Bilder aus dem jetzigen Kriege
1. Runder oder Malakoff-Thurm. |
6. Spanische Reiter. |
11. Linker Laufgraben. |
16. Rechter Vorgraben. |
Bilder aus dem jetzigen Kriege.
Der Mai hatte um den Theil des Tschernaya-Flusses, den wir durchritten, das Thal weit umher mit dem üppigsten, grünen, blumenreichsten Gewande angethan. Fett und feist in die Höhe geschossene Blumen neuer Art schwankten schwer unter ihrem reichen Diamantenschmucke von Thautropfen: Georginen, Anemonen, Weißdorn, Thymian, Münze, Spargel und Hunderte ganz unbekannter Stauden und Blumen. Auf unserer rechten Seite marschirten die Türken als Begleiter des recognoscirenden Omer Pascha durch dieses hohe, herrliche Blüthen- und Duftmeer, das in den süßesten aromatischen Wellen unter ihren eintretenden Füßen aufschwoll und zu uns herüberwehte. Wir nahten dem Schlachtfelde von Inkerman. Rechtwinkliche Stücke langen, reichen, blüthenschweren Grases, hoch emporragend über das natürliche Grün der Wiesen umher, bezeichneten die Massengräber, in welchen die Erschossenen und Erschlagenen vom 25. October zu Hunderten in je einer ausgegrabenen Tiefe ruhen. Der Leichengeruch in seiner Mischung mit dem würzigsten Aroma des Frühlings machte einen unbeschreiblich erschütternden Eindruck, am Empfindlichsten auf die Pferde. Sie schnaubten und schnarchten mit emporstarrenden Mähnen in die Gräser und Blumen, von denen keins nur einen Halm abbiß und waren nur mit der größten Gewalt darüber hinweg zu bringen. Zitternd an allen Gliedern und starrend in jedem Haar der Mähne eilten sie dann darüber hinweg und athmeten tief aus, als sie wieder natürliche Wiese unter die Füße bekamen. Auch die Vögel, die anderswo lustig in den heiß aufathmenden Maimorgen hineinpfiffen und trillerten, wurden hier still und flogen davon, nachdem sie an verschiedenen Stellen probirt hatten, sich niederzulassen. Bald häuften sich auf unserm Wege die Denkmäler jenes schrecklichen, „glorreichen“ Octobertages. Das Skelett eines englischen Dragoners lag noch da zwischen dem Grase, wie er gefallen war. Zerrissene Fetzen seiner rothen Uniform spielten um seine abgenagten Gebeine. Die Knöpfe waren alle abgeschnitten. Er muß gleich im Anfange der Schlacht gefallen sein, als die schwere Reiterei dicht am „Canroberts-Hügel“ unter das Feuer der russischen Artillerie kam. Nicht weit davon lag freundschaftlich ein noch nicht ganz fleischloses Russenskelett. Sie hätten sich im Leben wohl eben so gut mit einander vertragen, wenn die höhere Staatsweisheit der Schöpfer und Erhalter des europäischen Gleichgewichts wirklich als Männer vier Punkte, und nicht Fragezeichen als Diplomaten, gemacht haben würden. Der kleine, runde Schädel des Russen war von Geiern kahl genagt und ausgeweidet, nur das röthliche Haar flatterte noch wirr um seine tiefen Augenhöhlen.
Weiter hin schien ein anderes russisches Skelett zwischen Kugeln und Fragmenten von Kartätschen aus dem Grabe in die Höhe gesprungen zu sein. Nur die Füße waren etwas bedeckt. Mit dem Oberkörper ragte er auf und ein Arm lag wie drohend. Wir mußten unsere Pferde nun mit all’ unserer Gewalt durch Labyrinthe halb verwes’ter Artillerie- und Cavalleriepferde zwingen, neben und unter welchen einzelne, abgerissene Menschenglieder, Theile von Schädeln, verwaschenes Sattelzeug, verrostete Gebisse, Schnallen, Kleiderfetzen u. s. w. umher zerstreut lagen. Ein furchtbares Labyrinth von Todeskämpfen, das nun ruhig in den Verzerrungen, mit welchen [357] der erlösende Tod auf sie herabgestiegen, liegen geblieben war. Aus unzähligen Gräbern hatte der Regen die obersten Schichten herausgewaschen, so daß sie grimmig aus Gras und Blumen in die Höhe drohten, wie um gegen ihren Tod, ihr Begräbniß und diese Kriegsführung die Rache des Himmels herabzurufen.
