Beim kleinen Thiers
Die Rheingrenze! Das war vor Kurzem das Feldgeschrei der meisten französischen Blätter und ist es mehr oder weniger noch.
Im Jahre 1821 kam ein junger Franzose aus dem Mittag des Landes nach Paris, wie alle Provincialen mit der ausgesprochenen Absicht, in der alle Kräfte und Talente anziehenden und absorbirenden Hauptstadt sein Glück zu machen. Er hatte sich auf der Universität von Aix in der Provence eben sein Advocatendiplom geholt und dachte in Paris eher zu Praxis und Clienten und damit zu Geld und Einfluß zu gelangen als in seiner Heimath. Der junge Jurist, der im Passage Montesquieu ein auf das Einfachste möblirtes Stübchen bezog, war Niemand anders als der nachmalige allmächtige Minister, der Geschichtschreiber und Akademiker Adolph Thiers, derselbe, welcher, wie er als der eigentliche Urheber jenes von Zeit zu Zeit immer von Neuem auftauchenden französischen Feldgeschreis anzusehen ist, auch neuerdings wieder in seiner vielbesprochenen Kammerrede diese alte Losung der französischen Eitelkeit und Ueberhebung auf’s Tapet brachte und so als der Hauptanstifter der sich in Frankreich gegenwärtig so laut und [298] ungestüm äußernden lächerlichen Deutschenfresserei, betrachtet werden muß. Es wird daher unsern Lesern sicher willkommen sein, sich mit uns den berühmten „kleinen Mann“ etwas näher anzusehen und uns auf einem Besuche zu ihm zu begleiten.
Kaum der Schulbank in Marseille entronnen, weiß Thiers schon, daß er Minister sein wird. In Aix sieht er die arme, alte Frau, die vor dem Facultätsgebäude Früchte feil hielt, sich eines Tages mühsamer als sonst, hinschleppen und tröstet sie mit den Worten: „Geduldet Euch, Mütterchen, wenn ich Minister sein werde, sollt Ihr in meinem Wagen fahren.“ In Paris wird er bald inne, daß der Journalismus rascher zu Namen und Ansehen führt, als die Advocatur. Durch Vermittelung eines Deputirten gelangt er zur Mitwirkung an dem, damals freisinnigen kirchenfeindlichen „Constitutionnel“. Ausgestattet mit allen Eigenschaften, die den vollkommenen Journalisten ausmachen: mit wunderbarer Leichtigkeit des Stils, blitzschnellem Verständniß, gedrängter Beweisführung, nimmt er rasch eine der ersten Stellen an dem Blatte ein, und durch Lafitte öffnen sich ihm bald sämmtliche Salons der Opposition. Kurz darauf erscheinen die ersten Bände seiner Geschichte der französischen Revolution; schon liegt das Mansardenstübchen auf dem Passage Montesquieu weit hinter ihm, er hat eine elegante Wohnung in einem fashionablen Viertel, hält sich sein Reitpferd und speist bei Tortoni.
Infolge der Julirevolution zuerst Unterstaatssecretär im Finanzministerium geworden, ist er, nach geschickter Schwenkung zur Rechten, binnen Kurzem im Besitz des langerstrebten Ministerportefeuilles. Neun Jahr hindurch, von 1832 bis 1841, ist er, von einem Ministerium zum andern übergehend, fast unausgesetzt am Ruder der Geschäfte, „der Goethe der Politik“, wie ihn Heine in einem seiner Briefe an die Allgemeine Zeitung nannte, „der König von Frankreich“, wie ihn der geistvolle Karr in seinen „Wespen“ bezeichnete, als Thiers, zum zweiten Male Ministerpräsident, 1840 im Zenithe seines Ruhmes stand. Damals war es, als er zuerst in die Kriegstrompete stieß und von der Eroberung des Rheines sprach. Vielleicht besser als sonstwer wußte er, daß eine solche Eroberung ein Ding der Unmöglichkeit sei, aber er schmeichelte damit einem Schooßkinde der französischen Eitelkeit und Ruhmsucht, und die Deutschen haben vielleicht ebenso Unrecht, Thiers darüber zu grollen, als die Franzosen im Unrecht sind, sich über die Hinweise in patriotische Aufregung zu setzen, die hie und da wegen des Elsasses und Lothringens von deutscher Seite laut geworden sein mögen.
