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Berliner Bilder/Der Mann mit der schwarzen Mappe

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Textdaten
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Autor: Ernst Kossak
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Titel: Der Mann mit der schwarzen Mappe
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 16, S. 232-234
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Berliner Bilder.

Von E. Kossak.
3. Der Mann mit der schwarzen Mappe.

Wer aus dieser allerdings sehr unheimlichen Überschrift auf eine bösartige Geschichte von räthselhaften und geheimnißvollen Menschen, etwa im Style der Novelle vom Manne mit der eisernen Maske, schließt und sich vorsorglich in seinem Lehnstuhle zurechtsetzt, bereit, die nach und nach auftauchenden Schaudergefühle zu genießen, dem rathen wir, das Blatt aus der Hand zu legen, da wir weit davon entfernt sind, thörichte Hoffnungen täuschen zu wollen. Die Geschichte vom Manne mit der schwarzen Mappe streift nicht im mindesten an geschichtliche Probleme und Criminalgeschichten, sie paßt nicht in das berühmte Buch von den zweifelhaften Menschen, nicht in den neuen Pitaval; sie ist eine einfache, etwas constitutionelle Skizze. Aber wenn sie nicht den Vorzug besitzt, haarsträubend und schauderhaft zu sein, so erwirbt sie sich vielleicht einen kleineren Kreis von Freunden durch die harmlose Eigenschaft, einige Komik zu entwickeln und in der Gegenwart zu spielen.

Es ist noch nicht allzulange her, daß in dem Königreiche Preußen ein sehr hartes Regiment herrschte. Namentlich waren über die Spree-Athener so strenge Vögte gesetzt, wie sie nur das erste Capitel des zweiten Buches Mose in der Charakteristik der egyptischen Zustände und der Epigonen Joseph’s schildert. In dieser Zeit lebte in Berlin ein Mann, der nichts war, aber Geld und mithin die nöthige Muße besaß, sich vom Morgen bis in die sinkende Nacht mit Murren zu beschäftigen und über die mögliche Verbesserung der staatlichen Sachlage nachzudenken. Als Rentier und Hausbesitzer war er nicht unbekannt mit den schweren Pflichten der Herrschaft, und allmählich reifte in ihm die Ueberzeugung, daß am Ende auch der Staat nur ein höher organisirtes Hauswesen sei, und ein begabter Mann, der mit Berliner Miethern fertig werde, durch Uebung wohl dahin kommen könne, auch die Insassen der verschiedenen Stockwerke einer Monarchie in Ordnung zu halten, sie zur pünktlichen Zahlung der vierteljährigen Steuern zu veranlassen und an die Hausordnung zu gewöhnen.

So trug es sich zu, daß in ihm jene schreckliche Krankheit entstand, welche nur von den kräftigsten Naturen ohne den Ruin der gesammten Persönlichkeit überstanden wird; er verfiel in einen schweren chronischen politischen Ehrgeiz. Allerdings war es leichter, auf dem Exercirplatze vor dem Halleschen Thore zu ertrinken, als unter dem Ministero Manteuffel diese wilde Leidenschaft zu befriedigen, allein der politische Ehrgeiz wuchert, wie die Liebe, um so höher empor, je weniger zärtliche Pflege Beide empfangen und je ärger sie von den Gegenständen ihres Verlangens mißhandelt werden.

Herr Müller, diesen etwas ungewöhnlichen Namen trägt der merkwürdige Mann, von dem wir reden, überlegte lange, welche Wege er einschlagen solle, um sich den zeitigen Machthabern angenehm zu machen, und durch dieses nicht seltene Verfahren vielleicht ein General-Consulat oder eine bequeme Stelle in dem Ministerium zu erlangen, im glücklichen Falle auch wohl zu einem Ordensbande zu kommen. Etwas Ungewöhnliches mußte es sein, was aus dem Gehirn dieses seltenen Mannes hervorging, und er verbrauchte eine beträchtliche Anzahl seiner Lebenstage, um die Menge seiner Ideen zu ordnen und zu Papier zu bringen. Lange schwankte er zwischen zwei Projecten, welche er für besonders annehmbar in den Augen einer starken Regierung hielt. Das eine bestand in einem Auswanderungsentwurf gewaltsamer Art für alle der Demokratie verdächtigen Personen, nach gewissen, von allen Bequemlichkeiten und verdaulichen Nahrungsmitteln entblößten Ostseebädern, das andere in einem kühnen Plane zur Anwerbung einer geheimen Schutzmannschaft behufs Beobachtung des Privatlebens, mit der Tendenz, allmählich alle Staatsbürger in Schutzmänner zu verwandeln, und so ein neueres goldenes Zeitalter und eine holde Uebereinstimmung der Meinungen herbeizuführen.

