Zum Inhalt springen

Babylon und London

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Babylon und London
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 25, S. 345-348
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[345]
Babylon und London.

An dem westlichen Ufer des Euphrat, da wo jetzt nur noch ein öder Flecken mit Namen „Hillah“ trauert, erhob und dehnte sich einst die Hauptstadt des alten blühenden Chaldäer-Reichs: Babylon mit einem Königspalaste von anderthalb Meilen im Umfang mit Mauern von 300 Fuß Höhe, und dem noch großartigeren Bel-Tempel, dessen berühmter „babylonischer Thurm“ in acht verjüngten Stockwerken mit äußerlich umlaufenden Rampen und Ruhebänken 600 Fuß hoch, höher als je ein Bauwerk der Erde, in das goldene Gemach des Licht- und Himmelsgottes emporstieg. Da oben wohnte er, der Gott des Landes, Chambre garni mit einem goldenen Altare, goldener Bettstelle u. s. w. und ließ sich zuweilen schöne Töchter von der dunkeln Erde unten, die alle der zweiten Gottheit, der Mylitta, mit Aufopferung ihres Magdthums zu opfern verpflichtet waren, heraufkommen. In untern Etagen saß der Gott in massiven, kolossalen Bildern von Gold auf goldenem Throne, die Füße auf goldenem Schemel vor einem goldenen Altare, [346] auf welchem jährlich für Tausende und Zehntausende von Thalern geopfert wurde. Um diesen Thurm und diese Königsburg wohnten Millionen von Menschen in höchster Culturblüthe, berühmt besonders durch textile Künste, Weberei und Buntwirkerei, Juwelierkunst, Bildhauerei, Schnitzwerk und Steinschneiderei. Sie trugen allgemein goldene Siegelringe, künstlich geschnitzte Spatzierstöcke, schön gestickte Gürtel und weiße Mäntel, langes, schwarzes, mit Myrrhen und Rosenöl gesalbtes, mit kostbaren Binden und Bändern durchflochtenes Haar, feine leinene Leibwäsche und kostbare wollene Gewirke und Gewebe. Sie beherrschten die damalige Menschheit durch Industrie, Kunst, Handel und Wissenschaft. Sie waren Jahrhunderte lang die erste Großmacht der vier vorgriechischen Großmächte der alten Welt. Ihre Maße, Gewichte, Münzen und Wissenschaften waren Norm und Regel für die andern Völker. Das goldene Gemach des Gottes Bel auf dem Thurme oben diente auch als Sternwarte. Hier berechneten die Astronomen schon 1500 Jahre vor Christi Geburt Sonnen- und Mondfinsternisse bis auf die Minute voraus. Dies läßt auf Mathemathik, Naturwissenschaften, Cultur und Literatur in hoher Ausbildung schließen. Alle die dürftigen Angaben über die Blüthe des alten Babylon laufen zu einem Bilde von Wohlstand, Reichthum, Bildung, Luxus, Cultur und Civilisation zusammen, mit welchem sich spätere und neue Völker erster Größe zwar an Umfang, aber nicht an innerer Fülle und Frische messen können. Namentlich bauten die alten Babylonier massiver und besser, als die heutigen Völker.

