau, die da vor ihm saß, sei nicht das wahre, sie könne ganz anders aussehen, ganz anders blicken wie jetzt, doch erregte ihm diese Empfindung kein Unbehagen, im Gegenteil, sie weckte sein Interesse, und er fragte sich im stillen, ob er wohl die richtigen Züge zu sehen bekommen und wann dies geschehen würde. Im ganzen war Röder nicht das, was man einen guten Gesellschafter nennt. Mit Freunden und Bekannten wußte er angeregt und lebhaft zu plaudern, Fremden gegenüber war er meist unzugänglich. Diesen klugen blaugrauen Augen gegenüber, die so beharrlich auf ihn gerichtet blieben, war indessen seine gewohnte Zurückhaltung ganz verschwunden, vielleicht kam auch der Umstand hinzu, daß es seiner Pflegeschwester Margot Tochter war, zu der er sprach, kurz, er erzählte weit mehr von sich, seinen Erlebnissen, seinen Arbeiten, als er es Leuten gegenüber gethan hatte, die er seit Jahren schon kannte. Gabriele Hartmann besaß die bei Frauen seltene Gabe, gut zuzuhören, und den Redenden störte es durchaus nicht, daß sie nur höchst selten ein kurzes Wort oder eine Frage dazwischen warf.
Sie machten dann, da er zufällig seines Arbeitszimmers erwähnte, einen Rundgang durch das ganze Haus. Neben seinem Studierwinkel hatte er sich ein kleines Zimmer zur Bibliothek eingerichtet, ein paar große Fächerschränke und lange Wandbretter waren ganz und gar mit dichten Bücherreihen gefüllt. Neben dem Fenster stand ein weicher Polsterstuhl und eine mit bunten Decken behangene Ruhebank.
„Wenn es Ihnen hier gefällt und Sie Lektüre wünschen,“ erklärte der Hausherr, „so können Sie jederzeit nach Belieben aus- und eingehen – sehen Sie, das Zimmer hat noch seinen besonderen Eingang vom Treppenflur. Dort am Fenster können Sie bequem ruhen oder auf dem Sessel sitzen, mich stören Sie nicht, da ich die Bücher, deren ich bedarf, in meinem Zimmer habe. Ich fürchte freilich, daß meine kleine Bibliothek nicht viel ansprechende Damenlektüre enthält und daher keine besondere Anziehungskraft für Sie besitzen wird!“
„Vielleicht doch!“ erwiderte die junge Frau mit einem flüchtigen Lächeln.
Im Salon sah es noch ein wenig kahl aus. Röder hatte auf die Ausstattung dieses Raumes kein besonderes Gewicht gelegt, da er nicht daran dachte, Gesellschaften zu geben, und Leute, die ihn gemütlich besuchten, in seinem Wohnzimmer empfing. Jetzt mißfiel es ihm doch sehr, daß der Salon einen so unwohnlichen Eindruck machte. Der schwarze Stutzflügel bildete das beste Stück der ganzen Einrichtung.
„Ich muß Ihnen erklären, wie ich dazu gekommen bin, damit Sie mich nicht etwa in dem schmeichelhaften Verdacht haben können, ein guter Musikant zu sein. Ein junger Bekannter von mir, ein etwas lockerer Vogel, übrigens liebenswürdig und sehr musikalisch, wurde von seinem gestrengen Herrn Papa nach Amerika spediert. Ob das Gewaltmittel für eine Natur wie die seinige das richtige war, wage ich nicht zu entscheiden, jedenfalls konnte ich den Vater nicht hindern, seinen Machtspruch zu vollziehen. Der junge Mensch sollte ihm nun zuguterletzt alle seine Schulden mit Angabe der Veranlassung und des Gläubigers beichten, und da er wahrheitsliebend war, so that er dies auch, mit einer einzigen Ausnahme. Diese Schuld war derart, daß der alte Herr ohne Zweifel in die heftigste Wut geraten wäre und den Sohn mit tausend Vorwürfen überschüttet hätte, was nach der unabänderlichen Lage der Dinge nichts mehr genützt, sondern Vater und Sohn einander nur noch mehr entfremdet hätte. Der Junge hatte sich mir anvertraut, um meinen Rat gebeten. Nun, da die Summe nicht allzu groß war, so gab ich sie ihm, mußte aber von ihm, den dieser „Akt der Großmut“, wie er mein doch sehr natürliches Verfahren nannte, ganz überwältigte, als eine Art Unterpfand diesen schönen Blüthnerschen Flügel annehmen, das einzige wertvollere Eigentum, über das er frei verfügen konnte. All meine Weigerungen halfen mir nichts, er behauptete, sich nicht eher beruhigen zu können, als bis ich ihm den Willen thäte, er würde sonst erdrückt von seinem Dankgefühl und so weiter und so weiter. Da ich ihn wirklich gern hatte und ihn weder beunruhigt noch von Dankesgefühlen erdrückt sehen wollte, was blieb mir am Ende übrig, als den Blüthner, der übrigens für mich tausendmal zu gut ist, anzunehmen? Ich liebe die Musik unbeschreiblich, bin aber für meine Person nur ein mittelmäßiger Dilettant. Sind Sie musikalisch, Frau Gabriele?“
Wieder huschte das flüchtige Lächeln von zuvor über das blasse junge Gesicht, aber es ließ nichts als eine tiefe Traurigkeit in den Augen zurück.
„Ich könnte jetzt nicht musizieren,“ sagte sie matt, „die Musik thut mir weh!“
Er sah sie mit einem warmen teilnehmenden Blick an. „Dann lassen Sie es jedenfalls, wenigstens fürs erste. Vielleicht kommt doch bald einmal die Zeit, da mein Blüthner zu singen anfängt!“
Bei Tisch gestaltete sich die Unterhaltung nicht besonders lebhaft, dank Mamsellchens häufiger Anwesenheit, die sich’s nicht nehmen ließ, ihren Doktor selbst zu bedienen. Der alte Hausgeist trug vortrefflich bereitete Speisen auf, ließ es auch an der gebotenen Höflichkeit nicht fehlen, diese Höflichkeit trug aber zu deutlich den Stempel des Erzwungenen, um angenehm zu wirken. Mamsellchens scharfe schwarze Augen beobachteten die junge Frau wie zwei Spione und gingen dann mit einem so mißtrauischen Blick zu ihrem Herrn zurück, daß dieser zum Lachen gereizt worden wäre, wenn er sich nicht geärgert hätte. Dazu kam noch, daß die junge Fremde keinen noch so unschuldigen Kunstgriff anwendete, um sich Mamsellchens Gunst zu erobern, sie war ganz die vornehme Dame einer dienenden Persönlichkeit gegenüber, während sie sich mit ein paar zutraulichen Worten das Herz der alten Getreuen, die so gutmütig war, hätte gewinnen können. So fror Mamsellchen immer mehr ein, und mit jedem neuen Gericht, das sie auftrug, legte sie ihre Mißbilligung der bestehenden Verhältnisse deutlicher an den Tag. Wenn der Gast wenigstens vernünftig essen, der Kochkunst des Hausgeistes mehr Ehre hätte anthun wollen! Aber die junge Frau aß wie ein Vögelchen und streckte schon nach dem Gemüse die Waffen. „Auch das noch!“ schien Mamsellchens vorwurfsschwerer Blick zu sagen, als sie dies erlebte.
Völlig erschöpft, wie wenn sie die anstrengendste Arbeit hinter sich hätte, beurlaubte Gabriele sich dann, und bis zum Abend blieb sie auf ihrem Zimmer.
Der Doktor machte einen weiten Gang durch Wald und Feld und kehrte erfrischt, mit gesundem Appetit nach Hause zurück. Seinen Gast fand er in der Laube, eine Häkelarbeit im Schoß, die Hände müßig darüber gefaltet.
„Immer müde?“ fragte er mit seiner warmen teilnehmenden Stimme und strich vorsichtig mit seiner kräftigen Rechten über die schlaffen feinen Hände.
[39] „Immer müde! Ich habe zu arbeiten versucht, es ging nicht! Nicht einmal das kann ich mehr! Ob das immer so bleiben wird?“
Ohne weiteres nahm er ihr die Handarbeit fort und legte sie auf den Tisch. „Kein Gedanke daran!“ betonte er nachdrücklich. „Bei Ihrer Jugend – ich bitte Sie! Nur dürfen Sie solches Zeug“ – er warf einen unwilligen Seitenblick auf die Häkelei – „nicht machen, das schadet Ihren Nerven! Was hat Ihnen denn eigentlich der Arzt verordnet und verboten?“
„Ach, mancherlei! Ruhe soll ich haben, gute Pflege, gesunde Luft, sehr viel Aufenthalt und Bewegung im Freien, das war die Verordnung. Das Verbot: keine Aufregung, keine ergreifende Lektüre, vor allem kein Theater –“
Die junge Frau stockte plötzlich, ihr blasses Gesicht war von flammendem Rot übergossen.
Dies war so auffallend, daß Röder stutzte und lebhaft fragte: „Was haben Sie denn?“
Sie suchte offenbar nach einer ausweichenden Antwort, war aber viel zu verwirrt, um eine zu finden.
„Was haben Sie?“ wiederholte er betroffen.
„Ich – ich – ach, meine Mutter hat es mir gesagt, Sie hätten – Sie hätten eine so große Abneigung gegen das Theater!“
„Das trifft nicht ganz zu!“ entgegnete der Doktor ruhig. „Ich bin ein eifriger Theaterbesucher gewesen und schätze die Schauspielkunst und die dazu Auserwählten sehr hoch. Wenn aber Ihre Mutter Ihnen erzählt hat, daß ich mit allem Nachdruck dagegen war, als sie selbst zur Bühne gehen wollte, dann hat sie recht berichtet – ich that das und würde es heute wieder ebenso thun.“
Die junge Frau atmete rasch und hatte den Blick zu Boden geschlagen. „Warum?“ fragte sie nach einer kleinen Pause mit mühsamer Stimme. „Hielten Sie meine Mutter nicht für begabt, nicht für eine Auserwählte?“
„Ich glaube wohl, daß sie Talent hatte – es gelüstete mich jedoch nicht nach einer Probe desselben. Wie gesagt, ich traute es ihr zu. Für eine Auserwählte, die den zahllosen Gefahren und Versuchungen gerade dieses Standes siegreich getrotzt hätte, hielt ich sie bei ihrem feurigen Temperament, ihrem raschen Sinn nicht, und wenn auch! Der Gedanke, sie, die in meinem lieben gemütlichen Elternhause neben mir wie eine Schwester aufgewachsen war, heute in dieser, morgen in jener Rolle auf der Bühne zu sehen, da die hingebend Zärtliche spielend, wo sie gestern die Hassende war, dieser Gedanke hatte für mich etwas Trauriges und Abstoßendes zugleich, ich hätte sie nie in Ausübung ihrer Kunst sehen mögen. Ich möchte überhaupt kein weibliches Wesen, das mir irgendwie nahesteht, auf der Bühne sehen wollen. Das widerstreitet meinem Gefühl!“
Gabriele senkte den Kopf, wie wenn seine Worte sie schwer getroffen hätten. Sie schwiegen beide. Einmal öffnete sie die Lippen, um etwas zu sagen, aber dann seufzte sie nur und schüttelte wie entmutigt den Kopf.
Schräge, brennend rote Abendsonnenstrahlen fielen durch das Blätterwerk der Laube, die weiche Sommerluft zog kosend hindurch. Aus dem nahen Dickicht fing schüchtern die Nachtigall an zu locken, es folgten sehnsuchtsvoll langgezogene Flötelaute, nun eine ganze Skala leidenschaftlichsten Verlangens. Es war, als sei die kleine Sängerin dicht über den Häuptern der beiden, sie stimmte ein wahres Triumphlied der Wonne an. Gabriele hatte die Lippen halb geöffnet, als wollte sie die Töne in sich trinken; ein neuer Ausdruck, den Rüder sich nicht zu deuten wußte, lag auf ihrem Gesicht. Minuten vergingen so, ohne daß ein Wort gesprochen wurde, nur die Nachtigall jubelte und schluchzte über ihnen im Gezweig. Der Narzissenduft drang stark in die Laube herein.
Endlich brach der Doktor das schwüle Schweigen. „Wollen wir nicht lieber fort? Die Narzissen duften so betäubend.“
„Wenn Sie es wünschen, können wir gehen – sonst – die Narzisse ist meine Lieblingsblume –“
Ohne etwas zu erwidern, stand er auf, pflückte einen der bleichen Blütensterne und steckte ihn mit leichter Hand in Gabrielens lichtbraunes Haar. Wie hingeweht lag die weiße Blume darin. Die junge Frau sagte nichts, sie sah verträumt vor sich hin, vielleicht beachtete sie sein Thun nicht einmal.
Wohl aber that dies Mamsellchen, die soeben den Abendtisch in der Veranda gedeckt hatte und nun im Garten erschien, um dies zu melden. Ihr scharfes Auge konnte zwar beim besten Willen keine Veränderung im Gesicht ihres Doktors entdecken, er hatte seine gewöhnliche ruhige Miene, aber die Thatsache war doch da: er hatte einer jungen Dame eine Narzisse ins Haar gesteckt! Und war diese zehnmal Margots Kind und hätte dem Alter nach seine eigene Tochter sein können, und that sie zehnmal so, als ginge sie der ganze Vorgang nichts an, und saß da wie halb schlafend, müde und blaß gleich einer Schwerkranken – die Thatsache blieb bestehen: Doktor Cornelius Röder hatte einer jungen Dame eine Narzisse ins Haar gesteckt!
Indessen blieb dies das einzige Beweisstück, das Mamsellchen auf lange Zeit hinaus zu verzeichnen hatte. Sie stellte es sehr geschickt an, schlich leise wie eine Katze auf unhörbaren Sohlen um die beiden Verdächtigen herum, tauchte gänzlich unvermutet vor ihren Augen auf und betrat Zimmer und Garten unter häuslichen Vorwänden zu ganz ungewöhnlichen Zeiten, sie nahm jedoch durchaus nichts Verdächtiges mehr wahr, nicht den kleinsten „Fallstrick“ von seiten der jungen Frau, nicht das leiseste Anzeichen beginnender Verliebtheit von seiten ihres Herrn. In der That schien es nach jenem ersten Tag, an dem es der Doktor für seine Pflicht gehalten hatte, seinen Gast mit Haus und Garten bekannt zu machen und sich als Hausherr um die junge Frau zu bemühen, ein stillschweigendes Abkommen der beiden zu sein, sich so wenig wie nur irgend möglich um einander zu kümmern. Ihre beiderseitige Tageseinteilung kam dem übrigens zu Hilfe. Während Röder ein Frühaufsteher war und seine Arbeiten, die ihm jetzt gut von statten gingen, gern in den Morgenstunden erledigte, schlief Gabriele, die oft erst in der Frühe etwas Schlummer fand, bis in den hellen Tag hinein. Wenn der Doktor dann Briefe schrieb oder zur Stadt ging oder las, wanderte sie mit ihrer Hängematte zum Weiher, ruhte dort stundenlang, ohne Buch oder Handarbeit, im Schatten der alten schönen Bäume, die Augen träumerisch auf den dunkeln Wasserspiegel gerichtet oder in das ernste Grün des dichten Blätterwerks vertieft. Erst bei Tische bekamen die beiden einander zu Gesicht, aber auch dann gab es keine lebhafte Unterhaltung, keinen irgendwie anregenden Gedankenaustausch. Die geistigen wie die körperlichen Kräfte der jungen Frau schienen gleicherweise ermattet zu sein und unfähig, sich auf sich selbst zu besinnen. So kam es, daß Cornelius Röder, im ganzen ein guter Menschenkenner und sehr geneigt, aus Margots Tochter ein Studium zu machen, am vierzehnten Tage ihres Beisammenseins noch nicht klüger aus ihr geworden war als am ersten. War sie eine innerlich reiche Natur, oder war dies müde Verstummen und Insichversinken das Zeichen angeborener Indolenz, die überhaupt nicht über sich selbst hinaus konnte? Schlummerte ihr Verstand oder war sie von Ursprung her unbegabt und zeigte sich einfach, wie sie war? Besaß sie Charakter und Willenskraft, beides nur durch körperliches Leiden unterdrückt, oder war ihr das versagt geblieben? Ihm wurde täglich dasselbe Schauspiel: eine blasse, zarte Frau mit müden Augen und langsamen Bewegungen, mit schleppendem Gang und leiser Stimme, unabänderlich in demselben schlichten grauen Kleide, das ihre feine Gestalt knapp umschloß, ohne Schmuck, ohne Freude an allem, was sie umgab, willig, aber kurz auf seine Fragen antwortend, im übrigen sichtlich froh, wenn er sie sich selbst überließ, anscheinend nie Langeweile empfindend, ohne Sehnsucht nach geistiger Speise, nach Zerstreuung oder Vergnügen, – bei dem bloßen Gedanken, zur Stadt zu fahren, Menschen zu sehen, in sich zusammenschauernd.
Auch seine Abendspaziergänge machte der Hausherr allein. Wie sollte er Gabriele auffordern, einen weiten Weg zu unternehmen, wenn er sah, daß sie auf ihrer kurzen Wanderung zum Teich unterwegs in der Laube oder auf einer der umherstehenden Bänke Halt machen mußte, da ihre Kräfte sie verließen? Die kalten Bäder schienen ihr mehr zu schaden als zu nützen, sie sah an solchen Tagen noch abgespannter aus und die Schatten um ihre traurigen großen Augen vertieften sich.
So kam es, daß Röder es zuweilen ganz vergaß, daß die Tochter seiner Pflegeschwester überhaupt bei ihm wohne, und sich dann mit einem förmlichen Schreck auf ihre Anwesenheit besann. Alle seine geheimen Befürchtungen von gestörter Arbeitszeit, geänderter Lebensweise und höflicher Selbstüberwindung waren unnötig gewesen, sein „Buen Retiro“ trug immer noch seinen Namen mit Recht.
[40] Selbst Mamsellchen brachte ihren Argwohn mit dem Trostspruch zur Ruhe: „Er wird doch nicht solch’ einen schlechten Geschmack haben und sich in diese Trauerweide verlieben? Immer grau angezogen und kein Leben, kein Färbchen im Gesicht, und schleicht in unsers Herrgotts schöner Natur und in meines Doktors schönem Haus wie so ’n blasses Gespenst herum! Nein, Gott schütz’ und behüt’ – wenn er sich denn doch durchaus noch ’mal verlieben soll, dann müssen dazu doch andere Leute kommen!“
Mamsellchens Kritik war nicht schmeichelhaft und ihr Hauptärger war, daß derjenige, gegen den sie dieselbe äußerte, nämlich Ewert – gegen wen sollte sie sich sonst wohl aussprechen? – ihr gar nicht recht geben wollte.
„Ja, hören Sie, Mamsellchen, ich weiß doch nicht! Sie sind die ältere und haben die Erfahrung vor mir voraus, aber nehmen Sie ’s nicht übel, ob ’ne weibliche Person hübsch ist oder nicht, na, das kann unsereins, ich mein’ Mannsleute, doch am besten beurteilen! Diese hier – nein, ’ne Schönheit ist das nicht, aber die Figur kann sich sehen lassen, obschon sie etwas dünn aussieht – und das Gesicht, ich sag’ Ihnen, lassen Sie die bloß ’mal erst gesund werden und rote Backen kriegen und blanke Augen – dann wollen wir uns wieder sprechen. Und ’was Apartes hat Sie, und ’was Vornehmes hat sie –“
„Haben Sie denn die aparten und die vornehmen Damen ausstudiert, Ewert?“
„Gewiß hab’ ich, und was für welche! Ich bin nicht umsonst Offiziersbursch’ gewesen! Sie hätten ’mal sollen meine gnädige Gräfin Steinbach sehen, und die junge Baroneß Zehrendorff und die Frau von meinem Major, die auch ein geborenes Freifräulein war! Alle durch die Bank vornehm – und mit Ahnen, sag’ ich Ihnen, bis in die Puppen – und das ist das Höchste! So ’was könnt’ hier unsere junge Gnädige auch dreist vorstellen, das Zeug dazu hat sie! Das ist ’was Feines, wenn die so an einem vorbeikommt – ich schlag’ auch nicht für umsonst jedesmal meine Hacken vor ihr zusammen und mach’ Front, als wenn gleich der Herr Oberst ankäme. Das hat alles bei mir seine Gründe, Mamsellchen, und für ’ne gewöhnliche Dame thu’ ich so ’was nicht. Und sie sieht aus wie ’ne Ausländische und sie spricht wie ’ne Ausländische, und, sehen Sie, so ’was gefällt uns Männern auch!“
„Mir nicht! Mir ist das so egal, aber auch so egal!“
„Glaub’ ich Ihnen! Aber unser Herr ist eben ein Herr, und dem wird es nicht egal sein, darauf nehm’ ich Ihnen Gift!“
Mamsellchen ärgerte sich schwer über solche Reden, beruhigte sich aber immer mit dem Gedanken, daß Ewert am Ende nur ein ungebildeter Mensch, ihr Doktor aber ein „ausstudierter Herr“ sei, da könne der Geschmack unmöglich übereinstimmen, und was ihrem Herrn zusage, das müsse ihr doch auch gefallen.