Wie Thiers bei Gelegenheit des Staatsstreiches, am 2. December 1851, mitten in der Nacht gefangen genommen und nach Mazas abgeführt wurde; wie er darauf ein Jahr in der Verbannung und dann, nach Frankreich heimgekehrt, eilf Jahre in stiller Zurückgezogenheit lebte, ausschließlich mit der Vollendung seiner Geschichte des Consulats und des Kaiserreichs beschäftigt; wie er endlich 1863 von den Parisern zu ihrem Vertreter in den gesetzgebenden Körper gewählt wurde, – das Alles ist bekannt.
Trotz eines Alters von siebenzig Jahren immer thätig, hat Thiers sich die Frische, man möchte sagen, den Uebermuth der Jugend bewahrt und ist noch heute ein unermüdlicher Arbeiter. Als solcher wird er in’s Grab sinken, jenen dauerhaften Bauten vergleichbar, die von Wind und Wetter unberührt, wenn endlich die Zeit sie umwirft, ein ganzes Stück bleiben. Uebrigens denkt Thiers kaum an diese verhängnisvolle Stunde, und wenn er ja auf sein nahes Ende anspielt, wie neulich in der Kammer, so geschieht es in einer wohl sehr natürlichen und gerechtfertigten Anwandlung von Stolz; es klingt etwas heraus, das an die Gefallsucht einer Frau erinnert, die, über die Jahre schön geblieben, hin und wieder mit ihrem hohen Alter zu prahlen beliebt. Wie zur Zeit seiner kräftigsten Jugend steht Thiers tagtäglich früh um fünf Uhr auf und geht sofort in sein Arbeitszimmer, das, von sehr bedeutender Größe, eine Art Galerie bildet und von fünf Fenstern erleuchtet wird, deren vier auf die Place St. Georges hinaussehen, das fünfte nach dem Garten des Hotels, einem schönen Garten, wie man einen solchen noch selten in Paris antrifft, mit großen Bäumen, mit einem weiten Rasenplatz und unzähligen Rosenstöcken. Die Rose ist die Lieblingsblume Thiers’. Er bleibt bis gegen Mittag bei der Arbeit und nimmt dann in seinem Arbeitszimmer ein leichtes Frühstück ein. Wie alle Männer die mit dem Kopfe arbeiten, ißt er des Morgens nur wenig und raucht nicht, was er mit allen sehr Thätigen gemein hat.
Sehr sorgfältig schreibt Thiers seine Reden nieder, nicht blos ein und zwei, ja drei und vier Mal, und lernt sie auswendig, ehe er sie hält. Alle bedeutenden Redner übrigens verfahren nicht anders und es ist ein gewaltiger Irrthum zu glauben, daß sie aus dem Stegreif sprechen. Dies findet wohl bei Gegenreden statt und in ganz besonderen Umständen, aber nie bei eigentlichen Reden, welche einen ganzen, großen Gegenstand besprechen, Zwischen jedem Male Niederschreiben läßt er eine angemessene Zeit verstreichen, schreibt die zweite Rede, ohne die erste, und die dritte, ohne die zweite zu lesen, und wenn dann der Tag heranrückt, an dem er zu sprechen hat, liest er die drei Reden durch, zergliedert sie, prüft, welche Entwickelungen oder Einschränkungen sein Gedanke in jeder dieser drei Ausarbeitungen erfahren hat, und schreibt nach dem so angestellten Vergleiche die vierte, das heißt diejenige Rede nieder, die er wirklich hält. Diesem Verfahren verdankt Thiers die wunderbare Ordnung und geschlossene Kette seiner Beweisführung, die Klarheit des Gedankens, die in jeder seiner Reden anzutreffen sind. Er hat eine dicke, fette Handschrift und säet beim Arbeiten die vollgeschriebenen Seiten um sich her, um sie trocknen zu lassen. Ich begegnete eines Tages Pelletan, da dieser eben aus dem Hotel der Place St. Georges heraustrat. „Thiers bereitet irgend eine große Rede vor,“ sagte er mir, „ich habe ihn eben inmitten eines großen Haufens nasser Blätter angetroffen, die das Kaminfeuer kaum zu trocknen vermag.“ Es war dies in den ersten Tagen des Monats December 1865, und die Rede, an der Thiers bereits arbeitete, war seine berühmte Rede über die Grundsätze von 1789, die erst in der Sitzung vom 26. Februar 1866 gehalten wurde.