Aber von all ihrer architektonischen Erhabenheit, von all ihrer massiv goldenen Kunst und Cultur, von all diesem üppigen, reichen Leben ist nichts geblieben als der Tod. Nur Kirchhöfe erzählen noch von diesen alten Herrlichkeiten, besonders eine ganze, meilengroße, mehrere Stockwerke über einander geschichtete, ungeheure Stadt und Burg von Tausenden und Zehntausenden noch erhaltener Särge bei Warka (Orchoe), der 2400 Jahre lang offen gehaltene Hauptbegräbnißplatz des großen alten Chaldäerlandes, den wir neuerdings erst durch die Besuche und Schilderungen zweier Engländer, Lostus und Taylor, als das großartigste und schauerlichste Denkmal untergegangener Völker haben kennen lernen. Von dem 600 Fuß hohen Thurme mit dem goldenen Gemache aber und den massiv goldenen Bildern des großen Gottes ragen nur noch einzelne verwitterte Trümmer auf einer von Regenströmen durchfurchten todten Ebene bei Hillah hervor. Die Königsburg mit ihren 300 Fuß hohen Mauern von anderthalb deutschen Meilen Umfang ist spurlos von der Zeit und dem Strome der Geschichte weggewaschen und zu Sand und todtem Gestein zerwittert worden. Vom Zeit- und Geschichtsstrome! Aber warum hat man nicht reparirt und neugebaut? Die Zeiten, wenn Völker die Kraft verlieren, zu repariren und neu zu bauen, werden von ihnen selbst gemacht; auch die Verwandelung dieser conservativen, reparirenden, sich recreirenden Kraft in zersetzende Säuren und auflösende Stoffe geht aus ihnen selbst hervor. Als die babylonische Culturblüthe sprachliche und sittliche Verwirrung und Zersetzung auszuduften begann und der Mylitta-Cultus in weichliche Sinnenlust und schamlose Unzucht ausartete, ward die conservative und recreirende Kraft vergeudet und zum zersetzenden Elemente. Wenn in ähnlicher Weise heut zu Tage die Kraft eines Volkes unsittlich, lügnerisch, gewaltsam, heuchlerisch wird, so beginnt auch heut zu Tage wieder dessen Untergang, so groß, reich, muthig und civilisirt es auch sein mag. Einen solchen Proceß haben wir längst in England sich entwickeln sehen. Die Wahlen und deren Ergebniß sind ein Triumph der Lüge, Hypokrisie und Schamlosigkeit über seine alte conservative und recreative Kraft, eine offenbar gewordene, als politisches Princip anerkannte Gewalt, welcher die nicht mit regierende, noch gebliebene sittliche Kraft, die Steinkraft der Häuser und Burgen und selbst der unerschütterliche Koloß der Paulskirche auf die Dauer nicht widerstehen können. Der „Verfall Englands“ ist jetzt ein sehr thätiger chemisch-historischer Zersetzungsproceß, der nur durch eine gründliche Reform des ganzen Organismus vom Wege des Unterganges abgelenkt und zum Reconvalescentenprocesse gerichtet werden könnte.[1]

London ist die Hauptstadt Englands, das „Herz der Welt“, der chemische Hauptkessel des Processes, von dessen Agentien und Reagentien mehr oder weniger alle gebildeten, am Weltverkehre betheiligten Völker mit abhängen. Sehen wir uns den Inhalt dieses „modernen Babylon“ deshalb einmal in seinen statistisch ausgedrückten Ingredienzien an und vergleichen wir die Elemente, welche als gesund gelten können, mit denen, die sich ohne Weiteres als zersetzt, zersetzend, verwitternd und Verfall ausbreitend ankündigen. London zählte beim letzten Census 2,362,236 Einwohner, die sich seitdem etwa auf 21/2 Millionen vermehrt haben. Von den gezählten Bewohnern waren 1,106,558 männlichen, also 1,255,678 weiblichen Geschlechts, von Ersteren 339,098, von letzteren 409,731 verheirathet. Dazu kommen 37,080 Wittwer und 110,076 Wittwen. Während der Nacht der allgemeinen Schätzung waren 28,598 Ehemänner ohne Frauen und 39,231 Frauen ohne Männer. – Im vorigen Jahre wurden 86,833 Kinder geboren und 56,784 Personen starben. Die Einwohnerzahl vermehrte sich in diesem Jahre um mindestens 60,000. Dabei viele leere Häuser und unzählige Reihen von Miethszetteln! Ein kleiner Theil wohnt in großen Hallen und Palästen mit 3-4 Zimmern auf jede Person, die große Masse liegt wie Heringe in dunkeln, kleinen, schmutzigen Kammern zusammengepfercht, oft, wie Dr. Letheley unlängst schilderte, Alt und Jung, männlich und weiblich, unter Lumpen und Frechheit und Elend dutzendweise durcheinander geschichtet. Dabei giebt’s etwa 200,000 „tramps“ d. h. Personen, die erwiesen ohne bestimmtes Obdach, ohne eine Kammer, oder den 12. Theil einer bedeckten Höhle stets unter freiem Himmel, unter Brückenbögen und Thorwegen u. s. w. schliefen. Dabei hat sich aber der Gesundheitszustand gegen früher bedeutend gebessert. London ist die gesündeste Stadt der Erde, insofern hier im Vergleich zu allen andern großen Städten die wenigsten Todesfälle auf je eine bestimmte lebende Anzahl kommen. Früher kamen etwa 30 Todesfälle im Jahre auf je 1000 Personen, während den letzten 10 Jahren bis 1855 im Durchschnitt 25, im vorigen Jahre blos 22. In Berlin, Wien, Paris, Peking, New-York u. s. w. kommen zwischen 30 bis 50 Todesfälle auf je 1000 Lebende (das Zahlenverhältniß für die einzelnen großen Städte der ganzen Erde – bereits ermittelt – ist mir nicht gegenwärtig).