Vielleicht aber unterhielt sich die junge Frau gut mit dem Doktor! Mamsellchen war nicht immer zugegen, zumal des Abends nicht, und ein so kluger Mann würde sicher auf Geist und Unterhaltungsgabe Gewicht legen. Vor allen Dingen brannte der alte Hausgeist darauf, recht viel aus Gabrielens Vergangenheit zu erfahren, von ihrem Gatten, von seinem Beruf, von ihrem Leben nach seinem Dahinscheiden – das alles interessierte sie lebhaft, und sie benutzte ein ruhiges Stündchen vor dem Abendessen, als die junge Frau auf ihrem gewöhnlichen Platz am Weiher und der Hausherr müßig in einer Zeitschrift blätternd in seinem Zimmer war, um letzteren ein wenig auszuforschen. Sie setzte ihm sein Glas Milch recht auffällig und mit Nachdruck auf den Tisch, stellte sich neben ihn und räusperte sich vorbereitend.
Der Doktor that einen kräftigen Zug aus dem Glase und fragte: „Nun?“
„Sie sind klüger als ich,“ eröffnete Mamsellchen diplomatisch ihre Rede, „und so werden Sie mir wohl auch sagen können, was das zu bedeuten hat! Sie trägt Tag aus Tag ein dasselbe graue Kleid, so, als wenn sie gar nichts anderes auf Gottes Welt anzuziehen hätte, und dabei sind drei Tage nach ihrer Ankunft hier mit Fracht ein paar Koffer erschienen – so hoch!“ Die Rednerin zeigte nach dem Ofen.
Röder lachte.
„Nun, und was folgt daraus?“
„Das sollen Sie mir doch eben sagen! Garderobe ist drin, darauf wett’ ich meinen Kopf! Wenn sie aber drin ist, warum zieht sie sie nicht an?“
„Frag’ sie doch danach, wenn’s Dich so ungeheuer interessiert!“
Mamsellchen streckte abwehrend die Hände aus. „Ich und fragen! Das ist ebenso, als wenn Sie mir rieten: geh’ hin und sprich den Kaiser an! Die Dame wendet ja kein Wort an mich, kaum daß sie mir die Tageszeit bietet, es ist so, als ob unsereins gar nicht für sie auf der Welt wär’! Und ich bin immer so höflich!“
„Dabei bitte ich zu bleiben! Wenn Frau Hartmann schweigsam ist, so hat sie sicher ihre Gründe dafür; überdies ist sie krank!“
„Ja, ja, sie sieht aus wie das Leiden Christi. Ob sie sich so um ihren Mann grämen mag?“
„Das weiß ich nicht.“
„Was ist er denn gewesen, ich mein’, so von Amt und Beruf?“
„Ich weiß es nicht.“
„Wie lange war sie denn mit ihm verheiratet? Und ob sie wohl ein Kindchen gehabt hat? Und ob er ihr gar kein Vermögen mag hinterlassen haben?“
Der Doktor erhob sich, trank sein Glas Milch aus und setzte das leere Glas hart auf den Tisch nieder.
„Du bist der wahre Fragebogen, Mamsellchen. Jetzt merk’ Dir’s ein für allemal, damit Du mich in Zukunft mit ähnlichen Quälereien verschonst: ich frage Frau Hartmann grundsätzlich mit keiner Silbe nach ihrer Vergangenheit, ebensowenig nach ihren Zukunftsplänen. Ich weiß nichts von ihrem Mann, ihrem Vermögen und ihren Kleidern, und ich will auch nichts davon wissen, es sei denn, daß sie mir von selbst etwas darüber mitteilt. Sie soll hier leben, wie sie es will, und bleiben, solange es ihr gefällt, unbehelligt und unbefragt, und damit Punktum!“
Mamsellchen sah ihren Cornelius mit großen entsetzten Augen an. Gott im Himmel, was war ihm denn nur in die Krone gefahren, daß er sich derartig ereiferte? Ewerts Bemerkungen von vornehm und apart und fremdländischem Wesen wirbelten ihr im Kopf herum – hatte der dumme junge Naseweis am Ende doch recht mit seinen Behauptungen, die Männer hätten so ziemlich alle denselben Geschmack?
Der Doktor strich freundlich beruhigend über das erschrockene alte Gesicht. „Du brauchst nicht so ängstlich auszusehen, meine Alte! Aber sieh sie Dir doch an, wie elend und hilflos sie ist! Thut sie Dir denn nicht leid, wie sie mir leid thut? Es ist ja ein Jammer um das arme junge Geschöpf – und da soll ich ihr auch noch mit tausend Fragen kommen wie ein Untersuchungsrichter? Daß Frauen immer so neugierig sein müssen! Nimm Dir ein Beispiel an mir: ich bin keine Spur neugierig!“
„Ich frag’ ja bloß aus Teilnahme,“ verteidigte sich Mamsellchen in kläglichem Ton, „und wo werd’ ich denn kein Mitleid haben mit ’was Krankem? Ich möcht’ bloß wissen, von wem denn all’ die Briefe kommen – immer verschiedene Handschriften – und sie hat erst einen einzigen geschrieben, den sie dem Postboten selbst in die Hand gab!“
„Das geht uns alles nichts an! Ich besorge meine litterarischen Arbeiten, Du besorgst Deine Küche, und Frau Hartmann besorgt ihre Korrespondenzen. Ist Dir das klar oder nicht?“
„Was wird es mir nicht klar sein! So einfältig bin ich auch nicht! Aber daß ich auf meine alten Tage soll ganz zum Dienstboten gemacht werden, wo es früher immer gehießen hat, ich wär’ wie eine Freundin im Haus –“
„Meine Freundin, Mamsellchen, meine bist Du gewesen und bleibst es auch! Da, die Hand drauf! Und kein Mensch in der weiten Welt soll jemals diese alte Freundschaft stören!“
„Ach, Doktor, Sie können einem das Herz im Leib herumdrehen! Ich bin jetzt auch still und sag’ gar nichts mehr, und wenn die junge Frau das ganze Haus auf den Kopf stellt!“
Damit streichelte Mamsellchen dem Doktor die Schulter, er klopfte sie freundlich auf die Wange, und der Friede war hergestellt.
Das geschah an einem schwülen Juniabend. Die Sonne sandte sengende Strahlen herab, die Schwalben flogen in unruhigem Zickzack und so niedrig, daß ihre Schwingen fast die Erde streiften, am Himmel stand eine schieferblaue Wetterwand, und eine schwere drückende Atmosphäre lastete auf der Erde. Dem Doktor perlten die hellen Schweißtropfen auf der Stirn, unmutig warf er die Arbeit beiseite und ging hinaus in den Garten, vielleicht war es dort erträglicher.
Er ging selbstverständlich zum Weiher, dort war es fast immer kühl und schattig. Stumm ruhte die dunkelklare Flut, kein Blatt an den Eschen bewegte sich, kein Vogellaut wurde hörbar, [42] nur dann und wann flatterte es mit ängstlichem Flügelschlag im nahen Gebüsch.
Zwei starke Bäume dicht am Rande des Teiches trugen die Hängematte. Die junge Frau, die darin lag, hatte den Arm unter den Kopf geschoben, das kleine blauseidene Kissen war zur Erde gefallen. Eines der schmalen Füßchen hing heraus und stieß von Zeit zu Zeit gegen den Baumstamm, um die Hängematte im Schwingen zu erhalten. Auch sonst schien Gabriele unruhig zu sein, sie drehte das Haupt beständig hin und her, der Haarknoten im Nacken hatte sich fast ganz gelöst, sie schien dessen nicht acht zu haben. Als Röder ihr noch näher kam, gewahrte er eine zarte Röte auf ihren fast durchsichtig blassen Wangen und einen fieberhaft flackernden Glanz in ihren großen Augen. Er sah sie an, als erblickte er sie zum erstenmal, sie schien ihm eine völlig andere als all die Tage zuvor.
Als sie ihn bemerkte, richtete sie sich lebhaft auf.
„Wie gut, daß Sie kommen, ich bin Ihnen so dankbar dafür! Wollen Sie mir helfen, da herauszukommen?“
Sie stützte sich leicht auf seine dargereichte Hand und sprang wie eine Feder zur Erde.
„Was haben Sie denn, Frau Gabriele?“ Der Doktor sah sie noch immer unverwandt an.
„Ach, es ist dumm und kindisch, ich weiß es ja, und früher, als ich gesund war, hab’ ich diesen Zustand auch nie gekannt, aber seit meiner Krankheit überkommt sie mich jedesmal, diese nicht zu beherrschende Angst, diese fieberhafte Aufregung, sobald ein Gewitter in der Luft liegt! Und wenn es erst da ist,“ ihr zarter Körper schüttelte sich furchtsam – „das ist entsetzlich! Ich bemühe mich so sehr, mich zu überwinden, aber ich kann nicht, ich kann nicht! Meine kranken Nerven sind stärker als ich. Darum bin ich so froh, daß Sie kamen, allein halte ich’s überhaupt nicht aus!“
„Hätten Sie mich nicht rufen lassen?“
„Ich glaube ja, aber so ist es besser!“
„Gewiß! Wollen wir ins Haus gehen?“
„Meinen Sie, daß das Gewitter gleich kommt?“
„Das weiß ich wirklich nicht! Es sieht aus, als hätte es noch ein Viertelstündchen Zeit bis zum Ausbruch des Unwetters, doch kann meine Berechnung auch täuschen!“
„Ich möchte lieber hier bleiben, solange es angeht. Mir ist, als sollte ich ersticken!“
Mit einem schnellen Griff zog sie ein paar Schildpattnadeln aus dem schon stark gelockerten Knoten. Das seidene hellbraune Haar rollte bis über die Hüften herab, und ihre nervösen weißen Hände zupften daran, während sie den Kopf mit einer schüttelnden Gebärde hintenüberwarf. – In der Ferne meldete sich ein dumpfes Murren, die Blätter der Eichen fingen leise an, miteinander zu flüstern.
„Wollen wir nicht doch hinein ins Haus?“
„Ach nein, bleiben wir lieber hier! Ich denke, das Gewitter zieht langsam heran.“
Er machte sich daran, die Hängematte loszuknüpfen, sie stand mit schlaff herabhängenden Armen neben ihm und sah ihm zu.
Plötzlich schien sich die stille Oberfläche des Wassers zu kräuseln, ein wunderliches hohles Singen ging durch die Luft, und dann fuhr es durch die schieferblaue Wolkenwand wie ein niederzuckendes Schwert – eine atemlose Pause, ein, zwei Sekunden, und ein greller Donnerschlag schmetterte durch die Lüfte.
[53] Bei dem jähen Ausbruch des Gewitters taumelte die junge Frau fast sinnlos vor Schreck seitwärts; Röder faßte sie mit seinen starken Armen und hielt sie fest, sie wäre sonst zu Boden gesunken. Es war ihm aber unmöglich, von der Stelle zu kommen, er mußte bleiben, wo er war.
Nun brauste es heran auf Sturmesflügeln, riß die Blätter von den Bäumen und wirbelte sie wie tote Fetzen durch die Luft, bog die starken Aeste zusammen, daß sie ächzten, knickte die Zweige, peitschte das Wasser des Deiches, daß es hoch aufspritzte, und fegte den losen Sand durcheinander. Dem Mann, der mitten im Toben der Elemente stand und die schlanke Frauengestalt an sich gedrückt hielt, legte sich’s mit einem Male wie ein weicher Schleier vor die Augen, ein feines Seidengespinst wob sich um sein Gesicht, ein süßer schwacher Rosenduft umschmeichelte ihn – das war Gabrielens gelöstes Haar, das ihn umflatterte und das der Sturm, der tückische Sturm, ihm ums Antlitz wehte!
Immer von neuem Blitz und Donner und Sturm, schön und majestätisch, aber schreckensvoll, denn kein Regentropfen fiel, [54] trotzdem die Erde lechzte, ihn zu empfangen, und die Luft glühte. Gleich geschmolzenem Blei lag das Wasser, und die Eschen wiegten sich und bogen sich wie im tollen Reigen. Eine verirrte Schwalbe umkreiste unaufhörlich gedankenschnell die beiden Menschen, die hier eng umfaßt standen, es war, als wollte sie bei ihnen Schutz suchen.
„Können Sie gehen, Gabriele?“ fragte der Doktor halblaut während einer kurzen Pause und bog sich schützend vor, um einem neuen Anprall des Sturmes stand zu halten. Allein er bekam keine Antwort. Sie hatte ihr Köpfchen in seinen Armen verborgen, er fühlte, wie ihr ganzer Körper zuckte und bebte und wie ihre Hände sich an ihn klammerten, sie war in der That sinnlos vor Angst, ihr Herz, gegen das er seine Hand stützte, schlug rasch und unregelmäßig, wie im heftigsten Fieber.
Wie lange sie so noch standen, er wußte es nicht. Als der Regen in schweren Tropfen zu fallen begann, hob er seinen Schützling auf und trug ihn in seinen Armen nach der Villa.
Es war kein kurzer Weg, und doch dünkte er ihm so nahe; er hatte auch seine Last nicht als schwer empfunden und doch war er atemlos, als er sein Ziel erreicht hatte und taumelnd seine Bürde in der Veranda niedersetzte.
Gabriele lag jetzt halb besinnungslos in einem weiten Rohrsessel, das Haupt zurückgesunken, die Augen geschlossen – welch lange dunkle Wimpern sie hatte! Cornelius Röder sah von ihr fort und senkte den Kopf. Es war ihm seltsam zu Mut, seltsam wirr und beklommen.
Als Mamsellchen nach einer Minute in die Veranda trat, befahl ihr Herr, sie solle sich der jungen Frau annehmen. Er selbst ging mit langsamen, zögernden Schritten, wie ein Mensch, der nicht weiß, was er will, nach seinem Zimmer. Dort stand er eine Zeit lang gleich einem Träumenden still; er schien zu lauschen, aber nicht auf das Unwetter draußen; er horchte in sein eigenes Innere, aber er verstand die Stimmen nicht, die dort sprachen. Von diesem Tag an vergaß Doktor Cornelius Röder es nie mehr, nicht für eine einzige halbe Stunde, daß er Gabriele Hartmann unter seinem Dach beherbergte.
Es schien überhaupt, als habe sich mit dem Austoben des Unwetters eine entscheidende Wandlung vollzogen. Auch die junge Frau schien verändert seitdem. Sie hatte in der Nacht, die dem Gewitter folgte, zum erstenmal seit langer Zeit fest und traumlos geschlafen, und am nächsten Morgen wagte sie sich ganz in der Stille über die Grenze des Gartens hinaus in den Wald. Die köstlich reine gekühlte Luft umwehte sie so erfrischend, daß sie mit leicht geröteten Wangen zum Mittagessen heimkam, lebhafter sprach als sonst und einigen Appetit entwickelte. Nach weiteren drei Tagen begann sie früher aufzustehen und die Siesta auf ihrem Zimmer um eine gute halbe Stunde zu verkürzen, und eines Mittags fand Mamsellchen zu ihrem unermeßlichen Erstaunen Frau Hartmann im Geflügelhof vor, wo sie mit einem ganz vergnügten Gesichtsausdruck die jungen Hühner fütterte.
„Sie fängt wahrhaftig an, den Kopf zu heben!“ bemerkte Mamsellchen zu Ewert, ihrem Vertrauten, und dieser nickte triumphierend. „Sehen Sie wohl, Mamsellchen, sehen Sie! Was sagt’ ich? Nun passen Sie bloß auf, wie sie jetzt aufblüht!“
Die Angeredete paßte denn auch wirklich scharf auf und fand Ewerts Weissagung bestätigt. Die junge Frau begann in der That aufzublühen, wenn auch sehr langsam und allmählich. Sie genoß keine Vogelportionen mehr, sondern aß und trank wie ein normaler Mensch; sie träumte nicht mehr stundenlang in der Hängematte müßig vor sich hin, sondern förderte ihre Handarbeit eifrig, schrieb Briefe und eines Tages, als der Doktor zufällig in seine Bibliothek trat, um sich ein Buch zu holen, erhob sie sich mit verlegenem Lächeln von dem bequemen Sessel, der dort für die Lektüre bereit stand.
„Verzeihen Sie, daß ich hier bin, aber Sie hatten gestattet –“
„Ich hatte gebeten,“ fiel er lebhaft ein, „und ich habe nichts zu verzeihen, ich habe mich nur zu freuen, daß Sie meine Bitte erfüllt haben! Darf man sehen? Ah! Brandes, Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts! Nun, was sagen Sie dazu?“
„Ein gutes Buch. Ohne jede Spur von Lebhaftigkeit und doch belehrend, sachgemäß und ohne Vorurteil – das findet man nicht oft.“
Röder nickte bestätigend, aber er hatte gar nicht recht gehört, was die junge Frau zuletzt sprach. Wie belebt ihr Gesicht erschien wie wechselnd im Ausdruck! Und welch tiefe blaugraue Augen sie hatte! Oder waren sie nicht blaugrau? Sie erschienen ihm jetzt so dunkel! Kam das nur daher, weil die blassen Wangen nun rosig angehaucht waren?
Es entstand eine Pause. Die junge Frau stand mit glänzenden Augen da und wartete auf die Fortsetzung des Gesprächs. Der Doktor war ganz in Gedanken eingesponnen, er raffte sich nicht ohne Mühe auf.
„Lieben Sie schon lange so ernste Lektüre?“ fragte er zuletzt, um doch etwas zu sagen.
„Gewiß! Schon in meinen frühen Mädchenjahren sorgte mein Vater stets für gute Bücher. Sie haben Papa gar nicht gekannt, nicht wahr?“
„Ich kann eigentlich nur sagen, daß ich ihn gesehen habe – kennen darf man es doch nicht nennen, wenn man mit jemand drei-, viermal in Gegenwart so und so vieler anderer Personen zusammentrifft und kein tiefergehendes Gespräch miteinander führt. Margot – ich meine Ihre Mutter – lernte Konsul Schütze in Hamburg kennen, wo sie bei guten Freunden zu Besuch war. Er stellte sich dann meinen Eltern persönlich vor und warb um sie, als ich noch auf Reisen war. Bei meiner Rückkehr stand die Hochzeit nahe bevor, und damals sah ich also den Verlobten meiner Pflegeschwester. Er machte mir äußerlich und in seinem Wesen einen sehr guten Eindruck, mehr vermag ich beim besten Willen nicht über ihn zu sagen.“
„Sein Aeußeres und sein gesellschaftliches Benehmen war das Nebensächlichste an ihm!“ Gabrielens Blick und Stimme belebten sich mehr und mehr. „Einen hübschen Mann mit guten Manieren, den findet man hundertmal, aber mein Vater war zugleich ein ganz seltener Mensch, vielseitig begabt, zuverlässig und treu wie Gold, mit einem wahren Kinderherzen. Ich darf das sagen, ohne im mindesten parteiisch zu sein. Obgleich ich den Jahren nach noch jung bin, so hat mich doch mein Be– – mein Leben, meine ich“ – die Sprecherin verwirrte sich ein wenig – „mit so vielen verschieden gearteten Leuten zusammengeführt, daß ich recht wohl Vergleiche anzustellen imstande bin. Ich war erst zwölf Jahre alt, als Papa starb, aber wie deutlich steht sein ganzes Bild vor mir, wie gut erinnere ich mich an tausend Scenen, die sich in meinem elterlichen Hause abspielten, deren Mittelpunkt er war, und ich kann mir nicht denken, daß irgend ein Mädchen in so kindlichem Alter, wie ich damals eines war, ihren Vater tiefer betrauerte, als ich es that!“
In der Tiefe der graublauen Augen erwachte ein leidenschaftlicher Ausdruck, der das ganze Antlitz mit einem Schlag verwandelte. Cornelius Röder hatte recht gehabt, als er an jenem ersten Morgen gedacht, die junge Frau zeige ihm nicht ihr wahres Gesicht. War das jetzige das echte?
„Konsul Schütze muß ein zärtlicher Gatte und Vater gewesen sein!“ bemerkte er sinnend. „Ich erinnere mich, daß er damals Margot, seine Braut, kaum für eine halbe Stunde von seiner Seite ließ und sie mit Liebesbeweisen und Aufmerksamkeiten aller Art förmlich überschüttete!“
„Ja, das sieht ihm ähnlich! So ist er auch in späteren Jahren geblieben. Er hat uns namenlos verwöhnt, meine Mutter und mich. Sie hat sich nach seinem Tode ungemein verändert, sie brach ganz zusammen und fand keinen Halt mehr ohne ihn, der ihr jeden Wunsch von den Augen ablas. Auch mir erfüllte er jede Bitte. ‚Du sollst gern an Deine Kinderzeit zurückdenken,‘ pflegte er zu sagen, ‚sie soll sonnig und glücklich für Dich sein!‘ Und wahrhaftig, das war sie! Es war ein buntes farbenreiches heiß pulsierendes Leben in unserem Hause auf Batavia. Die Vertreter aller Nationen gingen bei uns aus und ein, fremdartige Menschen und seltsame Trachten erschienen täglich vor meinen Augen, ich hörte um mich herum fast alle Sprachen, die es giebt, und wurde doch davor bewahrt, international verbildet und verpfuscht zu werden, weil mein Vater ein so echter Deutscher, so unsagbar stolz auf sein Volk war. Oft noch seh’ ich im Traum unser stolzes Haus auf Batavia mit seinen luftigen Veranden und weitläufigen Nebengebäuden, seinen exotischen Pflanzen und luxuriösen Wohnräumen – und mitten darin mich, umschmeichelt und geliebkost von jedermann, bedient und auf Händen getragen wie ein Fürstenkind, eine glänzende Zukunft vor Augen. Dann“ – es senkte sich wie ein trüber Schleier über Gabrielens Gesicht, die alte hoffnungslose Müdigkeit kam wieder.
[55] „In Brüssel ging es Ihnen nicht gut?“ forschte er teilnehmend.
