Bertram Morgenweg (Die Gartenlaube 1855)
I.
In alten Urkunden und Pergamenten vergraben findet sich noch manche alte vaterländische Geschichte, die es wohl werth ist, daraus hervorgeholt und den späten Nachkommen erzählt zu werden. Der Deutsche hätte nicht nöthig, in den Archiven und Bibliotheken fremder Länder und Zungen Belehrung und Unterhaltung zu suchen, wenn er nur überall daheim sich umsehen und das dort Gefundene nicht wieder in gelehrten Abhandlungen und Folianten verstecken, sondern in angemessener Form seinem Volke mittheilen wollte. Indem ich hierzu einen Versuch mache, fordre ich die Leser auf, mir durch lange Jahrhunderte zwar zurück zu folgen, aber dabei doch immer auf vaterländischem Boden zu bleiben.
Es ist die alte frei Reichstadt Lübeck, die wir miteinander an der Scheide zweier Jahrhunderte – des zwölften und des dreizehnten – betreten.
Lübecks Gründung fällt bis in das elfte Jahrhundert oder noch früher zurück. Durch die Vernichtung des wendischen Handels an der Nord- und Ostsee, mehr noch durch die Zerstörung von Bardewick 1189 durch Heinrich dem Löwen, Herzog von Sachsen und Braunschweig, ward Lübeck zumeist vergrößert und zu einer mächtigen Handelsstadt erhoben. Denn die Kaufleute von Bardeleben ließen sich mit ihrem Vermögen in Lübeck nieder und ihre Handelsverbindungen mit Skandinavien und Rußland erweiterten so den Handel Lübecks.
Die Lübecker besuchten häufig die liefländische Küste, an welche 1158 Kaufleute aus Bremen auf ihrem Handelsweg nach Wisby verschlagen worden waren und daselbst zuerst die Mündung der Düna entdeckt hatten. Sie gründeten dort Niederlassungen mit Bewilligung der noch heidnischen Bewohner. Sowohl ihre Frömmigkeit als auch der Vortheil, der ihrem Handel daraus erwachsen mußte, bewog die deutschen Kaufleute, die Einführung des Christenthums in Liefland zu betreiben, darum unterstützten sie die Bemühungen des Heidenbekehrers Meinhard auf das Thätigste. Der Papst machte es zu einer Angelegenheit der gesammten Christenheit, das Heidenthum in Liefland auszurotten, zu welchem Zweck ein geistlicher Ritterorden – die Schwertbrüder oder Schwertträger – gestiftet wurde, und Schaaren von Kreuzfahrern dort hinzogen, um die Heiden zu bekehren oder zu bekämpfen. Außer den schon daselbst früher gegründeten Niederlassungen, welche von den Heiden aber oftmals wieder zerstört wurden, entstand auch die Stadt Riga im Jahr 1200, wohin Albrecht, der dritte Bischof des neubekehrten Landes, seinen bischöflichen Sitz verlegte. Der Verkehr der deutschen Seestädte dahin wurde ungemein lebhaft, zumeist aber von Lübeck betrieben.
Zu denen, welche in Liefland große Handelsverbindungen hatten, gehörte auch Herr Meßmann, der zugleich einer der ersten Rathsherren der Stadt Lübeck und somit einer ihrer angesehensten Bürger war. Er hatte durch den Handel nach Rußland bereits unzählige Güter erworben, und dort eigne Niederlassungen gegründet, die von seinen Untergebenen, Dienern und Gesellen wohl verwaltet und hinwieder auch alle diese Leute von ihm selbst wohl gehalten wurden. –
Eines Tages, als Herr Meßmann in seinem mit alterthümlicher Pracht eingerichteten Zimmer auf weichen Polstern saß und sein einziges Kind, ein kleines goldlockiges Mädchen von vier Jahren, auf seinen Füßen schaukelte und mit wehmüthigem Lächeln in ihren noch unausgebildeten Zügen dem holden Ebenbild seiner Gattin nachspürte, welche ihm der Tod vor Kurzem geraubt hatte, ließ sich auf Herrn Meßmann’s „Herein“ und er erkannte in dem Eintretenden einen seiner Handelsdiener, welchen er schon seite einigen Tagen aus Liefland wieder zurück erwartet hatte. Der Diener war der Erste, welcher das rückkehrende Schiff verlassen hatte und an’s Land gestiegen war, um seinem Herrn vorläufigen Bericht über die angekommenen Waaren, den Gang der Geschäfte und der ganzen Reise abzustatten. Alles, was er zu sagen hatte, lautete zu Herrn Meßmann’s Zufriedenheit, und dieser verfehlte auch nicht, sie seinem Geschäftsführer zu erkennen zu geben. Dadurch zum Vertrauen aufgemuntert, fügte dieser hinzu:
„Wir bringen auch noch Etwas mit, wovon wir nicht wissen, ob wir es Eurer Großmuth allein oder einem hochwohlweisen Rath zur Aufnahme übergeben sollen. Wir stießen unterwegs auf die Trümmer eines gestrandeten und von Seeräubern geplünderten Schiffes, auf dem ein Knabe von zehn Jahren das einzige menschliche Wesen war. Sein Wimmern und Hülferufen lockte uns herbei, und wir nahmen den halbtodten Verlassenen mit auf unser Schiff. Ein heftiges Fieber erfaßte ihn nach der ausgestandenen Angst und Noth; wir dachten, er werde sterben, und unsere Rettung sei zu spät gekommen. Aber jetzt ist er auf dem Weg der Genesung, nur ist mit dem Fieber zugleich ihm jede Erinnerung an Früheres verschwunden – nur seinen Vornamen Bertram hat er noch im Gedächtniß behalten, sonst aber weiß er nichts aus seinem früheren Leben zu sagen, weder wem er angehört, noch wo er hergekommen. Nur daß sein Vater mit auf dem Schiffe gewesen und von den Seeräubern getödtet worden, haben wir aus seinen Fieberreden schließen können. Befehlt denn nun, was weiter mit dem Knaben geschehen soll. Die Christenpflicht gebot es uns, ihn mitzubringen, auch wenn dadurch Euch oder der Stadt eine Last erwachsen sollte.“
„Darum seid nur unbekümmert!“ sagte Herr Meßmann freundlich. „Da sei Gott für, daß wir uns nicht freuten, wenn einem armen Knaben das Leben gerettet worden! Bringet ihn nur getrost mit her in unser Haus – er soll hier ein freundliches Unterkommen und vielleicht eine liebe Heimath finden!“
Der Rathsherr sah nun die Briefe und Bücher durch, die sein Geschäftsführer ihm gebracht, indeß dieser wieder auf das Schiff zurückgeht, den Knaben zu holen und mit den Andern dort das Ausladen der Waaren anzuordnen. Kurze Zeit nachher tritt er wieder bei Herrn Meßmann ein, den Knaben an der Hand.