Trommeln und Pfeifen und unsere Sporen trieben uns und die Pferde in voller Lebenskraft durch die Ueppigkeit des Todes und des auferstandenen Frühlings, heute noch Kinder des letzteren, um vielleicht schon morgen verstümmelt und todt unter dessen Blumen zu versinken.
Am 22. und 23. Mai hatten etwa 5000 Franzosen mit Verlust von 1700 Mann Minen gesprengt und Schanzen genommen und bei Verfolgung der fliehenden Russen Hunderte und aber Hunderte bayonnettirt, da kein Pardon erbeten und gegeben ward. Von allen den Mann gegen Mann mit Bayonnet und Säbel Fechtenden war immer wenigstens je Einer gefallen, so daß die stumpfen Winkel der einzelnen Schanzreihen und der ganze Weg bis nach dem Redan hin der aufgehenden Sonne ein unabsehbares Labyrinth von zerstochenen, zerhackten und zerschossenen[WS 1] Leichen bot. Man hatte natürlich, wie immer bei solchen Gelegenheiten, vom Abend bis zum Morgen gefochten.
Nach diesem entsetzlich theuer erkauften Siege, für welchen General Pelissier bereits 10,000 Mann zu opfern bereits gewesen war, glaubte man das gehörige Fundament für die Erstürmung der Mamelon-Höhen gewonnen zu haben. Der Mamelon ist ein rauher, unregelmäßiger Steinhügel, dem Malakoff- oder weißem Thurme gegenüber, unten etwa von einer und oben von einer Viertel englischen Meile im Umfange und beinahe 100 Fuß höher als das Plateau des Malakoffthurmes. Tiefe Schluchten mit Wasser und Steinen gefüllt, Schanzen in verschiedenen Winkeln und schroffe, kantige, rauhe Abhänge umschützen ihn. Von Oben drohen schwere Kanonen und tausende kleinerer, Tod speiender Feuerschlünde. Es galt also eine der kühnsten, blutigsten Kriegsthaten, auf die Pelissier ununterbrochen bis zum 7. Juni vorbereiten ließ. Nachmittags brach die siebente Division zu diesem Werke auf, die zweite unter General Carnot bildete den vordersten Posten. Etwa 700 Yards vor dem Fuße des Berges in der Karabelnaja-Schlucht sammelten sich die Truppen und wurden hier von General Bosquet militärisch eingeweiht. Ein Bataillon des algierischen Regiments, in Columnen von Subdivisionen, mit scharlachrothen Fez, blauen offenen Jacken mit gelbem Besatz, weithosig bis an die Kniee, wo gelbe Lederbänder die weißen Gamaschen hielten, mit bloßen Hälsen, braun und zum Theil ganz schwarz von Gesicht, aus deren schwarzen Bärten die Augen schreckhaft weiß hervorblitzen, diese malerische, wilde Sorte von Halbbarbaren bildet stolz und mit elastischem Schritt die vorderste Spitze des gewaltigen Zuges. Das Zuavenregiment mit robusten Leibern und furchtbaren Bartwäldern contrastirt eben so malerisch zu den kleinen, magern, elastischen Chasseurs à Pied.