„O, ich kann das nicht einmal sagen! Viele andere hätten mich um das beneidet, was wir dort fanden. Ein wohlhabendes Haus, gebildete Menschen, eine schöne Stadt – aber uns fror, uns fror beständig! Das Haus in Batavia steht in meiner Erinnerung da wie auf Goldgrund, wie in ewigen Sonnenschein getaucht, und in Brüssel war alles so kalt, die Gegend, die Menschen, das ganze Leben! Mama war wie vernichtet, sie war ganz ohne Halt, wie sollte sie mir einen bieten? Ich blieb auf mich allein angewiesen, und dazu mein Schmerz um Papa, meine große gewaltige Sehnsucht nach ihm! Kann es ein tieferes Leid geben als dies heiße lebendige Sehnen nach einem Toten, der uns für immer entrückt ist? Und ich spann mich immer mehr darin ein, wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn nicht“ – sie verwirrte sich von neuem und brach kurz ab.
Ihm widerstrebte es, sie mit Fragen zu quälen, er hatte sich’s nicht umsonst angelobt, es nicht zu thun. Doch konnte er es sich nicht verwehren, innerlich gespannt zu sein. Was war es gewesen, was ihr über den Schmerz zu ihrem Vater endlich hinweggeholfen hatte? Die Liebe zu ihrem Mann? Aber das mußte doch Jahre gedauert haben, bis sie ihn gefunden haben konnte! Oder irgend eine Beschäftigung, ein Beruf – und welcher Art? Wo hatte sie ihren Gatten gefunden, welche Stellung hatte er eingenommen, und vor allen Dingen, wie war der Mann beschaffen gewesen, den eine Frau wie diese geliebt hatte? Denn daß sie ihn geliebt hatte, erschien dem Doktor unzweifelhaft. So jung sie noch war, ohne Liebe hatte Gabriele Hartmann sicher nicht ihre Hand verschenkt.
Und ob sie den Gatten ebenso leidenschaftlich betrauerte wie einst den Vater? Ob sein Tod diesen hoffnungslosen Zug in das junge liebliche Antlitz gegraben hatte? Und was wollte sie später anfangen in der Welt? Worauf bezog sich die Stelle in ihrem ersten Brief an ihn, sie habe eine gute Ausbildung erhalten und werde seine Güte höchstens bis zum Herbst ausnutzen, dann wolle und werde sie selbst für sich sorgen?
Nicht eine dieser zahlreichen Fragen kam über seine Lippen. Er ahnte es nicht, wie unendlich wohl er der jungen Frau damit that! Gewiß, er war gut und taktvoll, aber er war auch teilnehmend, sie las es ihm ja vom Gesicht ab, und auch die Teilnahme fragt, nicht nur die unbefugte Neugier. Und hatte er, als der Pflegebruder ihrer Mutter, als ihr jetziger Beschützer und Freund, nicht auch das Recht, zu fragen? Wie zart von ihm, keinen Gebrauch davon zu machen! Sie dankte ihm dafür in ihrem Herzen.
Nach diesem Gespräch, dem ersten, in dem Gabriele sich ein wenig mitteilsamer zeigte, wollte ein anderes Thema nicht mehr aufkommen. Die beiden schlenderten noch ein wenig im Garten umher; als sie an den Weiher kamen und dort den kleinen blauen Kahn sanft an seiner Kette schaukeln sahen, blickten sie einander lächelnd in die Augen und hatten denselben Gedanken. Seit Wochen lebten sie nun schon zusammen in „Buen Retiro“, und kein einziges Mal hatten sie gemeinsam eine Wasserfahrt gemacht! Röder half seinem Schützling ins Boot, löste die Kette und trieb mit ein paar kräftigen Ruderschlägen den Kahn vom Ufer ab. Es war eine stille, seltsam traumhafte Fahrt, die sanft abfallenden Ufer des Teiches waren bunt von wilden Blumen; die glänzenden Binsen ließen wieder ihr geheimnisvolles Surren hören, und in ihrer Nähe schwammen auf tiefgrünen Blättern bleiche Wasserrosen mit ihren Goldkelchen. Röder holte mit seinem Ruder die langen Stengel aus der Tiefe, schnitt mit dem Taschenmesser die Blüten ab und legte sie Gabriele in den Schoß, sie dankte ihm mit einem Lächeln und behielt die Blumen auf ihren Knien. Er hatte es bisher noch nie gesehen, daß sie sich mit irgend einer Blume schmückte, nur die Narzisse, die er ihr damals ins Haar gesteckt, hatte sie bis zum späten Abend darin behalten. Blauschillernde Libellen tanzten über dem Wasserspiegel und schwirrten zuweilen um Gabrielens Kopf, die Eschen sahen ruhig in das dunkle Wasser.
Diese stille Stunde mit ihrem eigenen träumerischen Reiz, da sie so schweigend miteinander fuhren und jeder von ihnen es empfand, daß in diesem Schweigen weder etwas Peinliches noch auch etwas Drückendes lag, sondern eine innere Zusammengehörigkeit, die sie zu Freunden machte – diese Stunde sollte ihnen beiden noch oft, oft ins Gedächtnis zurückgerufen werden, denn es war das letzte friedliche Beieinandersein für lange Zeit.
Der Doktor war den ganzen Tag in der Stadt gewesen. Er hatte dort mit ein paar Journalisten zu thun und mit seinem Buchhändler zu sprechen, denn er wollte sich ein wissenschaftliches Werk verschaffen, dessen er zu seinen Studien bedurfte. Das alles war am Vormittag erledigt, er hätte schon zu Tisch wieder heimfahren können, er blieb aber. Es war eine eigentümliche Unrast in ihm, etwas wie eine dunkle Warnung, sich nicht gar zu sehr in das Stillleben auf seiner Villa zu vertiefen, dessen wunderbaren Reiz er gestern so stark empfunden. Er hatte sich ja auf die Stille und Einsamkeit gefreut, jetzt aber wirkte sie so fesselnd auf ihn, daß er Gefahr lief, sich ganz und gar von ihrem Zauber einspinnen zu lassen. Und das durfte nicht sein, dagegen mußte er sich zur Wehr setzen. So alt war er noch nicht, um den Verkehr mit der Außenwelt vollständig abzubrechen, wenn er ihn auch entbehren zu können meinte! Und als vollends Mamsellchen heute morgen ihn ermahnt hatte, doch mehr unter Menschen zu gehen, mit dem Zusatz, es sei geradezu eine Schande, wie er sich hier vergrabe, da raffte er sich schnell zusammen und fuhr in die Residenz.
Als seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigt waren, suchte er ein paar gute Bekannte auf, die ihm aus seinem Kreise die angenehmsten waren, tüchtige und kluge Leute, der eine ein angesehener Journalist, Redakteur eines bedeutenden Blattes und eifriger Politiker, der andere ein hervorragender naturwissenschaftlicher Gelehrter, Verfasser eines vielgenannten Werkes über fossile Pflanzen und mit Röder seit Jahren bekannt.
Beide Herren empfingen ihn mit freundschaftlichen Vorwürfen über sein langes Fernbleiben, und er fühlte sich etwas beschämt angesichts ihrer unverstellten Herzlichkeit, wenn er bedachte, wie wenig ihm im Grund an ihrer Gesellschaft gelegen war. Er blieb nun mit ihnen zusammen, sie speisten in einem Restaurant zu Mittag und verabredeten, um sieben Uhr im Sommertheater wieder zusammenzutreffen.
Röder fand die Stadtluft außerordentlich heiß und unangenehm, er nahm sich einen Wagen und fuhr weit in einen Park hinaus, wo er die frische reine Luft wiederfand, die er in seinem „Buen Retiro“ jeden Tag genießen konnte. In die Residenz zurückgekehrt, blieb ihm noch eine gute halbe Stunde, in der er die schönsten Straßen durchschlenderte. Er machte dabei die Entdeckung, daß das Hin- und Herwogen des Menschenstromes ihm Schwindel erregte und daß die schönen Dinge hinter den großen Schaufenstern wenig Reiz für ihn besäßen.
Mit den beiden Herren ging er dann ins Theater und saß in den Zwischenpausen bei einem Glas Bier im Garten. Er mußte zugeben, daß das Lustspiel nicht übel und die Ausführung ausgezeichnet war, aber er amüsierte sich nicht. Auch als sie alle drei bei einem kleinen Souper beisammen waren, konnte er nicht mit voller Teilnahme dabei sein. Der Redakteur sprach angeregt und viel, aber Röder fragte sich in seinem Innern verwundert, wie es doch möglich sei, daß ein Mann in reiferen Jahren sich so ungeheuer für Politik interessieren könne, ihm kam dies ganze Parteitreiben so einseitig vor. Der Naturforscher besprach einige Erfindungen der Neuzeit, und hierbei wurde auch Röder lebhafter. Zwischendurch aber hatte er fortwährend die Empfindung, als sei all dies Reden und Thun am heutigen Tag völlig nebensächlich, als erwarte ihn zu Hause etwas ganz Wichtiges, das all sein Sinnen und Denken in Anspruch nehmen müsse. Trotzdem blieb er mit den beiden Herren bis zum Abgang der letzten Pferdebahn zusammen, und als er in dem Vorort ausstieg und heimwanderte, war die Mitternachtsstunde schon nahe.
Es wanderte sich schön in der abgekühlten Luft zwischen den leise wogenden Feldern und den Bäumen, die mit dem Nachtwind Zwiesprache hielten. Der Himmel leuchtete von zahllosen Sternen, die Häuser, die hier und da verstreut waren, lagen in tiefer Dunkelheit. Dann und wann schlug ein Hofhund an, verstummte aber bald wieder. Je näher der einsame Wanderer seiner Villa kam, desto mehr beschleunigte er seinen Schritt, es geschah dies aber ihm selbst vollkommen unbewußt. Endlich bei einer Biegung des Weges sah er das hübsche weiße Haus vor sich liegen.
Was war das? Ein paar Fenster waren erleuchtet, und nicht etwa im obern Stockwerk, wo die junge Frau wohnte, es war unten, in seinem Salon. Und jetzt, waren das nicht verlorene Klänge, die der Nachtwind ihm zutrug? Mit verhaltenem Atem, so leise, als könne sein Schritt die Töne verscheuchen, schlich der [56] Doktor näher. Und jetzt stand er dicht unter den Fenstern, hob sich ein wenig auf den Fußspitzen empor und sah und hörte. Gabriele saß vor dem geöffneten Flügel und begann leise ein Vorspiel. Der Lauscher konnte sie im Profil sehen, das feine Gesichtchen war ernst und gedankenvoll, die dunkeln Brauen ein wenig zusammengezogen. Die Art, wie sie die Hände leicht und sicher über die Tasten gleiten ließ, verriet die fertige Pianistin. Jetzt hob sich eine leidenschaftlich traurige Melodie hervor und dann begann sie zu singen.
In weichen vollen Alttönen, die eine innerliche Fülle der Empfindung verrieten, schwebte es herab durch das halboffene, Fenster zu dem atemlosen Zuhörer – es war eine Ballade, die Gabriele sang, der „König von Thule“.
Die Melodie war dem Lauschenden fremd, aber das that ihm, nichts, sie wußte so ergreifend zu erzählen, trotzdem oder vielleicht weil sie so einfach war. Und die Stimme, die Stimme! Sie durchschauerte ihn, sie traf ihn bis ins innerste Herz. Er hob den Blick zu den Sternen empor und fühlte die lauen Lüfte der Sommernacht um seine Stirn wehen, ein lieblicher Rosenduft umschmeichelte ihn …. den liebte Gabriele auch, den hatte ihr Haar damals gehabt, als das Gewitter losbrach und er sie in seinen Armen hielt.
„Dort stand der alte Zecher,
Trank letzte Lebensglut –“
sang die Stimme. Welch ein Wort das war: letzte Lebensglut! Wohl mußte es schön sein, die noch einmal vor dem Tode zu trinken! Und er, der hier stand, der entsagende Mann, der mit dem Leben abgeschlossen zu haben meinte und sich auf eine weltfremde Insel gerettet hatte, er fühlte es jetzt, wie die „Lebensglut“ in ihm emporloderte, heiß, unbezwinglich, und mit einem heftigen Schreck über sich selbst wandte er sich ab und trat vom Fenster zurück.
Er hatte eine schlaflose Nacht danach, aber in diesen Stunden hatte er Zeit gefunden, seine Entschlüsse zu fassen. Fort konnte er nicht, dann wäre auch Gabriele nicht länger in der Villa geblieben. Und sie fortschicken – unter welchem Vorwande konnte er das thun? Das Stillleben und die Luft von Buen Retiro thaten ihr offenbar gut, sie war sichtlich rosig und blühend geworden in der letzten Zeit. Um alles in der Welt durfte sie nicht ahnen, wie es um ihn stand. Gleich den meisten Männern reiferen Alters fürchtete auch Cornelius Röder nichts so sehr als den Gedanken, sich lächerlich zu machen – vieles andere ertrug er lieber als gerade das. Und wenn er, der sich bisher so gut als den väterlichen Freund aufgespielt hatte, der Gabrielens Vater sein konnte, jetzt plötzlich Miene machte, ihr zu huldigen, ihr seine Ritterdienste zu widmen, dann war er sicherlich dem Fluch der Lächerlichkeit verfallen! Also galt es, dem Zusammensein mit der jungen Frau möglichst auszuweichen, oder, falls dies nicht thunlich war, dies Zusammensein nach Kräften abzukürzen. Das würde schon zu machen sein. Unter dem Vorwand vermehrter Arbeit konnte er die Mahlzeiten, die sich seit einigen Tagen zuweilen in die Länge gezogen hatten, beschleunigen und jedem intimeren Gespräch dadurch, daß er sich sofort auf sein Studierzimmer zurückzog, ein Ende machen. Im Garten kannte er Gabrielens Lieblingsplätze genau und konnte es vermeiden, sie dort zu treffen. Auch würde er des öfteren nach der Stadt gehen. Zwar war ihm der verflossene Tag endlos lang und ziemlich öde erschienen, aber das half nun alles nichts, er mußte trachten, sich selbst zu entfliehen, und dazu durfte kein Mittel unbenutzt bleiben.
Wäre er streng mit sich selbst ins Gericht gegangen, er hätte sich’s gestehen müssen, daß es schon seit jenem Gewitterabend um sein inneres Gleichgewicht geschehen war, allein er scheute sich, die Sonde in die frische Wunde zu stecken, um zu untersuchen, wo sie begann und wie tief sie ging. Es war schlimm genug, daß überhaupt eine Wunde da war! Er hatte sie entdeckt, da er den leidenschaftlichen Ton dieser dunklen Stimme vernommen hatte, und er wünschte von ganzer Seele, er hätte Gabriele Hartmann nie singen gehört.
Am andern Tage that er sehr geschäftig mit seinen Arbeiten, obgleich er nur ein paar Seiten Manuskript zustande brachte, die er beim späteren Ueberlesen erbarmungslos wieder durchstrich, da sie ihm durchaus ungenügend erschienen.
Ihm war unruhig und seltsam erwartungsvoll zu Sinn; es litt ihn nicht bei seinen Büchern, es litt ihn überhaupt nicht im Hause. Trotzdem es ein sehr warmer Tag war, machte er schon vor Tisch einen weiten Spaziergang und kam so erhitzt und erschöpft heim, daß er sich bei seinem Gast entschuldigen ließ: er müsse sich völlig umkleiden und bitte Frau Hartmann, allein zu speisen.
Was Mamsellchen ihm in seinem Studierzimmer auftrug, genoß er nur zum Teil, „ohne Sinn und Verstand“, wie sie im stillen sagte, dann warf er sich auf sein Sofa und sank in einen bleiernen Schlaf, aus dem er erst in später Nachmittagsstunde erwachte.
Er konnte sich nicht überwinden, Gabriele aufzusuchen, sondern schlich heimlich, ohne Kaffee oder sonstige Erfrischung, durch die Hinterpforte seines Gartens und wanderte ziellos durch den Wald, um erst kurz vor Sonnenuntergang heimzukehren. An der letzten Biegung des Weges blieb er überrascht stehen: eine schlanke weibliche Gestalt lehnte gegen einen der Ahornstämme – Gabriele, die offenbar auf ihn gewartet hatte.
Wenn ihm bei ihrem unerwarteten Anblick das Blut ungestüm aufwallte und er bestrebt war, ihr diese seine Erregung zu verbergen, so konnte es ihm doch nicht entgehen, daß auch sie befangen war, offenbar noch befangener als er.
Sie tauschten einen höflichen Gruß miteinander, und dann standen sie Auge in Auge, stumm, keiner fand ein harmloses Wort.
„Ich habe Sie hier erwartet,“ begann endlich die junge Frau, „ja, ich erwartete Sie hier – um – um – ich wollte Ihnen etwas sagen, das –“
Ihre hilflose Verlegenheit rührte ihn und nahm ihm die eigene Unsicherheit.
„Nun, was ist’s denn damit, Frau Gabriele? Sie sind ja ganz aufgeregt, das darf ich nicht dulden! Sie wissen, ‚keine Erregung!‘ hat Ihr Arzt gesagt. Was wollen Sie mir mitteilen? Ist’s etwas so Peinliches?“
„Peinlich, ja, das ist das Wort dafür!“ fiel sie ihm hastig in die Rede. „Es fällt mir schwer, Ihre Güte, die Sie mir bisher erwiesen haben –“
„Aber ich bitte Sie um alles, worin besteht denn diese meine sogenannte Güte? Ich habe ein Landhaus und Sie machen mir die Freude, mit darin zu wohnen, das ist alles! Sie, meiner lieben Margot Tochter! Sie könnten ganz andere Dinge von mir verlangen, und ich würde sie thun!“
„Gewiß würden Sie das, ich weiß! Und doch – dies – dies –“
„Sie müssen wenig Vertrauen in meine gerühmte Güte setzen, wenn Ihnen ein offenes Wort so schwer fällt!“
„Gut also, ich will offen sein.“ Sie warf ein wenig den Kopf zurück und faßte sichtlich einen tapfern Entschluß. „Ich habe Ihnen bis jetzt noch nichts Näheres über meine Vergangenheit erzählt, ich hatte meine Gründe dafür, und ich bin Ihnen dankbar, daß Sie nicht fragten. Daß ich zuletzt in Bremen war, wissen Sie. Ich fand dort einige Bekannte wieder, die mir bereits in Brüssel nähergetreten waren – das heißt, für dies Nähertreten waren mehr äußerliche Gründe maßgebend. Sie sind gut gegen mich gewesen und ich bin ihnen Dank schuldig. Während der langen Krankheit meines Mannes und nach seinem Tode haben sie sich meiner angenommen, ich darf ihnen das nicht vergessen. Auch für die Zukunft kann ich ihren Rat, ihre Hilfe kaum entbehren, ich sage Ihnen wohl später, warum! Und eben diese Bekannten – es ist ein Ehepaar und dann der Bruder der Frau –“
Sie war mit dem Atem zu Ende, so rasch hatte sie gesprochen, das liebliche Gesicht war über und über rosenrot. Röder stand da und sah sie selbstvergessen an – „trank letzte Lebensglut“ klang es in ihm.
„Was werden Sie nur von ihnen denken, wie sie beurteilen? Mein Arzt in Bremen, der meine Adresse wußte, dem ich von Ihnen erzählte, hat sie hierhergewiesen, und nun, da sie augenblicklich alle drei ohne Beschäftigung sind – und ihre Lebensauffassung ist so – so frei, so ohne Bedenken und viele Formen – da sind sie plötzlich heute unerwartet gekommen, mich zu besuchen. Sie fuhren vor etwa zwei Stunden hier vor, sind ganz entzückt, mich wiederzusehen, schwärmen von dem ‚Idyll‘, in dem ich hier lebe – und ich fürchte – ich glaube –“
„Aber das trifft sich ja prächtig!“ unterbrach er sie lebhaft. „Ich hab’ es schon lange Ihrethalben gewünscht, ‚Buen Retiro‘ möchte mehr Gäste haben, damit Sie etwas mehr Zerstreuung fänden, jetzt, da Sie kräftiger und frischer sind! Raum haben wir in Hülle und Fülle, die Zimmer sind, dank dem mitgebrachten Ueberfluß von meinem väterlichen Gut, aufs beste ausgestattet, und Mamsellchen klagt täglich, sie führe ein zu bequemes Dasein und es fehle ihr an Beschäftigung. Ich bin glücklich, geradezu glücklich, Ihnen endlich einen kleinen Gefallen erweisen zu können, [58] und ich bitte Ihre Freunde, über mich und meine Villa nach Belieben zu verfügen!“
Er sagte das aus voller Ueberzeugung. Aus einem überaus gastfreien Hause stammend und in früheren Jahren selbst ein Freund geselligen Verkehrs, begrüßte er jetzt diese Nachricht mit doppelter Bereitwilligkeit; er freute sich wirklich, Gabriele einen Dienst erweisen zu können, und die Anwesenheit der Fremden überhob ihn außerdem der Verlegenheit des Alleinseins mit der jungen Frau, wovor ihm so bange gewesen war. Blieb auch die Art und Weise dieser „guten Bekannten“ etwas ungewöhnlich, so ohne weiteres einen Ueberfall in Scene zu setzen und Gabriele, die selbst Gast war, unangemeldet zu besuchen, so hieß es eben, dieses Impromptu mit guter Miene entgegenzunehmen, und Röder, auf der Flucht vor sich selbst und des naiven Glaubens, ein so äußerliches Mittel könne ihm und seinem aufrührerischen Herzen helfen, war ganz bereit, das zu thun. Daß Gabriele mehr niedergeschlagen als erfreut aussah, beachtete er in seinem Eifer kaum.