Daß Thiers, der schon so früh auf ist, noch vor der Nacht das Bedürfniß nach einiger Unterbrechung und Ruhe fühlt, wird Niemand Wunder nehmen. Er verläßt denn auch die Kammer mit Ausnahme der Tage, an denen er spricht, regelmäßig um sechs Uhr und fährt in seinem Wagen schnellsten Laufes in sein Hotel zurück, wo er bis gegen sieben Uhr auf einem Ruhebette ausgestreckt liegt. So erklärt sich, warum man bei Thiers erst um acht Uhr speist. Es ist dies vielleicht das einzige Haus in Paris, wo so spät gegessen wird. Dafür ißt man aber sicherlich nirgends besser, als bei dem berühmten Geschichtsschreiber Napoleon’s. Alle gekannten und von vielen Gästen sehr oft nicht gekannten Weine werden hier gereicht und der Koch Thiers’ kann für einen Meister seiner Kunst selbst unter einem Volke gelten, das sich rühmt, der Menschheit das Geheimniß der einzig wahren Küche geoffenbart zu haben. Man könnte eine Seite voll Rührung über den Aufwand der Tafel, die Feinheit des Porcellans, den Glanz der Krystallgläser und den Reichthum der Credenza oder des Büffets schreiben, das mit dem wundervollsten Silbergeschirr besetzt ist, aber es ist mir wohl gestattet, mich über diese Herrlichkeiten nicht weiter auszulassen und nur mit Mirabeau’s Worten zu sagen: „Das Tafelgeschirr der Großen kann mir keine Rührung abgewinnen.“
Thiers hat jeden Tag der Woche, einen einzigen ausgenommen, an dem er außer dem Hause ißt, einige Gäste zum Diner. Dies ist keine geringe Aufgabe für Jemand, der wie er bewirthet, allein der alte Ministerpräsident ist reich, und einhundertundfünfzig- oder zweimalhunderttausend Franken, die das jährlich kostet, sind für ihn nicht erheblich. Ein fast tagtäglicher Gast bei Thiers ist Mignet. Eine alte und aufrichtige Freundschaft verbindet diese beiden Männer, die, in derselben Stadt geboren, zusammen studirten, zugleich nach Paris kamen, ihr Glück hier zu suchen, und nebeneinander in dem Eingangs erwähnten Winkel der Passage Montesquieu gewohnt hatten. Ihre gegenseitige Freundschaft ist weder durch das Glück und das Vermögen des Einen, noch durch das hervorragende Talent des Andern auf einem verwandten Gebiete je gestört worden. Sollte sich Thiers nie eingestanden haben, daß er zwar ein großer Chronikenschreiber, sein Freund Mignet aber ein großer Geschichtsschreiber sei? Daß er ohne Neid und der unveränderte Freund Mignet’s geblieben, ehrt ihn und dient denen zur Antwort, die mitunter behauptet haben, er sei herzlos.
