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Bei den Gefangenen von Sedan

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Textdaten
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Autor: H. S.
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Titel: Bei den Gefangenen von Sedan
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aus: Die Gartenlaube, Heft 43, S. 718–722
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Bei den Gefangenen von Sedan.

Sie zählen nach vielen Tausenden, die guten Berliner, welche Tag für Tag mit Hülfe kaum zu zählender Fiacres, Droschken, Carossen, Omnibus und Eisenbahnwaggons nach dem benachbarten Spandau fahren, dort die Franzosen und das Franzosenlager zu sehen. Dieser Völkerwanderung schloß ich mich – nicht ohne Mühe, denn ich mußte mir mein Billet vor dem Schalter förmlich erkämpfen – unlängst an und folgte, in der weitbekannten Festungsstadt angekommen, dem ungeheuern Menschenstrom, welcher sich vom Bahnhofe nach der Stadt, über die Wallgrabenbrücken, durch die Festungsthore und Außenwerke ergoß; alle die Reiter, die Kutscher und Kaleschen, zwischen deren dichter Zeile man sich durchwinden mußte – Alle hatten das gleiche Ziel im Auge: „Zu den Franzosen!“

Schon von Weitem kündigten sich die Rothhosen an. Zu verschiedenen Malen passirten wir kleinere Trupps von Kriegsgefangenen, die, von stämmigen ostpreußischen Landwehrmännern bewacht, zur Erledigung irgend eines Geschäfts, eines Einkaufs oder dergleichen, nach der Stadt geleitet wurden. Sammt und sonders sahen sie ziemlich abgerissen und schmutzig, doch nichts weniger als mißvergnügt aus. Sie schwatzten lebhaft miteinander und erwiderten den ihnen da und dort gesandten Gruß, wie es schien, in der vortrefflichsten Laune von der Welt.

Plötzlich staute sich der Menschenstrom. „Ein Turco! Ein Turco!“ schrie es aus unserer Vorhut, und neugierig drängte sich die Menge hinter einer fezbekleideten Gestalt in Blau zusammen, die ohne das Getümmel um sich her nur eines Blickes zu würdigen, stolz die Gasse herabschritt. Es war ein Officier, ein noch ziemlich junger Mann mit feinen Zügen und prächtigem blauschwarzen Vollbart. Gleich allen seinen gefangenen Cameraden hatte er in der Stadt selbst sich Quartier suchen dürfen und konnte auf Ehrenwort frei umhergehen. Am Abende traf ich ihn in einem Kaffeehause wieder, wo er mit orientalischer Ruhe Billard spielte, völlig apathisch gegen das Spalier von Schaulustigen, das sich an den Wänden des Saales aufgepflanzt hatte und von dem Löwen des Tages kein Auge verwandte. Ob sich der Mann in seiner reichgestickten pittoresken Uniform zu sehr gefiel, um sich von ihr zu trennen, oder ob es ihm an Mitteln fehlte, sich mit Civilkleidern zu versehen – er machte eine Ausnahme von den übrigen Officieren, die sich durchgängig nur im bürgerlichen Rocke zeigen.

„Da sind sie! da sind sie!“ hörte ich endlich rufen. Ich blickte nach der angedeuteten Richtung hin, allein ich sah vor der Hand nichts als ein schwarzes Chaos von Menschen- und Pferdeköpfen, über dem ein paar große schwarzweiße Fahnen flatterten und eine dicke Rauchwolke qualmte. Erst nach einigen weiteren Minuten unterschied ich die einzelnen Zeltspitzen. Wir näherten uns dem Lager, welches etwa zwanzig Minuten von der Stadt sich zur Rechten der nach Potsdam führenden Chaussee ausbreitet, ringsum, in weitem Umkreise, von Wald gesäumt. Eine über kleine Pfähle gezogene Schnur, innerhalb deren von dreißig zu dreißig Schritt die Mannschaften des vierten ostpreußischen Landwehrregiments Nr. 5 Wacht halten, umschließt die Fläche und gebietet Jedwedem Halt, der sich nicht mit der erforderlichen Eintrittskarte versehen hat. Ich hatte mir durch einen Freund von der Commandantur in Spandau einen solchen nicht leicht zu erlangenden Paß auswirken lassen, und konnte nun, von meinen kartenlosen Reisegefährten mit neidischen Blicken verfolgt, unbehindert die Schranke überschreiten oder vielmehr unter ihr durchkriechen und das Heiligste und Allerheiligste des Raumes ganz nach Gutdünken erforschen. Aber auch, wer das nicht durfte, fand doch sattsame Gelegenheit, sich die französische Soldateska aus der Nähe und mit Muße zu beschauen. Am Nordrande, zum Theil noch innerhalb der Schnur, gerade da, wo man an der Stadt ankommt, steht eine der Marketenderwirthschaften, und vor ihrem Schenktische wird es nicht leer von Franzosen, die sich, soweit sie über ein paar Groschen oder Centimes verfügen, unser deutsches Bier vortrefflich munden lassen. Und wer die nöthigen Baarschaften nicht sein eigen nennt, für den sorgt das neugierige Publicum mit freigebiger Hand, so daß der daneben postirte preußische Unterofficier seine schwere Noth hat, das Gewühl einigermaßen in Schranken zu halten. Der Mensch war schon ganz heiser von seinem ewigen Commando „die Gefangenen zurück!“, dem hin und wieder ein Kolbenstoß den nöthigen Nachdruck verleihen mußte; blieb aber das Büffet auf eine Secunde einmal leidlich frei, im nächsten Momente wurde es wieder von Massen neuer durstiger Roth- und Blaukäppis belagert.