„Es ist doch viel verlangt,“ bemerkte sie mit einem schwachen Lächeln, „wenn ich auch Ihre Güte kenne –“
„Schon wieder meine ‚Güte‘! Ich möchte Ihnen gern das Wort ganz konfiszieren! Sie wissen doch: Die Freunde unsrer Freunde sind auch die unsrigen!“
„Nun, Freunde – das Wort paßt nicht recht – es sind gute Bekannte, die … Sie werden ja sehen!“
„Und es ist die höchste Zeit, daß ich sehe!“ fiel der Doktor ein und bot ihr den Arm. „Kommen Sie, Frau Gabriele! Ich hoffe, mein Mamsellchen wird bereits ihre Feldherrngabe entfaltet haben – ich muß doch aber selbst ein wenig zum Rechten schauen!“
Sie blickte schüchtern zu ihm auf. „Ich danke Ihnen!“ sagte sie leise.
Er wußte es selbst nicht, daß er den zarten Arm, der in dem seinen lag, leise an sich drückte und zärtlich auf Gabriele niedersah.
[69]
Als Gabriele und Röder zusammen die Stufen der Veranda emporstiegen, kam ihnen Mamsellchen dort mit hochgeröteten Wangen entgegen und berichtete, die fremden Herrschaften seien im Garten.
„Es ist gut! Wollen Sie vorausgehen, Frau Gabriele, und meinen neuen Gästen sagen, ich würde sie in fünf Minuten willkommen heißen? Ich will mich nur durch ein paar Worte mit meinem Hausgeist verständigen.“
Gabriele nickte und ging nach dem Garten. Mamsellchen sah ihr mit beklommener Miene nach. Wie die junge Frau lieblich anzusehen war in dem schlichten weißen Wollkleid, das sie trug, und wie sie aufblühte! Mamsellchen fand, daß sie mehr und mehr dem Generalkonsul, ihrem Vater, glich.
„Herr Doktor“ – Mamsellchen holte einen langen Seufzer aus der Tiefe ihrer Brust heraus, um anzudeuten, wie schwer es ihr ums Herz sei, „die bleiben also hier?“
„Die neuen Gäste? Ja, gewiß!“
„Wie lange wohl?“
„Das weiß ich nicht.“
„Auch nicht, wie sie heißen?“ examinierte Mamsellchen weiter.
[70] „Nein!“ antwortete der Doktor.
„Auch nicht, wer sie sind?“
„Nein! Das heißt, es sind Frau Hartmanns Freunde, das genügt mir – und Dir hoffentlich auch!“
„Ja, dann muß es wohl. Welche Zimmer bestimmen der Herr Doktor?“
„Ich dachte, das Eßzimmer und die beiden mit den roten Möbeln.“
„Dann hab’ ich es richtig getroffen, als ich das Gepäck gleich dorthin tragen ließ. Sie haben nämlich Gepäck mitgebracht, gerad’ als wenn sie genau im voraus gewußt hätten, sie würden hier bleiben. Na, das find’ ich nun aber komisch!“
„Ich nicht! Sorg’ nur für ein gutes Abendessen und schick’ mir Ewert wegen des Weines!“
„Die Dame, die sieht so aus –“
„Ich werde ja gleich erfahren, wie sie aussieht!“
„Und der eine Herr ist noch jung, und der schaut nach unserer jungen Frau, das hab’ ich gleich weg gehabt. Unserer jungen Frau ist er aber egal, die hat kaum hingehört, wenn er zu ihr sprach. Ewert hat Mosel mit Wasser und Zucker in die Veranda gebracht, als sie kamen, ich hatte das bestimmt, weil es so heiß war, es schmeckte ihnen sehr gut, und die Dame –“
„Laß mich jetzt gehen, ich muß endlich meine Gäste begrüßen!“
„O Gott, und ich möcht’ noch fragen und reden ohne End’. Ich will bloß noch sagen, es schien den Dreien hier sehr gut zu gefallen, denn sie besahen sich alles und lobten alles, und der Herr mit der tiefen Stimme sagte ein paarmal: Hier laßt uns Hütten bauen! Und unsere junge Frau, die war dabei verlegen!“
Der Doktor winkte ungeduldig mit der Hand und war mit einem: „Ich verlasse mich ganz auf Dich!“ die Stufen hinunter.
Cornelius mußte fast seinen ganzen Garten durchschreiten, ehe er die Gesuchten fand. Endlich hörte er ein sonores Lachen und plaudernde Stimmen aus dem Dickicht einer reich mit wildem Wein umwachsenen Laube hervor, die an einem entlegenen Ende des Gartens stand. Der Blick des Eintretenden umfaßte sofort die Gruppe, einen etwas beleibten Herrn in mittleren Jahren mit einem kühn getragenen Lockenhaupt und martialischem Schnurrbart, eine verblüht, aber sehr entschlossen aussehende Dame, übertrieben modern gekleidet, einen beweglichen blonden jungen Mann, der soeben sein Monocle blitzgeschwind mittels eines Augenzuckens herunterwarf, und Gabriele, die eine abgerissene Weinranke spielend in der Hand hin- und herdrehte.
Allgemeines Aufstehen, allgemeine Vorstellung. Herr Theobald Schrader und seine Frau Gemahlin hatten eine so wortreiche und pathetische Art, ihr Schicksal zu preisen, das sie gerade nach Buen Retiro, gerade zu ihm, Doktor Cornelius Röder, dem „berühmten Gelehrten und Schriftsteller“, geführt hatte, daß dieser sich nicht sonderlich angenehm berührt fühlte. Er haßte die großen Worte wie die großen Gesten, und beides bekam er hier reichlich zu kosten. Dennoch nickte er Gabriele aufmunternd und freundlich zu, als ein schüchterner Blick von ihr ihn traf, der ihn zu fragen schien, wie ihm die neuen Hausgenossen gefielen. Der Schwager Schraders, Alfred Konsky, verhielt sich ziemlich schweigsam, bis Ewert meldete, es sei serviert.
Das kleine Mahl verlief recht unterhaltend. Nach kurzer Zeit schien jeder Zwang von den Gästen gewichen zu sein, sie fühlten sich ganz zu Hause und bethätigten dies durch höchst gemütliches Wesen.
Herr Theobald Schrader, der eine schöne Baßstimme besaß, sich dessen voll bewußt war und beim Reden die Töne oft mit klangreichem Pathos aus der Tiefe seiner Brust herausholte, während er das R wie auf Rädern rollen ließ, hielt sich, trotz seines majestätischen Aussehens, nicht für zu gut, um eine ganze Reihe älterer und neuerer Witze zum Besten zu geben und mit so dröhnendem Lachen zu begleiten, daß das Speisezimmer davon wiederhallte. Seine Ehehälfte, deren Teint dem Aussehen eines stark zerknitterten welken Blumenblatts glich, plauderte fast beständig und schien sich selbst ausnehmend geistreich zu finden; wenigstens wanderten ihre schelmisch zwinkernden Augen wieder und wieder Beifall fordernd zu dem Antlitz ihres Nachbars, des Hausherrn, und als dieser ihr den Gefallen that, aus Gutmütigkeit ihr ein wenig zu schmeicheln und ein paar ihrer Aussprüche zu loben, da war sie völlig zufriedengestellt und versicherte ihm einmal über das andere, er sei ent–zückend, geradezu ent–zückend, und Gabriele könne sich viel auf einen solchen Freund zugute thun. Sie begönnerte die junge Frau auffallend, nannte sie jetzt „meine Kleine“, dann wieder „meine teure Freundin“, immer aber in einem Ton, der deutlich durchblicken ließ, daß Gabriele ihr viel Dank schuldig sei. Am unauffälligsten benahm sich der Bruder, Herr Alfred Konsky. Er hatte eine ruhige Sprechweise und eine gewisse kurze trockene Art, drollige Dinge zu sagen oder auch an die Adresse seiner Schwester kleine unliebsame Wahrheiten zu richten, die entschieden belustigend wirkte und selbst auf Röder ihre Wirkung nicht verfehlte. Seine Nachbarin Gabriele behandelte der junge Mann mit einer ehrerbietigen Vertraulichkeit, die auf eine sehr lange oder sehr intime Bekanntschaft schließen ließ, Zeichen besonderer Verliebtheit konnte der Gastgeber nicht an ihm wahrnehmen, nur einmal fiel ihm ein etwas wärmerer Blick auf, der aber immer noch nicht die Grenze sehr ergebener Freundschaft überschritt.
Als die Geister des Weins die Gemüter zu beleben begannen, taute auch Gabriele, die bis dahin ziemlich schweigsam gewesen war, mehr auf. Sie spann sich in eine halblaut geführte Unterhaltung mit Konsky ein und lachte ein paarmal über Schraders Witze herzhaft mit. Dem Doktor fiel es ein, daß er sie noch nicht ein einziges Mal so kindlich hatte lachen hören – er war eben ein zu ernsthafter schwerfälliger Gefährte für das junge Geschöpf gewesen, er hatte es nicht verstanden, in ihm die schlummernde Munterkeit zu wecken, dazu mußten andere kommen! Und er hätte das so wohlfeil haben können, denn Witze und Bemerkungen in der Art des Herrn Theobald Schrader standen ihm gleichfalls mit Leichtigkeit zu Gebot; Gabriele war ihm nur für dergleichen zu gut gewesen.
Einigemal fiel es ihm auf, daß sie ihren Gästen einen warnenden Blick zuwarf, als diese, in ihrer Redeweise immer ungezwungener werdend, verschiedene Anspielungen auf die Vergangenheit machten und allerlei belustigende Begebenheiten erzählen wollten, die in ihr früheres Beisammensein fielen. Jedesmal brachen sie kurz ab, sobald sie Gabrielens Mienenspiel bemerkten, ein Mienenspiel, das deutlich genug sagte: „Was habt Ihr mir versprochen? Wißt Ihr nicht mehr, um was ich Euch gebeten habe?“
„Unser liebenswürdiger Wirt!“ rief Herr Schrader mit Stentorstimme, und seine Gattin fiel mit einem hell schmetternden Sopran ein: „Hoch soll er leben, hoch soll er leben, er lebe hoch!“
„Sie beneidenswerter Sterblicher!“ fuhr ihr Gemahl pathetisch fort. „Eine Leuchte der Wissenschaft, ein Förderer und Kenner der schönen Künste, ein Besitzer keineswegs zu unterschätzender irdischer Güter, Herr dieser Perle eines idyllischen Landsitzes, Eigentümer eines feudalen Weinkellers … was, ich frage Sie, was, meine hochverehrten Anwesenden, mangelt einem Mann wie diesem zu seinem vollkommenen Glück?“
„Eine Frau!“ bemerkte Herr Alfred Konsky trocken.
„Ebenso einfach als richtig bemerkt, mein lieber Schwager!“ entgegnete Theobald, als das laute zustimmende Lachen seiner Frau sich gelegt hatte. „Also, um einem Wunsch zu entsprechen, der sich entschieden im Busen eines jeden an unserer kleinen Tafelrunde regt: mein hochverehrter Herr Doktor, auf die Erwählte Ihres Herzens!“
Im Busen des hochverehrten Herrn Doktors regte sich vor allem der Wunsch, seine Gäste möchten bald müde werden und ihre Ruhestätten aufsuchen, anstatt ihn und seine etwaigen Herzenswünsche hier zum Mittelpunkt der Unterhaltung zu machen – allein daran war kein Gedanke. Herr Schrader beugte sich über seine Gattin, tippte Röder vertraulich aufs Knie und fragte in vertraulichem Flüsterton: „Nicht wahr, ich gehe nicht fehl, wenn ich annehme … hm, hm – ein Mann wie Sie – nicht wahr, es gäbe manches reizvolle interessante Erlebnis zu berichten, wenn Sie im Buch Ihrer Vergangenheit blättern wollten?“
„O, bitte, bitte, blättern Sie!“ Frau Schrader faltete die Hände wie ein artiges Kind, das um Bonbons bittet, und machte ein spitzes Mäulchen. „Ich denke es mir zu reizend! Mein Mann hat recht, ein Mann wie Sie – dieser frappante Kopf – nicht wahr, Theo? Was müssen Sie alles erlebt haben! Ich wette, die Damen sind sehr, sehr – liebenswürdig gegen Sie gewesen! O, nicht diese ablehnende Miene! Gabriele, meine Kleine, helfen Sie mir den Doktor bestimmen, daß er uns ein Kapitel aus seinem Lebensroman erzählt!“
„Leopoldine, ich bitte Sie, wie können Sie verlangen –“
„Gabriele, Sie thun gerade, als forderte ich Sie auf, ein Verbrechen zu begehen! Sehen Sie sie an, bester Herr Doktor,“ fuhr sie leiser fort, „jetzt macht sie ihr unnahbares Gesicht, wie wir es immer nannten, damals, als Gabriele noch mitten unter uns war! Geben Sie zu, daß sie mit dieser Miene entschieden hochmütig aussieht! Sie liebte es immer, sich von Zeit zu Zeit solche Airs zu geben – ihr muß dann wohl der Papa Generalkonsul [71] zu Kopf steigen und die glänzenden Verhältnisse, in denen sie groß geworden ist. Lieber Gott, mir kommt das ein bißchen lächerlich vor, ich habe sonst für Gabriele immer eine Vorliebe gehabt und freute mich, ihr mit Rat und That zur Seite stehen zu können, sie ist ja so jung und stellenweise von einer Naivetät, von einer Kindlichkeit der Weltanschauung, die ans Unglaubliche grenzt … Für ihr Aeußeres habe ich mich eigentlich nie so sehr begeistern können, die Gestalt ist mir zu schmächtig, zu wenig imposant“ – die Rednerin sah unwillkürlich in den ihr gegenüberhängenden Spiegel, der ihre üppige Figur in dem prall sitzenden Seidenkleide zurückstrahlte – „und das Gesicht, ich wüßte, bis auf Augen und Zähne, nichts Schönes darin zu finden, es ist meist auch zu blaß. Freilich heute hat es Farbe – ja, was ich sagen wollte, bei den Männern hat Gabriele allerdings wunderbar viel Erfolg, ich konnte es aber nie recht begreifen. Der Geschmack der beiden Geschlechter ist doch grundverschieden – klären Sie mich doch ein wenig auf, bester Doktor! Wie kommt das?“
„Was soll kommen, gnädige Frau?“
„Ach, Sie weichen mir aus, Sie thun, als verständen Sie mich nicht! Aber das soll Ihnen bei mir nichts helfen. Ich bin eine offene Natur, schon als ich noch ein Kind war, sagte meine Mutter: Poldchen, Du bist viel zu ehrlich; wie willst Du mit dieser Geradheit durch die Welt kommen? Also denn geradezu, wie finden Sie sie?“
„Sie meinen Frau Hartmann?“
„Natürlich, wen denn sonst? Sind Sie nicht auch bezaubert?“
„Ich will Ihnen ein Geheimnis anvertrauen, schöne Frau! Ich habe das Glück – oder soll ich es ein Unglück nennen? – von allen Vertreterinnen Ihres Geschlechts bezaubert zu sein, von allen, ohne Ausnahme! Es ist dies ein verhängnisvoller Zug in meiner Natur, aber er ist da, und ich muß Sie bitten, mit ihm zu rechnen!“
Frau Leopoldine sah zu ihm auf – sprach er im Ernst oder hatte er sie zum Besten? In seinen unbeweglichen Mienen war keine Aufklärung darüber zu finden. Sie lachte ein wenig gezwungen.
„Welch ein Original Sie sind, Doktor Röder, wirklich, ein ganzes Original! Wenn man Ihren Worten glauben würde, dann müßte man sich ja entsetzlich vor Ihnen fürchten!“
„Eine süße Aufgabe für mich, diese liebenswürdige Furcht zu entkräften!“ Er sprach sehr leise, um alles wollte er nicht, daß Gabriele irgend etwas von diesen Albernheiten hörte.
„Es mag auch zum Teil daran liegen, daß man Euch Männern interessanter wird, wenn man sich anscheinend gar nicht um Euch bekümmert!“ Frau Leopoldine konnte sich nicht entschließen, das anziehende Thema aufzugeben. „Und wenn das der Fall ist, o, dann hat Gabriele es vortrefflich verstanden, dies auszunutzen. Wenn ich nur an den armen Willibald denke –“
„Wer war der arme Willibald?“
„Das wissen Sie nicht? Das war ja Gabrielens Mann! Ist der verliebt in sie gewesen! Hat er sich nicht, als sie ihn zuerst nicht wollte, benommen, als könnte er das Leben nicht länger ertragen! Und sie immer ganz gleichmäßig, mit einer Seelenruhe, die weit über ihre Jahre ging – ich, die ich sie doch lange kenne, weiß heute noch nicht, ob sie überhaupt irgend welcher Leidenschaft fähig ist, und wenn sie das ist, ob sie eine solche für den armen Willibald hatte! Ich hielt es damals für meine Pflicht, ernsthaft mit ihr zu reden, denn wirklich, ich glaube, Hartmann wäre verrückt geworden, wenn sie ihn nicht erhört hätte – er war eine excentrische Natur. Und trotz alledem bin ich fest überzeugt, sie hätte ihn dennoch nicht genommen, wenn nicht seine große Begabung für …“
„Liebe Leopoldine, bitte, versuchen Sie einmal diese köstlichen Ananaserdbeeren! Mamsellchen und ich, wir sind unsäglich stolz darauf, wir haben sie selbst heute zum Nachtisch gesammelt!“
Es war Gabrielens Stimme, ungewöhnlich lebhaft, und wieder lag in ihren Augen die beredte Mahnung: Schweige! Du hast es mir versprochen, zu schweigen!
Und Frau Leopoldine aß Ananaserdbeeren und schwieg, das heißt, sie sprach von anderen Dingen. Sie erzählte Röder allerlei Begegnungen, die sie mit berühmten Männern gehabt hatte, meistens waren es Künstler oder Journalisten, und wie diese ihr gehuldigt hätten. „Ja, damals war man noch jung und hübsch!“ schloß sie mit einem Seufzer und einem koketten Augenaufschlag, es unentschieden lassend, wann dies „damals“ gewesen war.
„Leopoldine, teures Weib, hast Du unseren edlen Hausherrn bereits etwas von unserm Attentat gesagt?“ klang jetzt der volle Baß des Herrn Schrader mitten in den Redestrom seiner Gattin hinein.
„Ach, richtig, unser Attentat! Dank Dir, Theo! Ja, ja, Herr Doktor, das hilft Ihnen nun alles nichts, weder das Augenbrauenfalten noch das kühle Abwehren in den Zügen – denn das hatten Sie soeben. Ich bin eine ganz gute Beobachterin!“
„Unleugbar, meine Gnädigste! Aber zur Tagesordnung, das Attentat –“
„Sehr geschickt ausgewichen! Also, wir haben ihn gesehen, zuerst durch das Fenster von draußen her, dann, da ich keine Ruhe gab, mußte Gabriele mich hineinführen, um ihn zu probieren – sie that es ungern genug! Ich schließe daraus, daß Sie sehr heikel mit Ihrem schönen Stutzflügel sind, aber was wollen Sie? Musik ist mein Lebenselement, meine einzige Leidenschaft, mein Bestes –“
„O, o, meine gnädige Frau, es bedarf so vieler Worte nicht! Der Blüthner steht jederzeit zu Ihrer Verfügung, benutzen Sie ihn wie Ihr Eigentum!“
„Wie entzückend das ist, wie großmütig!“ Frau Leopoldine schob lebhaft ihren Stuhl zurück und klatschte in die Hände. „Theo, hast Du gehört? Alfred, so gieb doch acht, so freu’ Dich doch! Musik, meine Herrschaften, Musik!“
Das Zeichen zum Aufstehen war gegeben, allgemeines Händeschütteln, rascher Aufbruch zum Salon, kaum daß Röder Zeit behielt, mit Gabriele ein Wort zu wechseln.
„Verzeihen Sie mir, ich weiß nicht, ob Ihnen das alles recht, ob es nach Ihrem Sinn ist, aber –“
„Kein Aber, Frau Gabriele! Bin ich denn ein so schwerfälliger Pedant, daß ich mich in keine veränderte Lage finden kann? Gehen Sie nur, gehen Sie! Ihr Kavalier wartet schon auf Sie! Ich folge nach!“
Sie hätte gern noch mehr zu ihm gesagt, zögernd legte sie ihre Hand auf Konskys dargebotenen Arm.
Frau Leopoldine war den übrigen vorausgeeilt. Sie saß bereits am geöffneten Flügel und spielte, als die andern eintraten.
„Sie lieben doch Musik, Herr Doktor?“ rief sie mit heller Stimme zu dem Hausherrn hinüber.
Er verneigte sich stumm.
Im Salon verbreiteten die hohen Stehlampen ein klares stetiges Licht. Ein Fensterflügel stand offen, ein mildes Nachtlüftchen hob leise die weiße Gardine. Gabriele zog sich lautlos in die Tiefe des großen Raumes zurück, ihre schlanke, helle Gestalt hob sich scharf von der dunkeln Tapete ab. Die roten Rosen auf ihrer Brust fingen an, sich zu entblättern.