Herr und Frau Thiers sehen alle Abende Gesellschaft bei sich. Frau Thiers, die Tochter eines sehr reichen Generaleinnehmers, ist eine Frau von fünfzig- bis fünfundfünfzig Jahren, die zu ihrer Zeit hübsch gewesen. Schon seit mehreren Jahren leidend, liegt sie jetzt auf einer chaise longue ausgestreckt und erhebt sich für Niemand, wer es auch sei, sich darauf beschränkend, die Leute, die kommen und gehen, mit [299] einer stummen Kopfbewegung zu begrüßen, denn sie öffnet überhaupt nur selten den Mund. Kinder hat sie nicht gehabt. Ihre Schwester, ungefähr von gleichem Alter, war nie verheirathet und lebt bei ihr. Fräulein Dosne ist groß und muß bemerkenswerth schön gewesen sein. Sie ist eine seltsame Erscheinung, eines jener Gesichter, deren Linien durch ein geheimnißvolles Drama so heftig erschüttert worden zu sein scheinen, daß davon eine Art zitternder Bewegung zurückgeblieben, welche selbst die Zeit nicht zum Stillstand bringen konnte. Auch sie spricht ebensowenig, wie Frau Thiers. Man sieht, daß eine etwas frostige Luft in den Sälen des Hauses der Place St. Georges wehen würde, wären nicht Thiers und Frau Dosne, dessen Schwiegermutter. Diese Letztere ist nicht mehr jung, wie sich leicht denken läßt, aber sie hat keinen der Fehler an sich, durch die so oft das Alter unliebenswürdig wird. Wenn sie spricht, sieht man den Schnee der Jahre an der Wärme eines immer jungen Herzens schmelzen und die glänzenden Blumen eines ewigen Frühlings aufblühen. Es gelingt ihr, ihr Alter vergessen zu machen, wie sie es selbst gern vergißt. Ein Charakter aus dem Ganzen, äußert sie rückhaltlos ihre natürlichen Abneigungen. Der Kaiser gehört nicht zu ihren Freunden, und wenn Thiers, der wohl auch für ihn keine besondere Zuneigung fühlt, über Louis Napoleon gleichwohl in gemessenen Ausdrücken spricht, so ist dies bei der Schwiegermutter etwas ganz Anderes. Man muß, will man sie nicht stark erzürnen, sich wohl hüten, irgend etwas vorzubringen, das einem Lobe des Mannes vom 2. December entfernt ähnlich sähe. Einer meiner Freunde, der ungeschickt genug dies unbeachtet gelassen, hielt es für rathsam, durch die Flucht den Wirkungen des Zornes sich zu entziehen, den er erregt hatte. Frau Dosne ist auch in ihrem Anzug jung geblieben und zeigt sich gern im ausgeschnittenen Kleide.
Man trifft bei Thiers Vertreter aller Parteien an, mit Ausnahme der Bonapartisten, die freilich auch kaum eine Partei zu nennen sind. Man ist Bonapartist aus Brauch, nicht aus Ueberzeugung. Es war die volle Wahrheit, die Picard obwohl scherzend aussprach, als er am Büffet des gesetzgebenden Körpers einem Deputirten der Majorität die Worte zuwarf: „Bonapartisten! Wo sind sie denn? Kennen Sie welche?“ – Hin und wieder sieht man auch Demokraten, die sich durch den ultraaristokratischen Aufwand nicht haben abschrecken lassen, der sich von der Schwelle an in dem Hotel der Place St. Georges ankündigt. Beim Eintritt in das Vorhaus befindet man sich gegenüber vier prächtigen Lakaien in Frack, kurzem Beinkleid und in Schuhen mit Schnallen, von dem Schlage derer, welche die demokratische Galle Thackeray’s so heftig in Bewegung setzten. Thiers ist nun einmal ein wenig „snob“, und ich würde ihm wohl den Rath geben über das Buch des berühmten englischen Humoristen etwas nachzusinnen, wenn er nicht zu alt wäre, um sich zu bessern, und wenn ich nicht wüßte, daß er hinlänglich von sich eingenommen ist, um sich, so wie er ist, für vollkommen zu erachten.
Dies führt mich darauf, Thiers’ äußere Person näher zu schildern, was ich absichtlich auf den Augenblick verspart habe, in dem der Mann in seinem Salon mehr sich selbst angehört und sich am unmittelbar menschlichsten giebt. Bei der Arbeit konnten wir ihn wohl belauschen, aber zum Lesen und Schreiben schicken sich alle Menschen so ziemlich auf gleiche Weise an, Victor Hugo etwa ausgenommen, der sich nie setzt und in seinem Zimmer nichts duldet, das einem Sessel irgend ähnlich sieht; allein Thiers setzt sich wie wir andern auch. Ebensowenig vermag die Rednerbühne uns Thiers von dieser Seite zu zeigen, sie verschlingt ihn und läßt kaum seinen Kopf sehen. Bei Tische? Da ist er auf seinen Stuhl gebannt, er ist unfrei und fühlt sich nicht heimisch. Aber in seinem Salon, das ist der rechte Ort; da sehen wir ihn schalten und walten, von dem Einen zum Andern gehen, sich unterhaltend, hüpfend, nie einen Augenblick ruhend. Um in zwei Worten sein Bild zu entwerfen: Thiers ist ein Mann, der fortwährend in Eile ist und zu laut spricht.