London ist nicht nur die größte, sondern auch am dichtesten bevölkerte Stadt der Welt, „eine ganze mit Häusern bedeckte Provinz“, sich über vier „Grafschaften“ Englands ausweitend, ein Viertel volkreicher als Peking, zwei Drittel als Paris, mehr als doppelt als Constantinopel, viermal als Petersburg, fünfmal als Wien, New-York und Madrid, siebenmal als Berlin, achtmal als Amsterdam, neunmal als Rom, funfzehnmal als Kopenhagen und siebzehnmal volkreicher als Stockholm. Es bedeckt 122 englische Quadratmeilen oder 78,029 Morgen Landes mit 327,391 Häusern, [347] die sich im Durchschnitt steigend um 4000 jährlich vermehren. In grader Ausdehnung von Norden nach Süden ist es 12 englische Meilen lang, von Westen nach Osten über 15 oder über drei deutsche Meilen. Eine Straße nach dem Norden hinlaufend (Tottenham Court Road) ist ziemlich ohne Ausnahme auf 25 Meilen Länge auf beiden Seiten von Häusern eingeschlossen, sie läuft von London aus durch mehrere Städte hindurch, ohne daß man einmal in’s Freie kommt. Unzählige andere Häuserstraßen laufen in ähnlicher Weise auch schon ohne Aufhören in andere Städte hinein. Die Häuser Londons in einer Reihe würden über ganz England hinweg, durch ganz Frankreich hindurch bis an die Pyrenäen reichen. Jetzt doppeln und durchwinden sie sich in 10,500 benannten Straßen, die nach Größe und Form die verschiedensten Gattungsnamen haben. Die 5000 Hauptstraßen, zusammen über 2000 englische Meilen lang, sind mit einem theuren Pflaster versehen. Es kostete 14,000,000 Pfund Sterl. und dessen Erhaltung erfordert jährlich 1,800,000 Pfund.

Um die 1900 Meilen langen Gasröhren für 4 Millionen Pfund jährlich stets gefüllt zu halten, daß sie die 360,000 Brenner speisen, müssen alle 24 Stunden 13,000,000 Cubikfuß Gas entwickelt werden. Ein anderes unterirdisches Adersystem trieb voriges Jahr 80,000,000 Gallonen Wasser durch die Küchen und Häuser Londons und durch ein drittes colossales Adersystem, die Kloaken wieder in die Themse. Neben diesen drei ungeheuren Adersystemen von Eisen und Stein laufen in manchen Straßen noch drei bis vier unterirdische Arterien von Telegraphendrähten. Dazu kamen die Tunnel’s der Stadteisenbahnen und deren steinerne Arterien und Brücken über die Häuser hin.

Die Bewohner Londons in einer dichten Doppelreihe hinter einander aufgestellt, würden einen 670 Meilen langen Zug darstellen und, drei Meilen in der Stunde zurücklegend, neun volle Tage und Nächte marschiren, ehe sie an uns vorbeikämen. Jeden Tag drängen sich über 125,000 Wagen und Instrumente aller Art auf Rädern durch die Hauptstraßen: 3000 Cabs (Droschken), über 1000 Omnibus, über 10,000 Lastwagen und Geschäftsvehikel der verschiedensten Größe und Bauart u. s. w. Von Außen bringen, natürlich ohne die Eisenbahnen, über 3000 Fahrzeuge auf Rädern Lebensmittel und Bedürfnisse in die Stadt.

Im Durchschnitt sterben 170 Menschen täglich, und alle fünf Minuten wird ein Londoner Kind geboren. Im Jahre 1856 starben in den 116 verschiedenen Armen- und Wohlthätigkeitsanstalten Londons 10,381 Personen – von 56,786, die überhaupt starben. Beinahe jede fünfte Person starb auf Kosten der Bevölkerung, ohne eigenen Heerd, ohne Heimath im letzten Stadium des Elends, denn nur im letzten, niedrigsten Stadium des Elends findet der gesunkene oder niedergetretene Mensch Aufnahme in einer öffentlichen Anstalt. Jede Nacht werden Tausende von den Thüren der Armen- und Arbeitshäuser weggetrieben (wenn sie nicht davor niederfallen), da kein Platz ist, schon deshalb oft nicht, weil die Thürsteher und Vorsteher oft ungemein dick und fett sind, und den meisten Raum und das meiste Geld einnehmen. Auch betrügen die höheren Vorsteher gern, wie z. B. vorigen Winter in einer großen Wohlthätigkeitsanstalt um blos 70,000 Sterling.