Da sah man nun gleich das bunteste Untereinander von Uniformen zusammen: die Krapphosen der Linie, die rothgestreiften Blauhosen der Artillerie, die gelbbordirten Hosen der Jäger, grünjäckige Husaren, Marinesoldaten mit dem Anker auf Schultern und Aermeln, Chasseurs d’Afrique mit von kleinen Knöpfen übersäeten Wämmsern, Lanciers – diese sämmtlichen Uniformen konnte man studiren, wenigstens insofern als hauptsächlich die Hosen in Frage kamen. Ihrer Röcke – die Sonne brannte fast juliheiß herab – hatte sich die Mehrzahl entledigt und wandelte in blauen, rothen, grauen, gelben Woll- und Baumwollhemden umher. Nur die Decorirten unter ihnen, mit Medaillen für die Feldzüge in Italien und Mexico, trugen ihre Jacken wenigstens über den Rücken gehangen, um uns ihre kriegerischen Verdienste in’s gehörige Licht zu stellen.

Der Eindruck, welchen mir der französische Soldat überall gemacht, wo ich mit ihm in Berührung kam, in Straßburg, in Paris, in einigen kleinen Jurafestungen an der Schweizer Grenze, der Eindruck einer mit Leichtfertigkeit und Liederlichkeit gepaarten cynischen Rohheit und Unreinlichkeit – er wiederholte sich mir auch hier im Spandauer Zeltlager.

Kaum war ich eingetreten in den Kreis desselben, so fand ich mich sofort von einer Schaar Franzosen umringt, wiederum einer reichen Musterkarte der verschiedensten Waffengattungen. „Un cigarre, Monsieur, s’il vous plaît, un cigarre“ Vorsorglich hatte ich mich mit einer hinreichenden Menge des begehrten Artikels versorgt, und rasch verbreitete sich um mich die lauteste Heiterkeit, die sich in den possenhaftesten Sprüngen und Geberden äußerte. Blos ein schlanker blonder junger Mann von fast deutschem Typus hatte nicht gebettelt und hielt sich in einer gewissen Entfernung von den [719] Uebrigen, vor denen er sich durch ein auffallend intelligentes Gesicht und eine sorgfältiger gepflegte Toilette vortheilhaft auszeichnete. Ich ging auf ihn zu, bot ihm eine Cigarre und kam bald mit ihm in’s Gespräch. Es war ein Marinesoldat.

„Alle, wie wir jetzt hier, sind wir bei Sedan gefangen genommen worden,“ erzählte er mir, indem er zugleich die einzelnen Uniformabzeichem erklärte; „der Schwarze dort mit den Beilen auf dem Aermel ist ein Pionnier. Das eingestickte Horn darunter zeigt an, daß er zu den besten Schützen gehört. Er ist dicht an der spanischen Grenze zu Hause, ich bin aus der Niedercharente, unweit Nantes,“ fügte er auf meine diesfällige Frage hinzu. „Wir dienen jetzt Alle nur fünf Jahre; darum sehen Sie fast lauter junge Leute unter uns.“

Inzwischen war die Schaar um mich herum immer größer geworden. „Aber, voyez-vous“ nahm der Soldat wieder das Wort, „wir sind sammt und sonders verrathen und verkauft, schmachvoll verrathen und verkauft worden – honteusement trahis et vendus – sonst wären wir nicht hier. Denn der französische Soldat ist der beste der Welt, und wenn die Prussiens nicht immer vier gegen einen über uns hergefallen wären, dann hätten wir sie jedes Mal geschlagen, mehr, wir hätten sie vernichtet – écrasé. Im Bajonnetgefechte thut’s uns Niemand gleich.“