Ein prächtiger Junge von ebenmäßigem kräftigen Körperbau, jetzt nur ein Wenig abgezehrt und bleich von der überstandenen schweren Krankheit. Sein hochblondes, fast goldgelbes Har, das um die weiße Stirn sich ringelte und seine strahlenden, blauen Augen verriethen deutlich die norddeutsche Abkunft. Er stand ein Wenig schüchtern vor seinem neuen Herrn und Beschützer, und auch die liebreichen Worte desselben vermochten nicht, ihn aufzumuntern. Aber da das Töchterchen des Hauses, die kleine Mächthilde, ihre zarten Händchen nach ihm ausstreckte, ihn zutraulich an ihren Spieltisch führte und ihm all die kleinen Herrlichkeiten zeigte, die hier aufgestellt waren – da ward er plötzlich lebendig, beantwortete gesprächig Mächthilden’s kindliche Fragen, bauete ihr Spielzeug auf eine für sie neue Art mit Geschicklichkeit zusammen – und so hatten die beiden Kinder sich schnell mit einander verständigt und wurden nicht müde, zusammen zu spielen. Als am Abend Martha, die Wirthschafterin und Erzieherin, Mächthilde endlich zum Schlafengehen abholen wollte, sträubte sie sich erst lange dagegen und ließ es sich endlich nur gefallen, als ihr Vater zu ihr sagte:
„Bertram geht nicht fort, er kann morgen wieder mit Dir spielen!“
Da ließ sie sich endlich wegführen, nahm aber von Bertram herzlicher gute Nacht, als selbst von ihrem Vater und sagte:
„Aber Du mußt gleich morgen früh wieder mit mir spielen und darfst gar nicht fort!“
So blieb denn auch Bertram in Herrn Meßmann’s Hause und ward fast wie ein Kind desselben gehalten. Er ließ ihn in Allem unterrichten, was ein Knabe damals nur zu lernen hatte, wenn er später auch im Dienst des Handels sein Glück selbst in der Welt versuchen sollte. Bertram lernte fleißig und zeigte in tausend kleinen Zügen einen strebenden Geist, ein tiefes Gemüth, die größte Dankbarkeit gegen seinen Herrn und gegen Jedermann ein liebreiches Betragen. Jedermann glaubte, Herr Meßmann werde, da er selbst keinen Sohn hatte, den Knaben, über dessen Aeltern und Herkommen Nichts zu erfahren war, förmlich adoptiren – allein der Rathsherr hielt das für ein Unrecht an seiner Tochter und es auch sonst nicht gut für den Knaben, wie sehr er ihn auch liebte, [71] er meinte, es sei genug, Bertram die beste Erziehung zu geben, und dann möge er selbst sehen, wie er durch die Welt komme. Er wollte ihn nicht wieder fortschicken – aber als einige Jahre vergangen waren, pflegte er ihn oft zu fragen, wenn er einmal weg wolle, um sein Glück in der Welt zu versuchen, worauf Bertram immer antwortete: „Morgen will ich weg!“ aber sobald Mächthilde das hörte, fiel sie ihm um den Hals, weinte und bat ihn, doch ja nicht von ihr fort zu gehen und da zu bleiben – daß Herr Meßmann lächelnd sagte, er möge nur bleiben, und Bertram selbst gern blieb, da es ihm auch schwer ward, sich von der kleinen Mächthilde und seinem Wohlthäter zu trennen, und er auch nicht wußte, wo er sich eigentlich zunächst hinwenden sollte. Da aber diese Scene sich so oft wiederholte, sagte Herr Meßmann einmal scherzend zu dem Knaben:
„Du magst mir wohl ein rechter Bertram Morgenweg heißen!“ Seitdem hieß er allgemein Bertram Morgenweg. – Oft verdroß ihn dieser Spitzname herzlich und er dachte nun immer darüber nach, wie er einmal seinen Vorsatz ausführen und plötzlich fortgehen wolle, ohne erst lange von seinem Herrn einen peinlichen Abschied zu nehmen und von Mächthilden’s Thränen sich selbst rühren und das Herz brechen zu lassen.