Man denke sich 12,000 Mann der verschiedensten Truppengattungen in eine weite, öde, mürrische Schlucht hinein, angedroht von dem fürchterlichen Mamelon, mürrisch angestaunt von öden, dahin gestreckten Höhen, diese auf das Bunteste belebt von rothröckigen Engländern und blitzenden Offizieren und Gläsern, Jubelgeschrei von allen Ecken und Enden, stürmisch und in allen Tonarten erwiedert von den unabsehbaren dichten, geschlossenen Reihen der Franzosen – und man wird sich ein schwaches Bild der Scene ausmalen können. Nun füge man Omer Pascha mit 15,000 gelben Türken und braunen Aegyptern auf der Inkerman-Seite hinzu, um einen Ausfall der Russen aus den Thälern zu verhüten, Pelissier und Canrobert mit einem glänzenden Gefolge von Stabsoffizieren und Adjutanten auf einer Höhe der Victoria-Redoute, Lord Raglan mit seinem Stabe auf einer andern Anhöhe, von wo aus man die Stelle, wo die Engländer angreifen sollten, gar nicht sehen konnte, und ein paar Tausend Engländer unten, so hat man die großen Figuren dieses Sturmes alle beisammuen.
Vier mächtige Raketen, die 61/2 Uhr in den Himmel hinaufzischten, gaben das Zeichen zum Angriffe. Von allen Seiten drängten die Truppen heran und flogen mehr über die untern russischen Schanzen, als sie kletterten, ohne auf besondern Widerstand der Russen zu stoßen. Auch als sie massenweise die steilen Höhen hinaufklimmten, wurden ihnen blos wenige Schüsse von den Parapeten [358] der Höhe heruntergeschickt, so daß bald der ganze oberste Rücken des Berges mit wüthenden Scharmützlern gefüllt war. Die russischen Malakoff- und Redan-Batterien waren von dem lebhaftesten Feuer der englischen zum Schweigen und die ganze Vertheidigungs-Maschinerie offenbar in Confusion gebracht worden, da man einen solchen Sturm nicht bei Tage erwartet haben mochte. Die Russen flohen alle in der Richtung des Malakoffthurmes, so daß die ganze Mamelonhöhe ohne irgend einen ernstlichen Kampf durch bloßes Hinaufklettern erobert zu sein schien. Mit diesem leichten Siege nicht zufrieden, ließen sich die Franzosen ohne Commando, blos von dem Feuer des Krieges, vom Instinkte hinter den fliehenden Russen hertreiben, als wenn alle plötzlich einstimmig beschlossen hätten, nun sofort auch den Hauptschlüssel zu Sebastopol, den Malakoff, zu nehmen. So stürmten sie leidenschaftlich hinunter in das Thal, das wie ein umgekehrter Sattel sich zwischen Mamelon und Malakoff streckt, und gerade hinauf gegen die Schanzen des entgegengesetzten Hügels. Unter Kanonen-, Flinten- und Steinregen drängten die Franzosen immer vorwärts, bis sie schon unter der niedrigsten Schußlinie der Kanonen waren, so daß sie nur noch von dem Stein- und Musketenregen litten. Aber sie litten mehr, als sie vertragen konnten, da sie in ihrer plötzlich ungemein gering erscheinenden Anzahl durch keine Nachfolger unterstützt wurden. Diese waren nämlich zurückcommandirt worden, so daß diese Kühnsten auf ihrem Rückwege unter einem russischen Flankenfeuer größtentheils fielen. Ebenso und fast gleichzeitig wurden die Engländer, nachdem sie ihre eigentliche Aufgabe, eine Steinschanze zu nehmen, gelöst hatten, zurückgerufen und beinahe zur Hälfte niedergemacht. Auch sie hatten sich von der Aufregung des Sieges hinreißen lassen, einen Angriff auf die mächtige Redan-Redoute zu machen, wodurch die Russen offenbar in höchste Confusion geriethen, so daß jetzt die Benutzung des ersten Sieges recht an der Zeit war. Von der Weisheit Raglan’s zurückgerufen, gaben sie den Russen Muth und Gelegenheit, ihre Kraft wieder zu sammeln und damit von je tausend Retirirenden 5 bis 600 niederzumähen.