Er ist weder schön von Gesicht, noch von Wuchs. Er ist klein, untersetzt, von gewöhnlichem Aussehen; der übertriebene Ausdruck seiner Gesichter schneidenden Züge erinnert unwillkürlich an die bekannten Nürnberger Figuren. Wenn die geistvolle Frau von Girardin, die mit der scharfen Spitze ihrer Feder so viele Gesichter gezeichnet, Thiers „Mirabeau-mouche“ (Mirabeaufliege) nannte, ein Spitzname, den dieser ihr nie verziehen hat, so kann die Bezeichnung gewagt erscheinen, denn Thiers hat nichts von der Zierlichkeit dieses kleinen Insects. In ganz anderem Sinne gewagt ist freilich die soldatisch derbe Bezeichnung, welche den Marschall Soult zum Urheber hat und die hier nicht wiederholt werden kann. Thiers ist also nicht schön – und, was noch mehr heißt, wie ebenfalls Frau von Girardin, als weibliche Richterin hier doppelt beachtenswerth, anmerkt: Haltung und Manieren sind gewöhnlich. Aber bei genauerer Beobachtung wird sich das Urtheil doch umstimmen. Das Gesicht zeigt eine hohe, breite Stirn, ein lebhaftes, glänzendes Auge, das leider hinter einer mächtigen, goldenen Brille versteckt ist, einen Mund, der durch den Ausdruck leichten Spottes nicht verunziert wird; Thiers soll nur zu sprechen anfangen und man wird ihn allerliebst finden. Seine Unterhaltung ist, wie die aller Männer, die viel wissen, reich durchwirkt mit Thatsachen, die sein feiner Geist lichtvoll zu beleben versteht. In seiner Jugend ein unermüdlicher Frager, wußte er, wie keiner, die Leute zum Sprechen zu bringen und hätte wie Sokrates sich den Geburtshelfer der Geister nennen können – nur trug er nach geleisteter Hülfe das Kind mit sich fort. In dieser Weise verfuhr er, da er an seiner Geschichte der Revolution schrieb, wiederholt mit dem General Jomini. Dieser, der Thiers recht wohl durchschaute und es müde war, sich so auspressen zu lassen, hatte seiner Tochter eines Tages sogar anbefohlen, durch ihre Dazwischenkunft zur rechten Zeit ihn aus dem umstrickenden Zauber der Schlange zu befreien, doch siehe da – als die Tochter dem Befehle des Vaters gemäß handeln wollte, wurde dieser ganz aufgebracht und hieß sie die Unterhaltung nicht stören.
Viel hat Thiers durch seine unersättliche Wißbegierde auf diese Weise wie spielend gelernt, wobei ihm noch das wunderbarste Gedächtniß zu Statten kam. Die Zahlen für die statistischen Belege seiner Finanzreden stehen ihm bis in die größten Einzelheiten reichlich zu Gebote und er trägt sie alle in seinem Kopfe. Erwähnenswerth erscheint mir auch ein kleiner Vorfall, mit dem ich erst vor einigen Tagen bekannt gemacht wurde. Es war im Jahre 1840. Das Gesetz über die Festungswerke von Paris wurde eben verhandelt und man wußte, daß Thiers dasselbe in langer Rede vertheidigen sollte. Ein Journalist, der den Inhalt der Ministerrede an sein Provincialblatt zuerst berichten wollte, begiebt sich deshalb am Morgen der Sitzung selbst zu Thiers. „Ich fand Thiers“ – so erzählte mir derselbe Journalist – „im Anziehen begriffen. Während er sich wusch, rasirte, die Beinkleider anlegte etc., hat er mir aus dem Gedächtniß in einer halben Stunde seine ganze Rede, an der er vier Stunden in der Kammer sprach, auszugsweise in die Federn dictirt, und als ich die Rede selbst mit dem Auszuge verglich, überzeugte ich mich, daß er nicht einen einzigen Gedanken zu entwickeln vergessen und die Reihenfolge seiner Entwickelung nicht einen Augenblick verlassen hatte.“
Thiers ist öfters ein Schwätzer genannt worden, und man hat sein Geplauder sogar mit dem einer alten Klatschgevatterin verglichen. Der Vergleich trifft nur insofern, als er allerdings oft einen übereilten Vortrag hat und der Ton seiner Stimme scharf und verstimmt klingt. Im Uebrigen ist seine Unterhaltung stets auf die Sache selbst eingehend und höchst anziehend. Man unterhält sich gern mit Thiers, aber mit ihm zu streiten, das soll man bleiben lassen. Der kleine Mann ist Feuer und Flamme, duldet keinen Widerspruch und wird, was man ihm auch vorbringt, eher absurd finden, als bemüht sein, dies zu beweisen. Es ist das nicht eben das Zeichen eines guten Geschmacks und spricht vielmehr für das Urtheil der Frau v. Girardin, wie auch der Umstand, daß Thiers, wenn ihm die Unterhaltung seines Salons nicht zusagt, zuweilen auf seinem Lehnstuhl einschlummert. Dafür begleitet er aber auch hinwiederum die Leute, die ihm gefallen, bis an die Thür seines Vorhauses.