Unter den Handelsherren, welche das Haus des Herrn Meßmann besuchten, war auch ein Kaufmann aus Riga, der dem Knaben schon immer Wohlwollen gezeigt hatte, und da er jetzt zurückkam und dieser sich gegen ihn aussprach, gab er ihm Geld und redete ihm zu, eines Tages mit erster Schiffsgelegenheit zu kommen und Herrn Meßmann nicht länger zur Last zu fallen.
Einige Wochen waren vergangen und es waren wieder Kaufleute aus Riga gekommen, die mit günstigem Winde dahin zurücksegeln wollten. Da stand auch Bertram eines Tages am frühen Morgen auf, wo noch Alles im Hause im tiefen Schlaf lag, ging hinab in die Wohnstube, schlug die sammetne Tischdecke von dem großen Eichentisch ein wenig zurück und schrieb mit Kreide auf die Tischplatte: „Morgenweg ist allweg.“ Das war sein Abschied. Damit ging er hinaus nach dem Schiff und segelte davon. Er wußte, wenn er nicht einmal so schnell schied, käme er nimmer fort.
Bertram war siebzehn Jahr alt gewesen, da er fortgegangen und Mächthilde nahe an zwölf Jahr. Am Morgen seiner Abreise hatte sie seine Abschiedsworte auf dem Tische mit wehvollem Erschrecken gelesen, hatte ihm nacheilen, ihn zurückhalten wollen – ihren Vater, alle Freunde und Diener des Hauses aufgeboten, ihm nachzueilen und ihn wieder zurückzubringen - aber es war vergebens! Morgenweg war und blieb „all’ weg,“ und Alle die nach ihm suchten, konnten nur die Kunde bringen, daß mehrere Handelsschiffe beim ersten Morgengrauen den Hafen von Lübeck verlassen hatten und daß Bertram sich wahrscheinlich auf einem derselben befand.
Mächthilde mußte sich darein ergeben, daß ihr Bertram, der ihr Alles war: Spielkamerad, Bruder und Lehrer, sie verlassen hatte. Nur schwer gab sie den Ermahnungen und vernünftigen Vorstellungen ihres Vaters Gehör, der ihr auseinander zu setzen suchte, daß es für Bertram ganz an der Zeit gewesen, aus dem gewohnten friedlichen Leben hinaus in die weite Welt zu gehen und da auf eigene Hand sein Glück zu versuchen. Sie söhnte sich nicht eher mit diesem Gedanken aus bis endlich - beinahe nach Jahresfrist ein Brief von Bertram aus Liefland kam. Er schrieb Herrn Meßmann, daß er dort bei einem großen Kaufmann Dienste genommen und dankte für alle die Wohlthaten, die ihm Herr Meßmann einst erzeigt, in den rührendsten Worten. Nicht aus Undank sei er fortgegangen, sondern weil er gesehen, daß dies seines Herrn eigner Wille und daß er ihm nicht länger habe zur Last fallen wollen. Mit dem was er gelernt gedenke er sich nun ehrlich durch die Welt zu schlagen - und er werde danach streben, einst wieder nach Lübeck zurückzukehren, und durch das, was er geworden, seinen edlen Wohlthäter selbst ehren zu können. Diesem Brief lagen auch einige Zeilen für Mächthilde bei. Bertram selbst hatte ihr zum Zeitvertreib und weil sie eine so gelehrige Schülerin war, die Kunst des Lesens und Schreibens gelehrt, die damals auch von sogenannten gebildeten Mädchen nur sehr wenig geübt ward. Wie glücklich war sie jetzt, daß er ihr lesen gelehrt, daß sie diese lieben Zeilen selbst entziffern, ja, auch beantworten konnte. Auch sie bat er um Verzeihung für sein schnelles Fortgehen – er habe eine solche Form dafür wählen müssen, weil er zu einem persönlichen Abschied von ihr nicht Kraft genug in sich gefühlt - wenn sie ihn gebeten habe, dazubleiben, würde er wieder geblieben sein, wie schon oft und ihren Thränen nicht widerstanden haben. Es habe sich aber nicht mehr geziemen wollen, die Wohlthaten ihres Vaters anzunehmen wie ein Kind des Hauses, da er nun bald ein Mann werde, der für sich selbst sorgen müsse. Sie solle sein nur nicht vergessen wie ihr Bild ihm immer zur Seite sei. Er strebe danach, einst wiederkommen zu dürfen – nicht als ein hülfloser Knabe, sondern als ein wackerer Mann, der die Welt gesehen und sich allein durch sie schlagen gelernt. - Mächthilde schrieb ihm wieder, erzählte ihm viel von daheim und schloß mit den Worten. „Ich vergebe Dir, daß du fortgegangen, wenn Du einst als ein großer Mann wiederkommen willst. Aber ich weiß es, Du wirst wiederkommen – und dann lasse ich dich niemals wieder fort.“