Die Kämpfe, die nun auf und um den Mamelon folgten, waren Schlächtereien gewöhnlicher Art, wie sie eben im Kriege immer vorkommen. Als die Sonne am folgenden Morgen auf diese Höhen, zwischen die Thäler und Schanzen schien, leuchtete sie in viele Tausende verzerrter, starrer Leichengesichter, von denen unter je Hundert 80 bis 90 der Bescheidenheit ihrer Commandeurs zum Opfer gefallen waren, der Bescheidenheit, welche den Russen vom 7. bis zum 18. Juni Zeit ließ, sich auf den Sturm gegen den Malakoffthurm vorzubereiten und Mittel und Minen zu graben, durch welche es ihnen leicht ward, die letzte Blüthe der Armeen theils hundert- und aber hundertweise niederzuschmettern, theils bataillonsweise in die Luft zu sprengen. Der 18. Juni 1855 wird einmal in dieser schauderhaften Kriegsgeschichte blutigroth stehen bleiben, ein entsetzliches Gegenstück zu dem 18. Juni vor vierzig Jahren. Die vierzigjährige Renommisterei „Waterloo“ wird eine ewige Schande „Malakoff“. Tausende und aber Tausende waren während des Winters greiser Schwäche und vornehmer Unwissenheit zum Opfer gefallen, Tausende wurden jetzt an einem Tage vernichtet, weil die Sieger am Siebenten umkehren mußten, wie die Gerlach’sche Wissenschaft, um dem Feinde Zeit zu lassen, den 18. Waterloo-Juni ebenfalls umzukehren. Ein Augenzeuge des ganzen bisherigen Krim-Schwindels sagt und beweist, daß wenn Feldherren den Sieg an der Alma sofort benutzt hätten, statt mit dem glorreichen Zuge um Sebastopol herum zu renommiren, Sebastopol damals gefallen wäre, und wenn Feldherren fähig gewesen wären, den Mamelonsieg sofort zu benutzen, wie man Eisen schmiedet, weil es glüht, der Malakoffthurm am 8. die Fahne der Sieger getragen haben würde. Bis zum 18. hatte er gehörige Muße, sich auf den Anblick des schmachvollsten Schlachtfeldes, der großartigsten Feindesvernichtung vorzubereiten.
Kenner behaupten, daß dieser Schwäche, diesem Zaudern, diesem Verschleudern großartiger Sieges-Conjuncturen nicht blos Alters- und Aristokratie-Unfähigkeit zu Grunde liege, sondern ein Geheimniß, das erst spätere Geschichtsschreiber[WS 2] gehörig in’s Licht setzen würden. – –
Und nun sende ich Ihnen zum Schluß die Ansicht einer Stadt, die vor wenigen Tagen noch glückliche und zufriedene Menschen hinter seinen[WS 3] Mauern barg, und jetzt durch die „westlichen Träger der Civilisation“ zu einem[WS 4] Aschenhaufen verbrannt, nur noch auf der Landkarte und im Gedächtniß der daraus Vertriebenen existirt. Das Sengen und Brennen, das Zerstören wehrloser Städte bis zum Salzbestreuen der eingeäscherten Stätten friedlicher Bürger scheint ein Hauptparagraph in dem unmenschlichen Gesetzbuche der heutigen Civilisation zu werden.