So flunkerte er – allein das ist wohl nicht der rechte Ausdruck, denn Dank den ewigen hochstelzigen Tiraden in den öffentlichen Blättern und den Aufstachelungen seiner Officiere, der Mensch war offenbar von der Wahrheit seiner Behauptungen überzeugt. Der Hochmuth steckt dem Franzosen so tief eingewurzelt im Blute, daß er auch in seiner tiefsten Erniedrigung noch das große Wort im Munde führt, von keinem Schicksalsschlage zur Bescheidenheit bekehrt. Die funkelnden Augen und das Gemurmel der Umstehenden bekundeten deutlich genug, daß der Bursche nur die allgemeine Ansicht ausgesprochen hatte.

Ich gab mir Mühe, ihn zu widerlegen, wies ihn namentlich darauf hin, daß gerade dem deutschen Bajonnetangriffe keine einzige französische Truppenabtheilung habe Stand halten können; daß die numerischen Verhältnisse beider Heere andere gewesen seien, als er sich einbilde, ja daß bei mehreren der entscheidendsten Actionen die Franzosen sich in namhafter Ueberzahl befunden hätten – meine Worte waren völlig in den Wind gesprochen. „On nous a vendus!“ (man hat uns verkauft) – dabei blieb er. Als ich ihm vollends mittheilte, daß am Abend vorher Straßburg capitulirt habe, daß Paris von den deutschen Heeren vollständig umgeben und das Hauptquartier des Kronprinzen von Preußen bereits in Versailles aufgeschlagen sei; daß das sechszehnte und siebenundzwanzigste französische Regiment sammt den Zuaven beim ersten Einschlagen einer feindlichen Granate Kehrt gemacht und in toller Flucht von Chatillon sich bis mitten nach Paris gerettet hätte – da schüttelte der gesammte Haufen in höchstem Unglauben den Kopf und schleuderte mir wüthende Blicke zu. „Impossible, impossible, Monsieur!“ (unmöglich, mein Herr!) erwiderten zwanzig Stimmen zugleich. „Um Paris zu cerniren, dazu braucht man zwei Millionen Soldaten und einnehmen können es die Prussiens nun und nimmermehr.“

So prahlten diese Franzosen noch in der Gefangenschaft und einem Preußen gegenüber! Das Tollste von Allem aber war, daß der Gesell' sich nicht von der Idee abbringen ließ, die Prussiens – von den Deutschen schien er gar nichts zu wissen – hätten über hunderttausend Mann an Gefangenen verloren! Nur ein einziger aus der Gesellschaft, ein hochgewachsener Artillerist aus Bordeaux, wie er mir sagte, schien eine Ahnung von dem wahren Sachverhalt zu haben. Wenigstes schnitt er die dünkelhaften Herzensergießungen seiner Cameraden einige Male ab mit einem derben: „Qu'est-ce que vous chantez-là!“ (Was redet Ihr da für dummes Zeug!)

Ein Trommelsignal erschallte. „Wir müssen zum Appell,“ erläuterte man, und trotz unserer unvereinbaren Meinungsdifferenzen verabschiedeten sich Lanciers, Pionniere, Artilleristen, Chasseurs de Vincennes und Chasseurs d'Afrique mit einem höflichen „Au plaisir, Monsieur.“ (Amüsiren Sie sich gut.)

Ich wandte mich nun der aus drei Zeltreihen bestehenden eigentlichen Lagerstadt zu. Die Zelte sind gleichfalls eine den Franzosen abgenommene Beute, trichterförmig, aus einem festen grauen Segeltuch gefertigt und von einer schwarzen Spitze überragt. Jedes bietet für sechszehn Insassen Raum, welche sich darin, die Füße nach innen gekehrt, im Kreise umher auf Stroh und unter wollene Decken zur Nachtruhe ausstrecken. Merkwürdiger Weise fand ich kaum ein Zelt, dem nicht ein deutsch redender Elsasser oder Lothringer angehörte, und besonders die ersteren wiesen den ausgesprochensten germanischen Habitus auf. Ihre Gesichter waren voll und rund, ihr Körperbau gedrungener und markiger, ihre Hände und Füße größer und plumper als die ihrer Zeltgenossen keltisch-romanischen Ursprungs. Sie sprachen das breiteste Allemannisch-Deutsch, das man nur hören kann. In gewissen Zwischenräumen stehen kleinere Zelte und zeltartig geformte Strohhütten vertheilt. „Pour eux,“ (für die dort) meinten meine Franzosen, womit sie ausdrücken wollten, es seien dies die Zelte und Schilderhäuser für ihre preußischen Wachen.