Damals war der Handel in der That ein gefahrvolles Geschäft, und der Kaufmann konnte kaum ein Handelsunternehmen von einiger Bedeutung wagen ohne dabei sein Leben und sein Vermögen, sein ganzes Hab’ und Gut auf’s Spiel zu setzen. Alle Bequemlichkeiten, deren der Handel sich gegenwärtig erfreut, Briefposten, Wechsel, Spediteure, Assecuranzen u. s. w. entbehrte er in jener Zeit. Der Kaufmann mußte mit seiner Waare selbst zu Markte ziehen oder sie zum Einkauf abholen, oder dies Geschäft doch nur seinen treuesten und erprobtesten Geschäftsführern und Dienern überlassen. Dabei waren auf den Straßen die Raubritter und Wegelagerer aller Art, auf dem Meere die Seeräuber zu fürchten; in fremden Ländern war der Kaufmann schutz- und rechtlos, und litt er Schiffbruch oder zerbrach ihm ein Wagen beim Landtransport, so waren seine Güter dem Strandrecht verfallen. Außerdem hatte er noch von der Willkür der Landesherren zu leiden, die ihn an den Zollstätten oder für ein Geleit, das ihm nur unzureichenden oder wohl gar keinen Schutz gewährte, nach Gutdünken brandschatzten. Wer sich also dem Handel widmete, der wählte darum nicht eben das friedlichste Gewerbe, noch den sichersten Weg Reichthümer zu erwerben und ein ruhiges Leben zu führen. Vielmehr setzte er oft sein Leben und sein ganzes Hab’ und Gut auf das Spiel. Besonders in Liefland gab es für den Kaufmann noch manche Gefahr. Der Handel zur See hatte überall seine gleichen Beschwerden, aber hier kamen noch die Gefahren auf dem Festlande hinzu. Die heidnischen Nachbarn beunruhigten noch oft die christlichen Ansiedler, und wenn auch drüben in Deutschland mancher Waarentransport von hochadelichen christlichen Raubrittern genommen – oder als zum Schutz gegen dieselben von gleich habgierigen Landesherren geplündert – oder die Führer in die Flucht geschlagen und übel zugerichtet wurden: so war dies Pech noch gering gegen das, was die deutschen Handelsleute von den heidnischen Barbaren zu ertragen hatten, wenn sie sich weiter in’s Innere wagten, geschah es auch nur um einen neuen Absatzweg für ihre Waaren zu finden, und waren noch keine „Schwertträger“ in ihrem Gefolge, die auf der Spitze ihrer Schwerter das Christenthum weiter trugen und die alten Heidengötzen stürzten. Als daher ein paar Jahre vergangen waren, in denen Herr Meßmann keine Nachricht mehr von Bertram Morgenweg erhalten hatte, auch seine Fragen nach ihm bei den rigaer Kaufleuten, die nach Lübeck kamen, vergeblich waren, so glaubte er nicht anders, als daß sein Pflegesohn auch wie mancher Andere durch die Hände jener Ungläubigen ein übles Ende genommen, oder daß es ihm sonst vielleicht durch eigene Schuld schlecht ergangen und er sich nun schäme, wieder eine Nachricht von sich zu geben. Herr Meßmann machte sich zuweilen Vorwürfe, daß er Bertram durch seinen Spitznamen und sein Betragen Veranlassung gegeben, so plötzlich von ihm zu scheiden – daß er ohne Mittel, ohne Freunde und Rathgeber aus seinem Hause gegangen sei – er dachte sein Gewissen am Leichtesten dadurch zum Schweigen zu bringen, daß er jede Erinnerung an Bertram mied und darum auch in seinem Hause nicht mehr von ihm die Rede sein durfte. Er dachte auch, daß ihn dann Mächthilde am Ehesten vergäße, die oft in sich gekehrt am Meeresufer spazieren ging, und wenn Schiffe aus Liefland zurückkamen, die ersten Matrosen, die an’s Land stiegen, fragte: ob sie Nichts von Bertram Morgenweg gehört, wo aber keiner ihr genügende Antwort zu [72] geben vermochte. Da sie es mit zartem weiblichen Verständniß bald herausfühlte, daß ihr Vater sich über Bertram Vorwürfe machte, so hörte sie auch auf, seiner vor ihm zu erwähnen, aber es war als habe in diesem Schweigen sich sein Bild nur um so tiefer in ihr Herz gegraben. Sie errichtete ihm da einen stillen heiligen Altar, vor dem sie alle ihre Gebete verrichtete, und den sie nicht müde war, mit duftenden Blüthen und süßem Weihrauch ihrer Gefühle zu schmücken.