Am Abhange eines Hügels im Norden des langen Golfs, welchen die Mündungen des Don in das asow’sche Meer gerissen haben, sieht, nein sah Taganrog freundlich auf das blaue Wasser herab. Die Stadt ist bekannt als Hauptausfuhrort für diesen Theil Rußlands, und spielt jetzt nach der Expedition der Alliirten in das asow’sche Meer und gegen die Stadt selbst eine nicht unbedeutende Rolle unter den Kriegsereignissen. Sie ward 1706 von Peter dem Großen gegründet und zwar für spätere militairische Zwecke. Zugleich sah er die mercantile Wichtigkeit dieser Lage und machte sie deshalb, nach Petersburg, seiner Hauptschöpfung, zum Gegenstande besonderer Fürsorge. Eigenhändig pflanzte er dort einen Eichenwald, der sich jetzt schon bedeutend in grünen Baumkronen entwickelt hat. Bekanntlich starb hier auch Alexander im Jahre 1826. Die Stadt war als Werk der Regierung schön gebaut, rein und staatlich. Die großen, weißen Häuser glänzten in der Sonne, zwischen grünen Gärten und trotzigen Festungswerken. Um die Stadt giebt es hübsche ländliche Scenerie mit Wiesen und Heerden. Die Bevölkerung, auf 22,000 Einwohner geschätzt, war ein buntes, malerisches Gemisch von Russen, Tartaren, Armeniern, Kosaken, Deutschen und einigen Franzosen. Die Deutschen lebten hier als Aerzte, Kaufleute und Künstler in großer Achtung. Die Ausfuhr bestand im Frieden besonders in Kaviar, Leder, Talg, Korn, Wolle und einem großen Theile der Produkte Sibiriens, die auf dem Don herunter kommen. Freilich ist der Hafen sehr seicht und durch die Anschwemmungen des Don immer seichter geworden. Alle größern Schiffe müssen deshalb bis drei deutsche Meilen vom Ufer ankern und ihre Güter mühsam in kleineren Booten laden und löschen. Der bedeutend zunehmende Ausfuhrhandel und diese Unbequemlichkeit dazu veranlaßte die Regierung, in Kertsch ein Zollhaus und die Quarantainestation für das asow’sche Meer zu gründen. So theilte sich der Handelsverkehr zwischen beiden Städten. Im Jahre 1853 bekam Taganrog den commerciellen Todesstoß. Die Regierung erklärte nämlich Kertsch zur einzigen Quarantainestation für das asow’sche Meer, so daß Taganrog nicht nur für Schiffe, sondern auch für Küstenfahrzeuge geschlossen ward. Kertsch sollte groß und stark werden. Die Alliirten ließen ihm freilich bei all ihrer Langsamkeit nicht Zeit genug dazu. Taganrog lebte seitdem nur vom Transport der Munition und Lebensmittel für die Truppen im Kaukasus und später auch für die Krim-Truppen. Da Rußland nun durch den Sieg der Alliirten seine Lebensadern für diesen ganzen Theil des Reiches und zwar bis Sibirien hinauf abgeschnitten findet, erscheint die jetzige Situation allerdings ernstlicher zum Frieden zu nöthigen, als früher. Ob der Friede sich aber nicht noch mehr nöthigen lassen wird, eh’ er kommt, bleibt noch dahin gestellt.
Schließlich bemerken wir nur noch, daß sich aus den Massen der schauderhaften Schlacht- und Schlächterscenen um Mammelon und Malakoff herum nach allen bisher eingegangenen öffentlichen und Privatmittheilungen keine finden, die dem blos menschlichen und nicht strategischen oder taktischen Leser ein wirklich tragisches Interesse bieten. Es ist nur das Schrecklichste der Schrecken – „der Mensch in seinem Wahn“, in dem Wahne, als könnte durch die Einnahme Sebastopols oder auch die ganze Eroberung der Krim der Friede erkauft werden. Nehmen wir auch an, sie hätten endlich die ganze Krim, so haben sie immer noch keine Macht über das Rußland, das einst diese Krim eroberte, wohl aber eine Last auf ihrem Halse, die sie erst recht darnieder hält, so daß sie in den Fall kommen können, flehende Friedenstauben nach Petersburg zu schicken, mit der Bitte, man möge ihnen endlich die Last wieder abnehmen. Rußland, das durch die strenge Blokade seiner Küsten in Gefahr schwebt, in seinem Fette zu ersticken, und doch auch wieder Mangel am Nothwendigsten leidet, Rußland mit seinem Czaar an der Spitze, würde eher nach der asiatischen Steppe zurückweichen, als den sogenannten Vertretern der Civilisation einen Finger, viel weniger die Hand zum Frieden zu bieten. [374] III. Helgoland und die Fremdenlegion.