„Ihr, die Ihr Triebe des Herzens kennt –“
Frau Leopoldine Schrader hatte eine sehr gutgeschulte Stimme und einen lebendigen Vortrag. Sie war ganz Cherubim, der schelmische Page aus dem „Figaro“, daß dies Schmachten und Kokettieren einer verblühten, vom Wein erhitzten Dame, die in einem hellen Seidenkleide am Klavier sitzt und sich selbst begleitet, nicht gut zu Gesicht steht, dessen war sie sich offenbar nicht bewußt. Ihre helle, in der Höhe bereits etwas scharfe und abgesungene Stimme schleuderte die Töne mit siegesgewisser Sicherheit hervor, die halb zugedrückten Augen blinzelten schalkhaft zu den drei Herren hinüber, der enggeschnürte Oberkörper wiegte sich wohlgefällig hin und her. Auf die Pagenarie folgte das: „Wenn du fein artig bist“ aus dem „Don Juan“, daran reihte sich das reizende „Kommt ein schlanker Bursch’ gegangen“ des Aennchen aus dem „Freischütz“, und so kam Gabe auf Gabe, rasch, überhastet, ohne ein Wort des Lobes oder ein Beifallsklatschen abzuwarten. Frau Leopoldine schwelgte in ihrer eigenen Kunst. Wenn die Zuhörer dies nicht thaten, sondern entweder ihren eigenen Gedanken nachhingen oder leise miteinander plauderten, ohne weiter auf den Gesang zu achten, so war dies schnöder Undank von ihnen, zu bewundern blieb immer die erstaunliche Kehlfertigkeit, sowie das gute musikalische Gedächtnis, welches die Sängerin befähigte, die Begleitung, wenn auch etwas zu lebhaft, so doch fest und sicher durchzuführen.
Nach einer langen langen Weile bemächtigte sich Herr Theobald gewaltsam des Flügels, indem er seine Gattin ohne weiteres beim Arm nahm und vom Sessel emporzog, und gab die beiden Arien des Sarastro aus der „Zauberflöte“ zum besten. Die Fenster klirrten und die Lampen bebten vor der Gewalt seines Basses, die Begleitung ließ viel zu wünschen übrig, und er mußte die Hilfe seiner Frau in Anspruch nehmen. Sie wünschte nicht, daß er noch mehr singe, sie behauptete, das schade ihm nach dem Essen, lieber wolle sie noch mit Alfred ein paar Duette spenden. Alfred ließ sich erst ein wenig nötigen, ehe er seinen Platz neben Gabriele mit dem am [74] Klavier vertauschte, schließlich klang sein angenehmer Bariton mit dem Sopran seiner Schwester in einigen italienischen Duetten zusammen, die am besten von den bisher gebotenen Leistungen wirkten.
Gabriele wurde lebhaft gebeten, zu singen, das würde der Glanzpunkt, die Krone des ganzen schönen Beisammenseins werden, Doktor Röder ahne wohl gab nicht, welch’ ein herrliches Talent sich unter seinem gastlichen Dach verborgen habe, es sei geradezu eine Sünde, den Anwesenden einen solchen Genuß vorzuenthalten – – es blieb alles ohne Erfolg. Sie machte nicht viele Worte, aber sie weigerte sich standhaft; sie sei nicht aufgelegt und könne heute nicht singen.
Es war nach zwei Uhr nachts, als man sich endlich voneinander trennte. Die Fremden zwar zeigten keine Spur von Ermüdung und hatten nicht übel Lust, noch einen Gang durch den nächtlichen Park zu unternehmen – es mußte entzückend sein, dort bei Sternenschein umherzuschwärmen – als aber Gabriele kurz erklärte, sie sei nicht dabei, zerfiel der ganze Plan sofort.
Man wünschte einander sehr wortreich gute Nacht und machte allerlei Pläne für den nächsten Tag. Röder stimmte höflich den verschiedenen Vorschlägen bei – an ruhiges Arbeiten war vorläufig für ihn nicht zu denken, das sah er schon.
Gabriele reichte ihm zaghaft die Hand und machte eine bedrückte Miene, als er die Hand kaum anrührte und gleich wieder losließ. Ihm lag das Herz schwer in der Brust, es that ihm weh, sie nur anzuschauen, in ihrer mädchenhaften Lieblichkeit. Er hätte sie bei der Hand nehmen, an die Schwelle seines Hauses führen und sprechen mögen: „Geh’ und komm’ nicht mehr zurück zu mir! Du nimmst den Frieden dieses stillen Hauses mit Dir, aber geh’, daß nicht Dein Anblick mich zum Thoren macht!“
Mehr als vierzehn Tage waren seit jenem Abend vergangen. Es war inzwischen Hochsommer geworden. Die Gegend um Buen Retiro herum hatte sich verändert. Die wogenden Kornfelder waren niedergemäht, nur der Hafer schüttelte noch seine leichten Rispen im warmen Wind. Aber auch für ihn war es Zeit zur Ernte – schon machten sich die Schnitter mit ihren blanken Sensen über ihn her. -
In tiefem ernsten Grün prangte der Wald. Das Blumengewimmel zu Füßen der alten Bäume hatte aufgehört, die lustigen Vogelkonzerte waren verstummt. Dafür schwärmten zahllose Schmetterlinge, vom winzigen Bläuling bis zum stolzen Trauermantel, um die hohen Gräser und um die Schilfdolden, die nahe dem üppigen Moorgrund wuchsen.
Die Landleute, die Buen Retiro zu passieren hatten, verstanden die Inschrift nicht, welche die Villa trug. Hätten sie sie verstanden, sie würden sich gewundert haben. Vielleicht auch nicht. Es war nicht gesagt, ob das hübsche Haus eine „gute Zuflucht“ für einen Einzelnen bieten sollte, oder für viele. Jetzt wohnten viele Leute darin, war darum die Zuflucht eine weniger gute?
Die darin ihr Unterkommen gefunden hatten, waren sicher zufrieden; sie zeigten sehr heitere Gesichter und machten gar keine Miene, abzureisen. Es waren außer jenen ersten Drei ein paar „intime Freunde“ von Herrn Schrader gewesen, „ganz prächtige Menschen und gegenwärtig gerade beschäftigungslos, daher zum Glück disponibel“, wie er gesagt hatte – nun, die wohnten in der Stadt und kamen, nachdem Herr Theobald den Hausherrn höflich um Erlaubnis gefragt hatte, einmal um fünf Uhr heraus. Und da zeigten sie sich so entzückt von der Villa, ihrer Umgebung und ihren Insassen, priesen das Dasein dort mit so begeisterten Worten, sprachen sich so entrüstet über die Hitze und den Staub der Großstadt aus, daß Cornelius Röder ein Herz von Stein hätte haben müssen, wenn er sich dieser Mitbrüder nicht erbarmt hätte. Er lud sie also ein, in der Villa zu wohnen, und erhielt eine freudige Zusage. Einer der Herren erwies sich als ein hervorragendes Organisationstalent. Er fand, aus den vorhandenen Mitteln könne etwas gemacht werden, und er machte etwas daraus. Vorn im Garten entstand ein Lawn-Tennis-Platz, weiterhin, in der Nähe des Weihers wurde eine Mooshütte aufgerichtet. In dem an den Salon anstoßenden Raum fand ein Billard Platz, so zierlich, daß auch die Damen bequem das Queue, handhaben konnten. Ein zweiter Kahn wurde herbeigeschafft, da der vorhandene blaue sich als zu klein erwies, um die ganze Gesellschaft zu fassen. Frau Leopoldine Schrader hatte nämlich in der Stadt eine verheiratete Cousine, die gleichfalls viel freie Zeit haben mußte, denn sie kam fast täglich mit ihrem Gatten und einem niedlichen Töchterchen von fünfzehn Jahren nach Buen Retiro herüber. Die Dame war eine sehr hübsche Brünette, von etwas freiem Betragen, liebte es, sich sehr extravagant anzuziehen, Cigaretten zu rauchen und derbe Ausdrücke zu gebrauchen, nahm es auch keineswegs schwer, die anwesenden Herren, mit Ausnahme des Doktors, gelegentlich beim Taufnamen anzureden – aber, mein Himmel, wofür befand man sich denn mitten im Sommer und auf dem Lande! Wenn Man nicht einmal da ein bißchen Idyll““ spielen sollte!
Der Mann der „Cousine“ machte den Clown der Gesellschaft mit vielem Geschick. Er konnte Tierstimmen nachahmen, auf den Händen spazierengehen, Pfauenfedern auf der Nasenspitze balancieren, Feuerbrände schlucken und hundert andere Künste, die er mit großer Bereitwilligkeit zeigte. War schlechtes Wetter oder galt es, im Tagesprogramm eine Pause auszufüllen, sofort wurde Herr Trelow gerufen – sie nannten ihn fast alle „Adolfchen!“ – damit er seine Leistungen zum besten gäbe. Die kleine „Lonny“, seine Tochter, wurde von aller Welt verhätschelt, wurde „Baby“ und „Püppchen“ genannt und mit Chokolade gefüttert – sie war ein munteres schwarzäugiges Ding, hatte viel von der Mama und konnte gelegentlich mit Alfred Konsky und einem seiner Freunde, den beiden jüngsten Herren der Gesellschaft, einen Ton anschlagen, der durchaus nichts von einem „Baby“ hatte.
Es gab ein lustiges Leben auf Buen Retiro. Die Villa hallte wieder von Gespräch und Gelächter. Oft galt es, eine so lange Tafel im Speisezimmer zu decken, daß der ausziehbare Eßtisch nicht ausreichte und unter Scherz und Lachen ein „Anbau“ gemacht werden mußte. Zur Nachmittagsstunde baumelten sechs, acht Hängematten zwischen den Bäumen, und die blauen Dampfwölkchen der Cigaretten wirbelten durch die üppigen Laubkronen. Zwischen zwei kräftigen Ulmen hing an starken Stricken ein kleines Brett, und auf dieser primitiven Schaukel ließ sich die kleine Lonny von den jungen Herren schwindelnd hoch in die Lüfte werfen und bekundete ihren Beifall durch ein gellendes Geschrei, sobald das Brettchen mit ihr nahe am Ueberschlagen war. Die Ruderpartien auf bekränzten Booten im Mondschein waren entzückend, und ein paarmal hielt man die vergnügtesten Picknicks im Walde, wobei große Reisigbündel, von den Herren herbeigeschleppt, angezündet und allerlei Getränke über den lodernden Holzstößen gebraut wurden. Auf dem Heimweg gab es dann große Forschungsreisen nach Irrlichtern und langwierige Beobachtungsstationen neben dem Sumpf – schließlich allgemeines Mitgehen bis zur nächsten Haltestelle der Pferdebahn, um die Familie Trelow zu begleiten, die zur Stadt zurück mußte – unterwegs Chorgesänge und Solovorträge, oft mit eigenen Dichtungen, Verabredungen zum nächsten Tage, ein Hin und Her von lauten Stimmen und lachenden Zurufen, das kein Ende nehmen wollte. Und dann zurück durch den dunkeln, leise im Nachtwinde rauschenden Wald – ein „Fackelzug“ von brennenden Wachslichtchen, die Herr Theobald Schrader aus der Schachtel holte, ein Aufschreien von Frau Leopoldine; sobald ein tiefhängender Zweig ihr Gesicht streifte oder ein Stück faulenden Holzes im Finstern leuchtete, galante Beihilfe von seiten der beiden Freunde, weniger ritterliche Beschwichtigungen durch den Gatten und den Bruder, Debatten über Sternschnuppen und Nordlichter, spätes Heimkommen und „gemütliches“ Beieinandersitzen im Speisezimmer bei einer Art leichten Punsches, den Frau Leopoldine vorzüglich zu brauen verstand.
Sorglos ließen die Gäste der Villa sich’s wohl sein. Der Gedanke, dem Hausherrn durch ihr Hiersein irgend welchen Zwang aufzuerlegen, kam keinem einzigen von ihnen. Mein Gott, er hatte sie ja selbst so liebenswürdig und höflich aufgenommen, das hätte er ja nicht nötig gehabt, wenn es nicht sein eigener freier Wille gewesen wäre! Sehr begreiflich übrigens! Der Mann hatte sich – wahrscheinlich in der Uebereilung – diese abgelegene Villa gekauft; nun er darin saß, fand er denn doch, dies Leben sei auf die Dauer etwas zu einförmig, da lud er sich also Gesellschaft dazu! An Arbeiten war für ihn ohnehin jetzt im heißesten Sommer nicht zu denken, es geschah ihm also nur ein Gefallen, wenn man ihn davon zurückhielt, und überhaupt, brauchte denn ein Mann wie er zu arbeiten? Er mußte doch sehr wohlhabend, beinahe reich sein – seine ganze Lebensweise sprach dafür! Er war nicht sehr mitteilsam, beinahe ein wenig schwerfällig, aber er besaß die gute Eigenschaft, seinen Gästen vollständig freie Hand zu lassen; seine Gegenwart legte niemand einen Zwang auf, und wenn er auch niemals [75] selbst einen Vorschlag machte, ein neues Vergnügen ersann, so war er doch kein Spielverderber, er machte mit guter Manier den tollsten Unsinn, das ausgelassenste Zeug mit …. folglich mußte er doch auch seinen Spaß daran haben!
Die Menschen, die sich hier zusammenfanden, waren ein leichtlebiges Völkchen, sie besannen sich nicht viel, ergriffen, was sich ihnen bot, und nahmen es mit dem Wort „Freundschaft“ nicht so genau. Sie waren samt und sonders gutmütig und halfen anderen gern, vorausgesetzt, daß sie selbst etwas hatten. War das nicht der Fall, nun, dann ließen sie sich eben helfen und machten sich weiter keine Gedanken darüber. Herr Theobald Schrader hatte neulich vor versammelter Tafelrunde erzählt, wie er und seine Gattin vor Jahren, als sie gerade „auf einem besonders grünen Zweig“ saßen, eine ganze Familie, bestehend aus fünf Köpfen, fast ein Vierteljahr unterhalten hatten, bis der brotlose Hausvater eine neue Stellung fand. Wer das ohne weiteres leistete, der konnte sich unbesorgt an anderer Leute Tisch setzen, gleichviel, wo dieser Tisch stand. Das war die Moral von der Geschichte, und sie leuchtete jedem ein, das stand fest, so oder so.
Auch Doktor Röder selbst faßte die Sachlage richtig auf. Die Leute hatten nichts zu thun, sie hielten ihn für einen reichen Mann, der nur zum Vergnügen hier und da einen kleinen Artikel schrieb, die Villa mit ihrer bequemen Lage und ihrer schönen gesunden Luft sagte ihnen sehr zu, und so blieben sie bei ihm, zumal sie ihm, dem einsamen Junggesellen, mit ihrer muntern Gesellschaft sicher einen großen Gefallen thaten und ihm die Grillen vertreiben halfen. Wie konnten sie es wissen, daß ihr Hausherr jahrelang nach Ruhe, nach Einsamkeit gelechzt hatte, daß seine Arbeit ihm lieb und keineswegs bloß Luxus, sondern einfach Lebensbedürfnis war, daß seine Nerven, durch langes Reiseleben übermüdet, dringend der Ruhe bedurften? Wer von ihnen ahnte, was sein „Buen Retiro“ ihm hatte werden sollen, mit welchen Augen er es angesehen, wie er sich darauf gerettet hatte wie auf eine stille Insel, an die kaum eine vereinzelte müde Welle einmal schlagen sollte? Jetzt brandete es stark heran, o ja! Von Ruhe und Sammlung keine Spur – Menschen, Menschen überall, in den Zimmern, im Garten, in der Veranda! Sein Arbeitszimmer war eine Art Sammelplatz für die Gesellschaft geworden, „es war so himmlisch kühl und so schön groß!“ Gabrielens Einwurf, der Doktor könne arbeiten wollen, wurde von allen Seiten voller Entrüstung zurückgewiesen: „Arbeiten? Jetzt, bei dieser Jahreszeit, diesem Wetter?“ „Aber kein Gedanke, wo denken Sie hin, Kind!“ „Ja, ich bitte Sie, wer hat denn Lust, jetzt, mitten im Sommer, etwas zu lesen?“ „Das ist ja der reine Mord!“ „So unvernünftig ist der Doktor nie und nimmer, schon aus Rücksicht auf seine Nebenmenschen nicht, denen er doch jetzt keine wissenschaftliche Lektüre zumuten kann!“ Kurz, Gabrielens Antrag wurde mit Majorität abgelehnt, und es wurde über den Kopf des Hauptbeteiligten weg, der gar nicht zu Wort gekommen war, zur Tagesordnung geschritten. Der Hausherr wurde ja so verehrt, so geliebt! Etwaige wissenschaftliche Streitfragen wurden ihm ohne weiteres zur Entscheidung vorgelegt, und seine Aussprüche bedingungslos als richtig angenommen. Die Damen bedienten und umschmeichelten ihn wie einen Pascha, die kleine Lonny nannte ihn Onkel – er hatte es also sehr gut.
Zuweilen, wenn er humoristisch gestimmt war, sagte er sich dies selbst, mit einem feinen ironischen Schmunzeln. Aber im ganzen geschah ihm das doch recht selten, und bald kam die Zeit, da ihm der Humor wie das Ironisieren verging. Seine Leidenschaft für Gabriele machte gefährliche Fortschritte. Je mehr er sich fragte: wie kommt sie in diese Gesellschaft? wie paßt sie mit diesen Menschen zusammen? – je mehr er sie beobachtete, desto schärfer trat der Gegensatz zwischen ihr und den übrigen hervor, desto mehr stach ihr vornehmes gelassenes Wesen vorteilhaft ab von der grellen vorlauten Lustigkeit der andern. Im ganzen that sie wie er: sie war keine Spielverderberin, sie ließ die Gesellschaft gewähren und war jederzeit bereit zu Bootfahrten und Lawn-Tennispartien, zu Waldpicknicks und Mondscheinpromenaden. Nie aber, auch nicht für eine halbe Stunde, stimmte sie in die allgemeine Ausgelassenheit ein. In ihrer mädchenhaft lieblichen Art, ihrem feinen Taktgefühl war sie ihm nie so anziehend erschienen wie in dieser Zeit. Gleich einer Prinzessin bewegte sie sich in den einfachen weißen Kleidern, die sie jetzt meistens trug, unter dem lärmenden Troß der unternehmenden Gesellschaft. Sie war stets gleichmäßig freundlich gegen alle und hatte nichts Ueberhebendes in ihrem Wesen. Dennoch konnte es nicht ausbleiben, daß man ihre hier und da hervortretende Zurückhaltung und Kühle für Hochmut hielt. Aeußerungen, wie „Gabriele will doch immer etwas Besonderes sein!“ „Gabriele dünkt sich natürlich für solch harmlosen Unsinn wieder zu gut!“ und ähnliche, kamen Röder oft zu Gehör, im ganzen fand man sich aber darein, ebenso wie in des Hausherrn etwas schwerlebige Art; man war zu vergnügt und fühlte sich zu wohl, um sich durch solche Kleinigkeiten ernstlich stören zu lassen.
[85] Der junge Konsky zeichnete Gabriele aus, das war offenbar. Neuerdings schien die hübsche Frau Trelow geneigt, der jungen Witwe diesen Verehrer, an dem sie lebhaftes Wohlgefallen fand, streitig zu machen, ein Umstand, der Gabriele sehr gleichgültig zu lassen schien, sie hatte für Alfred Konsky genau dasselbe Lächeln, denselben Gesichtsausdruck und Tonfall der Stimme wie für die andern alle – mit einer einzigen Ausnahme!
Ihr Benehmen gegen Röder war völlig verändert. Sie vermied ihn, wo sie nur konnte, sie hatte es einzurichten gewußt, daß sie während der letzten Wochen auch nicht für zwei Minuten mit ihm allein zusammentraf, sie wandte sich ohne zwingende Notwendigkeit mit keinem Wort an ihn, und wenn sie es ja einmal that, so war ihr Blick unfrei und ihre Rede stockend. Er seinerseits glaubte genau zu wissen, wie er sich dies seltsame Wesen zu deuten habe, sie empfand es peinlich, daß durch sie so viele fremde Elemente ins Haus gekommen, soviel Störungen der ruhigen Hausordnung erwachsen waren, es bedrückte sie, dazu die Veranlassung gewesen zu sein, ohne jetzt die Macht zu haben, eine Aenderung [86] herbeizuführen. Er hätte ihr Dank dafür wissen müssen, aber er vermochte dies nicht. Ihr Anblick war ihm eine Pein, und doch entbehrte er ihn mit Schmerzen – der Ton ihrer weichen Stimme quälte ihn, aber er wollte keinen Laut davon verlieren – er lag tief im Bann dieser späten starken Leidenschaft und trachtete umsonst, davon frei zu kommen. Vergebens beschwor er die Erinnerung an Asta, die einst so Inniggeliebte, herauf, las in ihren Briefen und vertiefte sich in den Anblick ihres Bildes. Er hatte sie geliebt und betrauert, aber sie war seit Jahren tot, die Wunde war langsam geheilt und das neue Gefühl so heiß, so lebendig in ihm, daß es ihm scheinen wollte, er habe selbst Asta nie so glühend geliebt und begehrt wie jetzt Gabriele. Die Worte Frau Leopoldinens an jenem ersten Abend, Gabriele habe allem Anschein nach ihres Mannes leidenschaftliche Liebe kaum erwidert, und sie, die ältere Freundin, habe ihr zureden müssen, seine Werbung anzunehmen … diese Worte, wie der Nachsatz, es sei unentschieden, ob Gabriele überhaupt eines starken Gefühls fähig sei, ließen ihm keine Ruhe. Er grübelte darüber mitten im Lärm und Lachen der Tafelrunde wie in der Einsamkeit seines Zimmers, die er oft erst um zwei Uhr des Nachts zu kosten bekam.