So war Mächthilde längst zur sinnigen Jungfrau erblüht. Als das einzige Kind eines der reichsten und angesehensten Rathsherren in Lübeck, würde sie zahlreiche Freier gefunden haben, auch wenn ihre Tugend und Schönheit geringer gewesen wäre als ihr Rang und Reichthum. Denn auch damals schon in der guten alten, fast kindlichen Zeit, fiel das Vermögen eines Mädchens gewichtig in die Waagschale ihrer Bewerber, und indeß oft das sittsamste und liebenswürdigste Mädchen einsam verblühte, weil es arm war, sah sich die reiche Erbin von zahlreichen Freiern umlagert, einerlei, welche Eigenschaften sie sonst besaß. Aber Mächthilde’s Reichthum war nicht größer als ihre Schönheit, nicht größer als ihre Tugend. Ihre blauen Augen strahlten nicht umsonst von lauter Liebe und Güte, sie bewährte diese durch ihr ganzes Wesen, durch alle ihre Handlungen. Um ihren Vater und durch das ganze Haus waltete sie wie ein Engel der Liebe. Kein Bittender ging unerhört von ihrer Thür, kein Unglücklicher nahte ihr, dem sie nicht Trost zu geben, kein Hülfesuchender, dem sie nicht Hülfe oder doch Rath zu schaffen wußte. Im Kreis ihrer Gespielinnen war sie diejenige, die Alle suchten und die gleichwohl Keine beneidete, weil eine jede von ihrem liebreichen, bescheidenen, oft hingebenden und aufopfernden Wesen gefesselt war und ihr willig alle die Vorzüge gönnte, welche sie besaß und doch niemals anders geltend machte als eben nur Anderen wieder dadurch Freude zu machen. Bei so vieler weiblicher Milde, zartem Sinn und Tiefe der Empfindung befremdete nur Eines: daß sie vierundzwanzig Jahr alt geworden und noch immer jeden Bewerber zurückgewiesen hatte. Und es war doch mancher edle Jüngling darunter, der sie wahrhaft liebte, den nicht allein ihre Schätze reizten, mancher, der schon selbst eine große Handlung und einen bekannten Handelsnamen besaß und nicht erst durch den Herrn Meßmann ein gutes Geschäft zu machen brauchte, mancher ehrsame Bürger, der mit zu Rath saß und dem Nichts fehlte zu seinem Glück als eine ehrsame Hausfrau, mancher stolze, stattliche Ritter, der sich weder daran stieß, daß sie kein Edelfräulein war, noch die Güter ihres Vaters verlangte, der allein sie selbst begehrte, um sie heimzuführen auf sein stattlich Schloß, zu seiner hochgeehrten Edelfrau sie zu erheben. Aber sie wieß Einen wie den Andern ab und sagte nie einen andern Grund für ihr Nein, als daß sie in ihrem Herzen nicht die Minne fühle, ohne welche sie die Hand des Bewerbers nicht annehmen könne.
Herr Meßmann ließ seiner Tochter wohl in allen Stücken ihren Willen – und wenn sie so schnell einem Freier mit dem gewohnten „Nein“ antwortete, so dachte er, ihre Stunde ist noch nicht gekommen. Aber wie sie es Jahre lang so forttrieb und Manchen abwieß, den er gern zum Schwiegersohn gehabt hätte, da ward er oft unwillig über die spröde Tochter und fragte sie ernstlich: ob sie denn eine alte Jungfer werden oder gar in ein Kloster gehen wolle? – Da legte sie die kleine freibewahrte Hand auf die hochklopfende Brust und sagte seufzend: „Wie der Himmel will!“ aber weiter sagte sie Nichts. Sie legte weder ein Gelübde ab, unvermählt zu bleiben, noch sprach sie davon, da ihr Herz eine Wahl getroffen – sie sagte nur, daß es noch für keinen dieser Bewerber gesprochen und daß sie so lange Nein sagen werde, bis ein sehnsüchtiges Klopfen ihres Herzens zuvor Ja gesagt. – Und dabei blieb sie, ob auch der Vater sie wohl gar im aufwallenden Zorn deshalb eine Närrin schalt, und die alte Martha, die es schon lange nicht erwarten konnte, ihre schöne Pflegbefohlene unter die Haube gebracht zu sehen, mißbilligend den Kopf schüttelt und meinte: das komme davon, daß Mächthilde Lesen und Schreiben gelernt und solch’ eine gelehrte Erziehung erhalten, da wolle sie nun anders sein als andere Mädchen und warte wohl gar auf irgend einen verzauberten Prinzen, von dem sie durch die Lieder der Minnesänger und Fidelspieler gehört.
Eines Tages, da Herr Meßmann unter seinen Rechnungen und Briefen vergraben saß und eben diejenigen durchsah, welche ihm schon seit ein paar Jahren ein liefländischer Kaufmann, Namens Morgowitsch, über See mit vielen Waaren und großem Gut gesendet hatte, trat ein Fremder bei ihm ein, der eines geringen seefahrenden Mannes Kleidung trug. Er brachte ihm Briefe von Herrn Morgowitsch, zu den Waaren gehörig, welche er von diesem hierher geleitet und die eben im Hafen von Lübeck ausgeladen wurden. Der Ueberbringer meldete, daß sein Herr ihm bald selbst nachfolgen werde, um seinen Geschäftsfreund kennen zu lernen, und daß auch er selbst um Herberge bitte, da er zum ersten Male in Lübeck und daselbst fremd und unbekannt sei.
Herr Meßmann sagte ihm dies gerne zu und war hocherfreut, daß er Herrn Morgowitsch nun auch bald persönlich kennen lernen sollte, da er im Handelsverkehr mit ihm nicht nur durch ihn selbst beträchtlich gewonnen, sondern auch oft Gelegenheit gehabt hatte, von dem Geschick, den achtungswerthen Grundsätzen und der Großmuth dieses liefländischen Handelsherrn sich zu überzeugen, weshalb er sein liebster Geschäftsfreund geworden war.