Helgo- oder das „heilge Land“, etwa sechs Meilen vor der Elbemündung, war bis vor kurzer Zeit den Engländern, deren Eigenthum es ist, nur ein unbekanntes Thule und wurde selbst von höheren Deutschen jeden Sommer immer wieder auf’s Neue entdeckt, insofern sie Meerwasser gegen Nerven- und Verdauungsbeschwerden probiren wollten. Dieses heilige, jetzt sehr weltliche Land für geschmuggelte deutsche Bummler ist ein aus der Nordsee emporgestrecktes Felsenstück von etwa einer halbmeiligen Länge und so breit, daß wenn man rasch von einer Seite auf die andere geht, in’s Meer fällt, weil man seine Fußlokomotive nicht so rasch anhalten kann, als der Boden „alle“ wird. Unten wälzen sich einige traurige Sandbänke um die steilen Ufer der Insel herum, von denen aus die Badegäste zuweilen angeln oder „Wellenschlag abfassen“. Heilig war einst die Insel als Residenz einer alten sächsischen Gottheit, genannt Phoseta, später als Festung der kühnen Häuptlinge seemächtiger Friesen. Damals soll sie auch viel größer gewesen sein. Das Meer hat alles Land weggewaschen und von dem Fleische nicht als die Knochen übrig gelassen. Im Jahre 1714 nahmen sie die Dänen als ihr Eigenthum in Anspruch und behielten sie bis 1807, wo es den Engländern, welche die dänische Flotte zerstört hatten, ein gutes Geschäft erschien, sie als ihr Eigenthum zu nehmen und sie in eine Schmuggelstation für ihre continentalgesperrten Einfuhrartikel zu verwandeln. Jetzt ist sie Schmuggelstation für geschmuggelte continentalgesperrte Ausfuhrartikel geworden. Im Frieden 1814 hielten es die Engländer für praktisch, die Insel sich auf der Waage des europäischen Gleichgewichts und des genau garantirten „ewigen Friedens“ als Knochenbeilage mit in den Kauf geben zu lassen. Sie hat zwei gute Häfen und kann wegen ihrer Höhe und Steilheit im Kriege gut vertheidigt werden, so daß die aus Deutschland geschmuggelten Artikel, wenn sie erst diesen „freien englischen Boden“ erreicht haben, verhältnißmäßiger Sicherheit vor der Republik und Polizei Hamburgs froh werden können. Die Stadt auf Helgoland besteht aus einer untern am Hafen und einer obern. Letztere sieht nur durch das Haus des Gouverneurs und einige andere „Staatsgebäude“ dieser großen Colonialregierung etwas besser, als ein gewöhnliches Dorf aus, unten aber ist’s fürchterlich in den kleinen Fischer- und Seeräuberhütten, am Schrecklichsten aber in den Hotels, in denen in der Regel Niemand logirt, während der Badezeit aber jede Hundehütte mit Gold bezahlt wird. Dies Jahr wird’s vielleicht noch schlimmer, obwohl anzunehmen ist, daß sich nicht Viele der Hoffnung schmeicheln werden, Bäder in Fremdenlegion-Auswurf seien nervenstärkend.
Die etwa 2200 Einwohner der Insel leben von Badegästen, Fischen im Meer und im Trüben und als Lootsen. Die Weiber und Töchter treiben Ackerbau, d. h. sie säen auf Stellen, wo noch etwas Erde ist, Gerste und Hafer und sehen zu, wie ein paar hundert Schafe fortwährend aufpassen, wo ein grünes Hälmchen empor guckt, auf welches sie dann gemeinschaftlich Jagd machen. Bäume und Sträucher giebt es nicht, wohl aber Strauchdiebe. Holz und Torf, Kohl und Kartoffeln holt man sich für Fische und gekaperte „Strandschätze“ von Cuxhaven und Hamburg. Während der Badezeit halten hamburger Kaufleute die nöthigsten Bedürfnisse und Erfrischungen feil, aber für Preise, die das Nervensystem stärker angreifen, als die Nordseewellen wieder gut machen können. Die jetzt von den Enländern vorgenommene Metamorphose ist noch störender. Mit der idyllischen Badesaison, dem Mark und der Seele Helgoland’s, wird’s nun wohl vorbei sein.