Die schönen stillen Tage und Abende früherer Zeit! Er entsann sich, daß sein Geist seit langen Jahren nicht so frisch und ausgiebig gewesen war wie in jenen Wochen, die er mit Gabriele allein zugebracht hatte. Er wußte es jetzt genau, das war die aufkeimende Liebe gewesen, die sein ganzes Wesen durchströmt und sein Können beeinflußt hatte. Nun, da er Verlangen und Sehnsucht in sein Bewußtsein aufgenommen, hatte ihn die Fähigkeit des Schaffens verlassen, er hätte sie jetzt nicht besessen, selbst wenn ihm die Muße zum Arbeiten gegönnt gewesen wäre. Seine journalistischen Beiträge konnte er zur Not fertig stellen, aber das Buch, an dessen Herstellung er mit solcher Freudigkeit gegangen war, kam nicht weiter, denn dem Mann, der an unerwiderter Liebe krankte, fehlte die begeisterte Hingabe, die ein solches Werk erfordert.
„Buen Retiro!“ Wie höhnisch die goldenen Buchstaben jetzt den Besitzer der Villa im hellen Sonnenlicht ansahen! Jawohl, eine „gute Zuflucht“ für einen, der weder in seinem eigenen Hause noch in seinem eigenen Herzen Ruhe fand! Vom frühen Morgen an Leben und Treiben in beiden Stockwerken, hastig geöffnete und geschlossene Thüren, ein eiliges Laufen die Treppe auf und ab, laute Zurufe hier und da, Stimmen aus den offenen Fenstern, antwortende Stimmen aus der Tiefe des Gartens, neckische Hände, die am Thürdrücker rüttelten, an die Scheiben klopften, der grelle Ton einer Glocke, die zum ersten Frühstück rief, dazwischen der dünne Klang eines jämmerlichen Kindertrompetchens, mit dem Herr Trelow schon von weitem seine Ankunft in der Morgenstunde zu verkünden pflegte. Und nun Geschrei und Gelächter, Plünderung der über Nacht mit neuen Blüten geschmückten Rosenstöcke, Bombardement mit abgerissenen Blumen, abermaliges Frühstücksläuten – so fing der Tag an, und je weiter er vorrückte, um so lärmender ging es zu in „Buen Retiro“.
Mamsellchen hatte es in den letzten Wochen vergebens versucht, mit ihrem Doktor Cornelius ein Wort im Vertrauen zu reden. Sie hatte jetzt viel zu thun, und fand sie einmal einen freien Augenblick, dann hatte der Doktor durchaus keine Zeit für sie. Höchstens ein ungeduldiges: „Ja, ja, schon gut, mach’ nur, wie du willst!“ oder „Brauchst Du Geld? Hier hast Du – Du kannst die Rechnung führen und sie mir später vorlegen, ich weiß ja, Du wendest alles gut an!“ Und ein andermal: „Heute kommt Wein an, ich habe ihn bestellt – fünfzig Flaschen Bordeaux, vierzig Rheinwein – bitte, zähl’ nach, ob es richtig ist!“ – und wenn sie etwas sagen wollte: „Später, liebe Alte! Ich hab’ keine Zeit!“
Mamsellchen seufzte und flüchtete sich zu Ewert, der ihre endlosen Klagen über das „Leben, das all die Menschen, die wildfremden, hier vollführen“ und die Anspielungen auf „Leute, die nichts zu essen haben und bloß sehen kommen, wo bei andern der Schornstein raucht“ anhören mußte. Er teilte ihre Entrüstung übrigens nicht ganz. Wenn er auch zugab, daß es nicht gerade vornehme Herrschaften waren, die jetzt die Villa bevölkerten, so waren sie doch allesamt lustig und gut zu leiden, und Ewert gestand, er amüsiere sich über sie.
„Ich nicht!“ pflegte Mamsellchen dann empört zu erwidern. „Ich hab’ die ganze Bande bis hierher satt“ – bezeichnende Handbewegung – „und die einzige von allen, die wirklich ’was Feines ist und hierher paßt, das ist noch unsere junge Frau. Ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen, Ewert, aber was Sie denken, ist nicht! Sie meinen, weil ich anfänglich über sie geredet hab’ – aber das war auch man so so, und sehen Sie, Ewert, ich hielt sie für hochmütig, na, und die Hochmütigen, die kann ich schon für den Tod nicht leiden! Aber damit hab’ ich ihr unrecht gethan, und es geht mir nichts ab, wenn ich das eingesteh’, jeder Mensch kann ’mal unrecht haben, und ich bin auch bloß ein Mensch! Nein, nein, unsere junge Frau ist fein, die weiß, was sich gehört, und wenn sie auch nicht so ist wie die Margot, ihre Mutter, so kann ich sie doch gut leiden, und ein Herz hat sie, denn wie ich neulich die gräßlichen Zahnschmerzen hatte, ist sie dreimal zu mir gekommen, zuletzt sogar in der Nacht, und das Mittel, das sie mir gab, that mir gut. Wo sie kann, hilft sie mir, und jung, wie sie ist – sie versteht sich auf die Küche und weiß Ihnen schöne Rezepte – den Chokoladecreme, den wir vorgestern aßen, hatte sie gemacht! Und, glauben Sie, Ewert, sie macht sich was aus einem einzigen von denen? Gar nichts macht sie sich, aber auch gar nichts, kann ich Ihnen sagen! Ich les’ es ihr ja von den Augen ab – sie hat so sprechende Augen! Und wenn sie in ihrem weißen Kleid so mitten unter den anderen ankommt, dann sieht sie aus wie eine junge Gräfin, und das andere ist alles Pack!“
„Hören Sie, Mamsellchen, Pack ist stark! Was Sie für Ausdrücke haben! Ich kann Ihnen sagen, daß sogar zu meinem Baron welche ins Haus gekommen sind vom Theater – und der lud sich keinen ein, der Pack war!“
„Theater?“
„Herrgott, Mamsellchen, wie kommen Sie mir denn vor? Sie werden das doch gewußt haben – nein?“
„Gewußt, nein, das nicht! Aber gedacht hab’ ich’s manchmal!“
„Na, sehen Sie! Ich glaub’ es nicht, daß unser Herr es weiß, denn vor dem nehmen sie sich alle in acht, und die junge Frau hat ihnen das befohlen – merken wird er ja doch das Seinige! Aber vor mir hütet sich keiner, ich weiß es, Mamsellchen, ich weiß es schon lange! Und wenn ’mal zufällig der Herr und die junge Frau nicht da sind, hei, dann geht es Ihnen los, ein Spaß immer auf den andern, krank kann sich einer lachen –“
„Schämen soll sich einer, über so ’was zu lachen!“
„Ja, Sie sagen das so! Aber wenn der Trelow anfängt –“
„Der Hanswurst!“
„Ja, aber komisch ist er! Neulich, wie sie auch unter sich waren, hat er eine Tänzerin nachgemacht – die Damen kreischten immer!“
„Kann ich mir denken! Das Kreischen, das verstehen die aus dem Grunde! Da, das ist Frau Trelows Stimme! Wissen Sie nicht zufällig, Ewert, wo unser Herr steckt?“
„Im Treibhaus, Mamsellchen! Er sucht die Blumentöpfe heraus, die jetzt ins Freie gestellt werden sollen. Ich wollte ihm helfen, aber er litt es nicht, er sagte, Sie brauchten mich hier beim Flaschenspülen!“
„Ja, so himmlisch gut ist er immer und denkt an mich! Aber, Ewert, jetzt spülen Sie hübsch zu Ende, und ich geh’ ins Treibhaus und seh’ zu, ob mein Doktor allein drin ist! Und wenn er allein drin ist, dann steck’ ich ihm ein Licht auf!“
„Sie werden doch nicht sagen, Mamsellchen, daß ich gesagt hab’, was die mir gesagt haben?“
„Seien Sie ruhig! Auf mich kann sich einer schon verlassen.“
Damit trocknete sich Mamsellchen rasch die Hände ab und stieg aus dem Dämmerlicht des sogenannten Vorkellers empor in die Helle des Tages. Es war ein glühend heißer Augusttag. Um zum Gewächshaus zu gelangen, mußte man einen ziemlich beträchtlichen Teil des Gartens durchschreiten. Mamsellchen band sich die helle Schürze ab und warf sie zum Schutze gegen die sengenden Sonnenstrahlen über den Kopf. Aus einem schattigen Seitengang, der in einer Weinlaube endete, hörte sie das Toben und Lachen der lustigen Gesellschaft, Mineralwasserpfropfen knallten, und durch das Laubwerk schimmerten ein paar Hängematten, die ungestüm hin und her bewegt wurden.
Im Treibhaus herrschte eine dunstige feuchtwarme Luft, mit lauem Erdgeruch und betäubendem Blumenduft erfüllt. Cornelius Röder stand auf einer hohen Trittleiter und langte vorsichtig ein Begonientöpfchen nach dem andern herunter, um es auf ein tiefer hängendes Wandbrett zu stellen.
Mamsellchens Erscheinen schien ihm nicht sehr angenehm zu sein. Sie aber übersah mit einem Blick die Lage und frohlockte innerlich. Sie hatte ihn für sich allein – er konnte ihr nicht entgehen. Sorgfältig zog sie die Glasthür, die einen Ausblick ins [87] Freie gewährte, hinter sich zu und kam näher, um ihrem Herrn das bewußte Licht „aufzustecken“.
„Hm?“ machte der Doktor fragend, aber so billigen Kaufs wollte Mamsellchen ihn nicht davonkommen lassen.
„Guten Tag, Doktor!“ sagte sie ruhig.
Er seufzte ein wenig.
„Nun, was willst Du von mir, Alte? Geld?“
„Diesmal nicht. Ich denke, von dem Artikel hab’ ich Ihnen die letzte Zeit genug losgemacht! Nein, ich will bloß etwas fragen: werden die alle, die Fremden mein’ ich, noch lange hier bleiben?“
„Ich weiß nicht.“
„Haben sie nie ein Wort vom Abreisen gesagt?“
„Nein.“
„Dann bleiben sie auch hier, solange wir schön’ Wetter behalten, und das kann bis in den Oktober dauern.“
„Schon möglich.“
„Und wenn das so kommt, was werden Sie dabei thun?“
„Selbstverständlich nichts, Mamsellchen.“
„Sie werden es also leiden?“
„Ohne Zweifel.“
„So? Und die Wissenschaften? Und Ihre Arbeiten? Und Ihr Buch? Was soll daraus werden?“
„Das alles muß warten, bis es wieder still um mich ist!“ Damit setzte der Doktor das letzte Begonientöpfchen weg und begann bedächtig, von der Trittleiter herunterzusteigen.
„Können Sie sich aber denn über solche Gäste freuen? Können Ihnen die lieb sein? Leben Sie nicht in einer ganz andern Welt als all’ die Possenreißer?“
Wie zur Illustration von Mamsellchens Worten ging soeben Herr Trelow draußen würdevoll auf zwei hohen Stelzen vorüber. Er gewahrte die beiden hinter der Glasthür nicht und gab seinen Zuschauern eine unfreiwillige Schaustellung zum besten, indem er eine Stelze plötzlich fallen ließ und auf der andern weiterhüpfte, wozu er den Refrain eines bekannten Gassenhauers sang. Lautes Beifallsgeschrei, das aus der Tiefe des Gartens herüberscholl, belohnte ihn für diese Kunstleistung.
Doktor Röders Augen begegneten denen Mamsellchens, in welchen eine ausdrucksvolle Kritik zu lesen war. Sein Gesicht war sehr ernst. „Meine gute Alte, Du weißt, wie heilig meinen verstorbenen Eltern das Gastrecht war –“
„Gewiß, Doktor, ich weiß! Aber dann waren es gute Freunde oder Bekannte – sind das Ihre Freunde? Sie sind durch Frau Gabriele hierhergekommen –“
„Eben darum!“ fiel er nachdrücklich ein. „Es soll ihnen wohl hier sein, und sie sollen bleiben, so lange sie wollen. Frau Hartmann soll nicht denken, daß ich ihre Freunde nicht gern und willig bei mir aufnehme!“
„Glauben Sie, Doktor, daß unsere junge Frau, so apart und vornehm wie sie ist, mit denen befreundet sein kann? Das glauben Sie ja selbst nicht!“
Er schwieg eine kleine Weile, dann ermannte er sich. „Dem sei nun, wie ihm wolle – hier bleibt alles, wie es ist!“
„Aber wenn ich nun sehen muß, wie mein Herr nicht mehr arbeiten und nicht mehr Spazierengehen kann und nichts mehr thun, was ihn freut! Und sein ganzes schönes stilles Leben, das er sich so gewünscht hat, ist hin, unser ruhiges feines Haus wie ein Taubenschlag – und was für ’ne Sorte fliegt da aus und ein, – Herr Doktor werden doch wissen, daß das alles Leute vom Theater sind?“
„Woher hast Du das?“
„Gott, ich! Man braucht ja bloß ’nen Blick hinzuthun, dann hat man das weg! Und jetzt fällt es mir ein, damals wußt’ ich mir’s nicht recht zu deuten, aber einmal hab’ ich mit angehört, wie der Herr Schrader Frau Gabriele seine ‚liebe Kollegin‘ nannte und sie fragte, ob sie denn nie mehr zu ihrem Beruf –“
Weiter kam Mamsellchen nicht. Röder schnitt ihr mit einer energischen Gebärde das Wort ab. „Sprich nicht weiter, Mamsellchen! Ich wünsche nichts mehr davon zu hören. Das, was Du zufällig belauscht hast, ist weder für Dich noch für mich bestimmt gewesen, wir haben also nicht weiter darüber zu reden.“
„Aber können Sie das bloß glauben? Ich kann es nicht – nein, unsere zarte feine junge Frau – und eine vom Theater!“
„Was ich glaube und was Du denkst, fällt hierbei nicht ins Gewicht! Hattest Du sonst noch etwas zu fragen oder zu wünschen?“
„Ich? Gott, nein, wie sollt’ ich auch? Es war mir ja bloß darum zu thun –“
„Du kannst mir helfen, die Begonientöpfe in den Garten zu tragen – darum ist es mir jetzt zu thun!“
Die Alte sah ihm ins Gesicht und wußte genug. Das Herz zog sich in ihrer Brust zusammen, als sie die trüben Augen und den schmerzlichen Zug um den Mund sah. Eine alte Befürchtung, die sie schon gehegt hatte, noch ehe Frau Gabriele ins Haus gekommen war, stieg mit erneuter Stärke in ihr auf. Das fehlte ihrem Doktor noch – eine unglückliche Liebe! Das heißt, für Mamsellchen war es außer allem Zweifel, daß die junge Frau, sobald sie etwas von diesem Gefühl ahnte, es erwiderte, aber, du lieber Himmel, der Doktor konnte doch nie und nimmermehr „eine vom Theater“ heiraten! Der Begriff, den der alte Hausgeist mit diesem Wort verband, war so ungeheuerlich, daß ihr ein solcher Heiratsgedanke keinen Augenblick im Ernst kam. Für sie waren Seiltänzer, Cirkusreiter und Leute vom Theater ganz dasselbe, einen Unterschied kannte sie nicht.
Und so nahm sie ihre Schürze vors Gesicht, damit ihr Liebling es ja nicht sehen sollte, wie ihr die Augen feucht geworden waren, und dann trug sie ein Begonientöpfchen um das andere hinaus in den grellen blendenden Sonnenschein. Wozu nur die Sonne so wundervoll zu scheinen hatte!
Am Mittagstisch ging es diesmal noch lärmender zu als sonst. Herr und Frau Trelow, oder, wie man sie hier fast nur nannte, „Adolfchen“ und „die schöne Miranda“, hatten gestern zufällig in der Stadt einige alte Bekannte aus früherer Zeit angetroffen, die auch mit dem Ehepaar Schrader und mit Konsky auf Du und Du standen – es hatte eine stürmische Erkennungs- und Begrüßungsscene gegeben, und nun wollte man heute irgend etwas gemeinschaftlich unternehmen. Es war einer der letzten Augusttage und so köstliches Wetter, wennschon etwas heiß – wer konnte wissen, wie bald die Witterung umschlug?
Aber nun wohin? Es entspann sich eine lebhafte Erörterung, so lebhaft, daß „Adolfchen“, um sich Gehör zu verschaffen in seine Kindertrompete, die er beständig bei sich trug, stoßen mußte. Das wirkte. Die Herren räsonnierten, die Damen hielten sich die Ohren zu und baten um Gnade. Der Trompeter hatte das Wort.
Er wußte einen wunderhübschen Vergnügungsort hier in der Nähe, mitten im Walde, ein kleiner See dabei – in einer Viertelstunde zu erreichen – vorzügliches Restaurant, kurz, ideal! Jemand meinte, das alles könne man ja weit bequemer hier in „Buen Retiro“ haben, Wald, See, ausgezeichnete Verpflegung – man lasse die Bekannten einfach hierherkommen, und die Sache sei fertig.
Röder stimmte kurz, aber höflich bei und stellte sein Haus wie den Garten zur Verfügung, allein seltsamerweise wollte weder Adolfchen, noch die schöne Miranda etwas davon wissen. Thatsache war, daß sich das Ehepaar Trelow in Buen Retiro doch immer einigen Zwang auferlegen mußte und danach strebte, auch einmal ohne jede Rücksicht auf den verbindlichen, sich stets in guten Formen bewegenden Hausherrn und Gabriele Hartmann, „die immer die Prinzessin spielen wolle“, sich bewegen zu können. Die alten, neuerdings aufgetauchten Bekannten waren auch keine Leute, die in den Rahmen von „Buen Retiro“ paßten, dieser Rahmen hatte immer seine Grenzen, und man lechzte danach, einmal so recht „grenzenlos“ vergnügt zu sein. Als daher Röder erklärte, er habe sich im Treibhause bei der Hitze Kopfweh geholt und könne sich an dem Ausflug nicht beteiligen, da ward diese Kunde zwar mit äußerlichem Bedauern aufgenommen, von den meisten jedoch mit Fassung ertragen. Es ergab sich, daß Telegraphieren oder sonstiges Benachrichtigen der in der Stadt Wartenden unnütz war, da „Adolfchen“ schon für alle Fälle seine Freunde nach dem besprochenen Vergnügungsort hinbestellt hatte, spätestens um halb fünf Uhr wollte man an Ort und Stelle sein.
Gabriele hatte gleich zu Anfang der Verhandlungen ihre Gegenwart zugesagt und nur halb erschreckt einen Augenblick aufgesehen, als der Herr des Hauses erklärte, daheim bleiben zu wollen. Seitdem hatte sie sich mit keinem Wort an dem Gespräch beteiligt, was weiter nicht auffiel, da die übrigen so lustig waren, daß niemand von ihnen den Beobachter spielte. Auch der Doktor war lebhafter, als es sonst seine Art war, er beauftragte Ewert [88] sogar, die paar Flaschen Champagner, die bisher im Keller gelegen hatten, heraufzubringen. Dafür erntete er nun stürmischen Beifall, das Wortspiel: „Röder, Röderer“ – wurde angesichts des Sekts, der die letztere Marke trug, mit besonderer Betonung zum besten gegeben, die Pfropfen flogen hoch gegen die Decke, die Damen schrieen auf, der perlende Schaum floß in die Gläser.
Trinkspruch folgte auf Trinkspruch, der Sekt that seine Schuldigkeit. Einmal sah Röder, wie Alfred Konsky, der wie immer Gabrielens Tischnachbar war und dem Wein lebhaft zugesprochen hatte, die Hand der jungen Frau, die neben ihm auf dem Tischtuch lag, ergriff, mit zärtlichem Druck festhielt und ihr mit ganz eigenem Ausdruck ein paar Worte zuflüsterte. Sie antwortete mit keiner Silbe, nur ihre großen blaugrauen Augen musterten ihn unter den breiten Lidern hervor mit einem so erstaunt messenden Blick und ihre Hand machte sich so rasch von der seinigen los, daß der unternehmende Herr sich ärgerlich auf die Lippe biß. Wie sie eigenartig und reizend war! Wie fein sich ihr Köpfchen mit dem lichtbraunen seidenen Haar auf dem schlanken Halse erhob und wie gut ihr das halb zerstreute Lächeln stand, das dann und wann um den lieblichen Mund schwebte! Sie war oft in Gedanken verloren, sie war es auch heute. Was hätte Cornelius drum gegeben, wenn er hätte wissen können, mit wem diese Gedanken sich beschäftigten! Konnte es immer und immer nur die Vergangenheit sein, die mit ihren Erinnerungen dies zarte Antlitz so reizvoll belebte, es gewissermaßen von innen heraus durchleuchtet erscheinen ließ? Nein und tausendmal nein! Diese mädchenhafte Jugend gehörte der Zukunft! Und sobald Cornelius Röder das dachte, zuckte es heiß auf in seinem Herzen und dann kam die Gewißheit, die unfehlbare Gewißheit: nicht für Dich! Niemals für Dich! –
Die Kindertrompete gab das Zeichen zum Aufbruch. Heiß und gerötet vom Wein, mit flackernden Augen und lachenden Lippen erhob sich alles von der Tafel. Der Hausherr bekam scherzhafte Verhaltungsmaßregeln, hübsch artig zu sein, das Haus gut zu hüten, keine Thorheiten zu begehen. Er ging mit Humor auf alles ein, er freute sich zu sehr auf das Alleinsein. Ein allgemeiner Wirrwar, ein Hin und Her von Fragen und Antworten –
–„Aber Gabriele! Noch ohne Hut und Schirm! Und wir andern sind alle schon fertig! Wir werden zu spät kommen!“
Die schöne Miranda war sehr ungeduldig, sie brannte darauf, zu der Zusammenkunft aufzubrechen: sie hatte sich in Alfred Konskys Arm eingehängt, ihre Augen leuchteten wie zwei Brandraketen, ihr Fuß klopfte ungeduldig auf den Boden.