In Meßmann’s Hause war immer offene Tafel und so waren auch an dem Abende, wo der fremde Bootsmann gekommen, eine Menge Gäste zugegen. Herr Meßmann nahm auch diesen mit an seine Tafel zu seinen andern Gästen, da er aber ärmlich und schlecht gekleidet war, setzte er ihn unten an. Mächthilde war auch zugegen, und es wollte Allen bedünken, sie hätten die herrliche Jungfrau nie schöner gesehen, als an diesem Abend. Sie trug ein schwarzes Sammetkleid mit weißer breiter Krause um Hals und Brust, das am Leibchen und um die Hüften glatt anliegend ihren hohen und vollen Wuchs abzeichnete. Ihr üppiges Haar, das sie im Nacken mit einem Pfeil aus purem Gold aufgesteckt, beschämte fast diesen noch an Glanz und ließ sich auch nicht ganz von ihm halten, sondern wallte widerstrebend auf die weißen Schultern hernieder.
Als der Bootsmann bald nach ihr eintrat, ließ er seine Blicke lange auf der herrlichen Erscheinung ruhen und senkte sie dann wie geblendet davon zu Boden – sie aber fuhr zusammen vor seinem Anblick, daß es alle bemerkten, die ihre Blicke wohlgefällig auf sie gerichtet hatten – und nun war sie noch einmal so schön durch dies Beben ihrer ganzen Gestalt, diesen strahlenderen Glanz ihrer Augen, diesen rosigen Verklärungsschauer, der über ihr liebliches Antlitz sich ergoß. Sie bezwang ihre Verwirrung und setzte sich still auf ihren Platz obenan. Der Bootsmann setzte sich bescheiden an das untere Ende der Tafel. Er war ein schöner, kräftiger Mann, aber das unordentliche Haar und der wirre Bart, obwohl auch von einer wunderbar goldenen Farbe, gaben ihm ein etwas rauhes Ansehen, das seine schlechte Seemannskleidung noch vermehrte. Um seines angesehenen Herrn Willen und da er weit her kam, überhäuften ihn die Gäste aber alle mit Fragen, die er so gut unterrichtet und in so wohlgesetzten Worten beantwortete, dabei noch so vieles Lehrreiche und Wunderbare erzählte, daß Alle meinten, sich lange nicht so gut unterhalten zu haben.
Bei solchen heitern Gastmählern war es Gewohnheit der damaligen Zeit, daß die Gäste den Wein selbst bezahlten. Einer von ihnen sammelte das Geld ein und sandte dann einen Diener damit in das Weinhaus. Da nun der Gewohnheit gemäß die silberne Schaale zum Einsammeln herumgereicht ward und auch an den Bootsmann kam, wollte dieser nicht der Geringste sein und legte so viel auf, als alle Andern zusammen. Darüber verwunderten sich Alle und fragten nach seinem Namen. Er bat aber, sie möchten warten bis morgen Mittag, da wolle er sagen, wer er sei.
Mächthilde, die sich sonst immer zeitig aus dem Kreis der Gäste zu entfernen pflegte, blieb diesmal viel länger als sonst bei der Tafel und hörte den Reden des Bootsmanns mit strahlenden Augen zu, aber selbst sprach sie viel weniger als sonst, und wenn Jemand sie etwas fragte, vermochte sie nur mit gepreßter Stimme zu antworten. Da es endlich spät geworden, ging sie in ihr Kämmerlein, fiel auf ihre Knie und betete:
„Vater im Himmel, o laß es keinen Traum, keine Täuschung sein!“
Dann warf sie ihre Kleider ab, denn es war ihr, als sei Alles zu eng und ihr Herz habe nicht mehr Raum zu seinem [73] Schlagen. Aber es schlug auch dann so heftig fort, wie es noch niemals geschlagen. Sie seufzte und weinte und dann lächelte sie wieder. Sie lehnte sich zum Fenster hinaus, damit die Luft vom Meere ihr Kühlung zuwehe und fand sie doch nicht, und dann wieder warf sie sich in ihr Himmelbett, suchte den Schlaf und scheuchte ihn doch selbst wieder hinweg mit tausend Erinnerungen, Seufzern und Gebeten.
Als sie am Morgen aufstand, rief sie ihre Dienerinnen, um sie anzukleiden, aber während sie sonst die beste und geduldigste Herrin war und zufrieden mit allem Putz, den die Zofen ihr brachten und anlegten, war ihr heute lange Nichts recht, Nichts schön und zierlich genug. Der Kopfputz mußte immer wieder geändert werden und diese und jene Locke einen andern Schwung erhalten, bis Mächthilde endlich damit zufrieden war. Unter der Kleiderpracht wählte sie lange, legte ein Gewand um das andere wieder an und ab, weil ihr keines genug gefiel. Die Mädchen sahen einander sich verwundert an, denn so hatten sie ihre Herrin noch nie gesehen – und es gab doch auch heute kein außerordentliches Fest, sondern nur ein Gastmahl im eigenen Hause, wie es wöchentlich mehrmals vorkam. Endlich war Mächthilde mit einem himmelblauen Kleid von schwerem Seidenstoff zufrieden, von dem die Zofen einstimmig versicherten, daß sie darin reizender aussähe als in jedem andern. So war die Mittagszeit herangekommen, und sie ging in den Speisesaal.