Am obern Ende des Lagers stößt man auf eine zweite Wirthschaft, und weiter westlich auf drei umfängliche Stein- und Bretterbauten, die Küche für die unfreiwilligen Einwanderer. Meine Karte gestattete mir, auch darin mich umzuschauen. Eben war man mit der Zubereitung der Abendkost beschäftigt. Preußische Soldatenköche leiten die Küchenabtheilung, während Gefangene ihnen als Helfer und Unterköche zur Hand gehen. Selbstverständlich zeigt die Speisekarte nicht viele Abwechslungen, es ist einen Tag so ziemlich dasselbe wie den andern; alle Gefangenen jedoch, bei denen ich mich erkundigte, wie sie mit der täglichen Diät zufrieden seien, hatten gegen die ihnen werdende Verpflegung nichts Erhebliches einzuwenden, was sicher das beste Zeugniß für dieselbe ist, da die Herren Franzosen bei und an uns deutschen Barbaren Alles und Jedes zu bemäkeln finden. Zum Frühstück giebt es – wie ich jedoch höre, nicht alle Tage – Kaffee mit Zucker, Mittags Fleischsuppe und Gemüse, Sonntags auch ein Stück Rindfleisch, Abends geschmalzte Erbsen und Kartoffeln oder Bohnen und Kartoffeln. Welche Ausdehnung diese Küchen besitzen, wird man daraus entnehmen, daß die erste über dreizehnhundert, die zweite mehr als fünfzehnhundert und die dritte nahezu die gleiche Anzahl von Gefangenen zu speisen hat. Mithin würde sich vorläufig die Gesammtziffer der bei Spandau campirenden Franzosen auf viertausend und einige hundert belaufen; doch werden noch immer neue Ankömmlinge erwartet, – wie ich erfuhr, ein Theil der am 27. dieses Monats in Straßburg gemachten fernerweitigen siebenzehntausend Kriegsgefangenen. Daß man auch verschiedene Brunnen zur nöthigen Reinigung, desgleichen die unentbehrlichen sonstigen Bequemlichkeiten hergerichtet hat, bedarf keiner Erwähnung, und so würde die Organisation des Ganzen wenig zu wünschen übrig lassen, vorausgesetzt, daß die jetzige milde Herbstwitterung noch einige Zeit andauert. Bei rauherem Wetter hingegen dürften die Leinwandhäuser kein sattsam schützendes Obdach gewähren. Nun, hoffen wir, daß bis dahin der Friede geschlossen ist, ein Friede auf die von uns Allen erstrebten Bedingungen hin, und daß dann alle die aufgezwungenen Gäste, deren Menge uns bereits ernstlich zur Last fällt, zu ihrem heimischen Herde zurückkehren können!

Der Appell war vorüber – man nimmt diesen Zusammenruf täglich mehrere Male vor, um, was mich sehr nothwendig dünkt, bei den Franzosen das Bewußtsein der Gefangenschaft nicht abhanden kommen, sie fühlen zu lassen, daß sie Tag und Nacht unter unausgesetzter Controle stehen –, und von Neuem füllte sich das weite Blachfeld mit bunten Gestalten und Gruppen. Ab und zu ein paar Worte mit den mir Begegnenden wechselnd, die mir abermals bestätigten, daß die Franzosen unverbesserlich sind in ihrer Eitelkeit und Selbstüberhebung, auch in der Kriegsgefangenschaft nichts lernend und nichts vergessend, schlenderte ich an den Soldaten vorüber und ward Zeuge von allerhand ergötzlichen und fremdartigen Scenen. Hier hatte sich ein Hufschmied - maréchal nennt ihn der Franzose –, ein wildaussehender Kerl mit olivenfarbigem Gesicht und rabenschwarzem Haar, mit einer Clarinette postirt, der er eine Art von Quadrillenmusik erpreßte, und mit Blitzesschnelle ordnete sich eine Soldatenschaar um ihn herum und ließ einen tollen Cancan von Stapel, wie man ihn in Paris nur im Prade zu sehen bekommt. Die Beweglichkeit der Gesellen war in der That bewundernswerth, ihr Gebahren aber, das Schleudern der Beine, das Schieben und Schaukeln mit den Leibern, die Mienen und Gesten, in hohem Grade widrig, frech und obscön durch und durch.