Gabriele war im Begriff, zu sagen: „Wie wär’s, wenn Ihr mich auch zu Hause ließet?“ Sie wußte, es würde sie heute niemand vermissen, und sie wäre tausendmal lieber hier geblieben, aber sie dachte an ihn, der heute aus seiner langentbehrten Einsamkeit ein Fest machen wollte, und mit einem Seufzer sagte sie sich, daß sie ihm auch nicht mehr sein konnte als die andern, und so schwieg sie und wandte sich, um Hut und Schirm zu holen.
Ein letztes Durcheinander von bunten Kleidern, geschwenkten Hüten, wehenden Tüchern, ein Händeschütteln, das dem zurückbleibenden Hausherrn die Rechte beinahe aus dem Gelenk riß, langsames Verhallen der Stimmen, Auftauchen heller Pünktchen da und dort, endlich alles still – still! Nur aus dem Hause ein gedämpftes Klirren von Tellern und Gläsern: Mamsellchen deckte mit Ewerts Hilfe den Tisch im Speisezimmer ab.
Cornelius atmete tief auf und wandte sich zurück, um einen Blick auf seine Villa zu werfen. „Buen Retiro!“ Ja, das war sie ihm gewesen – gewesen! Würde sie ihm wieder dasselbe werden wie damals, als er hier einzog, wenn all’ die Fremden, all’ die gleichgültigen Menschen sie verlassen haben würden – und Gabriele mit ihnen?? – Es war ihm plötzlich, als sei diese Villa, die er fast wie einen lebenden Freund geliebt, doch nichts weiter denn ein toter Besitz, für Geld zu nehmen und hinzugeben wie tausend andere Dinge. Aber er war doch so glücklich hier! Wirklich? Konnte das „Glück“ genannt werden, dies Gefühl der Ruhe, des Geborgenseins, das Bewußtsein, nichts weiter von der Welt zu wollen, als daß sie ihn in Frieden ließ? Glück! Glück mußte es sein, den Arm um die mädchenhafte Gestalt im weißen Kleide legen zu können, das zierliche Köpfchen mit dem hellbraunen Haar an seiner Brust ruhen zu fühlen, die schmale Hand in der seinen – und dazu sprechen zu können: Du bleibst mein! – Das, ja, das wäre eine „gute Zuflucht“ vor der Welt, das wäre ein glückliches Heim!
Er umging langsam im Bogen die Villa, ohne der glühenden Sonne zu achten, die auf seinen Scheitel herabbrannte, und schritt dem Walde zu. Wieder stieg die erste schöne Zeit vor ihm auf, da er Gabriele für sich allein gehabt hatte, und jener Gewittertag und der Abend, da er sie zum erstenmal singen gehört! Was wollte er denn? Gabrielens Wunsch war erfüllt, sie hatte sich gestärkt und gekräftigt hier – er und seine Villa, sie hatten beide ihre Schuldigkeit gethan!
Gabriele und das Theater. Dieser Gedanke ließ ihn nicht los, er kam ihm immer wieder. Er hatte ja gewiß kein Vorurteil gegen die Bühne und wahrhaftig, es gab Schauspieler und Schauspielerinnen genug, welche das alte bürgerliche Vorurteil gegen den Stand in glänzender Weise widerlegten. Aber Gabriele, wie er sie kannte, schien ihm so ungeeignet wie nur möglich, gerade diesen Beruf auszufüllen. Wenn sie aber mit ihm nicht darüber sprach, ihn ihres Vertrauens nicht für wert hielt, seinen Rat über die Gestaltung ihrer Zukunft nicht begehrte … er konnte sich nicht gewaltsam in ihr Vertrauen drängen!
Im Walde hatte die Hitze des Tages sich so gesammelt, daß es dem einsamen Wanderer vor den Augen zu flimmern begann. Erst in der Nähe des Baches wehte es etwas erfrischender. Röder ließ sich dort auf einen großen moosüberzogenen Stein nieder und sann lange nach. Er mußte an jenen Frühlingsabend denken, als er den Brief an seinen Freund Herzog geschrieben hatte und dann den Wald durchstreifte, so in sich gefestigt, so eins mit sich.
„Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt!“
So hatte es damals in ihm geklungen, und er hatte gemeint, daß kaum eine einzelne müde Welle aus dem Ocean des Lebens an sein weltentrücktes Ufer plätschern würde! Jetzt, wenige Monate später – wie viel krause rauschende Wogen hatten sein stilles Heim, sein resigniertes Herz umbrandet! Der Lenz war dahin, der Sommer ging, der Herbst kam – der Herbst! Er senkte sein Haupt und ging nach der Villa zurück.
Als er durch den Garten kam, war die Sonne fast schon hinunter. Durch das Blättergewirr stahlen sich ein paar schwache goldige Reflexe, wie müde Augen, die einen Scheidegruß sagen. Ein einförmig flötendes Vögelchen schickte einem Genossen sein Abendlied zu. Schmachtend nach einem Tröpflein Abendtau, öffneten die Blumen ihre Kelche.
Es gab ein schwermütiges verstecktes Plätzchen im Garten von „Buen Retiro“, eine plumpe kleine Bank ohne Lehne unter einer riesigen Traueresche, die auf einer leichten Bodenerhöhung stand. Viel Aussicht gab es von da nicht zu bewundern, die Bäume und Gebüsche traten ziemlich dicht zusammen, und Blumen wuchsen dort gar nicht. Der Platz war aber auch in der heißesten Sonnenglut schattig, überdies so abseits gelegen, daß er nicht leicht zu finden war. Daher hatte Gabriele ihn zu ihrem Lieblingsaufenthalt erkoren, und Röder, der das wußte, hatte zuweilen im stillen sein Vergnügen daran gehabt, wenn die andern die junge Frau suchten, sie laut beim Namen riefen und Mutmaßungen anstellten, wo sie geblieben sein könne. Wenn sie dann nach langer Zeit zum Vorschein kam und auf alle Fragen und Ausrufe, wo sie gewesen sei, ruhig erwiderte „Im Garten!“, dann trafen ihre Augen und die des Hausherrn in lächelndem Einverständnis zusammen, und er hütete sich wohl, ihr kleines Geheimnis zu verraten.
Hierher lenkte Cornelius Röder seine Schritte an diesem schwülen Augustabend. Konnte er doch sicher sein, heute niemand dort anzutreffen. Wie er aber vom geraden Gartenweg ablenkte und rechts einbog, schimmerte es hell am Fuße der Traueresche, ein weißes Frauenkleid – und ohne noch die Gestalt und das Gesicht zu erkennen, wußte der Herankommende augenblicklich, wen er vor sich habe. Unwillkürlich machte er eine Bewegung, wieder umzukehren, aber die junge Frau hatte ihn gesehen und blickte ihn an, als habe sie schon lange auf sein Erscheinen gewartet. Es blieb ihm nichts andres übrig, als näher zu kommen.
„Sie sind zurückgekehrt? Sie sind nicht bei der Gesellschaft?“
Das waren zwei wenig geistreiche und vollkommen überflüssige Fragen, denn er sah ja, was er fragte, aber Cornelius hatte bei Gabrielens unerwartetem Anblick einen heftigen Schreck empfunden, das Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf … er wußte nicht, was er sprach.
Auch sie war nicht so ruhig und sicher wie sonst.
„Ja – ich – ich kam zurück, weil – haben Sie einen Augenblick Zeit für mich?“ Sie rückte seitwärts; er antwortete mit einer stummen Verneigung und nahm neben ihr Platz.
[101] Das plötzliche Zusammentreffen an dem verschwiegenen Platze hatte Gabriele sowohl als Röder befangen gemacht. Sie war ohne Hut und Handschuhe und hielt nur ein Schirmchen in der Rechten, mit dem sie allerlei Ringe und Kreise in den losen Sand zu ihren Füßen zeichnete. Im Haar trug sie einen Schmuck von dunklem Laub und roten Vogelbeeren, was ihr sehr hübsch und eigentümlich zu Gesicht stand. Röder sagte sich das, streifte aber mit einem finstern Blick darüber hin – wer mochte den kleinen Zweig in ihrem Haar befestigt haben?
„Ich habe einen doppelten Grund gehabt, hierherzukommen,“ fing die junge Frau endlich an. „Erstens sagten mir die Leute, mit denen die Zusammenkunft verabredet worden war, nicht im mindesten zu. Ich kannte sie nicht von früher her; wäre dies der Fall gewesen, so hätte ich mich um keinen Preis zum Mitgehen bereden lassen. Der Ton, den man dort anschlug – anfangs verlief alles harmlos, Frau Trelow flocht uns allen Kränze ins Haar –“ Hier unterbrach sich Gabriele und griff mit hastiger Gebärde nach ihrem Haar, nestelte das Blumengewinde los und warf es achtlos in das Buschwerk zu ihrer Rechten. Nun fuhr sie fort: „Aber dann – – Sie erlassen mir wohl die Schilderung! Mich trieb es um so mehr fort, als ich schon lange eine Gelegenheit herbeigesehnt hatte, Sie ungestört zu sprechen, und das war der zweite Grund, weshalb ich zurückgekehrt bin!“
„Aber wie konnten Sie das unbemerkt zustande bringen?“
„Viel leichter, als Sie glauben. Ich bin nicht sehr beliebt bei den andern, meine Gegenwart legt ihnen immer noch eine Art Zwang auf, und das ist ihnen lästig. Heute hätte man es sicher gern gesehen, wenn ich daheim geblieben wäre – ich ging mit, aus Rücksicht auf Ihre mühsam errungenen stillen Stunden, die ich Ihnen so von Herzen gönnte; denn wäre ich dageblieben, Sie hätten sich doch verpflichtet gefühlt, mir Gesellschaft zu leisten … Sagen Sie nichts dagegen, ich kenne Ihr feines und gütiges Empfinden! Nun fühlte ich mich dort grenzenlos unbehaglich, und bei den andern stieg die Lustigkeit und Ausgelassenheit mit jeder Minute, alles lärmte und tollte umher, und als nun ein Spiel veranstaltet wurde, bei dem man [102] sich rings umher im Walde zu zerstreuen hatte, um sich auf ein gegebenes Zeichen wieder zusammenzufinden, da hatte ich die beste Gelegenheit. Niemand achtete auf mich, und so ‚zerstreute‘ ich mich gleich bis hierher. Dort hat man das entschieden so bald nicht gemerkt, und als man es endlich merken mußte“ – Gabriele lächelte ein wenig – „da hat man sich ohne Zweifel allerseits gefreut.“
Der Doktor hatte sie ruhig reden lassen. Sein ganzes Wesen war in einer seltsamen Spannung. Dies war nur die Einleitung gewesen – was würde folgen?
„Was ich Ihnen sonst zu sagen habe“ – bisher hatte sie frei und fließend gesprochen, jetzt sah sie von ihrem Nachbar fort, und ihre Rede kam ins Stocken – „fällt mir schwer, schwerer, als Sie denken können. Ich – ich – muß fort aus ‚Buen Retiro‘!“
Röder sah sie erschrocken an. Oft hatte er sich’s gewünscht, sie möchte fort, weit fort sein, um nie mehr wiederzukehren, jetzt, da sie selbst die Absicht aussprach, zu gehen, dünkte es ihn eine Unmöglichkeit, daß er das zulassen könne.
„Warum denn? Und so schnell, so plötzlich? Sie sprachen immer vom Spätherbst, ich dachte, bis Mitte Oktober würden Sie –“
„Ja, es war meine Absicht, Ihre Gastfreundschaft so lange in Anspruch zu nehmen. Indessen, ich habe mich rascher erholt als ich wagen durfte, zu hoffen, ich fühle mich körperlich frisch und kräftig und dann – die Verhältnisse hier haben sich völlig geändert.“ Es fiel ihr sichtlich schwer, weiterzusprechen, aber er kam ihr mit keinem Wort zu Hilfe. Ihr unvermuteter Entschluß hatte ihn ganz außer Fassung gebracht.
„Sie haben das Haus voll ungebetener Gäste,“ fuhr Gabriele endlich leise fort, „und, wie ich sie alle kenne und beurteile, denkt keiner von ihnen daran, diese Thatsache als peinlich zu empfinden und ihr bald ein Ende zu machen. Ich möchte Sie bitten, dies nicht zu hart zu beurteilen. Ich sagte es Ihnen schon, ehe die ersten Gäste ankamen, es seien lebenslustige Leute, die jeden Genuß und jede Freude dankbar hinnehmen und sich über das Woher und Wie weiter keine Skrupel machen. Sie sind, wenigstens einige von ihnen, selbst gutherzig und geben gern und sorglos, solange sie etwas haben – eben deshalb nehmen sie auch, was andere ihnen bieten, mit einer Unbefangenheit, die vielleicht einen härteren Namen verdient.“
„Ich gebe ihr diesen härteren Namen nicht,“ fiel der Doktor nachdrücklich ein. „Glauben Sie es mir, ich habe das leichtlebige und im ganzen harmlose Völkchen immer richtig beurteilt. Sie sind eine Art gemütlicher Sozialisten und sehen in jedem gut sanierten Mitmenschen einen Bruder, der die Pflicht hat, seine minder günstig gestellten Geschwister mit seinem Eigentum zu unterstützen und zu erfreuen. So haben sie denn auch mich und meine Villa aufgefaßt, und ich sträube mich nicht weiter gegen diese Rolle, denn wenn ich auch nicht reich bin, so habe ich doch genug, um einmal den Sommer über mein Haus voller Gäste zu sehen!“
„Es sind aber solche, die Sie sich nie und nimmer aus freiem Antrieb eingeladen hätten!“
„Das will ich nicht bestreiten. Indessen – geschah nicht Ihnen ein Gefallen?“
Die junge Frau zögerte, zu antworten. Offenbar kämpfte sie einen schweren Kampf mit sich.
„Sie wissen wohl nicht,“ begann sie zuletzt, und die Farbe ging und kam auf ihrem Gesicht, „daß sie alle zum Theater gehören?“
Er sah sie halb belustigt, halb gerührt von der Seite an. „Also das weiß ich nicht! Armes Kind, dies Geständnis scheint Ihnen ganz besonders schwer geworden zu sein, Sie haben es vielleicht von Tag zu Tag aufgeschoben, weil es Sie so viel Ueberwindung kostete! Ist es wirklich so?“ Gabriele nickte lebhaft.
„Nun, die Qual hätten Sie sich sparen können! Halten Sie mich wirklich für einen so schlechten Menschenkenner, für jemand, an dem all seine jahrelangen Reisen mit ihren vielfach wechselnden Eindrücken und Erfahrungen nutzlos vorübergegangen sind? Wenn dies der Grund war, weshalb Ihnen meine Gastfreundschaft für diese lustige Gesellschaft peinlich war, dann können sie alle ruhig noch einige Wochen hier bleiben und vollends Sie selbst dürfen sobald an keine Abreise denken. Weiß ich doch, daß Sie diesen Leuten so unerreichbar hoch und fern gegenüberstehen, daß es eine Beleidigung für Sie wäre, auch nur einen Vergleich zwischen Ihnen und jenen ziehen zu wollen! Um Gotteswillen, Gabriele, was ist Ihnen?“
Sie hatte bei seinen letzten Worten plötzlich ihr Gesicht mit einer leidenschaftlichen Gebärde in die flachen Hände gedrückt und begann jetzt fassungslos zu schluchzen.
Röder war in grenzenloser Bestürzung. Sein Gemüt war weich, und er gehörte zu den Männern, denen es geradezu eine Pein ist, eine Frau weinen zu sehen – und nun gar diese Frau, die er liebte!
Er neigte sein Haupt über ihr tief gesenktes Köpfchen und begann, ihr Trost zuzusprechen, wie man es einem Kinde thut. Er wußte gar nicht, was er ihr gethan, was sie in seinen Worten so schmerzlich getroffen haben konnte. Mit seiner tiefen klangreichen Stimme, in die sich ein einschmeichelnd warmer Herzenston schlich, bat er sie, sich zu beruhigen, ihm zuliebe, nicht mehr zu weinen – er könne das nicht sehen, und dazu versuchte er, sanft ihre Hände wegzuziehen, aber das war vergebens. Er fühlte nur ein paar heiße Thränen auf seine Hand herabtropfen.
Um die beiden war es rasch finsterer geworden, in dieser grünen Dämmerung ohnehin nicht zu verwundern. Als Gabriele endlich, endlich die Hände herabsinken ließ, konnte Röder selbst in dieser Nähe die Züge ihres Gesichtes und dessen Ausdruck nicht mehr deutlich unterscheiden.
Sie atmete ein paarmal hoch auf, um ihrer Stimme einige Festigkeit zu geben, und sagte dann mit einem raschen Entschluß: „Sie thun mir zu viel Ehre an, wenn Sie mich hoch über jene stellen, die die geduldeten Gäste Ihres Hauses sind – auch ich war beim Theater und werde dahin zurückkehren!“ Sie hatte das beinahe hart gesprochen, als wünschte sie sich mit einem gewissen Trotz gegen einen Widerspruch von seiner Seite zu wappnen.
Der aber erfolgte nicht. Sie fühlte nur ihre kalte zitternde Hand, die willenlos in ihrem Schoß lag, von einer festen und kräftigen erfaßt und festgehalten und hörte seine Stimme dazu sagen. „Und wenn dem wirklich so ist, glauben Sie, ich nehme mein Wort darum zurück?“
Sie blieb eine Weile stumm, dann, ehe er es zu hindern vermochte, hatte sie sich blitzschnell niedergebeugt und mit ihren heißen Lippen die feste kräftige Hand berührt, die noch auf der ihrigen ruhte.
„Gabriele!“ Ungestüm wallte es in ihm auf, aber gleich darauf durchzuckte ihn der Gedanke. „Sie ist ein Kind gegen dich und empfindet wie ein Kind dem väterlichen Beschützer gegenüber!“
Er seufzte leise. „Sie kennen mich doch noch wenig,“ begann er zögernd.
„Besser, viel besser, als Sie glauben! Ich weiß, daß Sie wenig Vorurteile haben, daß Sie gerecht und edel denken. Aber ich weiß es durch meine Mutter und auch durch Sie selbst, daß Sie eine persönliche Abneigung haben gegen alles, was irgendwie mit dem Theater in Zusammenhang steht. Haben Sie es mir nicht selbst gesagt: der Gedanke, ein weibliches Wesen, das Ihnen nahesteht, auf der Bühne zu wissen, sei Ihnen traurig und widerstreite Ihrem Gefühl? Und weil ich das aus Ihrem eigenen Munde gehört hatte, darum schwieg ich bis heute, denn von Ihnen gerade so verurteilt zu werden, das thut mir mehr weh, als ich es Ihnen mit Worten sagen kann.“
„Verurteilen? Gabriele, ich bitte Sie! Nie hätte ich das gethan – Sie sollten mir Vertrauen schenken –“
„Das will ich, eben darum bin ich hier! Ich möchte Ihnen erzählen von meinem früheren Leben –“
Er hörte ihr rasches erregtes Atmen, und wieder stieg es heiß in ihm auf. Jetzt Vergangenheit und Beruf und alles vergessen, alles außer dem Glück seines Herzens, sich das erobern und es festhalten mit starker Hand und der ganzen Welt Trotz bieten, frei und stolz!
Es war gut, daß Gabriele nicht gleich sprach, ihm war das Blut so stürmisch zum Herzen gedrungen, er hätte jetzt nichts von dem, was sie ihm erzählte, zu fassen vermocht. Als sie endlich begann, war er imstande zu hören, er rückte aber von ihr fort, so weit die kleine Bank es gestattete, und preßte die flachen Hände fest ineinander.
„Von meinem Vater sprach ich Ihnen schon und wie zärtlich er mich liebte. Aber mehr noch, er war auch unsäglich stolz auf mich, [103] meine kleinen Talente entzückten ihn, er sah eine bedeutende Zukunft für mich voraus und schmiedete Plan auf Plan, dieser Zukunft feste Gestalt zu geben. Namentlich meine musikalische Begabung machte ihm Freude. ‚Wenn Du erwachsen bist und Mama nicht mehr so viel Bälle und Gesellschaften braucht,‘ pflegte er zu sagen, ‚dann sammle ich ein hübsches kleines Vermögen für Dich, was gar nicht so langer Zeit bedarf, und das verwenden wir dann zu Deiner Ausbildung. Die besten Lehrkräfte, die wir in Europa haben, sind gerade gut genug, um meiner Jella Stimme auszubilden, dies köstliche Material, das gar nicht fein und behutsam genug angefaßt werden kann. Selbstverständlich kommst Du nie in die Oeffentlichkeit, nur ein ganz auserwählter kleiner Kreis braucht mein kleines Wunder anzustaunen, es wäre ein großes Zugeständnis, wenn ich Dir ausnahmsweise einmal in einem Wohlthätigkeitskonzert zu singen erlaubte!‘ So sprach Papa oft zu mir, und ich war froh, ihn so glücklich über mein Talent zu sehen, und nahm mir vor, sehr fleißig zu studieren und ihm in allen Stücken den Willen zu thun, denn ich liebte ihn unendlich! Daß von dem Sammeln eines kleinen Vermögens einstweilen, so lange wir das sorglose Leben in Batavia führten, keine Rede sein konnte, sagte mir schon damals mein unerfahrener Kinderverstand. Ich denke, ich erzählte es Ihnen schon: wir lebten wie die Fürsten, und Papa verstand es nicht, meiner Mutter einen Wunsch abzuschlagen. Sie hatte eine sehr liebliche Art, ihn zu umschmeicheln, er brachte ihr gegenüber kein Nein fertig. Und dann mußte er so rasch sterben, und wir standen mittellos da, was nach Auflösung unserer luxuriösen Häuslichkeit blieb, war ein kleines, kleines Sümmchen, gerade ausreichend, die Ueberfahrt zu bestreiten.