Im Durchschnitt ertrinken und ersäufen sich jährlich 500 Personen in der Themse. Die meisten Opfer dieser Art liefert die unglückseligste Classe der Näherinnen. Im vorigen Jahre wurden 143,000 Obdachlose der letzten Classe in Arbeitshäuser aufgenommen. Von Verbrechern sind polizeilich bekannt und notorisch: 107 Einbrecher und offene Räuber, 110 bloße Einbrecher, 38 Straßenräuber (auf offenen Stellen), 773 professionelle Taschendiebe, 3657 gemeine Diebe (und unübersetzbare „sneaksmen“, Schleicher, die Diebesgelegenheiten ausmitteln und gestohlenes Gut immer sofort bei Seite bringen), 11 Pferdediebe, 141 Hundediebe, 3 Falschmünzermeister, 28 einzelne Falschmünzer, 317 Verbreiter falschen Geldes, 141 „Schwindler“, 182 Betrüger („cheats“, ein bestimmtes Gewerbe), 343 Diebshehler, 2768 professionelle „Auflaufmacher“ („rioters“, um im Gedränge zu stehlen), 1205 Vagabunden, 50 professionelle Bettelbriefschreibanstalten, 86 gewerbliche Bettelbriefträger, 6371 Prostituirte von Profession und 470 unbestimmte Verbrecher. Letztere vagabundiren innerhalb der Verbrechergewerbe, die im Ganzen sich so streng geschieden halten, wie der strengste Gewerberath es nicht zu Stande brächte. Es ist Ehre und Classenstolz unter den 16,900 gewerblichen, der Polizei bekannten Verbrechern. Das geht so weit, daß ein Einbrecher oder Auflaufmacher bei dem ganzen „Stande“ in Verruf kommen würde, wenn er sich einmal so weit vergäße, dem gemeinen Taschendiebe in’s Handwerk zu pfuschen. Die activen Taschendiebe wieder sehen mit Verachtung auf ihre eigenen Gehülfen, die „sneaksmen“ herab, So geht das durch, selbst bis in die Classe der Prostituirten, von denen die Spaziergängerinnen bei Tage mit sittlichem Abscheu auf die Nachteulen herabblicken.

Das sind die notorischen, berüchtigten, polizeilich bekannten, weil eingefleischten Verbrecher. Die Zahl der Anfänger, gelegentlicher und sporadischer Verbrecher beiderlei Geschlechts ist nicht zu ermitteln. Die 16,900 Verbrecher erster Classe eignen sich jährlich im Durchschnitt 42,000 Pfund Sterling an, so daß sie sich im Ganzen mit etwa 20 Thaler jeder durch’s Jahr behelfen müssen. Man sieht, daß diese zahlreich vertretenen Gewerbe kein glänzendes Loos bieten, und die Meisten vom Drucke der oberen Gesellschaftsschichten dazu gedrängt werden. – Im Durchschnitt befinden sich 6000 von diesen 16,900 stets im Gefängnisse, so daß den „Freien“ deren Antheil an der Generalcasse allerdings gutgeschrieben werden muß. Letztere kosten der guten Gesellschaft jährlich 170,000 Pfund. Jeder „jugendliche“ Verbrecher, der aus Mangel an Erziehung, Brod und Halt zum Diebe u. s. w. wird, kostet in „Reformanstalten“ 300 Pfund. Wenn das Geld vorher für ihn disponibel wäre, würde er für 100 Pfund ein nützlicher Mensch, der vielleicht jährlich einige Pfunde produciren würde. Wie aber die weisen Einrichtungen jetzt sind, muß das Kind in Lumpen und Verwahrlosung erst zum Verbrecher werden, ehe die 300 Pfund für ihn angelegt werden können. Von den Bettlern sind 35,000, darunter zwei Drittel Irländer, professionell: etwa 150,000 singen und betteln blos gelegentlich auf den Straßen. Etwa 2000 davon karren in glücklicher Zeit mit Vegetabilien umher und schreien sie unbarmherzig aus, 4000 mit Eßwaaren und Flüssigkeiten, 1000 mit Schreibmaterialien u. s. w. Auch von den 70,000 Webern, 22,479 Schneidern, 30,805 Schuhmachern, 43,928 Putzmacherinnen, 21,210 Näherinnen, 1769 Damenhutmacherinnen, 1277 Mützenmacherinnen verfallen stets Massen noch tiefer unter Bettler, Verbrecher, Prostituirte, in die Themse oder in’s Grab.