Leider dachte Herr Müller zu lange nach. An einem Morgen ersah er aus der Zeitung, daß sein politischer Abgott das Staatsruder aus den Händen verloren habe und mit dem Packen der Koffer und Deponiren seiner Werthpapiere beschäftigt sei. Sein erstes Gefühl war eine gänzliche gedankliche und seelische Zerschmetterung. Ihm war zu Muthe, wie dem ersten Napoleon, als er die Uebergabe von Paris und den Kriegsüberdruß seiner Generäle erfuhr, denn Herr Müller war bereits so weit vorgeschritten, die genannten beiden genialen Pläne zu vereinigen. Langsam faßte sich endlich der große Mann und überlegte, welche Wendung die innere Politik seines Vaterlandes nehmen könne. Schon daß der Tourist von Olmütz einfach vom Schauplatz abtrat, sagte ihm, daß eine freisinnigere Richtung zu erwarten stehe, da ein reactionairerer Minister-Präsident so wenig gefunden werden könne, wie unter den vorhandenen dunklen Erdgeborenen ein schwärzeres Geschöpf, als ein Mohr oder ein Schornsteinfeger. Herr Müller sagte zu sich selbst mit dem unnachahmlichen Freimuth, von dem alle in das Rad der Geschichte greifenden Männer einen Antheil besitzen, daß jetzt die Zeit gekommen sei, nicht mehr in Reaction, sondern in Reform Geschäfte zu machen. Die Ereignisse gaben dieser speculativen Ansicht Recht, denn in Berlin trat jener großartige Umschwung der Meinungen ein, von welchem die sich sonst um Alles bekümmernde Presse so auffallend wenig Notiz genommen hat. Männer, die bis dahin nie [233] über den Ideenkreis des Treubundes hinausgedacht und alle Festtage der Novembermänner mit dem Pocal in der Hand begangen, die sich nur in Gesellschaft graubärtiger pensionirter Officiere glücklich gefühlt, und einen Vorrath gefüllter Oellampen nebst einem patriotisch anzüglichen Transparent zu einer unerwarteten Illumination stets im Hause hatten, stiegen aus ihrer vornehmen Höhe plötzlich herab in die gemeinen Hallen des bayrischen Bieres und der frischen Würste mit Sauerkraut, sprachen begeistert für die Heilighaltung der Verfassungsparagraphen, lauschten auf die Bedürfnisse des Volkes, redeten geringschätzig von der Polizei und dem Preßbureau am Molkenmarkt, abonnirten auf bissige liberale Zeitungen und schnauzten die armen Botenweiber, welche am Anfange des neuen Vierteljahres die bisherigen Blätter in’s Haus brachten, so wüthend an, als wären sie die Verfasserinnen der Leitartikel und die vertheidigenden Amazonen des Herrenhauses. Nur mit Erröthen gestehen wir, daß auch Herr Müller sich dieses Leichtsinnes im Wechsel der politischen Ueberzeugung schuldig machte.

„Liebes Kind,“ rief der große Mann an einem Tage aus, als er gelesen, daß für die Kammern neu gewählt werden solle, und seine besorgte Gemahlin ihn gefragt hatte, ob es nicht des zu erwartenden Aufstandes wegen räthlich sei, alle Gelder und Pretiosen einzupacken, die Vorhänge herunterzulassen, die Thüren zu verschließen und nach Dessau in Sicherheit zu fahren, „liebes Kind, Du hast eine ganz falsche Vorstellung von der Situation – hoffentlich weißt Du, was eine Situation ist? – unter den Wölfen mußte man mit heulen, unter den Schafen muß man mit blöken. Es kommt wieder eine andere Schattirung von Constitutionalismus in die Mode. Sagte ich Schattirung? nein, nicht Schattirung! eine andere Phase! Bisher genossen wir einen Pseudoconstitutionalismus, der sich zu dem echten etwa wie der Cichorienkaffee der Köchin zu Deinem starken Morgenkaffee verhielt. Ich wage nicht zu sagen, ob wir schon den echten Constitutionalismus bekommen werden, allein so viel steht fest: aus dem Ministerium ist viel Cichorie ausgeschieden!“

Da dieses Gleichniß für die Gemahlin etwas ungemein Ansprechendes besaß, schenkte Madame Müller ihrem Gemahl geneigtes Gehör und derselbe fuhr fort, ihr sein Absichten für die Zukunft auseinanderzusetzen.