Nun kamen wir nach Brüssel zu Papas Verwandten. Ach, sie thaten für uns, was sie konnten, sie gaben uns die Mittel, zu leben, aber sie gaben uns keine Liebe und kein Verständnis, das besaßen sie eben nicht. Ich mußte mich bald daran gewöhnen, so jung ich noch war, auch für Mama zu denken und zu handeln. Der Tod des Mannes, der sie so grenzenlos verwöhnt, hatte sie fast tiefsinnig gemacht, sie wußte sich gar nicht zu helfen, sie war ganz wehrlos dem Leben und seinen Anforderungen gegenüber. Es demütigte sie, von Leuten, mit denen sie keine innere Gemeinschaft hatte, Geld annehmen zu müssen – der einzige Mensch, zu dem sie volles Vertrauen empfand – Sie, Herr Doktor, – war weit fort auf Reisen, so wurde ich ihre Freundin. Sie besprach alles mit mir. Daß Papas Gedanke ausgeführt werden, daß etwas zu meiner musikalischen Ausbildung geschehen müsse, stand bei mir fest. Ich dachte es mir sehr leicht und sehr schön, durch mein Talent, von dem ich einen ziemlich hohen Begriff hatte, große Summen zu verdienen, die es meiner Mutter möglich machen würden sorgenfrei zu leben und jede Unterstützung von der Hand zu weisen. Ich konnte es kaum erwarten, Unterricht zu bekommen. Die Verwandten sahen es nicht sehr gern, als es endlich dahin kam; sie waren reich und glaubten, es werfe ein schlechtes Licht auf sie, wenn eine ihrer Anverwandten irgend eine Art von Erwerb ergreife. Ich setzte aber mein Stück durch, nicht ohne Scenen und Thränen, und ging zunächst ins Konservatorium. Die Lehrer sagten mir viel schöne Dinge über meine Stimme, aber es hieß doch, ich müsse ein jahrelanges Studium durchmachen, ehe an ein Auftreten als Konzertsängerin zu denken sei. Das aber lag durchaus nicht in meiner Absicht, ich wollte rasch vorwärts, rasch, um jeden Preis!“
Gabriele sagte die letzten Worte mit mühsamer Stimme und stieß einen zitternden Seufzer aus. Es war jetzt ringsumher vollkommen dunkel geworden, der Himmel flimmerte von zahllosen Sternen, und hinter den dichtbelaubten Kastanienkronen zur Rechten leuchtete ein silberweißer Schein, langsam begann die Mondsichel emporzusteigen. Im nahen Gesträuch zirpte es unermüdlich, ein leichtes Lüftchen fächelte im Blätterwerk, das erste wohlige Aufatmen kam über die Natur.
Damals vermittelte mir ein Zufall Herrn Schraders Bekanntschaft. Er war bei der Bühne gewesen und beabsichtigte, von neuem zu ihr zurückzukehren, er hatte soeben einen Gastrollencyklus hinter sich, und bis sich ein neues passendes Engagement für ihn fand, wollte er in Brüssel Gesangunterricht erteilen. Man rühmte ihn als Lehrer, er hörte mich singen, zeigte sich begeistert von meiner Begabung und verhieß mir in kürzester Zeit glänzende Einnahmen, sobald ich mich seiner Leitung überlassen und mich entschließen würde, zur Bühne zu gehen. Dies Ansinnen kam mir gänzlich unerwartet und wurde anfangs ohne weiteres von mir zurückgewiesen. Ich fühlte keine Neigung, zum Theater zu gehen, und sagte das unumwunden. Mitten in diese Verhandlungen hinein fiel ein schwerer Schicksalsschlag – der Tod meiner Mutter! Sie starb ohne lange Krankheit, ich war wie betäubt durch diese neue Prüfung. Bei den Verwandten wollte ich keinesfalls länger bleiben, meine Mutter war das letzte vermittelnde Glied gewesen, das uns zusammenhielt. Sie versuchten nach Mamas Heimgang noch einmal, mich zum Bleiben zu veranlassen, aber umsonst. Ohne Mama – keine Stunde länger in diesem Hause! Die heranwachsenden Kinder waren mir von jeher sehr unfreundlich begegnet, sie allein hätten mir schon den beständigen Aufenthalt dort verleidet, sie waren voller Neid und Eifersucht auf mein Talent, obgleich ich mich niemals in ihren Kreisen damit hören ließ. Ich ging also aus dem Hause und zu einem entfernten Vetter meines Vaters, der gleichfalls in Brüssel lebte und mein Vormund geworden war. Hier behandelte man mich gütig, interessierte sich für meine musikalische Begabung und legte meinen Zukunftsplänen nichts in den Weg. Aber die Familie war arm, hatte mit Sorgen zu kämpfen, kein Gedanke daran, daß ich hier einen materiellen Halt fand. Mit den andern Verwandten hatte ich für immer gebrochen, ich war in offener Feindseligkeit aus ihrem Hause geschieden, sie waren empört über meine schreiende Undankbarkeit und meine Abenteurerlust, die mich in eine so unpassende Laufbahn trieb. Gott weiß, ich war weit von jeder Abenteurerlust entfernt, aber ich war auf mich allein angewiesen, meine musikalische Begabung zeigte mir den einzigen Weg, bald zu eigenem Erwerb zu kommen. Was sollte ich thun? Ich verwertete die schönen Schmuckstücke meiner Mutter, von denen sie sich nie hatte trennen können, um aus dem Erlös fürs erste mein Leben zu fristen. Herr Schrader und seine Frau waren sehr gut zu mir, sie waren damals in sehr günstiger Lage, er war ein gesuchter Gesanglehrer, seine Frau gab Deklamationsstunden und studierte jungen Anfängern leichte Opernpartien ein. Sie nahmen beide so gut wie gar kein Honorar von mir und zeigten lebhafte Teilnahme für mein Fortkommen, auch hatten sie zahlreiche Verbindungen, die mir nützlich sein konnten. Nach einem Jahr des eifrigsten und angestrengtesten Studiums war ich so weit, daß ich öffentlich auftreten konnte.“
Ein tiefes Aufatmen hob Gabrielens Brust, sie sah ängstlich nach ihrem stummen Gefährten, aber der Mond war noch nicht hoch genug gestiegen, sie konnte Röders Gesichtszüge nicht erkennen.
„Es sollte natürlich eine kleine Stadt sein, in der ich anfing,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. „Ich war nicht erbaut davon, aber Herr Schrader hatte wohl recht, wenn er behauptete, ich müsse glücklich und dankbar sein, überhaupt nach so kurzer Studienzeit ein Engagement zu finden; bei Anfängerinnen, von denen niemand etwas wisse, sei das eine große Gunst des Schicksals. So fing ich denn in einer kleinen schlesischen Stadt auf der Sommerbühne an, allein ich merkte bald, daß ich mir zu viel zugemutet hatte, als ich zur Bühne ging. Der ganze Ton zwischen den Kollegen, die Verhandlungen mit den Agenten, die ganze Atmosphäre – erlassen Sie mir’s, es Ihnen zu schildern, Sie werden genug darüber gehört und gelesen haben. Aber es ist doch ein himmelweiter Unterschied, solche Dinge zu hören und zu lesen oder sie selbst zu erleben, zumal wenn man ein unerfahrenes Mädchen von kaum neunzehn Jahren und erzogen ist wie ich. Ich war wie vernichtet, ich fühlte, daß ich nicht für das Theater paßte, meine Stimme klang wohl hübsch, aber mein Spiel war unbelebt, meine Haltung erzwungen, es war kein Theaterblut, kein richtiger Trieb in mir. Man sagte mir das, und ich fühlte, daß es Wahrheit war. Was nun anfangen? Irgendwo mein Heil als Gesanglehrerin versuchen, mittellos, unbekannt, wie ich war, ohne stützende und helfende Verbindungen? Meine wissenschaftlichen Studien wieder aufnehmen? Auch dazu gehörte Geld, und ich war den Wissenschaften seit den letzten zwei Jahren fast ganz entfremdet, meine volle Kraft und Zeit hatte der Musik gehört. Da, als ich verzweifelt nach einem Ausweg suchte, lernte ich meinen – meinen – lernte ich Willibald Hartmann kennen.“
Jetzt belebte sich der stille Zuhörer an Gabrielens Seite plötzlich – dieser Name rüttelte ihn aus seiner Versunkenheit auf.
„Haben Sie ihn geliebt?“ fragte er in fast rauhem Ton.
Die junge Frau antwortete zuerst nicht. Sie schien in ihrem [106] Innern zu suchen, schien ein abgleichendes Wort vorausschicken zu wollen …
„Nein!“ stieß sie endlich hervor.
„Das heißt,“ setzte sie nach einer atemlosen Pause hastig hinzu, „ich glaubte damals, ihn zu lieben. So schlimm meine Lage war, niemals hätte ich mich um äußerer Gründe willen entschließen können, die Frau eines ungeliebten Mannes zu werden. Frau Schrader, die ich in jener Zeit oft sah, könnte es Ihnen bestätigen, daß es lange dauerte, bevor … daß Hartmann mehr als einmal … verzeihen Sie mir, es muß häßlich klingen, was ich Ihnen sage, aber ich will die Wahrheit sprechen, die volle Wahrheit. Sie sollen wissen, ehe wir von einander scheiden, wer ich war und wer ich jetzt bin!“
„Ich weiß,“ sagte Röder halblaut, „daß Ihr Gatte mehrmals um Sie werben mußte, daß er Sie leidenschaftlich liebte und daß Sie zum Nachgeben nicht zuletzt durch den Gedanken bestimmt wurden, es könnte bei seinem erregbaren Temperament ein Unglück geschehen!“
„Also hat Frau Leopoldine es Ihnen gesagt? Sie hatte recht, es war so. Er war ein leidenschaftlicher Mann, eifersüchtig – und so liebte er mich – ganz rasch war alles gekommen, mir viel zu rasch, zu plötzlich. Ich konnte sein Gefühl nicht erwidern, es war mir beklommen zu Mut in seiner Nähe, mir fehlte das Vertrauen zu ihm. Wenn er neben mir saß, mich aus seinen heißen Augen ansah, dann kam es wie Angst über mich, ich konnte kein rechtes Herz zu ihm fassen, und ich sagte ihm das. Er wollte warten, wiederkommen, alles thun, was ich wollte, aber seine stürmische Liebe ließ das nicht zu. Er konnte bitten, flehen, überreden – mein Gott!“
Wie überwältigt legte Gabriele eine kleine Weile die Hand über die Augen.
„Er war auch beim Theater, er hatte eine wunderschöne Stimme. Ich sollte nicht mehr zur Bühne, ich sollte nichts mehr sehen und hören von der Oper, wenn ich nicht wollte, ich sollte leben wie eine Prinzessin, jeden Wunsch würde er mir erfüllen! Er könne nicht mehr leben, wenn ich ihn nicht erhörte, sein ganzes Dasein sei zerstört, ob ich dafür die Verantwortung tragen könne? Nein, ich konnte es nicht, ich war gerührt, besorgt um ihn, ich sagte mir, eine solche Liebe fände sich nicht zum zweitenmal, eine Liebe, die zugleich mein Rettungsanker wurde … und ich sagte Ja!“
„Wurden Sie glücklich, Gabriele?“
Sie schüttelte langsam und traurig den Kopf.
„Er hat mich verwöhnt und geliebt, aber auch gequält und gepeinigt mit Mißtrauen, mit Eifersucht, mit Vorwürfen über meine Lieblosigkeit und Kälte; ich kam nie zur Ruhe neben ihm. Wir hatten Stunden der Freude und des Genusses – Stunden des Glücks aber, die habe ich nicht gehabt. Ich klage ihn nicht an, denn er konnte nichts für sein ungestüm wallendes Blut, aber ich kann auch mich nicht anklagen, da ich mich redlich bemühte, ihn glücklich zu machen und selbst glücklich zu sein. Wir paßten nicht zu einander, das war alles. Sein ewiges Mißtrauen verletzte mich zu sehr; ich habe manchen Fehler, das aber weiß ich, daß man mir vertrauen kann. Und das Leben, das wir führten, nur von Sängern und Schauspielern umgeben, so ganz nur im Rahmen des Theaters – es widerte mich mehr und mehr an, trotzdem ich selbst nicht mehr aufzutreten brauchte. Und als Willibald dann starb nach langem entsetzlichen Kampf, ich ihm die müden Augen endlich zudrücken durfte, da waren es doch wieder diese gutherzigen Menschen des Theaters, die mich über Wasser hielten, die mir halfen, soviel es in ihren Kräften stand. Darum bin ich ihnen Dank schuldig, ob ich auch vieles an ihnen mißbilligen muß, und darum danke ich auch Ihnen, der Sie, ohne zu fragen und zu klagen, diesen allen Ihr Haus geöffnet und eine schöne frohe Zeit bereitet haben. Ich – wenn ich nun gehe, werde es nie vergessen, was Sie mir gewesen sind …“
Gabrielens Stimme wurde unsicher, sie setzte noch einmal zum Sprechen an, aber es war umsonst.
„Und warum wollen Sie fort?“ fragte der Doktor leise.
„Warum? Weil ich es nicht länger mit ansehen kann, wie Ihnen Stimmung, Arbeitsfreudigkeit, Zeit und Lebensgenuß geraubt wird! Weil ich weiß, daß das Dasein, das Sie jetzt führen, für eine Natur wie die Ihrige gar kein Dasein genannt werden kann. Und da ich überzeugt bin, daß kein einziger von allen denen, die jetzt Ihre Gastfreundschaft genießen, Miene machen würde, zu gehen, so lange ich noch hier bin … nun gut, so muß ich mit jenen zusammen gehen, zu denen ich doch fortan wieder gehöre!“
„Gabriele! Sie können, nach allem, was Sie mir soeben mitgeteilt haben, ernstlich daran denken, zur Bühne zurückzukehren?“
„Muß ich denn nicht? Bleibt mir eine andere Wahl? Ein Beruf, den man ohne Neigung ausübt, bleibt freilich immer ein trauriger Notbehelf, aber ich kann ja nicht anders. Ein Leben, wie es meinem Sinn und meiner Neigung entspricht, kann ich nicht führen –“
„Und welch ein Leben wäre das?“ fiel Röder ihr ungestüm ins Wort.
„Ein friedliches ruhiges Dasein voll geistigen Strebens und stiller Erholung in der Natur, ein Leben, nach dem niemand in der großen Welt fragt, von dem niemand weiß – ach, Sie wissen, Sie wissen, was ich meine: ein Leben, wie ich es hier in ‚Buen Retiro‘ führen durfte in der ersten Zeit.“
„Und meinen Sie, das würde Ihnen auf die Dauer genügen?“
„Genügt es Ihnen denn nicht?“
„Sie dürfen sich mit mir nicht vergleichen. Ich habe mich, wenn ich so sagen darf, ausgelebt – gottlob ist weder mein Geist noch mein Gemüt erstorben, ich vermag noch vieles zu genießen, mich für einiges zu begeistern, ich kann noch Liebe und Freundschaft empfinden – ich meine aber, die Freuden, welche die Welt mir bieten kann, die habe ich ausgekostet, ich habe sie durstig genossen und habe finden müssen, daß eine Natur wie die meine bald davon satt wird. Ich darf mein inneres Gleichgewicht nicht verlieren, und als ich fühlte, daß Gefahr dazu vorhanden war, bin ich hierher nach ‚Buen Retiro‘ gegangen mit der Absicht, hier mein Leben zu verbringen. Die Fäden, die mich mit der Welt verknüpfen, sind nicht abgeschnitten, aber sie liegen lose in meiner Hand, und, wie ich einmal bin, werde ich sie mir wohl niemals ganz entgleiten lassen, jedoch auch nie wieder sie so fest anziehen, daß eine dauernde Verbindung entsteht. Sie aber, Gabriele, Sie sind so jung noch – was hat Ihnen das Leben bisher gebracht, das Sie zu einem solchen Verzicht berechtigt?“
„Mehr als genug, übergenug! Ich habe geselliges Treiben und Verkehr gehabt zum Ueberdruß, in Batavia sowohl als auch bei den Verwandten in Brüssel, ich habe mehr Festlichkeiten in einem Monat besucht als andere deutsche junge Mädchen in einem Jahr, ich habe zahllose Menschen gesehen und gesprochen, mein Verstand verdankt ihnen manches, meine Erfahrung vieles, mehr, als es meinen jungen Jahren gut ist … doch was haben sie meinem Herzen gegeben? Und in der kurzen Zeit meiner Ehe – meinen Sie nicht, ich hatte mehr Gelegenheit, Welt und Leben kennenzulernen als hundert Frauen meines Alters? Ich bin keine Menschenfeindin, da sei Gott vor, aber ich bin nicht die Natur, die der Stürme, der Vergnügungen und Aufregungen bedarf. Das Schicksal hat es nicht gut mit mir gemeint, es wirft mich steuerlos auf hoher See umher, und ich sehne mich nach dem Hafen.“
„Wäre ich zehn Jahre jünger, als ich es bin, Gabriele, ich spräche Ihnen von allem was mein Herz bewegt, und ich böte Ihnen ein Heim am ruhigen Ufer.“
Röder sagte es langsam, wie aus einem Traum sprechend, ohne Erregung – es mußte klar werden zwischen ihm und ihr.
„Ich könnte Ihnen ja anbieten,“ fuhr er fort, als sie nichts erwiderte, „bei mir zu bleiben, es zu versuchen, wie lange Sie das Stillleben, das mir zum Bedürfnis geworden ist, teilen könnten. Aber das darf ich nicht, um meiner Ruhe willen nicht, ich müßte Sie denn bitten, allein in ‚Buen Retiro‘ zu bleiben und mich wieder hinauswandern zu lassen in die Welt. Denn wenn wir zusammen hier blieben, Gabriele, dann müßten Sie mein Eigen werden, da ich Sie liebe – nein, nein, erschrecken Sie nicht – ich wollte Ihnen nur erklären, warum ich ungastlich erscheinen muß – ich weiß ja, es ist nicht möglich –“
Was war nicht möglich? In demselben Augenblick, da er es aussprach, war das Unmögliche geschehen, hielt er Gabriele in seinen Armen. – –
Sie haben oft beide später gemeinsam darüber nachgesonnen, wie es doch eigentlich kam, daß sie sich gefunden hatten, aber die [107] Erinnerung ließ sie im Stich, es kann so rasch, es war so unvermutet und so überwältigend schön.
Cornelius Röder wußte nur, daß das junge Weib in seinen Armen leise schluchzte und daß, als er sie bat und immer wieder bat. „Weine nicht, Liebling, weine nicht!“, sie endlich mit ihrer weichen zitternden Stimme sagte: „Laß’ mich doch! Es sind Freudenthränen!“
Wann es über sie gekommen sei? Sie wußte es nicht zu sagen, bald jedenfalls, sehr bald. Und ob sie ihn so lieben könne wie er sie? Mehr, viel mehr! Und ob sie ihm glaube, daß er alles, alles thun werde, um sie glücklich zu machen, daß er ihr jeden Wunsch erfüllen wolle? Sie habe nur einen einzigen Wunsch – immer, immer in „Buen Retiro“ und immer bei ihm zu sein.
Nach all’ den lärmvollen unruhigen Tagen – welch schönes, stilles Verlobungsfest! Nur der Mond, der silberblaß über den nachtschwarzen Baumwipfeln stand, sah ihnen zu, wie sie einander küßten, und hörte die leisen zärtlichen Worte, die eines dem andern sagte.
Von den Fremden sollte es vorläufig niemand erfahren, es wäre ihnen beiden wie eine Entweihung erschienen. In zwei Tagen sollte Gabriele abreisen, einstweilen zu ihrem Vormund in Brüssel – die andern würden mit ihr die Villa verlassen – und erst von Brüssel aus sollte die Welt ihr Glück hören. Bald, bald wollte Cornelius seiner Braut dorthin folgen, und eine kleine stille Hochzeit sollte es geben.
Arm in Arm gingen sie endlich an jenem Abend nach der Villa zurück, aber es dauerte sehr lange, bis sie dahin kamen. Unterwegs kam ihnen Mamsellchen entgegen, von Besorgnis um ihren Doktor getrieben, und sie erfuhr das große Geheimnis und gebärdete sich wie unsinnig vor Freude. Lachen und Weinen in einem Atem, und Handküsse und Umarmungen, Beteuerungen, keiner lebenden Seele ein Wort zu verraten, Beschwörungen, die „junge Frau“ solle ihren Cornelius glücklich machen, denn solch’ einen Mann fände sie auf der ganzen Erde nicht mehr und so gut wie Mamsellchen kenne ihn doch keines, Fragen, ob die „Gesellschaft“ nun endlich abziehen werde, und großes Frohlocken, als die Antwort bejahend lautete. Und zuletzt zog die treue Seele sich in ihr Zimmerchen zurück, um sich da gründlich auszuweinen, und das Brautpaar blieb draußen vor der Villa zurück.
Da stand das Haus, schön und still im Mondenschein, von weißem feierlichen Licht übergossen. Die dunkle Umrahmung von Bäumen und Gebüsch hielt es wie mit grünen Armen umfangen, seine hellen Fenster blitzten gleich freundlichen Augen, und das Wetterfähnchen hoch oben auf dem Aussichtsturm glänzte wie Silber. Ueber dem Portal die Inschrift aber leuchtete wie eine Verheißung reinen stillen Glücks zu den Liebenden nieder.