Hier und da traf ich auch wohl einen einsamen Wanderer, welcher, wie von Heimweh verzehrt und überwältigt von Gram, müden Schrittes dahin zog. Allein Begegnungen dieser Art waren [720] seltene Ausnahmen. Bei Weitem den Meisten von den Tausenden, die das Lager füllen, schien alles Bewußtsein ihrer Situation zu fehlen; leichtherzig und leichtblütig amüsirten sie sich, wie sie eben konnten, und lauerten vor Allem auf die Spenden von Seiten des außerhalb des Cordons aneinandergepferchten Publicums. Solche Spenden blieben auch nicht aus. Ganze Körbe voll Weißbrod, Metzen von Birnen und Pflaumen, Hunderte von Cigarren wurden ihnen über die Schnur herübergeworfen. Und da rauften nun die Blau- und Rothhosen darum, da reckten sie die Hälse und zappelten und capriolten, da fletschten sie lüstern die Zähne, da hielten sie die Hände in die Luft ganz wie die Bewohner der Affenhäuser in unseren zoologischen Gärten. Das Schauspiel hatte für mich etwas unbeschreiblich Abstoßendes, und Geber und besonders Geberinnen, die sich über diese Meerkatzensprünge schier todtlachen wollten, schienen mir von den beiden Theilen der abstoßendere zu sein. Viel besser gefielen mir die Spiele, welche an verschiedenen Stellen in’s Werk gesetzt wurden. Unser Dreimannhoch, Blindekuh, Haschen, das Alles sah ich sich entwickeln und mit unvergleichlicher Gewandtheit und endloser Lust von Statten gehen.


Die armen Leute! Aller ernsten Beschäftigung entbehrend, mögen sie die Zeit grauenhaft lang finden, und Mehrere klagten mir gerade in dieser Beziehung ihre Noth. „Wenn wir nur in der Stadt Arbeit suchen dürften, welcher Art sie auch sei,“ sagten mir die Männer, „damit wir uns ein paar Centimes verdienen könnten, denn von Frankreich bekommen wir jetzt doch nichts mehr geschickt!“ Seitdem hat das preußische Kriegsministerium bekannt gemacht, daß die Gefangenen, natürlich unter gehöriger Bedeckung, auch außerhalb des Lagers Arbeit übernehmen dürfen, falls sie dies freiwillig thun, und es wäre wirklich eine That der Menschenliebe, wenn recht zahlreiche Arbeitgeber dieses Anerbieten benützten. Allerdings sah ich ungefähr hundert Gefangene bei dem Auswerfen eines breiten Grabens an der Ostseite des Lagers handtirend, doch stellte dies wohl nur eine Arbeit à la Tretmühle vor, die blos in Angriff genommen war, um die Leute nicht völlig müßig umherlungern zu iassen. Kein Mensch nämlich konnte mich über den Zweck dieses ganz überflüssig erscheinenden Grabens aufklären.

„Aber die Turcos, die Zuaven, die Zephirs, wo bleiben diese?“ fragt der Leser. Zu meinem Bedauern muß ich gestehen, daß ich [722] mit diesen interessanten Menschengewächsen nicht aufwarten kann. Die in Spandau in Haft gehaltenen Turcos und Consorten sind wohlweislich nicht mit aufgenommen in das Zeltlager; sie sitzen in festerem Gewahrsam in der Citadelle, in welche keinem Unberufenen der Zutritt gestattet wird. Jener Turcosofficier, dessen ich gedachte, war das einzige Exemplar seiner Gattung, welches mir vor Augen kam. Beim endlichen Rückweg nach dem Bahnhof nahm ich in einem in der Nähe desselben gelegenen eleganten Restaurant noch einen Abendimbiß zu mir, und hier, im Billardsaale des Locals, stand, wie schon berichtet, die malerische Figur und führte ihre Queue, unbekümmert um die umringende wildfremde Gafferwelt, mit so unerschütterlichem Gleichmuth, als bewege er sich nicht in Cantien’Kaffeehaus zu Spandau, sondern im Café Impérial auf der Place Bugeaud in Algier. Sein Widerpart war ein anderer Officier, doch in Civil, und auch er ließ dann und wann seinen Blick mit so souveräner Verachtung über das Publicum gleiten, als habe er die Deutschen bei Sedan vernichtet und König Wilhelm gefangen genommen.

H.S.