„Ich beabsichtige,“ sagte der ausgezeichnete Politiker, „zunächst Wahlmann zu werden und dann, wenn mir das Glück hold ist, als Abgeordneter in die Kammer zu treten und das gegenwärtige Ministerium zu stützen. In mir liegt etwas, das mich für jedes bestehende Ministerium zu stimmen zwingt. Hast Du von der Wünschelruthe gehört? Sie verbeugt sich tief, wo Wasser oder Metall in der Erde verborgen ist. Gerade so ergeht es meinem Rücken mit den Ministerien. Das liegt in der menschlichen Natur, das kann man sich nicht geben, nicht in sich unterdrücken; das ist jene Magie, von der die neuesten Naturphilosophen reden. Wer wagte wohl diese wunderbare Erscheinung zu erklären!“

„Wirst Du aber auch gewählt werden, lieber Anton?“ fragt das bedächtige Weib seiner jugendlichen Wahl.

„Warum sollte ich nicht gewählt werden? War ich nicht schon oft genug Wahlmann und braucht man gegenwärtig nicht Männer, diese seltene Waare in einem Zeitalter der Verworfenheit? Sei so gut, liebes Kind, und kaufe mir morgen eine schwarze Mappe bei Treu in der Leipziger Straße oder bei Moßner in der Burgstraße, wenn Letzterer nicht allzu theuer sein sollte.“

„Aber wozu denn eine schwarze Mappe, Anton?“

„Weil alle Deputirten schwarze Mappen tragen,“ antwortet Herr Müller mit wichtiger Miene; „was für den Minister das Portefeuille mit den Gesetzen, ist für den Abgeordneten die biegsame schwarze Mappe mit den Gesetzesvorlagen. In der Kammer legt er sie vor sich auf das kleine Pult; auf der Straße trägt er sie unter dem Arme. Sie gibt ihm erst das gehörige Ansehen vor den Leuten. Ich habe nie begreifen können, wie die Blätter immer von den Portefeuilles der Minister und niemals von den schwarzen Mappen der Abgeordneten reden; Beide sind nichts ohne dergleichen bedeutsame Fabrikate aus Buchbinderhänden!“

Diese treffliche Auseinandersetzung überzeugt vollständig die folgsame Gattin, und sie beeilt sich, bei Gelegenheit ihres nächsten Ausganges, die sehnsüchtigen Wünsche ihres Gatten zu befriedigen. Die schwarze Mappe, ein Muster von Biegsamkeit und Korduan, wird angeschafft und auf dem Schreibtische des zukünftigen Staatsmannes niedergelegt, eine Augenweide für alle Hausbewohner, wenn sie kommen, die Quittung über die gezahlte Miethe in Empfang zu nehmen.

Inzwischen haben die Wahlbewegungen begonnen und werden mit Heftigkeit fortgesetzt. Wir wollen nicht die Einrichtungen des Staates verkleinern oder gar die Vertreter des Volkes verdächtigen, allein die Wahlmänner scheinen uns niemals aus einer scharfsinnigen Erwägung aller persönlichen und politischen Umstände, sondern aus puren Gemüthsbewegungen hervorzugehen. Sie sind nur die „Söhne einer naiven Gefühlspolitik“. Diese Helden müssen in den meisten Fällen bestimmte gemüthliche Eigenschaften besitzen, wenn sie den Urwählern wohlgefallen sollen. Man liebt sie mit tiefen bebenden und rührenden Stimmen, wie sie aus einem fleißigen Biergenusse hervorzugehen pflegen; man schätzt an ihnen ein biederes Pathos, vorgeschuht mit freimüthigen, aber nicht allzu scharfen Phrasen; besonders gesucht sind Märtyrer, denen einmal die Paßkarte oder die Gewährung irgend eines unnützen Gesuches verweigert worden. Besitzen sie eine stets gefüllte Cigarrentasche, mit deren Inhalt sie in den Vorversammlungen nicht sparsam sein dürfen, so wird dieser Umstand ihren Wahlaussichten nicht schädlich sein. Lassen sie sich die Mühe nicht verdrießen, bei den Urwählern die Runde zu machen und ihnen in der Mitte ihrer Familien und Werkstätten Besuche abzustatten oder ihnen bei künftig vorkommenden Bauten Arbeit zu versprechen, so ist Alles geschehen, was in der Macht eines weisen Mannes steht. Es handelt sich hier wirklich nur um Gefühlspolitik.