London besteht aus zwei Welten mit einer ungeheuern Kluft dazwischen. In der einen leben die Armen, dicht und fest durch Elend, Schmutz und Ignoranz verbunden, in der anderen die wenigen, aber durch Geld, Vorrechte und Besitz allein Mächtigen, von denen ein Einziger viel mehr luxuriös ausgestatteten Raum hat, als in der anderen Welt Hunderte, ja Tausende zusammengenommen. Zur Charakteristik dieser andern Welt gehören folgende statistische Angaben. Die Münze schlägt im Durchschnitt jährlich 5 Millionen Pfund Gold, 130,000 Pfund Silber und nur 9000 in Kupfer. Die Bank von England mit 800 Beamten, die zusammen 190,000 Pfund Sterling Salaire bekommen, hat 25 Mill. Pfund in Banknoten circulirend. Der Hafen von London bringt jährlich 15,000,000 Pfund Zolleinkünfte. Nach einer Schätzung von Mac Culloch kommen jährlich für 70 Millionen Pfund Producte nach London. Die vermietheten Häuser bringen jährlich 15 Millionen Pfund Miethe. Nur zwei Fünftel davon sind versichert und zwar mit 170,000,000 Pfund. Das Capital der Londoner Banquiers ist auf 70,000,000 Pfund abgeschätzt worden. Im Jahre 1849 machte ein einziges Haus Geschäfte im Betrage von 30 Mill. Pfund. Im Zahl-Departement der Bank wurden im Jahre 1839 blos 954 Mill. Pfund eingeliefert. Dabei sind alle Zahlungen unter 100 Pfund ausgelassen.

Die Bevölkerung von London verzehrt jährlich 280,000 Ochsen, 30,000 Kälber, 11/2 Mill. Schafe, 35,000 Schweine, 1,700,000 Scheffel Weizen, 312 Mill. Pfund Kartoffeln, 90 Mill. Kohlköpfe, Fische in ungezählten Millionen, 3 Mill. Stück Geflügel, 1,300,000 Stück Wild, 80 Mill. Eier u. s. w. In und um London liefern etwa 14,000 Kühe den täglichen Bedarf an Milch. Außerdem gibt’s jeden Tag frische „Eisenbahnmilch.“ Dazu trinkt London jährlich 65,000 Oxhoft Wein, 2 Mill. Gallonen Spirituosen und 45 Mill. Gallonen Porter und Ale in 3700 Bierläden, 600 „Public“-Häusern und blos 13 Weinlocalen.

Das größte Wunder ist, daß eine so ungeheure Menschenmasse mit Elend und Verbrechen aller Art von 6500 Policemen, die zusammen nur 380,000 Pfund kosten, in Ordnung gehalten wird. Das Geheimniß dabei ist, daß man diese ungeheuren Massen politisch, religiös, gewerblich und auch in allen möglichen, nicht zu starken Polizeiwidrigkeiten ungeschoren läßt. So sind sie [348] elend, zerlumpt, schmutzig, hungrig, durstig, betrunken u. s. w. – aber zufrieden in ihrem freien Schmutze. Wer lesen kann, findet für jede Art von Gesinnung und Richtung, auch die verrückteste, revolutionärste und gefährlichste, die reichlichste, unbeschnittene Lectüre in 36 wöchentlichen Magazinen, 10 Tageszeitungen, 5 Abendblättern und 72 Wochenzeitungen. In Armen- und Lumpenschulen werden 15,000 Kinder auf öffentliche Kosten erzogen, gekleidet u. s. w. Auch an religiöser Mahnung fehlt’s nicht in 371 Hochkirchen, außerdem in 140 für die „Independenten“, 130 für die Baptisten, 154 für die Methodisten, 23 für die Presbyterianer, 9 für die Unitarier, 35 für die Katholiken, 4 für die Quäker, 2 für die Moravianer und 11 für die Juden. Andere Secten, wie die „Plymouth-Brüder“, Irvingianer, Sandemanianer, Lutheraner, französischen Protestanten, Griechen, Italiener, Deutschen (die als Secte gezählt werden) und Mormonen haben zusammen über 100 Kapellen und Kirchen.