Trotz solcher gelegentlichen Ausbrüche von Heftigkeit in der Rede, die man auf Rechnung eines nicht genug bekämpften südlichen Temperaments zu setzen hat, wird Thiers gleichwohl als ein Mann von leichtem und in den Beziehungen des Lebens angenehmem Umgange betrachtet. Der Ton geringschätzender Höhe, die gebieterische Haltung des großen Mannes, der dem gemeinen Sterblichen wohl erlaubt, sich dem Fußgestelle seiner Größe zuweilen zu nähern, aber selbst von demselben nie herabsteigt, sind ihm durchaus fremd; er ist im Gegentheil voller Leutseligkeit und Natürlichkeit, keine Spur von dem stolzen Ernste, den die Franzosen so wenig lieben und den sie „morgue“ nennen, vielmehr [300] scheint er ganz das, was sie mit dem „bon enfant“ bezeichnen. Ob er das wirklich ist, wage ich nicht zu behaupten, aber es ist schon ein großes Verdienst, in den Augen der Franzosen dafür zu gelten. Nichtsdestoweniger hält sich Thiers für einen Mann von Genie, und die Leutseligkeit der Form vermag, wenn er von sich selbst spricht, nicht immer den im Hintergrunde thronenden Stolz zu verdecken. Als er am 1. März 1840 wieder an das Staatsruder gelangte, zu einer Zeit, da wohl viele Staatsmänner vor den Schwierigkeiten zurückgeschreckt sein würden, die sich der französischen Politik entgegenstellten, zeigte er ein heiteres Gesicht und sagte lächelnd: „Die Vorsehung muß ein großes Vertrauen in mich gesetzt haben, denn so oft ich die Staatsgeschäfte übernehme, scheint sie die schwierigsten Verwickelungen mir vorbehalten zu haben!“
Das Hotel der Place St. Georges hat nichts gemein mit den reichen Wohnungen der Emporkömmlinge, in denen in Ermangelung wirklichen Geschmacks ein grober Luxus herrscht, so daß König Midas selbst dort nichts mehr in Gold zu verwandeln fände. Vielmehr kündigt Alles hier den künstlerischen Sinn an, der Thiers auszeichnet. Sein Arbeitszimmer enthält mehrere Meisterwerke, um die der Louvre ihn beneiden könnte. So das Bronze-Modell der heiligen Jungfrau von Michel Angelo, die, irre ich nicht, die Florentinische genannt wird, und das der Reiterstatue des Ludovico Sforza von Leonardo da Vinci, aus dessen Hand nur wenige, aber darum um so werthvollere Sculpturwerke hervorgegangen sind; eine Andromeda in Marmor von Benvenuto Cellini, die, kaum einige Zoll hoch, ein Meisterstück zart durchgeführter Arbeit, durch das Vergrößerungsglas betrachtet werden muß. Außerdem besitzt Thiers noch mehrere sehr große chinesische Porcellanstücke, die an Alter sowohl wie an Schönheit mit den etrurischen Vasen wetteifern. Die Figuren sind von so reiner Zeichnung und leichter Bewegung, daß die etrurische Kunst kaum etwas Vollkommneres wird aufweisen können.
Man sieht, er hat errungen, wonach er von Jugend auf gedürstet: er ist ein berühmter, ein reicher, ein vornehmer Mann geworden. Daß der glückliche Erfolg bei Weitem sein Verdienst überholt hat, wird er sich kaum eingestehen, und wenn auch, sich dadurch sicher nicht in seiner äußern und innern Behaglichkeit stören lassen.