Indessen war der Bootsmann am späten Abend in die Kammer über den Pferdestall gegangen, die man untergeordneten Gästen, wie er, zur Herberge anzuweisen pflegte. Am Morgen bat er den Hausknecht, ihm seinen Tragkasten mit hinaus in seine Kammer zu bringen und ihm ein Wenig beim Ankleiden behülflich zu sein. Der Knecht staunte nicht wenig, wie er die Pracht der Kleider gewahrte, die der Bootsmann da aus dem Kasten hervorholte. Er hatte sich auch schon das Haar gekämmt und rasirt, daß nur das schöne lockige Haupthaar und ein Bart um die purpurnen Lippen und das Kinn stehen geblieben und er viel herrlicher aussah, als am Abend vorher. Vollends dann als er das himmelblaue Wamms mit Silbertressen, Spitzenkrause und Manschetten angelegt! Während dem Ankleiden fragte der Fremde den Knecht, wie es denn komme, daß die schöne Tochter des Hauses alle Bewerber ausgeschlagen?
„Ach!“ antwortete der Knecht mit pfiffigem Verständniß. „Wenn Ihr etwa ihretwegen gekommen, da hättet Ihr sollen daheim bleiben. Die will von dem ganzen Mannsvolk Nichts wissen, und wie bescheiden und freundlich sie auch sonst ist, gegen ihre Freier ist sie hartherzig und ist ihr noch Keiner gut genug gewesen, die Martha sagt, sie warte auf einen verzauberten Prinzen, da mag sie es haben! der Prinz wird weg- und sie wird sitzen bleiben!“
Da hätte dem Fremden freilich der Muth sinken mögen. Er erbleichte auch und seufzte, aber dann lächelte er doch wieder in stolzer Siegesahnung und dachte an den Blick, der gestern aus Mächthilden’s Augen auf ihn gefallen war und an ihr innerstes Erbeben, das ihm nicht entgangen.
Als er nun in den Speisesaal trat, wo Herr Meßmann und die Gäste schon versammelt waren, sahen sie Alle mit Verwunderung die Verwandlung, die mit ihm vorgegangen. Bescheiden wollte er sich wieder wie gestern Abend an das untere Ende der Tafel setzen, aber Herr Meßmann duldete es nicht - er führte ihn obenan und erinnerte ihn an sein gestriges Versprechen: Heute Mittag zu sagen, wer er sei. Da antwortete er:
„Ich bin Euer Geschäftsfreund Morgowitsch selbst, der sich Euch schon angekündigt hat – aber ich bin auch noch ein Anderer: der Bertram Morgenweg, der vor dreizehn Jahren von Euch weggegangen, und der nun wieder gekommen, Euch für alle Wohlthaten zu danken.“
Da erkannte Herr Meßmann auf dem Antlitz des dreißigjährigen Mannes die Züge des siebzehnjahrigen Jünglings wieder, fiel ihm, außer sich vor Freuden, um den Hals, herzte und küßte ihn.
„Aber wo ist denn Mächthilde,“ rief er dann, „damit sie sich auch freue, daß ihr Bruder wieder da ist?“
„Ihr Bruder!“ seufzte Bertram leise.
Aber Mächthilde war noch nicht in den Saal gekommen, weil sie erst im letzten Augenblick, da man zur Tafel läutete, einen Rosenkranz in’s Haar und eine Rose an die Brust befestigt hatte, damit die Blumen frisch blieben – endlich riß sie sich von dem [74] Spiegel los, vor dem sie so lange an sich geordnet hatte, und trat in dem Augenblick in den Saal, wo ihr Vater nach ihr rief.
Kein Erschrecken noch Verwundern, nur der Verklärungsglanz bestätigter Erwartung und eines süßen Entzückens flog über ihr Antlitz als sie diese Gruppe gewahrte, und diese Mittheilung ihres Vaters vernahm – sie reichte Bertram die Hand und sagte mit holdem Lächeln:
„Ich habe Dich gestern Abend gleich erkannt – ich wartete schon lange auf dich – Du hattest es ja versprochen, daß Du einst wiederkommen wolltest – und ich wußte, Du hieltest Wort!“
Bertram küßte ihre Hand und hörte ihre Rede mit dem höchsten Entzücken, aber das schwesterliche Du von Einst vermochte er nicht zu erwiedern, weil der Jungfrau andere Wünsche seines Herzens galten, als die einer brüderlichen Neigung. Freudig rief er:
„So habt Ihr mein Andenken bewahrt und ich bin Euch und diesem Hause kein Fremder geworden?“
„Du siehst es ja,“ antwortete Herr Meßmann, „und nun komm und erzähle bei Tafel uns und unsern Gästen, wie es Dir indessen gegangen.“ Und damit hieß der Hausherr sich Alle zur Tafel zu setzen und Bertram mußte nun den Ehrenplatz haben zwischen ihm und seiner Tochter.
Bertram erzählte erst nur kurz, wie er zu jenem Geschäftsfreund Herrn Meßmann’s nach Riga gegangen und wie er in dessen Dienst immer weiter aufgerückt sei, große Reisen in seinem Auftrag in’s Innere gemacht und manche Gefahr glücklich überstanden habe. Wie er auch auf diesen Reisen den ein Wenig veränderten Namen angenommen, der den Zungen jener Barbaren geläufiger gewesen als der deutsche, den ihm Herr Meßmann gegeben. Sein Herr sei sehr mit ihm zufrieden gewesen, habe ihn ganz mit in das Geschäft genommen und vor einigen Jahren bei seinem Tode ihn zu seinem Erben eingesetzt. Seitdem habe er unter dem neuen Namen die Verbindung mit Herrn Meßmann angeknüpft, und nie etwas Anderes im Sinne gehabt, als einst zu ihm und in sein liebes Lübeck zurückzukehren. Nun habe er all’ sein Gut in Liefland verkauft und wolle hier sich niederlassen. – Aber dies Alles bereitete Herrn Meßmann große Freude, Mächthilde hörte in seligem Verstummen zu und die Gäste konnten nicht müde werden, Bertram zu immer neuen Erzählungen seiner Abenteuer aufzufordern.