In diesen Zahlen und Angaben, die sich noch bedeutend vermehren ließen, steckt schon so viel Stoff zum Nachdenken und zur Weisheit, daß Jeder daran genug haben kann. Wir wollen in dieser Beziehung nicht vorgreifen und die Weisheit, welche darin steckt, predigen; bemerken aber, daß die ungeheuren Massen schädlicher, ungesunder, destructiver Stoffe, die in dem modernen Babylon stecken, diese kolossale Welt blos deshalb nicht zerstören, weil man keine Furcht vor ihnen zeigt und aus Furcht nicht fürchterlich gegen sie wird, sondern sie gehen läßt, sie verachtet. Dieses letztere Verhältniß der regierenden Classen zu den regierten macht erstere wirklich zu Aristokraten. Der Vollblut-Aristokrat verachtet die Canaille, spielt also nicht den Polizeivater gegen sie. Die Canaille ist damit zufrieden und hat guten Grund dazu, denn offenbar wäre sie viel schlimmer daran und gar nicht zu bändigen, wenn die Aristokratie sie Tag und Nacht controllirte und examinirte, ob auch Alles in Ordnung sei.



  1. Wir müssen gestehen, daß wir trotz alle den schlagenden und geistreichen Aufstellungen unsers Londoner Freundes doch nicht recht an den raschen Verfall Englands glauben können. Die Lügen eines Staatsmannes – und daß Palmerston bezüglich China’s dem englischen Volke eine Nase gedreht, räumen jetzt selbst seine Freunde ein – die verwerflichen Manipulationen eines Regierungssystems, die Erbärmlichkeiten einiger hochstehenden Persönlichkeiten – das Alles kann ein Volk in der Entwickelung aushalten und an den Piedestalen seines sittlichen Werthes wie ein böser Wurm nagen, aber es gehören härtere Schläge und die hundertjährige Knechtschaft einer verbissenen und meineidigen Tyrannei dazu, um ein Volk so zu entsittlichen, daß es seinem raschen Verfall entgegengeht. Ohne von verschiedenen Theilen des eigenen Vaterlandes zu sprechen, was, fragen wir, wäre aus Frankreich geworden und welche Zukunft stände diesem Lande jetzt noch bevor, wenn der verderbliche Einfluß einzelner hochstehender Persönlichkeiten, ihre Meineide, Lügen und Corruptionen einen so großen Eindruck auf dan Volk geübt, daß sie nothwendig dessen Verfall bedingt hätten? Wo ist von Oben herab mehr gelogen, mehr betrogen, wo die Gesellschaft systematisch seit langen Jahren mehr corrumpirt und jeder sittlichen Unterlage beraubt worden, als in Frankreich? Wo liegen wahre sittliche Bildung, jede edlere freie Bewegung mehr zu Boden, als in dem jetzigen gepriesenen Frankreich, dessen edelste Geister entweder das harte Brod der Verbannung essen, oder sich schämen, in einer Presse mitzuwirken, die sie verachten? Selbst angenommen, daß in Frankreich mehr noch als in England die Symptome eines Verfalles zu Tage liegen; wollen und können wir deshalb daran zweifeln, daß mit dem Eintritt eines andern Regierungssystems auch die Symptome schwinden und der alte Aufschwung des sonst edlen Volkes eintreten muß und wird?
    Und doch wie hoch steht dagegen noch England mit seiner großartigen Productionskraft, seinen gesicherten Freiheiten, seiner in das Fleisch und Blut übergegangenen Constitution, seinem regen, stolzen Nationalsinn!
    Wenn auch das Mährchen vom Palmerston’schen Liberalismus selbst in Deutschland längst verklungen ist, wenn auch kein gesunder Mensch mehr an „Englands Mission“ glaubt, die Civilisation nach Osten zu tragen, obwohl die Thatsache feststeht, daß England von allen erobernden Nationen das Civilisiren immer noch besser versteht, als z. B. Frankreich und Rußland, die sich selbst noch zu civilisiren haben, wenn auch Vieles in England noch den Zopf hinten hat und die Macht des Reichthums dort einen größeren Druck ausübt, als in vielen andern Ländern, die vielen Vorzüge des englischen Staatslebens halten doch die Kraft des Volkes stets aufrecht und lassen einen Verfall des Landes nimmermehr zu.
    D. Redact.