Zunächst erschienen englische Ingenieurs und suchten sich eine Stelle aus, um eine starke Batterie zum Schutze der geschmuggelten deutschen Bummler zu errichten. Für diese wurden denn auch eine ziemliche Portion Hütten gebaut, die unter der Aufsicht eines „Hüttenmeisters“ stehen. Jetzt giebt’s noch nicht viel zu hütten und zu hüten, da die englischen Seelenverkäufer und Pulverfutter-Schmuggler im Ganzen mehr Respekt vor der deutschen Polizei haben, als man dieser stolzen, für „westliche Civilisation“ kämpfenden Nation zugetraut hätte, und die Deutschen für ihren Goldklang durchweg schwerhöriger sind, als sie bei der sonst allgemein anerkannten Macht des Goldes (der alleinigen Allmacht Englands) glaubten. Von Hamburg sind sie bald herübergeschmuggelt die gekauften Seelen, aber die dortigen Republikaner wollen es doch als gute Neutralikaner auch nicht mit Rußland verderben und sehen auf die Gefahr hin, die westliche Civilisation zu erzürnen, gar nicht so ruhig zu, wenn deutsche Produkte verdächtig erscheinen, als wollten sie ohne Paß und Concession auf freie englische Schiffe steigen, um „der Königin zu dienen“, wie die eigentliche Phrase heißt, die übrigens ehrlicher ist, als „Kampf für die Civilisation“. Auch ist Palmerston, seitdem er nun wirklich zur Macht gekommen ist, gar kein solcher Eisenfresser mehr, wie früher, als er jedesmal furchtbare Kriegsschiffe schickte, sobald in irgend einem Theile der Welt ein freier Engländer nur schief angesehen worden war. Jetzt läßt er selbst Consul-Secretaire und sonstige englische Unterthanen ruhig arretieren oder auf den Schub bringen, wenn sie sich beim Schmuggeln oder Legioneinkaufen ertappen ließen. Auch ließ er neulich vierzehn Rekruten, die von Hamburg schon abgesegelt waren, ruhig von der Polizei zurückholen, und verlangte nicht einmal das Werbegeld wieder.
Hätten die englischen Staatsmänner den wirklichen Begriff und das ehrliche Ehrgefühl „der westlichen Civilisation“, brauchten sie ihre Agenten nicht wie hausirende Bandjuden ohne Hausirschein umherschleichen zu lassen. Uebrigens meint man in England, man habe nicht Ursache, mit den bisherigen Hausir-Resultaten in Deutschland unzufrieden zu sein. Auf dem kleinen, offenen Plateau der Insel sehen die sich herumtreibenden aufgekauften Artikel wie ein Paar hundert Stück aus. Bis in die Mitte des Juni hatten sie auch nichts weiter zu thun, als Pökelfleisch zu essen und unter englischen wollenen Decken und englischen Hütten zu schlafen. Ohne Waffen und ohne Kleidung von einem Ende der Insel zum andern bummelnd und sich das Meer ansehend, kannten sie bisher keine andere Sorge, als den Durst zu löschen, der durch Pökelfleisch und Müßiggang stets höher stieg, als die dargereichten Flüssigkeiten wieder hinunter bringen konnten.
Am 20. Juni gingen drei englische Schiffe von London mit noch mehr Pökelfleisch, Porter, Uniformen, Waffen, Oefen u. s. w. und einige Tage später noch drei andere Schiffe von Portsmouth nach Helgoland ab, so daß es an Leben, Comfort und Beschäftigung dort nicht fehlen wird. Uebrigens sollen sie in Portionen zu je 500 nach England verschifft und dort zu Futter für Pulver einexercirt werden.[1] Unter dem bisherigen Vorrathe bemerkte man viel ehemalige „schleswig-holstein’sche Offiziere“, die also aus dem einen schleswig-holstein’schen Kriege in den andern übergehen.Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Ist bereits geschehen.