So wurde denn der ausgezeichnete Mann, mit dessen politischer Laufbahn wir uns beschäftigen, in der That mit einer starken Majorität zum ersten Wahlmanne seines Bezirkes erwählt.

„Meine politische Berechnung ist richtig gewesen,“ sagte Herr Müller, als er nach der Wahl etwas schwerfällig in das Zimmer der Gattin trat, denn er hatte mit einigen einflußreichen Urwählern auf das Wohl des liberalen Ministeriums seinen brennenden Durst gestillt, „der erste Schritt ist geschehen; ich bin Wahlmann!

Nach diesen Worten, die mit einem unbeschreiblichen Anstande gesprochen wurden, ergriff er sinnend die schwarze Mappe, öffnete sie, fuhr auf Probe tief mit der Rechten hinein, als wollte er das Manuscript einer fulminanten Rede gegen das Jagdrecht oder die Zeitungssteuer herausziehen, und flüsterte halblaut: „Ich will Abgeordneter werden.“

Die Wahl der Abgeordneten beruht leider nicht auf Gefühlspolitik. Die Herren Wahlmänner, ihres bedenklichen Ursprunges eingedenk, haben vielmehr einen wahren Abscheu gegen Gefühlspolilik und gehen mit den auftretenden Candidaten um, wie die Examinatoren mit jenen unglücklichen Referendarien, welche sich zum dritten Examen, dem des Assessors, gemeldet haben, ohne die nöthigen glänzenden Geistesgaben zu besitzen, welche zu diesem im glücklichsten Falle von Diäten lebenden Amte gehören. Die auftretenden Candidaten zur Volksvertretung oder „Landbotschaft“ werden moralisch geprüft und gesichtet, wie die berüchtigten Verdünnungen in der homöopathischen Apotheke. Die Wahlmänner mustern ihre Vergangenheit und Gegenwart; sie müßten sogar über ihre Zukunft Rechenschaft ablegen, wenn die Vorsehung in diesem Punkte nicht den Menschen und Wahlmännern einen Riegel vorgeschoben hätte. Man fragt nicht allein nach ihren Thaten, Schriften und Reden; man zwingt sie, alle ihre Gedanken im Laufe des letzten Jahrzehends auszuplaudern. Das Geringste ist noch, wenn man förmliche Examina in verschiedenen speciellen Fächern mit ihnen anstellt. Glänzende äußere Eigenschaften pflegen nicht zu entscheiden. Der sogenannte „gesinnungstüchtige Mann der Wahlmannschaft“ genügt hier nicht, höchstens in einem weit von der Hauptstadt entfernten Wahlkreise; man fordert gelehrte, consequente, liberale und charakterfeste Männer, insofern sie überhaupt zu haben sind.

Wir würden die schrecklichen Scenen beschreiben, welche der unglückliche Candidat Müller durchmachen mußte, fürchteten wir nicht, die Nerven unserer Leser zu tief zu erschüttern. Man erinnerte ihn an eine gewisse Adresse, an einen Huldigungsbesuch bei dem Novembermanne, an das Arrangement eines Bezirksballes mit Treubundsgesängen bei Tafel, man vernichtete ihn vollständig als politischen Charakter, und nur eine unbekannte Stimme ließ sich schließlich hören und nannte ihn noch „eine alte Wetterfahne“.

Der Verlorene schwankte nach Hause und wurde um zehn Uhr Abends von dem das Haus zuschließenden Nachtwächter auf dem Flur gefunden. Der rasch herbeigerufene Arzt ließ ihm aus Furcht [234] vor einem Schlaganfall zur Ader, verbot alle aufregenden politischen Gespräche und jede Zeitungslecture, verordnete kühlende Getränke nebst einer Abkochung von Pflaumen und Sennesblättern, einem drastischen Mittel gegen heftige Anfälle von Ehrgeiz oder Volksvertretungssucht, und rieth, Stroh auf der Straße vor der Thür zu streuen, wenn das angestammte Stroh im Kopfe des Patienten Müller nicht sein Recht behaupten und die närrischen Phantasieen ersticken sollte.