Endlich, da man die Tafel aufgehoben, eilte Mächthilde in den Garten, wo unter einer Eiche, die Bertram einst gepflanzt hatte, ihr Lieblingsplätzchen war. Hier saß sie lächelnd und mit gefalteten Händen – als Bertram plötzlich neben ihr stand.
Sie erschrak und erröthete bei seinem Anblick.
„Kennt Ihr die Eiche?“ sagte sie, um hinter ein paar Worten ihre Verwirrung zu verbergen – aber sie wagte jetzt auch nicht im Alleinsein mit ihm das vorige schwesterliche Du zu gebrauchen.
„Da ich sie pflanzte,“ antwortete Bertram, „waret Ihr noch so klein, daß ich Euch auf meinen Armen tragen konnte. – Mächthilde, habt Ihr auch so oft wie ich an diese Zeit gedacht?“
„Bertram – ich war recht böse, daß Ihr gegangen,“ sagte sie und schlug die Augen nieder, „obwohl ich später einsah, daß es so sein mußte – aber daß Ihr auch nicht mehr geschrieben, konnt’ ich Euch nicht vergeben!“
„Das mußte auch sein,“ sagte er, „aber vergebt Ihr’s denn nicht jetzt? Ich muß Euch an Euere Wort mahnen – seht diesen Talisman trag’ ich immer bei mir!“ und er zog aus seiner Brieftasche ein vergilbtes Pergamenttäfelchen hervor – es war der Brief, den sie ihm nach seinem Weggange geschrieben und deutete auf die Worte: „Ich vergebe Dir, daß Du fortgegangen, wenn Du einst als ein großer Mann wiederkommen willst. Aber ich weiß es, Du wirst wiederkommen – und dann lasse ich Dich niemals wieder fort!“
„Wirst Du Wort halten!“ fragte er leise.
Aber statt der Antwort nahm sie eine große goldene Kapsel von ihrem Busen, in der ein ähnliches Blättchen verwahrt ruhte – es war Bertram’s Brief an sie. „Das ist nie von meinem Herzen gekommen!“ sagte sie.
Da war Bertram seiner nicht mehr mächtig – in seliger Wonne schloß er die erglühende Jungfrau an seine Brust – sie wußte nicht, wie ihr geschah, und tauschte willig mit ihm den Verlobungskuß.
„Sag’ es meinem Vater,“ bat sie dann.
Und Bertram ging zu Herrn Meßmann, um bei ihm in aller Form um die Hand der Tochter zu werben, der erschrak, machte ein betrübtes Gesicht und antwortete: „Wie gern legt’ ich ihre Hand in Deine – aber sie schlägt alle Bewerber aus – willst Du Dein Heil bei ihr versuchen, so thu’ es – aber ich kann Dir keine Hoffnung geben –“
Bertram lächelte und holt Mächthilde herbei, die im Nebenzimmer wartete – „Vater,“ sagte sie schmeichelnd: „Hast Du es denn nie gemerkt, daß ich nur deshalb zu allen Freiern „nein“ sagte, weil ich keinen so lieb haben konnte wie Bertram, den ich niemals vergaß!“
Herr Meßmann staunte nicht wenig – aber weil er jahrelang nichts gemerkt, wollte er jetzt zeigen, daß er auch schlau sein könne und sagte: „Und so hast Du wohl gestern den Bootsmann erkannt und Dich für ihn heute so geputzt, daß ich gar nicht wußte, was mit Dir vorgegangen und Du alle Gäste bei Tafel warten ließest wie sonst niemalen!“ Aber wie er nun auch neckisch schalt, so war doch heute sein glücklichster Tag, er segnete das Brautpaar mit fröhlichem Herzen und gab zum Abend wieder ein großes Gastmahl, bei dem er den Gästen die Verlobung verkündete.
In Lübeck aber hat es lange kein schöneres, edleres und glücklicheres Paar gegeben als dieses.
Im Jahr 1222 ist Herr Bertram Morgenweg auch in den Rath zu Lübeck erkoren worden und hat daselbst das große Haus zum heiligen Geist gestiftet, welches noch steht. Darin wurden an die hundert armen Leute gespeist, außer dem Koch, Küchenjungen, Bäckern, Bräuern und Mägden, welche zur Pflege der Armen dienen. Auch hat er stattliche Dörfer und Güter und Aecker für die Stadt gekauft, damit von dem jährlichen Einkommen die Armen verpflegt würden, die Kranken aber täglich ein Plank Wein und je zwei ein gebacknes Huhn bekämen. Endlich hat er der Sicherheit wegen 14,000 Stück Geldes in allerlei alten Münzen den beiden ältesten Bürgermeistern als Vorstehern übergeben, damit unvorhergesehener Schade und Unheil davon und nicht von den andern Zinsen gebessert werden möchte.
Das Geld freilich ist längst verbauet.