Das gefürchtete Unheil stellte sich nicht ein, die politische Schwärmerei endete nicht mit einem apoplektischen Streiche; der Patient stand vielmehr nach einigen Tagen stillschweigend auf, verzehrte dreiviertel Pfund russischen Caviar, trank dazu einen Schoppen Ungarwein und kleidete sich an. Seine Gemahlin ließ ihn gewähren; sie wußte, daß ihr Müller kein schnöder Gewaltmensch, sondern nur eine sanfte lyrische Natur war.

Der gedemüthigte Politiker begab sich in sein Gemach, zog die bewußte schwarze Mappe hervor und betrachtete sie mit schwermüthigen Blicken. Hierauf füllte er sie mit allerlei auf die Wahl bezüglichen Papieren und Broschüren und verschloß sie sorgfältig. Dann betrug er sich ruhiger, denn sonst, sprach niemals über Politik und rauchte seine Cigarre mit der stillen Würde eines in die Genüsse seines Tschibuks versunkenen Orientalen.

So kam allmählich der Eröffnungstag der Kammern und die Vorlesung der Thronrede heran. An diesem hochpolitischen Tage entwickelte der verunglückte Deputirte schon am frühen Morgen eine schauerliche Thätigkeit. Er forderte seinen besten schwarzen Anzug, einen französischen Hut à ressort, weiße Handschuhe und eine Gallacravatte. Dann schmückte er sich, nahm die schwarze Mappe unter den Arm und begab sich nach dem Schlosse. Viele der stets auf den Straßen umherbummelnden Berliner wichen ihm ehrerbietig aus, und so gelangte er, unter großer innerer Genugthuung, bis in die Nähe des Einganges, wo er in Ermangelung einer Einlaßkarte sich begnügen mußte, unter dem umherstehenden Volke einen Platz einzunehmen.

Am nächsten Tage war er aber schon glücklicher. Gemeinhin ist es leichter, ein Billet zur Kammer, als zur Oper zu erhalten, und es gelang dem falschen Deputirten sehr bald, sich einen Platz auf einer guten Tribüne zu allen Sitzungen zu sichern. Hier erblickt man ihn seitdem mit seiner schwarzen Mappe, wie er höchst aufmerksam auf die glänzenden Reden lauscht, die in der laufenden Saison in so ungewöhnlicher Menge gehalten werden, wie er die pikanten Witze des constitutionellen Grazioso genießt und selbst bei den schwächendsten Debatten der sterblichen Natur nicht nachgibt und einschläft. Gleichzeitig mit den Abgeordneten verläßt er das Haus und schließt sich dem Hauptzuge dieser Herren durch die Leipziger Straße nach den besuchtesten Gasthäusern an. Er läßt sich nie ohne seine schwarze Mappe blicken und es verursacht ihm eine ganz unglaubliche Befriedigung, wenn die kleinen Schulbuben ihn für einen Landboten halten und als Beweis ihrer Anerkennung dieser hohen Würde gewaltsam gegen ihn rennen und nachträglich die Zunge hinter ihm ausstrecken. Natürlich speist er nur mit Deputirten, die ihn für einen Berichterstatter auswärtiger Zeitungen halten und den Mitgenuß des Sectes, den Herr Müller auftischen läßt, nicht verschmähen. Auch mit wirklichen Reporters hat er, gleich manchen wirklichen Landboten, Bekanntschaften angeknüpft und gefällt sich darin, mit ihnen auf dem Trottoir stehen zu bleiben und sehr laut über die letzte Sitzung zu sprechen. Am rührendsten ist aber seine Zärtlichkeit gegen die schwarze Mappe. Er trennt sich so wenig von ihr, wie ein echter Abgeordneter, der endlich nach zehnjährigen fruchtlosen Anstrengungen diese Würde in Berlin errungen hat und nun mit jenem Symbol Wochen lang durch alle Straßen der Stadt, wenn der Verkehr am lebhaftesten ist, patrouillirt.

Nur in der deutschen Ballade gibt es ähnliche Beispiele von Beharrlichkeit, stillem Wahnsinn und Komik, wie in der wahren Geschichte des constitutionellen Schwärmers Müller.